In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – Jüdische Philosophie (2001), S. 9-25 Autor: Konrad Lotter Artikel Konrad Lotter Judentum und Philosophie. Stichpunkte und Grenzziehungen Das Thema „Judentum und Philosophie“ ist umfangreich und vielfältig. Es erscheint daher sinnvoll, mehrere Aspekte grundsätzlich zu unterscheiden: I. Jüdisches Denken und jüdische (Religions-) Philosophie II. Das Judentum als Gegenstand und Begriff der Philosophie III. Die „Judenfrage“. Philosophische Diskussion der Juden-Emanzipation IV. Juden in der deutschen bzw. europäischen Philosophie V. Jüdische Selbstreflexion VI. Jüdische Philosopheme. Philosophische Motive der jüdischen Tradition I. Jüdisches Denken und jüdische (Religions-) Philosophie Zuallererst wird jüdisches Denken wohl mit der Tradition des jüdischen Schrifttums assoziiert. Deren Grundlagen sind: 1. die hebräische Bibel, das Alte Testament (AT), das – einschließlich der Apokryphen – eine Sammlung von Schriften vieler Autoren darstellt, zwischen 1200 und 100 v. Chr. entstanden ist und historische Berichte, Gesetzesvorschriften, Gedichte, prophetische Reden etc. enthält; 2. die sog. mündliche Überlieferung, die Kommentare zum AT beinhaltet, Diskussionen (aus den Lehrhäusern) aufbewahrt, Lehren aus dem AT für das Leben zieht etc. Sie stammt von etwa 2500 Autoren und wurde später ebenfalls schriftlich fixiert. Diese Überlieferung, der Talmud, der eine Weiter- 10 Konrad Lotter entwicklung des AT darstellt (und insofern dem Neuen Testament, der christlichen Bibel, entspricht), zerfällt a) in die Mischna (hebräischer Rechtskodex: in 6 Abteilungen wird die Begehung des Sabbats und anderer Feste geregelt, das Zivil-, Straf- und Handelsrecht dargestellt, detaillierte Ehevorschriften, Reinheitsgebote etc. formuliert), die um 200 n.Chr. aufgezeichnet wurde und b) in die Gemara, die in einer palästinensischen und einer (bedeutenderen) babylonischen Version überliefert ist, an die Gliederung der Mischna anknüpft, aus Kommentierung und Diskussion besteht und um 400 n.Chr. in aramäischer Sprache redigiert wurde. – Zu etwa 2/3 besteht der Talmud aus der sog. Halachá (Recht bzw. Religionsgesetz), zu 1/3 aus der Haggáda (Schriftauslegung, Theologie, Philosophie, Legende); 3. die Kabbala oder die jüdische Mystik ist zwischen dem 9. und dem 13.Jh. entstanden und erhielt in Spanien ihre klassische Ausbildung. Ihre Hauptwerke sind Jezirah („Schöpfung“) und Sohar („Glanz“). Sie verbindet Elemente des Neuplatonismus (das „Eine“, „Emanations“-Vorstellungen etc.) mit Geheimlehre und Zahlenspielerei (Vokale sind im Hebräischen zugleich Ziffern, so dass sich Begriffe auch als Zahl, Quersumme etc. angeben lassen). Dominant darin sind die messianischen Erlösungsvorstellungen, die geschichtlich mit der Vertreibung der Juden aus Spanien zusammenhängen und die Grundlage messianischer Volksbewegungen (Isaak Luria, 15341572) sowie des ostjüdischen Chassidismus werden, die dem starren Gesetz eine lebendige Frömmigkeit entgegensetzen. (Der Zerfall des Chassidismus seit dem Ende des 19. Jh.s ist das Thema der großen Romane von Isaak B. Singer, z.B. „Die Familie Moschkat“, „Das Landgut“, „Das Erbe“.) Vor dem Hintergrund dieser Tradition scheint es plausibel, dass der Begriff der jüdischen Philosophie zumeist als problematisch, d.h. die Philosophie nicht als authentischer Ausdruck des Judentums angesehen wird. Julius Guttmann, der bedeutende Historiker der jüdischen Philosophie, beginnt seine Darstellung mit den Worten: „Das jüdischen Volk ist nicht aus eigener Kraft zu philosophischem Denken gelangt. Es hat die Philosophie von außen her empfangen, und die Geschichte der jüdischen Philosophie ist eine Geschichte von Rezeptionen fremden Gedankenguts, das dann freilich unter eigenen und neuen Gesichtspunkten verarbeitet wird“1. Philo von Alexandrien (gest. 45 n.Chr.) hat demnach das jüdische Gedankengut, vor allem 1 J. Guttmann: Die Philosophie des Judentums (1933), Wiesbaden 1985, S.9. Judentum und Philosophie 11 den Monotheismus, im Sinne Platons, Maimonides (1135-1204) im Sinne von Aristoteles interpretiert. Hermann Cohens (1842-1918) „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ ist durch die Philosophie Kants, Franz Rosenzweigs (1886-1929) „Stern der Erlösung“ durch die Philosophie Hegels inspiriert. Begreift Guttmann die Philosophie des Judentums wesentlich als Religionsphilosophie, so betonen H. und M. Simon, dass die jüdische Philosophie letztlich keine Religionsphilosophie, sondern nur eine „an Religion gebundene Philosophie“2 sei. Neben den religiösen Aspekt (Synthese von Philosophie und jüdische Religion) tritt hier ein geschichtlicher, sozialpsychologischer Aspekt: das Verständnis der Philosophie als Krisensymptom. Ihre Blütezeiten nämlich erlebte die jüdische Philosophie im antiken Alexandrien, im mittelalterlichen Spanien und in Deutschland um die Wende vom 19. zum 20.Jh., d.h. dort, wo das Judentum durch die griechische, die islamische und die aufgeklärt-christliche Kultur besonders bedroht war, durch Assimilation oder Verfolgung und Vernichtung seine Identität zu verlieren. Sie ist also wesentlich auch Selbstvergewisserung oder Selbstbehauptung der eigenen Identität, die nicht nur religiös, sondern auch ethnisch begründet ist. Auch für Norbert M.Samuelson steht der Krisen- und Bedrohungscharakter im Vordergrund: die großen Zeiten der jüdischen Philosophie waren das Mittelalter „als die Juden vom Islam“ und das moderne Deutschland „als sie vom Christentum bedroht waren“3. Daraus leitet Samuelson ihren „zwangsläufig polemischen“ Charakter ab. An diese doppelte (philosophische und sozialpsychologische) Begründung schließt sich auch Michael Zanks Unterscheidung von jüdischer Philosophie und jüdischem Denken (bzw. „Denken Israels“) an4. Was jüdische Philosophie ist, wird demnach nicht an den Autoren oder Denkern, sondern an den Werken festgemacht und dem Interesse, das diese Werke verfolgen. Besteht vorrangig ein theoretischer (weltdeutender) Anspruch, wie z.B. in Maimonides’ „Führer der Unschlüssigen“, so handelt es sich um Philoso2 H. Simon/M. Simon: Geschichte der jüdischen Philosophie, München 1984, S.18. Hervorhebung von mir. 3 N.M. Samuelson: Moderne jüdische Philosophie. Eine Einführung, Reinbek 1995, S.8 und S.327. 4 M. Zank: Einige Vorüberlegungen zur jüdischen Philosophie am Ende des 20. Jahrhunderts. Entwurf einer Antrittsvorlesung zur MartinBuber Stiftungs-Gastprofessur für jüdische Religionsphilosophie, Frankfurt/Main, J.W. v.Goethe-Universität, 3. Mai 1999. 12 Konrad Lotter phie; ist ein Werk dagegen auf praktische Belange der religiösen und nationalen Selbsterhaltung gerichtet, wie der „Mishnah Torah“ (ein systematischer Gesetzeskodex), so haben wir es mit jüdischem Denken zu tun. In Deutschland endet die Tradition der jüdischen Philosophie mit Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ (1922) und Martin Bubers „Ich und Du“ (1923). Ihre weitere Entwicklung findet teils in den USA statt, wohin J. Guttmann, N.N. Glatzer u.a. nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus emigriert sind (Mordechai Kaplan, Emil Fackenheim u.a.), teils in Israel, unter dem Einfluss Bubers und dem aus Litauen stammenden Yeshayahu Leibowitz. II. Das Judentum als Gegenstand und Begriff der Philosophie Judentum als Gegenstand der Philosophie bezeichnet vor allem den Versuch, den jüdischen „Volksgeist“ zu charakterisieren, seine geschichtliche oder geschichtsphilosophische Bedeutung darzustellen und ihn zu anderen „Volksgeistern“ ins Verhältnis zu setzen. Herder etwa sieht den jüdischen Volksgeist vor allem durch drei Eigenschaften geprägt: die Klage über das verlorene und die Sehnsucht nach dem zukünftigen Paradies, die „Anfang und Ende der ebräischen Dichtkunst“5 sind, das Bewusstsein, ein „freies Volk“ zu sein, bei dem zwar das Gesetz (das Mosaische Gesetz), aber kein Gesetzgeber herrscht, schließlich das Gefühl der Fröhlichkeit und des Stolzes, das aus seinen nationalen Festen (Passah-, Laubhüttenfest) abzulesen ist, die an den Ausgang aus der ägyptischen Gefangenschaft erinnern. Weniger freundlich fällt das Bild aus, das Hegel (in seiner frühen Frankfurter Zeit) zeichnet, wobei er die jüdische Mythologie mit der griechischen vergleicht. Hauptthese: der jüdische Geist ist der Geist der Trennung und der Absonderung – und zwar „ohne Not“ – gegenüber der Natur ebenso wie gegenüber den Menschen. Noah will die Menschen nach der Flut (im Gegensatz zu Deukalion und Pyrrha) nicht mit der Welt versöhnen und den Bund der Liebe erneuern. Er will sich „gegen die feindselige Macht“ der Natur sichern, indem er „sie und 5 J.G. Herder: Vom Geist der ebräischen Poesie, in: Herder. Ein Lesebuch für unsere Zeit, Berlin-Weimar 197810, S.101. Judentum und Philosophie 13 sich einem Mächtigeren unterwirft“6. Abraham wird zum Stammvater der Juden indem er „das Band des Zusammenlebens“ zerreißt; Kadmos oder Danaos hingegen verlassen ihr Vaterland, um neuen Raum für Freiheit und Liebe zu finden. Die Motivation der Juden, mit Moses aus Ägypten zu ziehen, entspringt nicht der Sehnsucht nach Freiheit, sondern der charismatischen Führerfigur und dem Eindruck, den Moses mit seinen Wunder-Kunststücken auf sie gemacht hat. Die Juden sind ein Volk, das gesiegt hat ohne zu kämpfen, ein passives, schadenfrohes und feiges Volk, ein sklavisches Volk „ohne ... Bedürfnis der Freiheit“, ein Volk, das vom „Dämon des Hasses“ beherrscht ist.7 Die Griechen sollten – gemäß dem Gesetz des Solons und des Lykurg, das das Eigentum beschränkte – „gleich sein, weil alle frei“ waren; die Juden hingegen sollten nur deshalb gleich sein, weil „alle ohne Fähigkeit des Selbstbestehens“ waren.8 Unter dem Einfluss des Rassentheoretikers Gobineau und dem (Sozial-) Darwinismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts mutiert der „Volksgeist“ bei Nietzsche zur Rasse-Eigenschaft. Die Juden werden zum Volk der Rache, des Hasses, der List und der Lüge, zum Volk des Ressentiments und des Priesterbetrugs, das gegen die „blonde ... arische Eroberer-Rasse“9 den „Sklavenaufstand“ in der Moral unternommen und alle vornehmen Werte umgewertet hat. Im Juden verkörpert sich der Geist der Askese, der Hass auf das Leben, die Feigheit vor dem offenen Kampf. Mit seiner GleichheitsForderung pflanzt sich der jüdische Geist fort in den demokratischen und sozialistischen Gedanken der Neuzeit. – Schwer vereinbar mit dieser geschichtsphilosophischen Wertung erscheint Nietzsches persönliche Hochachtung von Juden und sein Widerwille gegenüber dem Antisemitismus Richard Wagners oder Eugen Dührings. Für die „Kritische Theorie“ der 30er und 40er Jahre repräsentieren die Juden eine ökonomische Kategorie: die Zirkulation. Die eigene Zeit diagnostiziert Horkheimer als den Übergang vom (liberalen) Hoch- oder Konkurrenz6 G.W.F. Hegel: Der Geist des Judentums, in: Werke, Frankfurt/M. 1970, Bd.1, S.276. ebd., S.282 und S.287. 8 ebd., S.290. 9 F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Werke, München 1958 u.ö. (Schlechta), Bd.2, S.776. 7 14 Konrad Lotter Kapitalismus zum (totalitären) Spät- oder Monopol-Kapitalismus, bei dem der freie Tausch und die Vertragsfreiheit durch das Diktat über die Arbeit verdrängt werden. Im Verlauf dieses Übergangs verliert die Zirkulation, die traditionell das Geschäft der Juden war, an ökonomischer Bedeutung. Darin wird zugleich die reale Basis für den neuen Antisemitismus gesehen: „Der neue Antisemitismus ist der Sendbote der totalitären Ordnung.“10 III. Die „Judenfrage“. Philosophische Diskussion der Juden-Emanzipation Geprägt wurde der Begriff der Judenfrage in Deutschland um 1840. Infolge der rechtlichen Gleichstellung durch die Französische Revolution und die Verkündung der Menschenrechte verließen viele Juden die Gettos, so dass sich das Problem der Eingliederung und des Zusammenlebens neu stellte. Mehr oder weniger existierte das Problem allerdings schon (wie Lion Feuchtwanger, mit mancher Anspielung auf die Gegenwart, in seiner Josephs-Trilogie scharf herausarbeitet) seit der Antike, seitdem die Juden nach dem Jüdischen Krieg und der Zerstörung des Tempels (70 n.Chr.) zerstreut und in der Diaspora lebten. Zunächst ein Thema der Antisemiten, wurde die Judenfrage, weil sie ein reales Problem bezeichnete, auch von den Juden selbst aufgegriffen und diskutiert. Bekannt ist die Diskussion zwischen Bruno Bauer und Marx aus dem Jahr 1843. Solange der Jude jüdisch und der Staat christlich ist, solange kann es eine politische Emanzipation der Juden nicht geben: das ist die Position Bauers. Zuerst muss sich der Staat selbst von der Religion emanzipieren, d.h. die Religion zur Privatsache des Bürgers werden, erst dann können die Juden politisch, d.h. rechtlich gleichgestellt werden. Marx setzt der politischen die menschliche Emanzipation entgegen. „Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum“11, Judentum aber ist gleichbedeutend mit Kapitalismus. „Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein andrer Gott bestehen darf... Der Wechsel ist der wirkliche Gott der Juden“12. Gelöst wird die Judenfrage infolgedessen letztlich erst durch die Aufhebung der kapitalistischen Verhältnisse. 10 M. Horkheimer: Die Juden und Europa (1939), in: Gesammelte Schriften, hg. von A. Schmidt und G. Schmid-Noerr, Frankfurt/Main 1985 ff., Bd.4, S.308. 11 K. Marx: Zur Judenfrage, in: MEW 1, S.373. 12 ebd. S.374 f. Judentum und Philosophie 15 Vor und nach dieser Diskussion hat es verschiedene andere Beantwortungen der Judenfrage gegeben, von denen ich nur die drei wichtigsten nenne: - das klassisch-humanistische Konzept von Lessing, Goethe und W.v. Humboldt: die religiöse Gleichstellung der Juden durch Toleranz, die Förderung ihrer Assimilation durch Erziehung und Bildung. - das zionistische Konzept von Moses Heß13 und Theodor Herzl14 (auch Werner Sombarts15 u.a.): die nationale Gleichstellung der Juden durch Gründung eines eigenen jüdischen Staats. - das kosmopolitische Konzept Hermann Cohens u.a.: Einigung der Menschheit durch die Juden. Die Idee der einen Menschheit verdanken wir „den jüdischen Propheten ... und nicht den griechischen Philosophen“; die „Eine Menschheit ist das Korrelat zur Einen Gottheit“16; die Einigung der Menschheit zu einem Staatenbund signalisiert, am Ende der Tage, die Ankunft des Messias. Damit beginnt die Zeit des Friedens, der Brüderlichkeit, des Sozialismus. Die Judenfrage richtet sich nicht nur auf die Möglichkeit des Zusammenlebens von Juden und anderen Völkern, sie richtet sich auch auf das Problem der jüdischen Identität selbst. Für Martin Buber („Drei Reden über das Judentum“, 1911) z.B., um nur zwei extreme Antworten zu skizzieren, ist dies ein Problem der individuellen (religiösen) Existenz: „was ein auf die einsamste unzugänglichste Insel verschlagener Jude noch als ‚Judenfrage’ anerkennt, das einzig ist sie“. Für Jean Paul Sartre hingegen („Reflexions sur la question juive“, 1946) wird der Jude erst durch die Anderen bzw. durch die gesellschaftliche Situation zum Juden gemacht. „Die Judenfrage ist durch den Antisemitismus entstanden“, was dann auch heißt: „wir müssen den Antisemitismus abschaffen, um sie zu lösen“.17 IV. 13 Juden in der deutschen bzw. europäischen Philosophie „Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage“ (1862). „Der Judenstaat“ (1896). 15 „Die Zukunft der Juden“ (1912). 16 H. Cohen: Jüdische Schriften, hg. von B.Strauß, Bd.1, Berlin 1924, S.213. 17 vgl. A. Bein: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, Stuttgart 1980. Das zweibändige Werk ist das Standardwerk zu diesem Thema. Es stellt auch die Positionen Mendelssohns, Kants, Fichtes, Hegels, Dührings, E.v.Hartmanns, Nietzsches u.a. dar. 14 16 Konrad Lotter Alle bedeutenden Schulen oder philosophischen Richtungen des 20. Jahrhunderts werden, zum großen Teil sogar in ihren Gründern und Hauptvertretern, von Juden repräsentiert: - Neukantianismus (Cohen, Lask, Cassirer u.a.), - Lebensphilosophie (Bergson, Georg Simmel, Th. Lessing), - Phänomenologie (Husserl), - Neomarxismus (R. Luxemburg, Lukács, Bloch u.a.), - Neopositivismus (Wittgenstein, Neurath, Popper), - Wissenssoziologie (K. Mannheim, Scheler), - Frankfurter Schule (Benjamin, Horkheimer, Adorno, Marcuse u.a.), - Existenzphilosophie (Löwith, H.Arendt, Buber), - Ökologische Philosophie (G.Anders, H.Jonas, J.Améry, E.Chargaff), - Postmoderne/ Dekonstruktivismus (Derrida, Lyotard, Levinas u.a.). Gibt es Merkmale, die die Juden, quer zu den Grenzlinien der philosophischen Schulen miteinander verbinden und es als gerechtfertigt erscheinen lassen, von einem „typischen jüdischen Denken“ zu sprechen? Nach Ansicht der auf der Rassentheorie aufbauenden Nazi-Ideologie: ja. H.A. Grunsky zufolge gibt es nur „eine einzige jüdische Philosophie“18, die vor allem zwei Merkmale aufweist: „nichtjüdisches Geistesgut ... in die jüdische Gesetzesvorstellung hineinzuziehen und ihr unterzuordnen“ (S.16), d.h. alle Themen der „großen arischen Philosophie“ zu „talmudisieren“ (S.34). Arische Schöpfung einerseits und jüdische Verfälschung andererseits zeigen sich, Grunsky zufolge, in den Verhältnissen von Maimonides zu Aristoteles, von Spinoza zu Descartes, von Newton zu Einstein, von Cohen zu Kant, von Marx zu Hegel, von Freud zu Nietzsche; Rabulistik, spitzfindige Rechthaberei, die von der Auslegung der Thora auf die Auslegung anderer Texte übertragen wird (S.18 ff.). Auch für Ernst Nolte stellt die jüdische Philosophie eine Einheit dar, was u.a. damit begründet wird, dass in der Geschichte „die nationale und religiöse Solidarität weitaus stärker war als das Empfinden klassenmäßiger Zusammengehörigkeit, und keineswegs nur bei Juden“19. Letztlich dient das jüdische Denken (als Sonderform oder Funktion quasi des „Willens zur 18 19 H.A. Grunsky: Einbruch des Judentums in die Philosophie, Berlin 1937, S.34. E. Nolte: Geschichtsdenken im 20.Jahrhundert, Berlin-Frankfurt/Main 1991, S.576. Judentum und Philosophie 17 Macht“) der Selbstbehauptung des jüdischen Kollektivs, darin besitzt es seine letzte Gemeinsamkeit. Micha Brumlik wehrt sich zwar gegen Noltes „ethnozentrische Perspektive“, die von jüdischer Abstammung auf jüdische Selbstbehauptung schließt, hält aber trotzdem an der Einheit des jüdischen Denkens fest, das er allerdings auf ein Denken einschränkt, das drei Kriterien erfüllt, nämlich - dass die Denker oder Denkerinnen „selbst Juden oder Jüdinnen“ sind, - dass sie zu ihrem Judentum in einem „bewussten und reflektierten Verhältnis stehen“, - dass ihr Denken „in der denkenden Entfaltung des Glaubens an den einen, gestaltlosen und geschichtsmächtigen Gott, dessen Taten und Worte zum Buch wurden“20. Benjamin wäre demnach ein „jüdischer Denker“, Hannah Arendt hingegen nur eine „bewusste Jüdin“, da sie sich vom Denken des Judentums weit entfernt hat. M.E. lässt sich die Heterogeneität der genannten jüdischen Philosophen inhaltlich überhaupt nicht überbrücken. Höchstens lassen sie sich, wie das Brumlik ansatzweise tut, nach ihrer Nähe oder Ferne zur jüdischen Religion klassifizieren, also danach, inwieweit sie ihre philosophischen Argumente aus der jüdischen Tradition entwickeln. Offensichtliche Übereinstimmung allerdings herrscht in der außergewöhnlichen formalen (analytischen, kritischen) Befähigung zur Philosophie bzw. zur geistigen oder künstlerischen Tätigkeit überhaupt. Nehmen wir z.B. das erste Drittel des 20. Jahrhunderts: der Bevölkerungsstatistik zufolge lebten im Jahr 1925 in Deutschland 564.000 Juden, das entsprach 0,93% der Gesamtbevölkerung.21 Vergleicht man diese Zahl mit den oben genannten Philosophen, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass in dieser Zeit weniger als 1% der deutschen Bevölkerung den – aus heutiger Perspektive – Hauptteil der deutschen Philosophie repräsentiert haben. Das ist erklärungsbedürftig und wird in der Regel folgendermaßen erklärt: durch den Ausschluss der Juden von vielen (handwerklichen) Berufen, was zu einem verstärkten Andrang in anderen, vor allem „freien“, d.h. kauf- 20 M. Brumlik: Jüdische Philosophie – Jüdische Denker oder Denken des Judentums?, Vortrag im AudiMax der Universität München am 3. Februar 1993. 21 R. Hirsch/ R. Schuder: Der gelbe Fleck, Berlin 1989, S.740. 18 Konrad Lotter männischen oder intellektuellen Berufen (wie eben Journalist, Kritiker, Schriftsteller, Musiker, Philosoph); durch die besondere Beziehung der Juden zum „Buch“, da die jüdische Identität weniger durch das Land oder die politischen Beziehungen zu den Nachbarstaaten vermittelt ist, als die immer neue Auslegung, Diskussion und Kommentierung der heiligen Schriften; durch die Bedingungen der Humboldtschen Schul- und Universitätsreform, die auf dem Weg der Bildung, über die Aneignung der klassischen Literatur und Philosophie, die Assimilation bzw. die Emanzipation fördert oder überhaupt ermöglicht; durch die soziale Situation der Fremdheit, der Bedrohung und der Verfolgung, die eine besondere Wachheit für die sozialen und politischen Lebensbedingungen bewirkt und auch für geistige Veränderungen sensibel macht. Robert Jungk spricht von der Heimatlosigkeit als einem philosophischen „Stimulans“22. Die Frage, inwieweit die jüdische Religion selbst (und zwar in einem größeren Ausmaß als die christliche oder andere Religionen) das philosophische Denken fördert und prägt, wird weiter unten aufgegriffen. V. Jüdische Selbstreflexion Von den zahlreichen Reflexionen jüdischer Philosophen über ihre Zugehörigkeit zum Judentum möchte ich nur einige wenige anführen, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Typologie, d.h. um anzudeuten, welche wiederkehrenden oder typischen Argumente oder Probleme dabei angesprochen werden. Georg Lukács skizziert in „Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog“, auf wenige Worte beschränkt, das Milieu assimilierter Juden in seiner Heimatstadt Budapest: „Aus rein jüdischer Familie. Gerade darum: Ideologie des Judentums gar keinen Einfluss auf geistige Entwicklung“. 23 Zur Erläuterung fügt er hinzu: seine Familie sei, wie alle Familien aus der Leopoldstadt, in religiösen Fragen vollkommen gleichgültig gewesen; die Religion interessierte nur als Teil des häuslichen Protokolls, bei Eheschliessungen und der Abwicklung sonstiger Zeremonien. (Dazu im Widerspruch gibt 22 23 H.J. Schulz (Hg.): Mein Judentum, Stuttgart-Berlin 19792, S.281. Frankfurt/Main 1981, S.39 und S.241. Judentum und Philosophie 19 Lukács in der Selbstkritik von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ zu, philosophische Fehler infolge seines „messianischen Utopismus“ begangen zu haben; siehe unten.) Von ganz anderer Tragweite ist eine Äußerung von Benjamin, der seine Beziehung zum Judentum als eine Quelle fortwährender Inspiration darstellt: „Ich habe nie anders forschen und denken können, als in einem, wenn ich so sagen darf, theologischen Sinn – nämlich in der Gemäßheit der talmudschen Lehre von den neunundvierzig Sinnstufen jeder Thorastelle“24. Das ist, wohlgemerkt, 1931 geschrieben, also nicht zu der Zeit, als Benjamin seine frühe Sprachphilosophie aus dem AT abgeleitet hat, sondern nachdem er längst zum Marxismus „übergetreten“ ist. Über die Verbindung von Judentum und Philosophie bei Benjamin existiert inzwischen eine kleine Bibliothek.25 Th. Lessing versucht das Lebensgefühl, die „Grundbefindlichkeit“ der jüdischen Existenz, zwischen der Innenperspektive des „ausgewählten Volks“ und der Außenperspektive des Fremden, des Verachteten, des Außenseiters (die auf die Innenperspektive zurückschlägt) darzustellen. Von ihm stammt das Wort vom „jüdischen Selbsthass“26. – Kleine Anekdote: der jüdische Schriftsteller Benedikt Friedlaender verübte, von Eugen Dührings Tiraden über die Minderwertigkeit der Juden bewegt, Selbstmord; er setzte Eugen Dühring als Erben seines beträchtlichen Vermögens ein. Wenn nicht von Selbsthass, so zumindest von Selbstzweifeln ist Wittgensteins Verhältnis zum Judentum geprägt. Einerseits hebt er zwar die Intellektualität und geistige Beweglichkeit hervor: „Der Jude ist eine wüste Gegend, unter deren dünner Gesteinsschicht aber die feurig-flüssigen Massen des Geistigen liegen“.27 Andererseits spricht er den Juden, mit deutlicher Beziehung auf sich selbst, geistige Eigenständigkeit ab und gesteht ihnen nur die Fähigkeit des Kopierens, Reproduzierens und des hermeneutischen Nachvoll24 Brief an Max Rychner, den Herausgeber der „Schweizer Rundschau“, vom 7. März 1931, in: Briefe, hg. von G.Scholem und Th.W. Adorno, Frankfurt/Main 1978, Bd.2, S.524. 25 vgl. den Artikel „Theologie“ von A. Pangritz, insbesondere die Liste der über 50 Veröffentlichungen zu diesem Thema, in: M. Opitz/ E. Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt/Main 2000, Bd.2, S.822f. 26 Lessing beschäftigt sich in zwei Werken mit dem Judentum: „Deutschland und seine Juden“ (Prag 1923) und „Der jüdische Selbsthaß“ (Berlin 1930). 27 L. Wittgenstein: Über Gewißheit, Werkausgabe Bd.8, Frankfurt/Main 1984, S.468. 20 Konrad Lotter zugs zu: „Der größte jüdische Denker ist nur ein Talent. (Ich z.B.) – Es ist, glaube ich, eine Wahrheit darin, wenn ich denke, dass ich eigentlich in meinem Denken nur reproduktiv bin. Ich glaube, ich habe nie eine Gedankenbewegung erfunden, sondern sie wurde mir immer von jemand anderem gegeben. Ich habe sie nur sogleich leidenschaftlich zu meinem Klärungswerk aufgegriffen.“28 Wittgenstein führt das darauf zurück, dass die Juden den Basistext ihrer Kultur nur (auf dem Sinai) empfangen, – im Gegensatz zu den Griechen, die ihn (Homer) selbst erzeugt haben. Für viele überraschend (vor allem für seine marxistischen Anhänger, trotz vieler Hinweise, wie z.B. von Martin Jay29) kamen die „Enthüllungs-Interviews“ Horkheimers im „Spiegel“ und in anderen Zeitschriften, in dem er auf die jüdischen Quellen seiner und Adornos Philosophie hingewiesen hat. Vor allem seit Beginn der 60-er Jahre hat sich Horkheimer verstärkt mit Fragen der Religion und des Judentums auseinandergesetzt.30 „Theologie bedeutet ... das Bewusstsein davon, dass die Welt Erscheinung ist, dass sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist. Theologie ist ... die Hoffnung, dass es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibt“. Mit Bezug auf das jüdische Bilderverbot heißt es: er und Adorno hätten „nicht mehr von Gott, sondern von der ‚Sehnsucht nach dem Anderen’ gesprochen“31. Damit ist nicht nur der Marxismus als Grundlage der „Kritischen Theorie“ abgelöst und durch die jüdischen Theologie ersetzt; mehr noch: Marxismus und „Frankfurter Schule“ werden gewissermaßen als zwei Filialen der jüdischen Theologie dargestellt, nur dadurch unterschieden, dass die eine den Messianismus, die andere das Bilderverbot zur Geschäftsgrundlage hat. „Marx ist meinem Gefühl nach vom Messianismus des Judentums bestimmt worden, während für mich die Hauptsache blieb, dass Gott nicht darstellbar ist, dass aber dieses Nicht-Darstellbare der Gegenstand unserer Sehnsucht ist“.32 28 ebd. - vgl. auch S.476 f. M. Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung, Frankfurt/Main 1976. 30 „Über die deutschen Juden“ (1961), „Religion und Philosophie“ (1967), „Psalm 91“ (1968), „Bemerkungen zur Liberalisierung der Religion“ (1971) u.a. 31 M. Horkheimer: Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, in: Gesammelte Schriften a.a.O., Bd.7, S.351. 32 ebd., S.398. 29 Judentum und Philosophie 21 Völlig andersgeartet ist die Reflexion von Ernst Tugendhat, der Rechenschaft ablegt über seine Stellung „als Jude in der Bundesrepublik Deutschland“ und über die Möglichkeiten des deutsch-jüdischen Dialogs unter der geschichtlichen Voraussetzung des Holocaust33. Vor allem entwirft er, gegen Gershom Scholem gerichtet (der die religiöse Identität als die einzige anerkennt), vier Möglichkeiten jüdischer Identität: 1) Religion, 2) Assimilation, 3) Sozialismus und 4) Zionismus. Die Reihe ließe sich fortsetzen, z.B. durch die Äußerungen von Robert Jungk, Jean Améry, Günther Anders u.a.34, die nicht nur die Bedeutung ihrer jüdischen Herkunft für die eigene Sozialisation und den Verlauf ihres (wissenschaftlichen) Lebens reflektieren, sondern auch z.T. ausführlich begründen, weshalb sie nicht in Israel leben wollten und könnten. VI. Jüdische Philosopheme. Philosophische Motive der jüdischen Tradition Auch nach der Emanzipation der Philosophie von der Religion oder Theologie gibt es Motive, Argumentationsstrukturen etc., die überleben, eine säkularisierte Gestalt annehmen und in die Philosophie eingehen.35 Solche Motive sind: der Messianismus. Bloch, Benjamin, Horkheimer, Löwenthal u.a. (auch Lukács) weisen in ihrer philosophischen Entwicklung auffallende Parallelen auf: Sie beginnen beim Neukantianismus der Marburger und der Südwestdeutschen Schule (Cohen, Rickert, Windelband, Lask), vollziehen eine Wende zur Lebensphilosophie (Simmel), politisieren sich durch den Ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution, kommen zum Marxismus nicht über die Vermittlung Hegels (dessen Philosophie z.T. vehement abgelehnt wird), sondern über mystische (Jakob Böhme, Ketzer-Bewegungen, Franz v.Baader), zum großen Teil über jüdische Quellen (Kabbalistik, Chassidismus). Der Kommunismus erscheint ihnen als messianische, radikal- 33 E. Tugendhat: Ethik und Politik, Frankfurt/Main 1992, S.80ff. Vgl. die entsprechenden Beiträge in H.J. Schulz (Hg.): Mein Judentum, a.a.O. 35 Von Gegenwarts-Philosophen jüdischer Abstammung ausgehend, zeigt das von Joachim Valentin und Saskia Wendel herausgegebene Buch „Jüdische Traditionen in der Philosophie des 20.Jh.s“ (Darmstadt 2000) eione Fülle solcher Motive auf. 34 22 Konrad Lotter ethische, mystische „Erlösung“ aus dem „Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit“36. die Negativität. Maimonides zufolge lässt sich das Wesen Gottes mit keinem positiven Attribut erfassen; zur Erkenntnis Gottes gelangt man infolgedessen nur durch verneinende Aussagen, d.h. durch Aussagen dessen, was Gott nicht ist. Gottesdienst ist in erster Linie Überwindung des Götzendienstes. Der Kampf gegen die Götzen (Baal) ist eines der Hauptthemen des ATs. Allgemein steht „Götze“ auch für Entfremdung, Ideologie, falsche Positivität. Gott bzw. Wahrheit sind nur negativ, in kritischer Absetzung gegen das Falsche zu entwickeln. Dass die Wahrheit ex negativo in dem von ihr Verlassenen aufgesucht wird, ist eine Gemeinsamkeit von kritischer Gesellschaftstheorie (richtiges Leben als Negation des falschen) und Psychoanalyse (Gesundheit als Negation der Krankheit), die beide von Juden begründet wurden. Zwei entgegengesetzte Formen der Negativität sind: das Bilderverbot (das Verbot Gott und auch den Menschen als sein Ebenbild darzustellen) und die Allegorie (die indirekte, über beliebige Zeichen vermittelte, verschieden ausdeutbare Darstellung). Ästhetische Konsequenz davon ist z.B. die Bevorzugung der Musik und Dichtung vor der Malerei und Bildhauerei oder die Bevorzugung der „offenen“ und vieldeutigen vor der realistischen Darstellung. Eine Konsequenz der Allegorie wäre die Tendenz zur (quasi-religiösen) Avantgarde („leere Transzendenz“) oder auch zur Postmoderne bzw. zum Dekonstruktivismus. Derridas neugeprägter Begriff der „différance“ meint a) Verschieden-sein (Unerschöpfbarkeit der „Schrift“ aufgrund der eigenen Brüche, Widersprüche, Polysemien), b) (zeitliche) Aufschiebung jedes endgültigen, verbindlichen Verstehens. Er erhebt Einspruch gegen die eindeutige Zuordnung von „signifiant“ und „signifié“, die Identifikation der Dinge durch das Zeichen. Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“: „Die jüdische Religion duldet kein Wort, das der Verzweiflung alles Sterblichen Trost gewährte. Hoffnung knüpft sie einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Das Unter36 Vgl. A.Münsterberg: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von E.Bloch, Frankfurt/M. 1982. M.Löwy: Idéologie révolutionaire et messianisme mystique chez le jeune Lukács (1910-1919), in: Archives de Science sociales des Religions Nr.45/1 (1978). Löwy stellt die These auf, religiös-mystische Sozialrevolutionäre wie z.B. die Figur des Vanja in Savinkows Roman „Das bleiche Pferd (1900) hätten Lukács’ Bild der Oktoberrevolution mitgeprägt. Judentum und Philosophie 23 pfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns.“37 Verbot des Bildes als Unterpfand der Rettung: damit wird dann auch die philosophische Überlegenheit der jüdischen über die christliche Religion begründet (S.167). Habermas bringt den letzten Satz von Wittgensteins „Tractatus“, wovon man nicht sprechen kann, davon soll man schweigen, in Verbindung mit der jüdischen Tradition: "Ein solches Schweigen hat transitiven Sinn. Noch das Ausgesprochene muss in das gebrochene Schweigen wieder zurückgenommen werden. Wie ein Kommentar liest sich Rosenzweigs Bemerkung: ‚Es gibt nichts im tieferen Sinn Jüdisches als ein letztes Misstrauen gegen die Macht des Wortes und ein inniges Zutrauen zur Macht des Schweigens’. – Weil die eigene Sprache, das Hebräische, nicht die Sprache des Alltags, sondern als die heilige Sprache diesem entrückt war, ist dem Juden die letzte und selbstverständlichste Unbefangenheit des Lebens, in seiner Qual zu sagen, was er leidet, genommen.“38 Weitere Motive oder Züge, die die Philosophie beeinflusst haben, wären etwa - Widerständigkeit. Es gibt im Judentum keine päpstliche Autorität, keine Institution für Inquisition, keinen Kardinal Ratzinger. Der Talmud kennt kein Verfahren der Synthetisierung, der Ausschließung von Widersprüchen. Bewusst sind einander widersprechende Texte und Kommentare aufgenommen. Aufgabe des gläubigen Juden ist es, seinen eigenen Weg zu Gott zu finden. (Trotzdem hat sich auch eine jüdische Orthodoxie ausgebildet: eine besonders strenge Gesetzesgläubigkeit.) - Rationalität. Das jüdische Verhältnis zu Gott ist weniger durch den Glauben und die Offenbarung als durch das Studium der Thora vermittelt. Fragen den Glaubens werden nicht an kirchliche Instanzen delegiert. Der Spott über „zwei Juden, drei Meinungen“ kann auch positiv, als Selbständigkeit des Denkens, gedeutet werden. (Unter den Irrationalisten der europäischen Philosophie befinden sich kaum Juden.) 37 M. Horkheimer/Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1971, S.24f. 38 J. Habermas: Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen, in: Th.Koch (Hg.): Porträts deutsch-jüdischer Geistesgeschichte, Köln 1961, S.109. 24 Konrad Lotter - Diesseits-Orientierung. Leo Baeck hebt hervor, dass die Sehnsucht, die die jüdische Welt der Propheten beschreibt, eine Horizontale ist, d.h. auf die geschichtliche Zukunft gerichtet ist; bei der christlichen Welt der Apokalypse handelt es sich dagegen um eine Vertikale, sie ist auf eine jenseitige Welt gerichtet.39 „Erlösung“ bezeichnet für die Juden ein innerweltliches Ereignis. - Naturfremdheit als Konsequenz des Monotheismus, der die Welt nur als Schöpfung Gottes (und deshalb nur als Zeichen seiner Größe und Allmacht), nicht in ihrer materiellen Eigengesetzlichkeit und Selbständigkeit wahrnimmt.40 Der Beschneidungsritus könnte als ein Heraustreten aus der Natur bzw. als Eintritt des Menschen die religiöse Gemeinschaft gedeutet werden. Der jüdischen Philosophie gebricht es, wie oftmals festgestellt wurde, an einer Ontologie41. In der Selbstkritik (1967) von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ führt Lukács das Leugnen der Naturdialektik und der Abbildlichkeit des Erkennens u.a. auf seinen „damaligen messianischen Utopismus“ und den Primat der Praxis in seinem frühen Denken (d.h. auf jüdische Einflüsse) zurück.42 - Primat des Ethischen bzw. der Praxis. Im jüdischen Denken liegt das Schwergewicht nicht auf dem Wissen über Gott, sondern auf der Nachahmung Gottes, d.h. auf der rechten Art zu leben. „Halacha“43 bezeichnet den Weg, sich durch richtiges Handeln an Gott anzunähern.44 - Plötzlichkeit bzw. Ereignis. Zu den Grundansichten des Judentums gehört, dass man den Messias zwar nicht herbeizwingen kann, dass man seiner aber in jedem Augenblick gewärtig sein muss. Er kann jederzeit kommen, denn: 39 Vgl. L. Baeck: Judaism and Christianity, Philadelphia 1958, S.31. Auch G.Scholem: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt/Main 1970, S.121. 40 Vgl. E. Treptow: Die erhabene Natur. Entwurf einer ökologischen Ästhetik, Würzburg 2001. „Während für die griechisch-römische Antike die Anschauung typisch ist, dass die schöne und die große Natur an sich selbst göttlich ist, respektiert die Bibel die eigenen Maße der Natur nicht. Sie unterstellt, dass die Natur ein Mittel der Verherrlichung des naturtranszendenten Gottes und seiner übernatürlichen Zwecke ist. Um sich als Herr seiner absoluten Souveränität zu zeigen, durchbrach Jahwe die Naturordnung, tat er Zeichen und Wunder.“ (S.204, vgl. S. S.151f. Als Beleg führt Treptow vornehmlich Stellen aus dem AT an. 41 Z.B. in dem von A. Diemer und I. Frenzel herausgegebenen Fischer-Lexikon Philosophie, Frankfurt/Main 1958 u.ö., Stichwort „Jüdische Philosophie“ (C.Colpe). 42 G. Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied-Berlin 1970, S.27. 43 Vgl. E. Fromm: Ihr werdet sein wie Gott, Reinbek 1980, S.145 ff. 44 Das ethische Fundament der Philosophie Adornos ist wohl eher hier zu suchen, als, wie mein Freund Manuel Knoll meint, in der Ethik des vögelnden Parasiten Aristipp. Judentum und Philosophie 25 „Verflucht seien die Gebeine dessen, der das Ende (die Ankunft des Messias) berechnet“45. Seine Ankunft ist an keine Voraussetzung oder Entwicklung geknüpft. Nicht jede Epoche, sondern jeder Augenblick steht so unmittelbar zu Gott. Plötzliche Ereignisse können unser Leben ändern. Im Gegensatz zu Hegels Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität wird die Geschichte als etwas Brüchiges, Diskontinuierliches, Sprunghaftes begriffen. Darin liegt die Verbindung der jüdischen Theologie zum Geschichtsbild des Anarchismus, zu Benjamins „Jetztzeit“ oder Adornos Begriff der apparition, des „Himmelszeichens“ 46, in dem das Absolute blitzhaft aufleuchtet. 45 46 Talmud, Sanhedrin 97 b. (Vgl. E. Fromm, a.a.O., S.126 f.) Th.W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main 1970, S.125.