CME- Modul Adipositas – Geschlechtsspezifische Unterschiede Vorbemerkungen ………..……………………..…………………...………………….. 02 Gender-Medizin .…….…..……………………..…………………...………………….. 03 Körperfett …………………………….………..…………………...…………………… 04 Grundumsatz ….………………..……….….………..…………………………………. 06 Fettverteilung ………………………………………………………………..……….….. 08 Risiken viszeraler Adipositas ………………….……………..………….…………….. 11 Fett als endokrines Organ ..…………………………………..………….…………….. 14 Geschlechtsspezifische medizinische Versorgung ………..………….…………….. 16 Gender und Essverhalten ……………………...…………….………….…………….. 18 Bedeutung der Muskulatur ……………….………………….………….…………….. 22 Fazit …………………………………………………………….………….…………….. 24 CME-Fragen….…………………………………………..………….………………...… 25 Literatur………………………………………………………..………….……………… 27 Impressum………………………………………………………………..……………… 30 1 Vorbemerkungen „Männer sterben an Herzinfarkten, Frauen bekommen Osteoporose!“ Viele Erkrankungen werden fast automatisch dem weiblichen bzw. dem männlichen Geschlecht zugeordnet. Dies birgt Gefahren! Denn aus einer voreiligen Schematisierung von Männer- versus Frauen-Krankheiten resultieren verzögerte oder sogar falsche Diagnostik und Therapieansätze. Leidtragender ist der Patient. Oder muss man nicht vielmehr sagen: die Patientin? Dieses Fortbildungsmodul soll dazu anregen, die medizinisch relevanten Unterschiede der Geschlechter in den ärztlichen Alltag einzubeziehen. Im Fokus steht der Einfluss des Geschlechts auf die Adipositas und die Adipositas-assoziierten Erkrankungen. 2 Gender-Medizin Die Notwendigkeit einer differenzierten Therapie bei Kindern versus Erwachsenen liegt auf der Hand und ist längst Standard. Kein Arzt würde ein 3jähriges Kind genauso wie einen 50-Jährigen behandeln, selbst wenn sie die gleiche Erkrankung hätten. Auch der medizinischen Besonderheiten des Alters und des Alterns wird durch die geriatrische Medizin Rechnung getragen (siehe Modul 5). Keinen Unterschied in Diagnostik und Therapie hingegen macht bislang das Geschlecht – abgesehen von gynäkologischen und urologischen Erkrankungen sowie Laborergebnissen. Dabei ist der klassische Proband als Modell für medizinische Forschung und Praxis fast durchweg jung und vor allem männlich. Frauen sind in der Mehrzahl von Studien entweder gar nicht oder nicht ausreichend repräsentiert. Dennoch: Ein „weiblicher Herzinfarkt“ wird auf gleiche Weise therapiert wie ein „männlicher“. Was auf Beziehungsebene wohl kaum jemand leugnet, bekommt nun auch einen zunehmenden Stellenwert in der Medizin: Frauen und Männer „ticken“ unterschiedlich. Gender-Medizin „Gender“ kommt aus dem Englischen und bedeutet: Geschlecht. Der Begriff umfasst aber mehr als nur das biologische Geschlecht. Gender beinhaltet auch die psychischen und sozialen Unterschiede von Frauen und Männern. Die „Gender-Medizin“ geht neue Wege. Ihr Bestreben ist es, durch das Wissen über die physischen und psychischen Unterschiede der Geschlechter Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation zu optimieren. Die oft voreingenommene Pauschalisierung Männer- versus Frauenkrankheiten muss abgelegt werden, um Fehl- und verzögerten Diagnosen vorzubeugen. Das Erforschen der geschlechtsspezifischen Unterschiede nicht nur in Anbetracht der Anatomie sondern auch in Stoffwechsel, Immunologie und Psychologie birgt zahlreiche Konsequenzen für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Gender-Medizin vereint die Kenntnis geschlechtspezifischer und damit ursächlich verknüpfter psychosozialer und sozioökonomischer Aspekte (s. u.). 3 Körperfett Zum besseren Verständnis zunächst eine kurze Definition der Begriffe in Bezug auf die Körperzusammensetzung: (Gesamt)Körpergewicht = Magermasse plus Körperfett Magermasse = Knochen plus Muskelgewebe plus Organe Körperfett = subkutanes Fett plus inneres Bauchfett plus Organfett (Anm.: Leber- und Muskelfett spielen eine große Rolle) Der Anteil an Körperfett unterliegt vielen Einflussgrößen. Diese sind unter anderem Alter, BMI (Body-mass-index), das Ausmaß der körperlichen Betätigung und nicht zuletzt das Geschlecht. Mit diesem Einfluss befasst sich eine Studie von MEEUWSEN et al. [1]. Über mehrere Jahre hinweg wurden anonymisierte Daten von 12.044 Frauen und 11.582 Männern erhoben. Mittels Bioimpedanzanalyse (siehe Modul 4) wurde die jeweilige Körperzusammensetzung ermittelt. Im Hinblick auf den Einfluss des Alters auf den Fettanteil konnte festgestellt werden, dass bei gleichem BMI der Körperfettanteil mit dem Alter zunimmt. Der Einfluss des Geschlechts darf dabei nicht außer Acht gelassen werden. Frauen und Männer unterscheiden sich grundsätzlich in ihrem Anteil an Körperfett. Durch die Auswertung der erhobenen Daten kann diese Aussage bestätigt werden. Zwischen dem 20. und 70. Lebensjahr nimmt der Körperfettanteil bei beiden Geschlechtern kontinuierlich zu. Auch der – wenn auch im Vergleich geringe – Abbau von Magermasse (hauptsächlich Muskelmasse) begünstigt diesem Trend. Die Zunahme der Fettmasse überwiegt jedoch. So steigt diese innerhalb von 10 Jahren bei Frauen um durchschnittlich 2,1 kg, bei Männern sind es lediglich 1,8 kg (Abbildung 1). Ursächlich dafür ist u. a. der höhere Grundumsatz bei Männern aufgrund des höheren Anteils an Muskelmasse [2]. Männer akkumulieren mit zunehmendem Alter weniger Fett als Frauen, da sie weniger an Muskelmasse abnehmen. 4 Abbildung 1: Fettmasse (FM) und Fett-freie Masse (FFM) in kg in Abhängigkeit vom Alter bei Männern und Frauen [mod. nach 1] 5 Grundumsatz Der Grundumsatz (GU), auch Ruheenergieumsatz genannt („basal metabolic rate“), bezeichnet die Energiemenge, die der Körper pro Tag in völliger Ruhe, nüchtern und unter Indifferenztemperatur benötigt (Indifferenztemperatur = Außentemperatur, bei der ein ruhender, unbekleideter Mensch bei relativer Luftfeuchte von 50 % seine Körpertemperatur von 37°C halten kann). Der Grundumsatz ist somit die Energiemenge, um Stoffwechsel und Organfunktionen aufrecht zu erhalten (siehe Modul 4). Der individuelle GU unterliegt verschiedenen Einflussfaktoren: Geschlecht Alter Gewicht Körpergröße/-oberfläche Muskelmasse Fettmasse Trainingszustand Genetik Muskelzellen haben einen höheren Energieverbrauch als Fettzellen, denn sie haben auch im Ruhezustand eine höhere Stoffwechselaktivität. So erklärt sich auch durch die geringere Muskelmasse und das vermehrte Fettgewebe bei Frauen ein insgesamt niedrigerer GU bei Frauen. Ausnahme stellen Schwangerschaft und Stillzeit dar. In dieser Zeit passt sich der GU dem erhöhten Energiebedarf an. Durchschnittlich liegt der GU einer Frau bei 6.300 kJ/d (1.500 kcal/d), beim Mann bei etwa 7.100 kJ/d (1.700 kcal/d). Betrachtet man den Gesamtenergieumsatz, der sich hauptsächlich aus Grundumsatz, postprandialer Thermogenese und körperlicher Aktivität ergibt, so macht sich der Einfluss des Geschlechts am Gesamtenergieverbrauch etwa ab dem 10. Lebensjahr bemerkbar. Ab diesem Zeitpunkt weisen Jungen einen höheren Energieumsatz auf als gleichaltrige Mädchen [3]. Um den Ruheenergieverbrauch genauer zu bestimmen, kann die Magermasse, die „lean-body-mass“ bestimmt werden. Der Anteil dieser fettfreien Masse ergibt sich aus: Körpergewicht minus Fettmasse. Die „lean-body-mass“ bestimmt vor allem den Energieumsatz in Ruhe. Eine diagnostische Methode, die diesen Wert liefert, ist die Bioimpedanz-Analyse (siehe Modul 4). 6 Der Magermassen-Anteil nimmt erst in höherem Alter ab. Dieser Abbau beginnt bei Frauen etwa ab dem 40. Lebensjahr. Im Vergleich dazu sinkt der Anteil der Magermasse beim männlichen Geschlecht durchschnittlich erst ab dem 50. Lebensjahr und dies von einem höheren Ausgangswert aus [2]. Wichtig ist: Gleicher BMI bedeutet nicht gleicher Fettanteil! Wie schon beschrieben, haben Frauen im Vergleich zu Männern generell einen erhöhten Körperfettanteil. Dies ergibt der Vergleich zwischen Frauen und Männern im gleichen Alter und mit gleichem BMI. Männer haben normalerweise einen Körperfettanteil von 10 bis 20 %, Frauen hingegen von 15 bis 30 %. Durch den höheren Anteil an stoffwechselaktiverer fettfreier Masse und den dadurch erhöhten Grundumsatzes ist das männliche Geschlecht im Hinblick auf eine Gewichtskonstanz und Gewichtsreduktion im Vorteil. Der Körperfettanteil steigt bei zunehmendem BMI, wobei die Korrelation beider Parameter bei hohem BMI aussagekräftiger ist als bei niedrigem BMI. Aus dem BMI kann man jedoch nicht die Verteilung der Körperfettmasse und deren prognostische Aussagekraft für Adipositas-assoziierte Krankheiten ableiten. Gleicher BMI bedeutet nicht gleiche Fettverteilung. 7 Fettverteilung „Fett hat ein Geschlecht!“ So unterscheidet man das mit Weiblichkeit assoziierte Subkutanfett, das sich über den gesamten Körper verteilt, von viszeralem Fett, welches das Bild des männlichen Bierbauches vor Augen ruft. In Anlehnung an die Geschlecht-betonte Fettlokalisation spricht man auch von gynoider (Hüfte, Gesäß, Oberschenkel, Brust) bzw. androider (Bauch) Fettverteilung. Der Anteil des viszeralen (intraabdominalen, zentralen) Fettes liegt bei Männern bei etwa 10 bis 20 %, bei Frauen nur bei 5 bis 8 % [4]. Studien mit Familien und monozygoten Zwillingen belegen einen genetischen Einfluss auf die subkutane Fettmasse von etwa 5 %. Sie unterliegt in höherem Maße äußeren Einflüssen als die viszerale Fettmasse, welche zu ca. 50 % genetisch determiniert ist [5]. Neben genetisch prädisponierenden Faktoren, Alter, Gesamtkörperfettmasse und Energiebilanz kommt dem Geschlecht beim Fettverteilungsmuster eine besondere Rolle zu. Die Lokalisation der Fettpolster unterliegt dem Einfluss von Östrogen und Testosteron. Dabei werden geschlechtsunabhängig vermehrt Androgenrezeptoren im viszeralen Fettgewebe nachgewiesen. Östrogenrezeptoren hingegen werden zumindest bei Männern vermehrt im subkutanen Fettgewebe produziert. Bei Frauen ist die Östrogenrezeptorexpression nicht von der Fettgewebslokalisation abhängig [5]. Aufgrund der Wirkorte der Sexualsteroide erklärt sich die Gewichtszunahme postmenopausaler Frauen. Wegen der Gleichgewichtsverschiebung der Sexualsteroide mit nun dominierender Androgenexpression (Abbildung 2) verändert sich das Fettverteilungsmuster bei Frauen nach der Menopause vom gynoiden („Birnen-Typ“) zum androiden (viszeralen) Typ („Apfel-Typ“) (Abbildung 3). In einer europaweiten Studie wurde bei Frauen aus dem Mittelmeerraum die höchste Testosteronkonzentration gemessen. Parallel dazu hatten sie den größten Bauchumfang [6]. Abbildung 2: Ab dem 50. Lebensjahr ändert sich die Fettverteilung durch die hormonelle Umstellung [mod. nach 7] 8 Abbildung 3: "Apfeltyp" und "Birnentyp" der Fettverteilung Auch die Schwankungen der Hormonkonzentrationen, die dem Menstruationszyklus zugrunde liegen, haben Einfluss auf das Gewicht. Es wurde beobachtet, dass Frauen während der Corpus luteum-Phase (2. Zyklushälfte) vermehrt zu kohlenhydrat- und kalorienreichen Nahrungsmitteln greifen. Ursächlich ist der in diesem Zeitraum erhöhte Grundumsatz der Frau verantwortlich. Leider übersteigen die zusätzlich zugeführten Kalorien den höheren Energiebedarf häufig um ein Vielfaches. Der Energiebedarf in der Corpus luteum-Phase ist im Vergleich zur Follikelphase (1. Zyklushälfte) um etwa 8 bis 20 % erhöht, es werden jedoch teilweise 20 bis 30 % mehr Kalorien zugeführt. Gibt Frau ihren Essgelüsten zu sehr nach, droht die Gefahr von Übergewicht bis hin zur Adipositas. Umgekehrt betrachtet hat auch das, was und wie viel wir essen – und somit das Gewicht –beträchtlichen Einfluss auf den Menstruationszyklus. Sowohl Über- als auch Untergewicht führen zu Zyklusstörungen bis hin zur Amenorrhoe und beeinträchtigen somit die Fertilität (siehe Modul 7) [8]. Nach Beginn einer Schwangerschaft hat die Gewichtszunahme der Mutter in diesen neun Monaten Einfluss auf die Gewichtsentwicklung des Kindes im Verlauf seines ganzen Lebens. Das Ausmaß der Gewichtszunahme in der Schwangerschaft und das Gewicht der Nachkommen im Erwachsenenalter sind positiv korreliert. Gerade Kinder schlanker Mütter, welche in einer Schwangerschaft stark zunehmen, haben langfristig ein erhöhtes Risiko für Übergewicht und Adipositas [9]. 9 Merke: Die „Gender-Medizin“ fördert das Verständnis von Gesundheit und Krankheit durch Einbeziehen der physischen und psychischen Unterschiede der Geschlechter. Frauen haben einen höheren Körperfettanteil und weniger Muskelmasse als Männer. Ihr Grundumsatz ist um ca. 20 % niedriger. Änderungen von Hormonkonzentrationen der Sexualsteroide (Geschlecht, Schwangerschaft, Menstruationszyklus, Menopause) beeinflussen die Fettverteilung. 10 Risiken viszeraler Adipositas In zahlreichen epidemiologischen Studien erwies sich die viszerale Adipositas als unabhängiger Risikofaktor für Erkrankungen im Rahmen des Metabolischen Syndroms (MetS) und des kardiovaskulären Systems. Frauen mit Diabetes mellitus haben im Vergleich zu Männern häufiger Endothelschäden der Gefäße und ein zwei- bis dreifach erhöhtes koronares Risiko. Auch Hyperglykämie und Hypertriglyzeridämie haben bei Frauen einen größeren Einfluss. Bei der Hypertonie verhält sich das Risiko umgekehrt: Männliche Hypertoniker erleiden häufiger eine Koronare Herzkrankheit (KHK) [10]. Bei der CORA-Studie (Koronare Risikofaktoren und Arteriosklerose bei Frauen) steht explizit das weibliche Geschlecht im Mittelpunkt. Sie beleuchtet den Einfluss genetischer Faktoren, des Risikoverhaltens und der Ernährung auf das Risiko der Frau, eine KHK zu entwickeln [11]. Östrogene schützen die Frau vor kardiovaskulären Erkrankungen. Mit Beginn der Menopause steigt das Herzinfarktrisiko rasant an und gleicht sich nach 10 bis 15 Jahren dem der Männer an. Frauen erleiden im Vergleich zu Männern nicht seltener, sondern später einen Herzinfarkt (Abbildung 4) [12]. Abbildung 4: Tödliche Infarkte pro Jahr und Altersdekade [mod. nach 12, 13] 11 Neben den klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren (z. B. Hypertonus, Dyslipidämie, Diabetes, Rauchen) und dem Bewegungsmangel führt die CORAStudie ungesunde Ernährungsgewohnheiten als eigenständigen Risikofaktor auf. Probandinnen mit hohem Konsum von tierischen Lebensmitteln und wenig Obst und Gemüse leiden häufiger an einer koronaren Herzkrankheit (KHK) [12]. Zur individuellen Risikoeinschätzung, bedarf es bei übergewichtigen Patienten der Unterscheidung zwischen viszeraler und subkutaner Adipositas. Die Bestimmung des BMI (Body Mass Index) allein wird dieser Differenzierung nicht gerecht, da der Anteil von Fett- versus Magermasse am Gewicht nicht berücksichtigt wird. Der BMI ist zwar das am weitesten verbreitete Maß zur Einteilung von Übergewicht in verschiedene Adipositas-Grade (siehe Modul 1). Aber es empfiehlt sich, weitere Parameter zur größeren Genauigkeit zu nutzen. Ein in der Praxis einfach zu bestimmendes Näherungsmaß für einen erhöhten Anteil an viszeralem Fettgewebe ist der Bauchumfang (WC, “waist circumference“). Ein Umfang bei Männern > 102 cm und bei Frauen > 88 cm spricht für ein stark erhöhtes kardio-metabolisches Risiko. Diese Aussage kann durch die zusätzliche Messung des Hüft-Umfangs präzisiert werden. Mit der Bestimmung der „waist-to-hip-ratio“ (WHR, Bauch-zu-HüfteRelation) können Patienten mit erhöhtem Risiko für Adipositas-assoziierte Begleiterkrankungen einfach und kostengünstig identifiziert werden (Tabelle 1). Obwohl die WHR oft angegeben wird, findet sie wegen der komplizierten Bestimmung nicht sehr viel Anwendung. Zahlreiche Studien propagieren zunehmend die bislang weniger gängige waist-toheight-ratio (WHtR, Bauch-zu-Größen-Verhältnis) [14]. Sie gilt aktuell als Prädiktor mit der höchsten Valididät [4]. Die Bestimmung kann kaum einfacher sein: WHtR = Bauchumfang in cm / Körpergröße in cm Für Frauen und Männer gilt der gleiche Grenzwert von 0,5, welcher nicht überschritten werden sollte. Als Gedankenstütze für den Patienten gilt: Der Bauchumfang darf die Hälfte der Körpergröße nicht überschreiten! 12 Tabelle 1: Quantifizierung der Adipositas [mod. nach 4] Body Mass Index (BMI) Bauchumfang Bauch-zu-Hüft-Verhältnis Bauch-zu-Größen-Verhältnis 2 Gewicht/Größe Einteilung gemäß WHO: Untergewicht Normalgewicht Übergewicht Adipositas Grad I Adipositas Grad II Adipositas Grad III kg/m Größter Bauchumfang Erhöhtes Risiko (DDG, DAG): Männer Frauen cm Bauchumfang/Hüftumfang Erhöhtes Risiko (AHA): Männer Frauen cm Bauchumfang/Körpergröße Grenze: Männer und Frauen 2 <18,4 18,5-24,9 25-29,9 30-34,9 35-39,9 >40 >102 >88 >0,95 >0,88 >0,5 WHO: World Health Organization. DDG: Deutsche Diabetes Gesellschaft. DAG: Deutsche Adipositas Gesellschaft. AHA: American Heart Association. Die Angaben zum Bauchumfang in der Tabelle 1 charakterisieren ein stark erhöhtes Risiko: Das Risiko ist bereits bei 94 cm (Männer) und bei 80 cm (Frauen) erhöht. Risikofaktoren für viszerale Adipositas sind [15]: Fehlernährung: Viel Zucker und Kohlenhydrate mit hohem glykämischen Index Viel Fett Große Essportionen Hoher Alkoholkonsum (v. a. Bier) Bewegungsmangel Änderungen im Hormonhaushalt Genetisches Veranlagungsprofil Chronischer Stress Medikamente (z. B. Cortison, Anabolika) 13 Fett als endokrines Organ Viszerales und subkutanes Fett unterscheiden sich in ihrem Metabolismus. Insbesondere Katecholamine steigern die Lipolyse, d. h. den Fettabbau im viszeralen Fettgewebe, mehr als in den subkutanen Fettdepots. Die lipolytische Aktivität des viszeralen Fettgewebes ist grundsätzlich höher als die des subkutanen Fettgewebes. Die bei zentraler Adipositas erhöhte Menge an freien Fettsäuren gelangt über die Pfortader direkt zur Leber. Dies führt zu einer verminderten Insulinsensitivität in der Leber, und auch die Glukoseaufnahme in der Peripherie wird vermindert. Die hohe Konzentration an freien Fettsäuren führt zu einer Insulinresistenz der Muskulatur und somit zu einer sekundären Hyperinsulinämie. Dies wiederum bedingt eine gesteigerte Fettbildung und -speicherung (Abbildung 5). Abbildung 5: Faktoren, die die intraabdominale Fettakkumulation beeinflussen und zu metabolischen Veränderungen bei viszeraler Adipositas führen [mod. nach 5] 14 Für den Pathomechanismus der abdominalen Adipositas ist bei übergewichtigen Patienten eine Überaktivität der Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse von Bedeutung. In den Adipozyten (Fettzellen) und Bindegewebszellen des viszeralen Fettgewebes liegen vermehrt Cortisolrezeptoren vor. Cortisolsekretion und -umsatz sind erhöht und verstärken ihrerseits wiederum die viszerale Adipositas, denn: Glucocorticoide haben einen starken Einfluss auf die Differenzierung, Funktion und Verteilung von Fettgewebe. Bei übergewichtigen Personen kann eine erhöhte Ausscheidung von Cortisol und Cortisolabbauprodukten im Urin nachgewiesen werden. Die erhöhten Konzentrationen stehen in unmittelbarer Korrelation zur waist-to-hip-ratio. Die endokrine Funktion und der Metabolismus des viszeralen Fettgewebes ähneln den Verhältnissen beim Cushing-Syndrom. Fettgewebe besitzt eine eigenständige Funktion als endokrines Organ. Es sezerniert zahlreiche bioaktive Peptide (Adipokine), die nicht nur lokal (autokrin/parakrin) sondern auch in starkem Maße systemisch (endokrin) wirken. Unter dem Überbegriff Adipokine werden alle vom Fettgewebe synthetisierten und sezernierten endokrin wirksamen Moleküle zusammengefasst. Bekanntestes Beispiel für ein Adipokin ist das Leptin, welches als Sättigungshormon fungiert (siehe Modul 1 und 2). Adipokine haben jedoch ein weitaus größeres Wirkungsspektrum. Sie beeinflussen die Insulinsensitivität und haben erheblichen Einfluss auf die Energiehomöostase, Fortpflanzung und Inflammation. Aus der Zunahme des Adipozytenvolumens resultiert eine Dysregulation der Adipokinsekretion [4]. Alle Adipokine bedingen negative Stoffwechseleffekte. Diese Einflüsse können zum Metabolischen Syndrom und zu kardiovaskulären Erkrankungen führen. Folgende Laborparameter und klinische Symptome geben Hinweise auf eine erhöhte Adipokinsekretion bei viszeraler Adipositas [16]: Insulinresistenz, Hyperinsulinämie, Diabetes mellitus Typ 2 Hypertonus, Herz-Kreislauf-Komplikationen Hyperhomozysteinämie Erhöhte Konzentration des Plasminogenaktivatorinhibitors Erniedrigter SHBG-Spiegel (Sexualhormon-bindendes Globulin) Fettleber Erhöhte Triglyzerid-Spiegel Erniedrigte HDL-Cholesterin-Konzentrationen Hyperandrogenämische Ovarfunktionsstörungen (v. a. Polycystisches Ovarsyndrom, siehe Modul 7) Schlafapnoe 15 Geschlechtsspezifische medizinische Versorgung Nicht nur in Anbetracht des kardiometabolischen Risikos bei Übergewicht und Adipositas und den dadurch bedingten Folgeerkrankungen ist es sinnvoll, die Sensibilität für geschlechtsbedingte Unterschiede in der Medizin zu schärfen. Oft werden zu voreilig Diagnosen gestellt, ohne dass geschlechtsspezifische Aspekte Beachtung finden. Ein folgenschweres Beispiel sind die Diagnostik und Therapie des Herzinfarktes. Die Mortalität beim Herzinfarkt – noch vor dem Eintreffen im Krankenhaus – ist bei Frauen signifikant höher [10]. Ursächlich ist der Unterschied in der Symptomatik zwischen Männern und Frauen. Verspürt ein Mann einen retrosternalen Schmerz mit eventueller Ausstrahlung in den Arm, so liegt die Diagnose Herzinfarkt nahe. Bei Frauen äußert sich ein Infarkt oftmals durch unspezifische Symptome wie Übelkeit, Erbrechen oder Oberbauchbeschwerden. Diese „Frauen-typischen“ Beschwerden werden häufig falsch gedeutet – sowohl vom Arzt als auch von der Patientin selbst. Schon bis zum Absetzen des Notrufs vergeht kostbare Zeit. In der Klinik angekommen ist die Diagnostik bei Frauen seltener zielgerichtet auf einen Herzinfarkt. Es werden öfter andere Ursachen angenommen, so dass sich durch Ausschluss von Differenzialdiagnosen die lebenswichtige Therapie verzögert. Zunehmend werden kritische Stimmen laut: „Die medizinische Versorgung ist geschlechtsblind!“ Ein weiteres Problem stellt die häufig abweichende Wirkung von Arzneimitteln bei den verschiedenen Geschlechtern dar. Das weibliche Geschlecht ist in den meisten Arzneimittelstudien unterrepräsentiert. Vor allem Frauen im gebärfähigen Alter werden in solche Studien nicht eingeschlossen. Dies liegt nicht zuletzt an den fatalen Erfahrungen mit Contergan. Es ist jedoch unbestritten: Frauen reagieren auf manche Arzneimittel anders als Männer. Die Bioverfügbarkeit von Pharmaka ist aufgrund von Unterschieden in Pharmakodynamik und -kinetik der Geschlechter verschieden. Die oben genannte differierende Körperzusammensetzung, v. a. der Körperfettanteil, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Weitere beeinflussende Faktoren mit deutlichen Geschlechtsunterschieden sind, bezogen auf die Frau [10]: Abweichende Protein- und Wasserverteilung Niedrigeres Plasmavolumen Geringere Organdurchblutung Niedrigeres Verteilungsvolumen (Dosisanpassung: Reduktion hydrophiler Pharmaka, Erhöhung lipophiler Pharmaka). Gerade bei Substanzen mit geringer therapeutischer Breite ist die Berücksichtigung des Geschlechts wichtig. So führt die Einnahme von Digoxin bei Frauen häufiger zu Nebenwirkungen und zur Hospitalisierung. Grund dafür ist die geringere renale Clearence des weiblichen Geschlechts, sodass bei identischer 16 Dosierung von Digoxin höhere Plasmakonzentrationen gemessen werden. Das proarrhythmogene Potenzial führt häufiger zu Nebenwirkungen [10]. Generell werden bei Frauen häufiger Nebenwirkungen unter einer Arzneimitteltherapie beobachtet. Zahlreiche weitere Beispiele könnten angefügt werden. Bei der Sekundärprävention von Herzinfarkt und Schlaganfall profitieren Frauen und Männer gleichermaßen von einer ASS-Therapie. In der Primärprävention gibt es jedoch einen entscheidenden Geschlechtsunterschied. Bei Männern wird durch die Einnahme von ASS das Herzinfarktrisiko signifikant gesenkt, bei Frauen hingegen das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden. Aufgrund dieser enormen geschlechtsspezifischen Wirkungen mit weit reichenden Folgen werden zunehmend Frauen in neue Studien eingeschlossen. Merke: Viszerale Adipositas ist ein unabhängiger Risikofaktor für Erkrankungen im Rahmen des Metabolischen Syndroms (MetS) und des kardiovaskulären Systems. Patienten mit erhöhtem Risiko für Adipositas-assoziierte Begleiterkrankungen können einfach und kostengünstig identifiziert werden. Der Bauchumfang soll die Hälfte der Körpergröße nicht überschreiten. Fettgewebe besitzt eine eigenständige Funktion als endokrines Organ. Gleiche Krankheiten können sich geschlechtsabhängig durch unterschiedliche Symptome äußern. Dies kann durch Verkennen der Situation zu verzögerter Diagnostik und Therapie führen. Die Bioverfügbarkeit von Pharmaka ist aufgrund von Unterschieden in Pharmakodynamik und -kinetik der Geschlechter verschieden. Cave: Pharmaka mit geringer therapeutischer Breite. 17 Gender und Essverhalten Der Unterschied im Nährstoffbedarf zwischen Mann und Frau ist überwiegend durch die biologisch determinierte Körperbeschaffenheit bedingt. Männer sind in der Regel größer und schwerer als Frauen. Außerdem haben sie einen höheren Anteil an Muskelmasse, der vermehrt Energie benötigt. Der Gesamtenergiebedarf von Männern ist im Mittel 20 % höher als der von Frauen (s. o.). Männer essen also schon allein aufgrund des erhöhten Kalorienbedarfs naturgemäß mehr. Die Menge aufgenommener Energie ist bei Männern demnach größer, der prozentuale Anteil an Proteinen, Fett und Kohlenhydraten ist jedoch bei beiden Geschlechtern ähnlich [17]. Der deutlichste Unterschied liegt in der Häufigkeit des Verzehrs bestimmter Lebensmittel. Während Frauen häufiger Gemüse und frisches Obst essen, greifen Männer häufiger zu Fleisch, Wurstwaren und Alkohol als Genussmittel (Abbildung 6). Abbildung 6: Tägliche Verzehrshäufigkeit in Prozent, differenziert nach Geschlecht und Alter [mod. nach 17] Männer und Frauen unterscheiden sich jedoch nicht nur aufgrund der Nahrungsmenge und konsumierten Lebensmittel, sondern in ihrem Essverhalten (Tabelle 2). Was und wie wir essen, ist überwiegend ein erlerntes Verhalten. Die Erwartungen an ein Geschlecht formen das Ernährungsverhalten zusätzlich. Für eine erfolgreiche Ernährungsberatung ist es wichtig, geschlechtsspezifische Unterschiede in den Ernährungsweisen zu kennen und zu deuten [18]. 18 Tabelle 2: Geschlechtstypische Unterschiede im Ernährungsverhalten [mod. nach 18] Männer Frauen Lebensmittelverzehr mehr und häufiger (rotes) Fleisch, Fleisch- und Wurstwaren, Alkoholika, häufiger energiereiche Speisen mehr und häufiger einheimisches Frischobst, Gemüse, Quark, Rohkost, häufiger vegetarische Kost Nahrungspräferenzen Fleischgerichte, deftige Kost, scharfe Gewürze, herbe Getränke (Beispiele: Jägerschnitzel, Currywurst, Maggiwürze, eingelegte Peperoni, Bier) Gemüse- und Nudelgerichte, leichte Kost, Süßspeisen (Beispiele: Folienkartoffeln, Nudelauflauf, Salat, Vanille, Zimt) Einstellungen zur Ernährung häufiger unkompliziertes Verhältnis zum Essen häufiger ambivalentes Verhältnis zum Essen Relevanz der Ernährung für die eigene Gesundheit wird meist niedriger eingeschätzt als die Bedeutung von Sport und Bewegung Ernährung hat häufig zentralen Stellenwert in den Gesundheitskonzepten höhere Bereitschaft, das eigene Essverhalten nach Maßgabe einer „gesunden Ernährung“ zu verändern Umgang mit dem Essen häufiger lustbetont häufiger kontrolliert und gezügelt häufiger am eigenen Geschmack/Genuss orientiert häufiger an sozialen Normen (Gesundheit, Attraktivität) orientiert Diäten eher aus gesundheitlichen Gründen häufiger Diäten zur Gewichtsreduktion, höhere Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper höhere Prävalenz von Risikoverhalten (z. B. Alkohol) höhere Prävalenz von gestörtem Essverhalten 19 Essen ist weitaus mehr als nur die Abdeckung des Nährstoffbedarfs. Es gehört zu unserer Persönlichkeit und unterliegt kulturellen Einflüssen. Es ist Teil unserer „Rolle“ als Mann oder Frau und ist somit Ausdruck unserer Geschlechtsidentität (Abbildung 7). Wir ernähren uns nicht nur, wir haben eine Esskultur, geprägt durch die Familie und die jeweilige Gesellschaft in der man aufwächst. Abbildung 7: Genderrelevanz von Emotionen im Umgang mit der Ernährung [mod. nach 18] 20 Das Essverhalten ist ein gutes Beispiel zur Verdeutlichung des Gender-Begriffes, denn er bedeutet mehr als einfach nur Geschlecht (sex). Er ist Struktur und Handeln zugleich. Unter „doing gender“ versteht man die aktive Geschlechtsarbeit. In Bezug auf das Essen versteht man darunter das individuelle Verhalten im Umgang mit Nahrung unter geschlechtsspezifischem Einfluss. Wir inszenieren unser Geschlecht durch unser Verhalten und so essen wir „männlich“ oder „weiblich“. Damit verbinden sich geschlechtsspezifische Assoziationen: „Männer grillen, Frauen essen Salat“ oder „Männer langen kräftig zu und schlingen das Essen hinunter, während Frauen eher zurückhaltend und gemäßigt sind bei Tisch“. Auch Geschmacksrichtungen werden mit den verschiedenen Geschlechtern assoziiert. Scharf, herb und bitter stehen für das männliche Geschlecht, während man den weiblichen Geschmack eher mit mild, „light“ oder „soft“ verbindet. Diese Herstellung eines Bezuges zur Geschlechtlichkeit (Sexuierungsprozesse) von Essen und Essverhalten sind auch Grund dafür, dass bei einem Experiment ein und dieselbe Frau beim Essen als femininer, d. h. als attraktiver, besser aussehend und emotional expressiver wahrgenommen wird, wenn sie kleine Portionen zu sich nimmt [18]. In dem Prozess der Sexuierung des Essens spielen Emotionen eine große Rolle (Abbildung 7). So wird das Essverhalten stark von Lust oder Unlust, Freude oder Angst beeinflusst. Schon in der frühen Pubertät kristallisiert sich ein Geschlechtsunterschied heraus. Jungen haben mehr Lust am Essen, weil sie dies sorgenfreier tun. Ein gutes Essen ziehen sie fast allem anderen vor und nach dem Essen fühlen sie sich besonders wohl. Bei Mädchen hingegen ist Essen häufig mit Angst verbunden. Sie möchten ihr Essverhalten kontrollieren, machen häufiger Diäten und leiden vermehrt unter Essstörungen. Die gesellschaftlichen Erwartungen und das propagierte Schönheitsideal von schlanken Frauen setzt Mädchen schon in frühem Alter unter Druck. Nur jede vierte Frau lässt sich bei den Malzeiten von ihrem Geschmack leiten, während die Hälfte aller Männer nur das isst, was ihnen schmeckt. Dieser sorglosere Umgang mit dem Essen führt beim männlichen Geschlecht zu einem Gefühl der Zufriedenheit. Dazu passt auch der riskantere Umgang mit Genussmitteln. Das männliche Ernährungsverhalten steht für Unabhängigkeit und Überlegenheit. Für Frauen hingegen stellt das Essen eine Konfliktsituation dar. Essen wird mit Verlust der Attraktivität assoziiert und impliziert dadurch Appetitlosigkeit, Angstgefühle und Kontrollwünsche [18]. Durch die Sexuierung von Gefühlen in Bezug auf die Ernährung können Weiblichkeit und Männlichkeit sozial hergestellt werden (gender). Ein Mann ist nicht nur Mann, eine Frau ist nicht nur Frau, weil sie so geboren wurden (sex), sondern weil sie sich durch ihr Verhalten dazu machen (doing gender). 21 Bedeutung der Muskulatur Ob weiblich oder männlich, dick oder dünn, wie oder was wir essen: Die Relationen müssen stimmen! Übergewicht bedeutet nicht gleich Krankheit. Es gibt auch „gesunde Fette“. Dabei spielt das Verhältnis von Fett- und Muskelanteil an Gewicht eine entscheidende Rolle. 5 % mehr Muskelmasse bedeutet 5 % mehr Grundumsatz. Abschließend ein kurzer Exkurs, um die Wichtigkeit des Aufbaus von Muskelmasse zu verdeutlichen: Die Skelettmuskulatur ist das Organ mit der deutlich größten Masse des menschlichen Körpers. Ein normalgewichtiger junger Mann besteht zu 40 (bis 50) % aus Arbeitsmuskeln. Die normalgewichtige junge Frau verfügt über 25 bis 35 % Gewichtsanteil Muskulatur am Gesamtgewicht [19, 20]. Die Skelettmuskulatur ist in vielfältiger Hinsicht ein interessantes und ungewöhnliches Organ: Sie ist hinsichtlich Masse und Funktion beeinflussbar. Sie nimmt die Dienstleistung aller anderen Organe (Herz, Lunge, Stoffwechsel, Zentralnervensystem) in Anspruch. Je nach Ausmaß der Muskeltätigkeit arbeiten die inneren Organe mehr oder weniger (somato-vegetative Kopplung). Das heißt: Muskelschwund bedeutet immer auch Leistungseinbuße der Organe! Die Skelettmuskulatur zeichnet sich durch eine Reihe von Charakteristika aus: Sie beansprucht in Ruhe ca. 20 % und unter starker Belastung über 80 % des zirkulierenden Blutvolumens. Sie beansprucht bis ca. 60 % der Leistung des Zentralnervensystems für ihre Steuerung und Kontrolle. Sie ist Hauptlieferant der lebenswichtigen Körperwärme. Regelmäßige Muskelaktivität (mit ausreichender Intensität und Dauer) führt zur epigenetischen Anpassung = Umgestaltung. Damit erfahren auch die Versorgungsorgane entsprechende adaptive Veränderungen im Sinne der Funktionsoptimierung. Die Arbeitsmuskulatur hat somit eine Schrittmacherfunktion für unseren gesamten Organismus. Auffallend ist, dass die Muskulatur sehr robust ist und so gut wie nie erkrankt [19]. Es sei denn, sie wird nicht benutzt. Dann zeigt sich die Schrittmacherfunktion von ihrer „hässlichen“ Seite: Die vegetativ gesteuerten Organe werden anfällig und krank, und es folgen erhöhte Morbidität und Mortalität. 22 Durch Nichts-Tun oder Wenig-Tun reduziert sich die Muskelmasse vom 30. Lebensjahr an pro Jahrzehnt um 5 bis 10 %. Binde- und Fettgewebe treten an die Stelle der Muskulatur [21]. Regelmäßige Bewegung und vor allem Krafttraining eignen sich besonders zum Erhalt und Aufbau der Muskelmasse. Bei Insulinresistenz trägt – auch ohne enorme Körpergewichtsreduktion – eine Änderung der Körperzusammensetzung zugunsten der Muskelmasse zur Prävention und Therapie des Typ-2-Diabetes mellitus bei. Es kommt zu eindeutigen Verbesserungen der Kraft, von Insulin- und Blutglucosekonzentrationen, von HDL-Cholesterin, Triglyceriden und HbA1c [22]. Die Trainierbarkeit der Skelettmuskulatur durch intensive Kraftbelastung bleibt bis ins hohe Alter (9. Lebensjahrzehnt) erhalten – wenngleich auf niedrigerem Niveau [20, 21, 23]. Dadurch wird die Gangsicherheit erhöht, Sturzneigung und damit Frakturrisiko werden reduziert. Allein durch Krafttraining kann der Ruheenergieumsatz um 500 kJ (= ca. 115 kcal) und mehr pro Tag erhöht werden. Deshalb ist ein Muskelaufbau eine hervorragende Möglichkeit zur Prävention der Adipositas [22]. Merke: Was und wie wir essen ist geschlechtsspezifisch. Männer greifen häufiger zu Fleisch- und Wurstwaren, Frauen zu Obst und Gemüse. Das Geschlecht in Form von „Gender“ ist nicht zwingend gleich dem biologischen Geschlecht (sex). Es wird u. a. durch soziale Einflüsse und Emotionen geprägt. Frauen zeigen häufiger ein ambivalentes Verhältnis zum Essen. Durch gesellschaftliche Normen verbinden Sie Essen oft mit Angstgefühlen. Muskelaufbau ist eine hervorragende Alternative zur Prävention der Adipositas und damit assoziierter Erkrankungen. 5 % mehr Muskelmasse bedeutet 5 % mehr Grundumsatz. 23 Fazit Die bisherigen Ausführungen und Beispiele zeigen: Der Ruf nach einer Geschlechtberücksichtigenden Medizin hat seine Berechtigung. Eine Sensibilisierung für diesen Aspekt ist notwendig. Damit werden Versorgungsdefizite, die durch das Nichtbeachten des Geschlechts entstehen, vermieden. Der Vergleich von Übergewicht und Adipositas und vor allem der unterschiedlichen Fettverteilung bei Männern und Frauen verdeutlicht, warum sie sich in ihren Risiken für Diabetes mellitus Typ 2 im Rahmen eines Metabolischen Syndroms und für kardiovaskuläre Folgeerkrankungen unterscheiden. Gerade bei viszeraler Adipositas ist eine Gewichtsabnahme zur Prävention dieser Folgeerkrankungen von Bedeutung. Bei einer Gewichtsreduktion nimmt der Anteil des viszeralen Fettgewebes überproportional ab [24]. Um diesen Effekt effizient zu nutzen, sollten Übergewicht und Adipositas interdisziplinär behandelt werden und somit verschiedene Therapieansätze vereint werden. Am erfolgreichsten für eine langfristige Gewichtsreduktion ist eine reduzierte Energiezufuhr mit einer Ernährungsumstellung in Kombination mit sportlicher Aktivität und Verhaltenstherapie [25]. Der erwünschte Erfolg kann im individuellen Fall durch den Einsatz von Medizinprodukten oder – nach strenger Indikation – pharmakologisch oder chirurgisch unterstützt werden. Die Gewichtsreduktion ist häufig ein langer und schwerer Weg. Aber unabhängig von der Anzahl der Pfunde, die purzeln: regelmäßiger Sport verschiebt die Körperzusammensetzung zugunsten der Muskelmasse [25]. Somit leben „fitte Fette“ weitaus gesünder als „träge Dicke“. 24 CME-Fragen 1. Welche Aussage(n) trifft/treffen zu? A) Mit dem Alter nimmt der Körperfettanteil bei gleichem BMI ab. B) Zwischen dem 20. und 70. Lebensjahr nimmt die Fettmasse bei Frauen innerhalb von 10 Jahren um durchschnittlich 2,1 kg zu. C) Zwischen dem 20. und 70. Lebensjahr nimmt die Fettmasse bei Männern kontinuierlich ab. D) Die Magermasse setzt sich vor allem aus Muskel- und Leberfett zusammen. E) Antworten A und C sind richtig. 2. Vervollständigen Sie den Satz/die Sätze: Der Grundumsatz ... A) ... wird auch Ruheenergieumsatz („basal metabolic rate“) genannt. B) ... ist die Energiemenge, die der Körper pro Tag in völliger Ruhe, nüchtern und bei Indifferenztemperatur benötigt. C) ... ist die Energiemenge, mit der Stoffwechsel und Organfunktionen aufrechterhalten werden. D) ... wird unter anderem vom Geschlecht beeinflusst. E) Alle Antworten sind richtig. 3. Welche Aussage(n) trifft/treffen zu? A) Die Magermasse ist definiert als Body Mass Index (BMI) minus Fettmasse. B) Die Magermasse nimmt bei Frauen und Männern im Alter deutlich zu. C) Normalgewichtige Frauen haben einen Körperfettanteil von 15 bis 30 %. D) Frauen haben im Vergleich zu Männern einen höheren Grundumsatz. E) Antworten B und D sind richtig. 4. Welche Aussage(n) zur Fettverteilung trifft/treffen zu? A) Der Anteil des viszeralen (intraabdominalen, zentralen) Fettes liegt bei Männern um etwa 10 bis 20 %. B) Der Anteil des viszeralen (intraabdominalen, zentralen) Fettes liegt bei Frauen um etwa 5 bis 8 %. C) Die Ausprägung der subkutanen Fettmasse unterliegt zu über 70 % dem genetischen Einfluss. D) Antworten A und B sind richtig. E) Alle Antworten sind richtig. 5. Welche(r) Einfluss/Einflüsse des Geschlechts trifft/treffen zu? A) Testosteron hat keinen Einfluss auf die Fettlokalisation. B) Nach der Menopause verändert sich bei Frauen das Fettverteilungsmuster vom „Apfel-Typ“ zum „Birnen-Typ“. C) In der zweiten Hälfte des Menstruationszyklus (Corpus luteum-Phase) ist der Grundumsatz im Vergleich zur ersten Hälfte (Follikelphase) erhöht. D) Frauen nehmen in der zweiten Zyklushälfte deutlich weniger Kohlenhydrate zu sich, als in der ersten. E) Antworten B und D sind richtig. 25 6. Welche Aussage(n) trifft/treffen zu? A) Bei Frauen steigt das Herzinfarktrisiko mit Beginn der Menopause an. B) Ein Bauchumfang bei Männern > 94 cm bedeutet bereits ein erhöhtes kardiometabolisches Risiko. C) Ein Bauchumfang bei Frauen > 80 cm bedeutet bereits ein erhöhtes kardiometabolisches Risiko. D) Ein Verhältnis von Bauchumfang (cm) zu Körpergröße (cm) von 0,5 sollte sowohl bei Frauen als auch bei Männern nicht überschritten werden. E) Alle Antworten sind richtig. 7. Welche(r) Patho-Mechanismus/-Mechanismen ist/sind bei der Entwicklung einer abdominalen Adipositas beteiligt? A) Bei Übergewichtigen besteht eine Überaktivität der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse. B) In den Adipozyten und Bindegewebszellen des viszeralen Fettes ist die Zahl der Cortisolrezeptoren bei abdominaler Adipositas deutlich vermindert. C) Eine verminderte Cortisolsekretion verstärkt die Entwicklung einer viszeralen Adipositas. D) Katecholamine vermindern den Fettabbau im viszeralen Fettgewebe. E) Alle Antworten sind richtig. 8. Worauf hat eine erhöhte Adipokinsekretion bei viszeraler Adipositas Einfluss? A) Insulinsensitivität B) Energiehomöostase C) Ovarialfunktion D) Inflammatorische Prozesse E) Alle Antworten sind richtig. 9. Welche Aussage(n) trifft/treffen zu? A) 5 % mehr Muskelmasse bedeutet 5 % mehr Grundumsatz. B) Eine junge, normaltrainierte und -gewichtige Frau verfügt über 45 % Muskulatur als Anteil am Gesamtgewicht. C) Die Skelettmuskulatur von Frauen beansprucht in Ruhe 60 % des zirkulierenden Blutvolumens. D) Die Muskulatur bei Frauen und Männern beansprucht etwa 10 % der Leistung des ZNS für ihre Steuerung und Kontrolle. E) Antworten C und D sind richtig. 10. Welche(r) Unterschied(e) im Ernährungsverhalten ist/sind geschlechtstypisch? A) Männer verzehren häufiger Fleisch- und Wurstwaren als Frauen. B) Frauen greifen im Vergleich zu Männern häufiger zu scharfen Gewürzen. C) Männer verzehren mehr „light“-Produkte als Frauen. D) Bei 30-jährigen Frauen liegt die tägliche Verzehrhäufigkeit von Gemüse bei etwa 55 %. E) Alle Antworten sind richtig. 26 Literatur 1. Meeuwsen S, Horgan GW, Elia M. The relationship between BMI and percent body fat, measured by bioelectrical impedance, in a large adult sample is curvilinear and influenced by age and sex. Clin Nutr 2010; 29(5):560-566 2. Schulz-Hanke I. Einfluss von Alter und Geschlecht auf das Verhältnis von BMI und Körperfett. Aktuel Ernährungsmed 2011; 36:78 3. Maffeis C, Schutz Y. Entwicklung des Energieverbrauchs. In: Adipositas bei Kindern und Jugendlichen 2005; 3:90-93 4. Iwen KA, Perwitz N, Lehnert H, Klein J. Adipositas. Valider Prädiktor für das kardiometabolische Risiko? Internist 2011; 52:352–361 5. Klöting N, Stumvoll M, Blüher M. Biologie des viszeralen Fetts. Internist 2007; 48:126-133 6. Legato M. 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