2. Radioaktive Strahlen und der Weg ins Innere der - IUP

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Die Elementaren Teilchen
in der Modernen Physik
Von Atomen, Kernen, Quanten, Quarks
Notizen und Stichworte
zu einer Vorlesung für Physikstudierende mittlerer Semester
Jörn Bleck-Neuhaus
Entwurf 10. Juni 2009 21:26
Kapitel 2
(frei zur Nutzung zum Selbststudium,
um kurze Rückmeldung an [email protected] wird gebeten)
Inhaltsverzeichnis
2 Radioaktive Strahlen und der Weg ins Innere der Atome
2.0 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Erste Experimente mit Radioaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.1 Photoplatte mit Uransalzen: Henri Becquerel 1896 . . . . . . . . . . . . .
2.1.2 Nebelkammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 Versuch der Deutung der Nebelkammer-Spuren mit klassischer Mechanik
2.2.2 Bohrsche Theorie der Abbremsung von α-Teilchen . . . . . . . . . . . . .
2.2.3 Untere und obere Grenze für den Energieverlust:
Formeln von Bohr und Bethe/Bloch für das Bremsvermögen . . . . . . .
2.3 α-Teilchen: Sonden zur Erkundung des Atominneren . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4 Formeln, Konstanten und Größenordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2001
. 2001
. 2002
. 2002
. 2005
. 2006
. 2006
. 2010
. . . . . . 2012
. . . . . . 2016
. . . . . . 2019
Literaturverzeichnis
2020
Index
2021
1
1
(Für die weitere Bearbeitung: Die Seitenzahlen sollen die Kapitelnummer erkennen lassen. Doppelte Klammern oder Fragezeichen markieren unfertige Stellen.)
2 Radioaktive Strahlen und der Weg ins Innere der
Atome
2.0 Überblick
Schon kurz vor der Entdeckung der beiden ersten Elementarteilchen wurde die klassische Physik des ausgehenden 19. Jahrhunderts durch ein unerklärbares Phänomen überrascht: die 1896 von Henri Becquerel
entdeckten durchdringenden ionisierenden Strahlen, die von einigen schweren chemischen Elementen ausgingen und als Radioaktivität bezeichnet wurden.
Ihr Entstehen war durch keinen der damals bekannten chemischen oder physikalischen Prozesse zu erklären oder auch nur zu beeinflussen. Mangels Alternativen musste man die Ursache der Radioaktivität
im unbekannten Inneren der Atome suchen. Die beiden schwersten der radioaktiven Elemente (Uran und
Thorium) strahlten zudem scheinbar fortwährend ohne je zu versiegen, und brachten dabei andere, etwas
weniger schwere Elemente hervor, deren eigene Radioaktivität (nach chemischer Abtrennung) aber zeitlich
abnahm. Die Strahlung war so energiereich, dass das radioaktive Präparat oder die davon bestrahlte Materie zu einer dauerhaften Wärmequelle wurden, und man auf einem einfachen Szintillations-Schirm einzelne
Blitze unregelmäßig aufflackern sah. Man konnte sie zählen, und das Ergebnis passte nach Umrechnung
mit der Avogadro-Zahl zu der Hypothese, man habe einzelne Atome bei der Emission beobachtet. (Dies
brachte um 1907 einen der lautstärksten und prominentesten Gegner der Atom-Hypothese, den ChemieNobelpreisträger Wilhelm Ostwald, zur Einsicht.)
Auch die Schwächung der radioaktiven Strahlen beim Durchgang durch Materie hing nicht von ihrer
Dichte, ihrem Aggregatzustand oder der chemischen Verbindung ab, sondern lediglich davon (bei gleicher
Masse der durchstrahlten Materie), welche Atomsorten in welcher prozentualen Zusammensetzung darin
vorkamen. Demnach beruhte auch die Wechselwirkung dieser Strahlen mit Materie auf Prozessen mit den
einzelnen Atomen – und bot sich selber damit als Werkzeug der Untersuchung von deren Inneren an.
Das 2. Kapitel berichtet im ersten Teil kurz über die Entdeckungsgeschichte der Radioaktivität und
ihrer drei Komponenten α-, β- und γ-Strahlung. Zu den am leichtesten beobachtbaren Eigenschaften dieser
Strahlungen gehörte ihre Fähigkeit, alle Materie zu ionisieren, sowie eine geradlinige Ausbreitung und –
im Fall der α-Strahlung – ihre kurze, wohldefinierte Reichweite, sichtbar belegt durch die kurzen Spuren
in der Nebelkammer.
Tatsächlich konnten schon aus diesen wenigen Beobachtungen allein bedeutende Rückschlüsse auf das
Atominnere gezogen werden. Das wird am ersten erfolgreichen Modell für das hohe, aber endliche Durchdringungsvermögen der α-Strahlung demonstriert. Es ist die Theorie der Abbremsung von α-Teilchen, die
Niels Bohr 1913 aufstellte, nicht zufällig kurz vor seinem Epoche machenden Atommodell. Bohr nimmt
an, dass das α-Teilchen durch elastische Stöße mit ruhenden Elektronen verlangsamt wird. Die Herleitung seiner “Bremsformel” ist ein Schulbeispiel für das Vorgehen der Physik ganz allgemein, wenn neue
Phänomene analysiert werden:
2.1 Erste Experimente mit Radioaktivität
2002
Allgemein:
Bohr 1913:
Versuchsweise zunächst alte Konzepte nehmen:
Newtonsche Mechanik, elektrostatische Kraft,
elastischer Stoß.
Typische Größenordnungen
abschätzen:
Geschwindigkeit, Abstand, Energie etc.
der
Parameter
Die Berechnungen durch eine vertretbare
Näherungsannahme stark vereinfachen:
Impulsnäherung (entspricht der 1. störungstheoretischen Näherung).
Die Grenzen der Anwendbarkeit der Näherung
feststellen:
Notwendigkeit einer oberen Grenze für den
Energieübertrag ans Elektron.
Die Grenzen der Anwendbarkeit der klassischen
Physik feststellen und behelfsweise dort, wo es
nötig wird, neue geeignete Regeln einführen:
Eine (klassisch unverständliche) untere Grenze
des Energieübertrags festlegen.
Offen gebliebenen Parametern geeignete Werte geben,
um Übereinstimmung mit den Beobachtungen zu erzielen.
Und schließlich, wenn die ganze Analyse sinnvoll
scheint, Schlussfolgerungen für weitere Untersuchungen ableiten:
Die α-Teilchen als geeignete Sonden zur Erkundung des Atominneren erkennen.
Neben ihrer Bedeutung für das Herantasten an das Studium inneratomarer Vorgänge ist die so gewonnene
Bohrsche Bremsformel (mit relativ milden quantenmechanischen und relativistischen Korrekturen) ein
Werkzeug vieler entscheidender Experimente geworden und wird auch heute noch benutzt, z.B. in der
medizinischen Krebstherapie mit Strahlen aus schweren Teilchen.
Der historischen Genauigkeit zuliebe aber eine Anmerkung: Als Bohr 1913 diese erste brauchbare Theorie
des Bremsvermögens aufstellte, wusste er schon, wie wertvoll die α-Strahlen als Untersuchungswerkzeug
der Atomphysik waren. Er hatte gerade einige Monate in dem Labor von Ernest Rutherford in Manchester
verbracht, wo mit ihrer Hilfe 1909 der Atomkern aufgespürt worden war1 – ein Vorbote vieler weiterer Entdeckungen, die von “vernünftigen” Vorstellungen über die Materie weit abwichen. Rutherfords Entdeckung
brauchte noch Jahre um sich durchzusetzen.
2.1 Erste Experimente mit Radioaktivität
2.1.1 Photoplatte mit Uransalzen: Henri Becquerel 1896
Kaum hatte Wilhelm C. Röntgen 1895 publiziert, dass an der fluoreszierenden Stelle im Glas seiner
Kathodenstrahl-Röhre eine neue durchdringende “X-Strahlung” entsteht (daher international “X-ray” statt
dtsch. “Röntgen-Strahlung”), untersuchte Henri Becquerel, ob diese auch von anderen fluoreszierenden
Stoffen ausgeht, z.B. von Uransalzen. Er bestreute eine lichtdicht eingepackte Photoplatte damit und fand
auch richtig heraus, dass sie geschwärzt wurde (Abbildung 2.1), dies aber auch dann, wenn das Salz noch
gar nicht durch Sonnenlicht zum Fluoreszieren angeregt worden war (denn in Paris herrschte Regenwetter).
Statt diese Schwärzung nun als Herstellungsfehler abzutun, erkannte Becquerel sie als physikalischen Effekt
einer weiteren neuen Strahlung: Spontan, unsichtbar, durchdringend, ohne zeitliche Abschwächung, dabei
äußerst energiereich, aber anders als Röntgens X-Strahlen unabhängig von einer externen Energiequelle –
die natürliche Radioaktivität. Dafür gewann er 1903 den Nobelpreis für Physik.
Einige der rasch folgenden Untersuchungsergebnisse:
ˆ Entdeckung neuer radioaktiver Elemente wie Radium (Ra) und Polonium (Po) in U- und ThMineralien (Marie und Pierre Curie, Nobelpreis für Physik 1903, für Chemie 1911).
1
s. Kap. 3
2.1 Erste Experimente mit Radioaktivität
2003
Abbildung 2.1: Die Photoplatte mit den ersten Spuren der Radioaktivität (Quelle: Henri Becquerels
Nobelpreis-Rede 1903)
ˆ Radioaktive Elemente wandeln sich in andere um. In der Muttersubstanz entstehen manche radioaktiven Elemente wieder neu, wenn sie chemisch abgetrennt worden waren (Ernest Rutherford 1900,
Nobelpreis für Chemie 1908).
ˆ Radioaktive Strahlung (eines Elements) ist weder chemisch noch physikalisch zu beeinflussen, daher
wohl eine Eigenschaft der einzelnen Atome (M. Curie).
Dieser Lehrsatz ist streng genommen falsch. 1934 gelang die Erzeugung neuer radioaktiver Stoffe
durch physikalische Prozesse (s. Kap. 6.5.9), 1938 wurde die chemische Beeinflussung einer Form
der β−Radioaktivität gefunden. Er war richtig im Rahmen der Möglichkeiten um 1900 und
bildete damals eine wichtige begriffliche Grundlage für den erfolgreichen Fortgang der Forschung,
der unter anderem die experimentellen Methoden hervor brachte, mit denen auch die genannten
Gegenbeispiele zu finden waren.
ˆ Die Strahlung breitet sich geradlinig aus.
ˆ Durch die Reichweite in Luft lassen sich verschiedene Komponenten unterscheiden (Rutherford 18981900, Villard 1900, s. Abbildung 2.2):
– α-Strahlen: einige cm.
– β-Strahlen: bis zu 2 m.
– γ-Strahlen: durchdringend, Abschwächung nach dem 1/r2 - Gesetz.
ˆ Durch ein Magnetfeld werden β-Strahlen (Giesel, Schweidler, Becquerel 1899) und α-Strahlen (Ru-
therford 1903) abgelenkt, und zwar in entgegen gesetzter Richtung. Das bedeutet: Sie transportieren
Masse und sind negativ bzw. positiv geladen. (γ−Strahlen werden nicht abgelenkt.)
2.1 Erste Experimente mit Radioaktivität
2004
Abbildung 2.2: Das Standard-Bild zu den drei Typen radioaktiver Strahlung, hier aus der Doktorarbeit von Marie Curie (1903). Durch die teilweise Ummantelung der Quelle mit Blei entsteht ein mäßig
kollimierter Strahl, dessen drei Komponenten sich durch Ablenkung im Magnetfeld (das senkrecht zur
Bildebene liegt) und Art der Abschwächung in Luft unterscheiden lassen. (Abb. nach [4])
Gemeinsame Wirkungen der radioaktiven Strahlen.
Entdeckung geführt hatte, wurde beobachtet:
Neben der fotografischen Schwärzung, die zu ihrer
ˆ Ionisation aller bestrahlten Materie (Becquerel 1898): Dies ermöglicht den Nachweis mit einem Elektroskop und quantitative Messungen mit dem Elektrometer.
ˆ Szintillationen (z.B. in Zinkblende ZnS), d.h. je ein schwach sichtbarer Lichtblitz bei jeder einzelnen
radioaktiven Umwandlung eines Atoms (Crookes 1903): Erste Möglichkeit überhaupt, Atome einzeln
zu zählen. Das überzeugte auch viele Skeptiker von der Existenz der Atome, zumal so die Größe der
Avogadro-Konstante bestätigt werden konnte.
ˆ Ständige Wärmeabgabe der radioaktiven Substanzen . Pro Atom werden bei jeder Umwandlung ca.
2
5 bis 10 MeV Energie frei - gewaltig viel im Vergleich:
– Chemische Energien haben typische Werte gerade um 1 eV.
(Warum “passt” die Einheit eV mit ihrer Größenordnung 10−19 VAs so gut für die Chemie?
Es wurde ja zur ersten Definition der Potential-Einheit “1 Volt” die Spannung gewählt, die
durch chemische Reaktionen in galvanischen Zellen hervorgebracht wird.)
– Ionisierungsenergien für Atome liegen zwischen 5 eV (Natrium) und 24 eV (Helium), typische
Werte um 14 -16 eV (H, N, O, Ar).
2
In Unkenntnis der Folgen hantierten die Curies und andere mit radioaktiven Präparaten, die bis zu 106 mal stärker
waren als nach der heutigen Verordnung für den Schutz vor ionisierenden Strahlen erlaubt. Marie starb 1934 an Anämie,
höchstwahrscheinlich eine Folge davon.
2.1 Erste Experimente mit Radioaktivität
2005
Ein neues Untersuchungswerkzeug. Wie die Atome diese spontane und energiereiche Strahlung produzieren können, und sich dabei auch noch in Atome anderer chemischer Elemente verwandeln (der Traum
der Alchimisten!), blieb noch für 20 Jahre unklar.3 Nichtsdestoweniger wurden die Strahlen gleich für weitere Experimente als Werkzeug benutzt, besonders die α-Strahlen, deren Natur auch als erste entschlüsselt
wurde4 . Frederick Soddy und Ernest Rutherford fanden 1903: Die Teilchen der α-Strahlung sind doppelt
ionisierte He-Atome (He++ ).
Sie schlossen eine α-strahlenden Substanz in einem Glas ein und ließen darin das austretende Gas
sich mehrere Monate lang ansammeln. Mit einer elektrischen Gasentladung wiesen sie durch Spektralanalyse darin das Element He nach. He war auf der Erde erst 1896 gefunden worden – und zwar
als Restgas nach Verflüssigung der Luft über Uran-Mineralen (William Ramsey, Nobelpreis f. Chemie
1904.)
Man stelle sich das damalige Erstaunen vor: Nach gängigen Vorstellungen muss bei der α-Radioaktivität
ein Atom ein zweites erzeugt (und fort geschleudert) haben – das zwar viel leichter ist als das erste und
elektrisch nicht ganz neutralisiert, das aber als Atom (wenn auch geladen) ein Körperchen von etwa gleicher
Größe wie das erste bzw. das übrigbleibende sein sollte. Der alte Mendelejew, Schöpfer des Periodensystems,
erklärte kategorisch: “He-Atome können nicht entstehen”. (nach [5, S. 67]).
2.1.2 Nebelkammer
Die Nebel-Kammer wurde ab 1895 von Charles T.R. Wilson entwickelt (Nobelpreis 1927), zunächst mit dem
Ziel, Luft und andere Gase von Kondensationskeimen zu befreien. (Methode: Bildet sich um einen Keim
ein Wassertröpfchen, sinkt er schneller zu Boden. Vgl. die klare Luft nach Regen. Bei kleinen Tröpfchen in
der Größe weniger Lichtwellenlängen, die als Nebel gut sichtbar sind, ist das Absinken sehr langsam.) 1911
wurden damit zum ersten Mal Spuren einzelner α-Teilchen sichtbar: Sie hatten längs ihrer Bahn tausende
Luftmoleküle ionisiert und damit neue Kondensationskeime gebildet (s. Abbildung 2.3).
Dies bietet sich als Demo-Experiment an, denn es ist (aus Gründen der über Jahrzehnte verbesserten Strahlenschutz-Richtlinien) eine der wenigen heute verbliebenen Möglichkeiten, Vorgänge um die
Radioaktivität direkt sichtbar zu machen.
Nun war auch direkt sichtbar, was durch Experimente mit Photoplatten schon 10 Jahre lang bekannt
gewesen:
ˆ α-Teilchen machen (fast) geradlinige Spuren,
ˆ ihre Länge ist bei E = 5 MeV ca. 5 cm, der Energieverlust im Mittel also
kin
dE/dx ≈ 1MeV/cm
(genauer: am Beginn der Spur 0.5 MeV/cm, gegen Ende höher).
Kann man diese beiden Beobachtungen physikalisch erklären? Die erste brauchbare Theorie hierfür lieferte
Niels Bohr erst 1913, und sie ist für die Moderne Physik so lehrreich, dass sie hier als Vorbereitung auf die
richtige Kernphysik vorgestellt werden soll.
Bohr ging (natürlich) von der Newtonschen Mechanik aus. Da ist zunächst wichtig, einmal die Abgrenzung zur relativistischen Mechanik zu prüfen. Ist die Geschwindigkeit der α-Teilchen bei 5 MeV schon nahe
an der Lichtgeschwindigkeit c ? Mit der in Energie ausgedrückten Masse (s. Kasten 1.1) mα ≈ 4 GeV ist
das einfach zu berechnen:
s
s
r
1
2
vα
5 MeV
1
2 mα vα
≡
≈ 1
=
= 5%
(2.1)
1
2
c
400
m
c
4000
MeV
2 α
2
3
4
Mehr dazu in Kap. 6.
Zu β-Strahlen (=Elektronen) und γ-Strahlen (=Photonen) siehe Kapitel 6.
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913
2006
Abbildung 2.3: Typische Spuren von α-Teilchen. Die einzelne längere Spur stammt von einem Teilchen
deutlich höherer Energie. (Abbildung aus [1])
‡
Dies ist also noch nicht relativistisch, zumal der charakteristische Faktor in den Formeln der Speziellen
von 1 abweicht:
Relativitätstheorie nur um
r
v2
v2
1
1− 2 ≈1− 2 =1−
≈ 1 − 10−3
c
2c
800
Um sich weiter mit den Größenordnungen physikalischer Variablen in diesen Prozessen vertraut zu machen,
quasi als Fingerübung ein paar simple Aufgaben:
Frage 2.1 Wie viel Zeit vergeht bis zur vollständigen Abbremsung des α-Teilchens?
Antwort 2.1 Bei konstanter Beschleunigung a (hier als einfachste erste Annahme gewählt; Beispiel:
freier Fall) ist die Durchschnittsgeschwindigkeit vα immer der Mittelwert aus Anfangs- (vα ) und Endgeschwindigkeit (0), hier also vα = 12 vα ≈ 0.025c ≈ 7.5 × 106 m/s.
Daher ∆t = s/vα ≈ 0.05 m/(7.5 × 106 m/s) ≈ 10−8 s. Dass die (negative) Beschleunigung konstant
bleibt, ist natürlich nur eine erste einfache Annahme (vgl. Aufgabe 2.5).
Frage 2.2 Wie groß ist die (Durchschnitts-)Beschleunigung a (z.B. in Einheiten der Erdbeschleunigung g ≈ 10 m/s2 )?
Antwort 2.2 a = vα /∆t ≈ 15 × 106 /10−8 m/s2 ≈ 1014 g (!).
Reichweite und damit auch Abbremszeit der α-Teilchen in verschiedenen Materialien sind fast unabhängig von deren näherer chemischen oder physikalischen Beschaffenheit, abgesehen von ihrer Dichte,
zu der sie annähernd umgekehrt proportional variieren5 . Eine physikalische Erklärung des Energieverlustes
muss man daher in den allgemeinsten Eigenschaften der Materie suchen.
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913
2.2.1 Versuch der Deutung der Nebelkammer-Spuren mit klassischer Mechanik
Ansatz: Stoß. Bohrs Erklärungsansatz zur Bildung eines Ionisationskeims unter Energieverlust lautet:
Das α-Teilchen stößt elastisch gegen ein (ruhendes) Elektron. Stoßprozesse haben überragende Bedeutung
5
Kondensierte Materie gleich welcher Art bremst folglich ca. 103 fach stärker und schneller als eben abgeschätzt.
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913
2007
in der Erforschung der Elementarteilchen, denn anders kann man diese kaum untersuchen. Daher folgt hier
zunächst eine etwas gründlichere, aber noch nicht relativistische Beschreibung. Dabei gehen wir immer
(genauer: wenn die Teilchen sich nicht in andere umwandeln) von einem elastischen Stoß aus, denn für so
etwas wie “Reibung”, “Verformung” oder “Wärmeinhalt” hat ein elementares Teilchen keinen Freiheitsgrad.
Der elastische Stoß ist ganz allgemein dadurch definiert, dass nicht nur wie immer die Gesamt-Energie
erhalten bleibt, sondern auch der Anteil, der die inneren Energien der beiden stoßenden Systeme in ihrem
jeweiligen Schwerpunktsystem angibt. Die Differenz zur Gesamtenergie ist die gesamte kinetische Energie
′ . (Gestrichene
der beiden Systeme, die daher im elastischen Stoß auch für sich erhalten bleibt: Ekin = Ekin
Größen sollen nach dem Stoß gelten, ungestrichene davor.)
Frage 2.3 Ist die Klassifizierung als “elastischer Stoß” auch unabhängig vom Bezugssystem?
Antwort 2.3 Ja. Die innere Energie hat per def. in allen Bezugssystemen den selben Wert.
Erinnerung an die Mechanik: Bezugssysteme für Labor(L) und Schwerpunkt(S)
ˆ L-System (Labor ruht, s. Abb. 2.4)
~vα
~
V
∝ me
b
∝ mα
~ve = 0
~v = 0
Abbildung 2.4: Zwei Körper (blauer und roter Kreis, Massen mα , me ) mit ihrem Schwerpunkt (im gestrichelten Kreis) auf ihrer Verbindungslinie. Die Abstände stehen im umgekehrten Verhältnis der beiden
Massen, im wirklichen α-e-System also wie 1:7500. b ist der Stoßparameter, ~vα ist die Geschwindigkeit
des blauen Körpers im Labor-System vor dem Stoß (der rote ruht). Der (beliebige) Maßstab für die Geschwindigkeitsvektoren wurde so gewählt, dass ~vα bis zur gepunkteten grünen Linie reicht, um leicht ins
~ ergibt sich in dem Dreieck
Schwerpunktsystem wechseln zu können. Die Schwerpunktsgeschwindigkeit V
aus dem Strahlensatz.
(Alle Geschwindigkeiten im Laborsystem sind mit Buchstaben ~v bezeichnet, andere Größen mit Index
L):
– vor dem Stoß ve = 0, vα > 0
– nach dem Stoß vα′ > 0, ve′ > 0
Erhaltung des Gesamtimpulses:
P~L = P~L′
mα~vα (+me~ve ) = mα~vα′ + me~ve′
pα + p~e =
~
p′α
~
+
(2.2)
p~′e
Daher gilt: Impulsübertrag ans Elektron = Impulsverlust des α-Teilchens.
∆~
pe = ~
p′e − p~e = p~α − ~
p′α = −∆~
pα
(2.3)
mα
~ = d mα~rα + me~re =
V
vα
dt mα + me
mα + me
(2.4)
~ des Schwerpunkts (im L-System):
Geschwindigkeit V
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913
2008
~ )
( folgt auch aus P~L = (mα + me ) V
ˆ S-System (Schwerpunkt ruht, s. Abb. 2.5)
~ . Alle Geschwindigkeiten im SDas S-System bewegt sich im L-System mit der Geschwindigkeit V
System sind mit Buchstaben ~u bezeichnet, andere Größen mit Index S oder CM S (=center of mass).
~ (Galilei-Transformation, nicht-relativistisch)
– für alle Geschwindigkeiten gilt ~u = ~v − V
– Geschwindigkeitsdifferenzen sind in S- und L-System gleich : ~u − ~u′ = ~v − ~v ′
– Gesamtimpuls im S-System P~CM S = p~CM S,α + p~CM S,e = p~′CM S,α + ~
p′CM S,e = 0, also sind die
Impulse von Projektil und Target stets entgegengesetzt parallel und gleich groß. Daher sind
(wegen p = mu) die Geschwindigkeiten umgekehrt proportional zur Masse: uα /ue = me /mα ≈
1 : 7500.
– Beim elastischen Stoß (s. obige Definition im L-System) bleibt auch im S-System die kinetische
Energie erhalten ∆ECMS = 0.
– Daher sind beide Impulse nach dem Stoß dem Betrag nach gleich denen vor dem Stoß, nur die
Richtungen können sich ändern.
~uα
∝ me
b
∝ mα
~
~ue = −V
~u = 0
Abbildung 2.5: Die beiden Körper von Abbildung 2.4 in derselben Anordnung, mit ihren Geschwindigkeiten ~u im Schwerpunkt-System. Nur die grüne Bezugslinie, die räumlich den Stoßparameter und für
die Geschwindigkeit den Wert Null zeigt, geht nun durch den Schwerpunkt.
Was bedeutet nun “Stoß”
genau? Anschaulich und im Alltag: einen durch “Berührung” verursachten
R
~ abstoßend und von sehr
Impulsübertrag ∆~
p = F~ dt (dies Integral heißt “Kraftstoß”), wobei die Kraft F
kurzer Reichweite gedacht ist und deshalb nur kurze Zeit einwirkt, etwa wie beim Billard. Da wir aber
über die “Kontaktkräfte” und “Oberflächen” von Elementarteilchen gar nichts wissen, ist es besser, diese
Details aus der Definition zu streichen. Außerdem müssen wir uns auch gleich von der einschränkenden
Vorstellung befreien, beim Stoß müssten ab-stoß -ende Kräfte gewirkt haben.
Ein Stoß ist von hier an jede Wechselwirkung zwischen zwei anfangs freien Teilchen.
Bei einem elastischen Stoß kommen die beiden Teilchen mit unveränderten Eigenschaften, aber veränderten
Flugrichtungen heraus. Daher bedeutet elastischer Stoß genau genommen nichts anderes als Impulsübertrag
vom Projektil ans Target und umgekehrt (vgl. Gl. 2.3). Umrechnung vom L- ins S-System ergibt:
∆~
pe = me (~v ′e − ~ve ) ≡ me (~u ′e − ~ue )
|
{z
} |
{z
}
L−System
S−System
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913
2009
p~e
p~ ′α
p~α
p~ ′e
Abbildung 2.6: Elastischer Stoß im S-System betrachtet: Angedeutet sind die Trajektorien von α-Teilchen
(blau) und Elektron (rot). Die Kraft ist hier anziehend, sie fliegen um den Schwerpunkt und um einander
herum. Kurze bzw. lange Strichelung der Trajektorien soll die verschiedenen Geschwindigkeiten andeuten.
In der Zeichnung etwa ue /uα ≈ 3:1, in Wirklichkeit ue /uα = mα /me ≈ 7500:1. Die Impulse beider
Teilchen (dicke Pfeile) sind zu jedem Zeitpunkt gleich groß und genau entgegengesetzt. Weit nach dem
Stoß haben sie die gleiche Größe wie weit vorher, aber andere Richtung.
und fürs α-Teilchen entsprechend. ∆~
p hat daher im S- und L-System den selben Wert, ist eine GalileiInvariante6 . Invarianten gelten immer als nützliche Größen zur physikalischen Charakterisierung eines
Prozesses.
Frage 2.4 Gegen eine mögliche Verwirrung der Begriffe: Bohr geht von einem Energieverlust des
α-Teilchens aus, obwohl vom elastischen(!) Stoß die Rede ist?
Antwort 2.4
ˆ Nur im S-System behält jedes der elastisch stoßenden Teilchen seine kinetische Energie, weshalb
gilt ∆Eα,S = ∆Ee,S = 0.
ˆ Im L-System erfolgt immer ein Energieübertrag ans vorher ruhende Teilchen, also ein Energieverlust des Projektils: ∆Eα,L = −∆Ee,L < 0.
ˆ ∆E ist eben keine Invariante.
Nach diesen begrifflichen Vorbereitungen können schon manche Einzelheiten des Bohrschen Modells
geklärt werden:
Nach wie viel Stößen mit Elektronen kann das α-Teilchen zur Ruhe kommen? Der maximale Energieverlust ∆Emax an das ruhende Elektron erfolgt bei maximalem Impulsübertrag ∆~
p . Vom Schwerpunkt aus
~ entgegen geflogen
gesehen (der praktisch mit dem α-Teilchen mit fliegt), kommt ihm das Elektron mit −V
~ zurück, wie ein Ball von der Wand. (Im S-System sieht es so aus, dass auch das schwere
und prallt mit +V
α-Teilchen vom leichten Elektron abprallt – denn die Impulse beider Teilchen sind immer entgegengesetzt
~ ≈ 2~vα
- s. Abbildung 2.6). Im L-System ist dann ~ve,max = 2V
1
1
me
⇒ ∆Emax = me (2 V )2 ≈ me (2 vα )2 = 4
Eα
2
2
mα
(2.5)
Bei den ersten Stößen in der Nebelkammer (Eα ≈ 5 MeV) sind das etwa 2.5 keV Energieverlust, mit
abnehmender Tendenz. Selbst bei der unrealistischen Annahme, dass alle Stöße von der Art maximales
6
Im relativistischen Bereich ist nicht ∆~
p invariant, sondern die aus Energie- und Impulsübertrag gebildete invariante Masse,
s. Kap. 13.2.1
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913
2010
∆p sind, würde es also viele Tausend solcher Stöße dauern, bis keine Kondensationskeime mehr gebildet
werden können – im Einklang mit der beobachteten Spur aus vielen Nebeltröpfchen.
~ + ~uα
~vα = V
~
V
~uα
~u ′α
ϑmax
~ + ~u ′
~v ′α = V
α
Abbildung 2.7: Maximaler Ablenkwinkel ϑmax eines schweren Teilchens beim Stoß gegen ein ruhendes
leichtes. Die Anfangsgeschwindigkeit ~vα (blauer Vektor oben) ist im unteren Teil der Abbildung zerlegt
~ und Geschwindigkeit im Schwerpunktsystem ~uα . V
~ bleibt erhalten,
in Schwerpunktsgeschwindigkeit V
an ~uα kann sich im elastischen Stoß nur die Richtung ändern.
Wie stark kann das α-Teilchen dabei abgelenkt werden? Den maximalen Ablenkwinkel θmax des αTeilchens im L-System (bei 1 Stoß) kann man so ermitteln (vgl. Abbildung 2.7): Gesucht ist der maximale
~ + ~uα )und ~v ′ (= V
~ + ~u ′ ), wobei die Beträge von ~uα und ~u ′ gleich sind und
Winkel zwischen ~vα (= V
α
α
α
~ parallel, ~u ′
nur einen winzigen Bruchteil me /mα der Gesamtgeschwindigkeit ~vα ausmachen. ~uα ist zu V
α
kann jede beliebige Richtung haben, für maximale Ablenkung sollte es senkrecht zu ~v ′α stehen. Dann ist
der Winkel zwischen ~vα und ~v ′α ziemlich genau θmax ≈ uα /V = me /mα ≈ 10−4 (im Bogenmaß, wo die
Einheit 360 /2π ≈ 60 ! Das entspricht also 0.006 ).
Ein mittlerer Ablenkwinkel θmittel dürfte größenordnungsmäßig etwa bei der
√ Hälfte liegen und wird beim
seitlichen Blick auf die Spur perspektivisch (im Mittel) noch einmal um 1/ 2 verkürzt. θmittel = 0.002◦
wird also eine brauchbare Abschätzung ergeben.
°
°
°
Wie groß kann die Ablenkung θN nach N Stößen sein, wobei N in die Tausende geht? Wenn die
Ablenkung jedes Mal die maximale wäre und in dieselbe Richtung ginge, dann θN = N θmax , aber das ist
natürlich “beliebig unwahrscheinlich”. Auch θN = N θmittel ist falsch. Ein realistischer Wert ist viel kleiner
wegen des zufälligen Wechsels der Ablenkrichtungen, der sich zudem bei jedem α-Teilchen anders ergibt.
Nach den Regeln der Statistik ist eine symmetrische Verteilung um θN =√ 0 zu erwarten, in der Form
einer Gauss’schen Glockenkurve mit einer Standard-Abweichung σ(θN ) = N θmittel . (Mehr Details zu
diesem Grundgesetz der Wahrscheinlichkeitsrechnung
in Kap. 6.1.5 – Stichwort Poisson-Verteilung). Für
√
grob geschätzte N = 104 ...105 folgt σ(θN ) = N θmittel = 0.2◦ ...0.6◦ : Eine geringfügige Abweichung von
der geraden Trajektorie - in Übereinstimmung mit der Beobachtung der geraden Tröpfchen-Spur.
Soweit die Diskussion der qualitativen Beobachtungen an den α-Teilchen-Spuren, die im Rahmen des
Modells von Bohr ohne weiteres gut verständlich sind. Wir wollten aber auch prüfen, ob die anfänglichen
0.5 MeV Energieverlust pro cm Luftweg erklärbar sind. Es wird sich zeigen, dass schon die Interpretation
dieser simplen Messgröße auf weitreichende, damals revolutionierende Einsichten über das Innere der Atome
führt.
2.2.2 Bohrsche Theorie der Abbremsung von α-Teilchen
Zu berechnen ist nun: Wie oft kommt ein α-Teilchen auf seiner Bahn den Elektronen wie nahe und wie
viel Energie gibt es dabei ab?
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913
2011
Impulsnäherung. Einfachstes Vorgehen, nahe gelegt durch die vorstehenden Abschätzungen: Wir machen
die Näherungsannahme, dass während des Stoßprozesses weder das α-Teilchen noch das Elektron etwas
davon bemerken, d.h. bezüglich ihrer Geschwindigkeiten in ihren Anfangs-Zuständen verharren: ~vα = const,
~ve = 0. Das α-Teilchen fliegt dann auf gerader Bahn im Abstand b (Stoßparameter ) am ruhenden RElektron
~ dt =
vorbei. Das ermöglicht die verhältnismäßig einfache Berechnung eines Impulsübertrags ∆~
pα = F
−∆~
pe , den wir erst danach dem Elektron gutschreiben, um daraus dessen kinetische Energie zu ermitteln
und diese mit dem Energieverlust des α-Teilchens gleichzusetzen:
∆Eα =
(∆pe )2
2me
(2.6)
Dies wird “Impuls-Näherung” genannt und ist ein erstes Beispiel für die häufig benutzte
Störungstheorie 1. Ordnung:
“Berechne den erwarteten Effekt mit Hilfe der ungestörten Zustände.“
~vα ≡ const.
~rα (t) = ~b + ~vα t
F~
b
~⊥
F
b
~ve ≡ 0
~re ≡ 0
dx
Abbildung 2.8: Impuls-Näherung beim Stoß eines α-Teilchens (blau) gegen ein ruhendes Elektron (rot).
Das α-Teilchen fliegt mit konstanter Geschwindigkeit im Abstand b am Elektron vorbei, das im LaborSystem bei ~r = 0 ruhend bleibt. (Der grüne Ring wird erst später in der Rechnung gebraucht. Er liegt
mit dem Innenradius b senkrecht um die Trajektorie.)
Die Impuls-Näherung durchgerechnet. Das Elektron ruht bei ~re = 0, das α-Teilchen fliegt mit vα =
const. parallel zur x-Achse. Das Zeit-Integral für die Berechnung des Kraftstoßes kann man dann mit
~ (x) = ze E(x)
~
dt = dx/vα in ein Linien-Integral umschreiben, und die Kraft F
gleich durch die vom
Elektron erzeugte elektrische Feldstärke ausdrücken (darin mit z = 2 die Ladung ze des α-Teilchens):
+∞
+∞
Z
Z
ze
~ (t) dt =
~
∆~
p=
F
E(x)
dx
vα
−∞
(2.7)
−∞
ein Linienintegral über die Feldstärke, das man leicht direkt ausrechnen kann, wenn man
So entsteht
~ e2
E(x) = 4πε0 r12 , r 2 = x2 + b2 ) einsetzt. Gebraucht wird nur die Komponente E⊥ (x) senkrecht zur Flugrichtung; denn wegen der einfachen Annahmen der Impulsnäherung ergibt die Parallelkomponente Null.
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913
2012
Mit einem “eleganten” Trick kann man sich aber vom Gauss’schen Durchflutungsgesetz (1. Maxwellsche
Gleichung) auch noch diese Integration abnehmen lassen. Dazu umgibt man das Elektron mit einer geschlossenen Fläche A:
I
~ r ) · dA
~ = −e
E(~
(2.8)
ε0
A
Bei geeignet gewählter Form kommt in diesem Oberflächen-Integral das gesuchte Linien-Integral längs der
α-Teilchenbahn vor, nämlich wenn A der unendlich lange Zylindermantel mit Radius b um die x-Achse ist
~ r ) · dA
~ ≡ E⊥ (~r ) |dA| projiziert dann überall schon die
(auf der das Elektron liegt). Das Skalarprodukt E(~
Komponente E⊥ (x) heraus. Für ein Stückchen dx des Zylinders hat E⊥ (x) überall den gleichen Betrag.
Die Fläche ist dA = 2πb dx, dies Stück trägt also mit E⊥ (x) 2πb dx zum Oberflächen-Integral bei. Das
Integral über den ganzen Zylindermantel ist:
I
~ r ) · dA
~=
E(~
+∞
Z
E⊥ (x) 2πb dx
(2.9)
−∞
(Die Stirnflächen des Zylinders sind unendlich weit weg, dann bringen sie nichts.) Alles in Gl. (2.7) eingesetzt ergibt
∆p = −
ze
e
vα 2πb ε0
(2.10)
Bekommt ein ruhendes Elektron diesen Impulsübertrag, erhält es die kinetische Energie
z 2 e2/4πε0
(∆p)2
=
∆E(b) =
1
2
2me
2 me vα
2
1
b2
.
(2.11)
Je nach dem Wert von b = 0 . . . ∞ sind hiernach alle Energieüberträge zwischen ∆E(0) = ∞ und ∆E(∞) =
0 möglich.
Wie oft fliegt nun das α-Teilchen während einer längeren Flugstrecke ∆x im Abstand b an Elektronen
vorbei? Sinnvoll kann die Frage nicht für einen genauen Wert b, sondern nur für ein Intervall b . . . b + db
gestellt werden. Dann sind alle Elektronen beteiligt, die im ringförmigen Volumen 2π b db ∆x liegen (grün
in Abb. 2.8); deren Anzahl ist bei Elektronendichte ne also 2π b db ∆x ne , von denen jedes dem α-Teilchen
die Energie ∆E(b) abnimmt. Daher ist in Materie mit gleichmäßig verteilten Elektronen längs der Strecke
∆x (mit b = 0 . . . ∞) der gesamte Energieverlust des α-Teilchens:
Z
Z
z 2 (e2/4πε0 )2
db
∆Emat = ∆E(b) 2πb db ∆x ne = 2π∆xne
(2.12)
me
b
mα Eα
Die Impulsnäherung divergiert. Das Integral divergiert – eine Katastrophe für den Versuch, mit klassischer Physik die Länge der Spuren in der Nebelkammer zu interpretieren! Daher muss man zunächst
vorsichtiger rechnen und endliche Grenzen einsetzen:
Für 0 < bmin ≤ b ≤ bmax < ∞ bzw. 0 ≤ ∆Emin ≤ ∆E ≤ ∆Emax < ∞
(wobei bmin zu ∆Emax gehört und umgekehrt, d.h. ∆Emax /∆Emin = (bmax /bmin )2 ):
z2
dE
= 2π ne
dx
e2/4πε0
1
2
2 me vα
2
z 2 e2/4πε0
bmax
mα
ln
=
πne
bmin
me
Ekin,α
2
ln
∆Emax
∆Emin
(2.13)
Offensichtlich könnte man durch Wahl von ∆Emin , ∆Emax jedes gewünschte Ergebnis hervorbringen. Was
aber sollten gute physikalische Gründe für die geeignete Wahl sein?
2.2.3 Untere und obere Grenze für den Energieverlust:
Formeln von Bohr und Bethe/Bloch für das Bremsvermögen
Bohrs Rezepte gegen unendliche Ergebnisse.
Zwei Probleme gibt es mit der Formel für ∆E(b) bzw.
dE
dx :
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913
2013
ˆ Gl. (2.11) liefert bei zentralem Stoß (b → 0) einen unendlichen Energieübertrag (∆E(b) → ∞).
Auflösung: Die Impuls-Näherung wird hier, weil physikalisch nicht mehr gerechtfertigt, unbrauchbar. Das Elektron darf hier doch nicht während des ganzen Vorgangs ruhend angenommen werden7 . Vorläufige Lösung: Man nehme für Gl. (2.13) als obere Grenze des Energieübertrags ∆Emax =
4 (me /mα ) Eα wie schon vorher aus der Impulserhaltung berechnet (Gl. 2.5).
ˆ Gl. (2.13) liefert dE/dx → ∞ wenn b
max → ∞ bzw. Emin → 0.
Hier war Bohr kein klassisches Argument mehr hilfreich. Sein Lösungsvorschlag: Es muss eine EnergieSchwelle ∆Emin (> 0) geben, unter der die Elektronen des Atoms überhaupt keine Energie aufnehmen
können.
(Man erahnt hier, wie das Postulat entstand, mit dem 8 Monate später Bohr in seinem Atommodell
den Elektronen die Aufnahme oder Abgabe beliebig kleiner Energiebeträge verbot.)
Um Übereinstimmung mit dem in der Nebelkammer gemessenen Bremsvermögen zu erhalten, musste
Bohr diese Mindest-Energie überraschend hoch ansetzen: etwa ∆Emin ≈ 80 eV. (Das ist, wie sich später
herausstellte, ungefähr die mittlere Bindungsenergie aller 7 bzw. 8 Elektronen in den N- und O-Atomen
der Luft.)
Diese Divergenz bei bmax → ∞ (bzw. ∆Emin → 0) kann auch klassisch behoben werden (s. [2, Kap.
13.2]), wenn man elastisch gebundene Elektronen annimmt (Schwingungsfrequenz ωel ). Die Impuls~ (t) zeitlich so konNäherung ist dann nämlich nur bei kleinen b gerechtfertigt, wo der Kraftverlauf F
zentriert ist, dass er im wesentlichen in eine halbe Schwingungsperiode ∆t ≈ π/ωel hineinpasst. Bei
großem b – also langsamerem Verlauf – bleibt der Impulsübertrag zwar immer derselbe, jedoch wechselt
der Energieübertrag nach jeder halben Schwingung das Vorzeichen (Beschleunigen bzw. Abbremsen)
und mittelt sich praktisch zu Null (das nennt man adiabatische Störung). Die (unscharfe) Grenze liegt
etwa bei Stoßparametern bcrit ≈ vα /ωel . Dieser Ausweg rettet aber die klassische Berechnung nicht,
denn auch dies bcrit als obere Integrationsgrenze ist zu groß, es käme aus Gl. (2.13) immer noch ein
viel zu großes Ergebnis für dE/dx heraus.
Bohrsche Bremsformel.
Damit heißt die endgültige Bohrsche Formel für den Energie-Verlust:
me
4 mα Ekin,α
πz 2 (e2/4πε0 )2
dE
= me
ne ln
.
dx
∆Emin
mα Ekin,α
(2.14)
Der Energieverlust (das “Bremsvermögen”) ist demnach
ˆ proportional zur Elektronendichte n (was wenig überraschen kann),
ˆ proportional zum Quadrat der Ladung ze des schweren Projektils, und
ˆ etwa proportional zu 1/E (denn E im Nenner wächst schneller als ln(E
e
kin,α
kin,α
kin,α ) im Zähler).
Wo kommt dieser (einfache) Zusammenhang mit der Energie her? Er ist leicht auf die Substitution
dt = dx/vα zurückgeführt: Nach Gl. (2.7) ist dies in der Impulsnäherung die einzige Stelle, an der
die Geschwindigkeit bzw. Energie des Projektils überhaupt in die Rechnung eingeht. Es soll also,
umgangssprachlich ausgedrückt, einfach an der längeren Dauer der Krafteinwirkung liegen, wenn
langsame Projektile heftiger ionisieren als schnelle. Dass dieser Bestandteil der Impuls-Näherung bei
sehr langsamen Teilchen ungültig werden muss, liegt auf der Hand.
Daher hat Bohrs “geschickte” Wahl der Integrationsgrenzen den Näherungscharakter der ganzen Herleitung
nicht völlig kompensieren können. Doch hat sich seine Formel sehr bewährt und ist in der ElementarteilchenForschung von größtem Nutzen gewesen, z.B. bei der Zuordnung der Spuren der höchst energiereichen
Teilchen aus der Höhenstrahlung (vgl. Kap. 10.3.1 und 11).
7
Bei abstoßender Coulomb-Kraft z.B. treibt beim zentralen Stoß in Wirklichkeit das Projektil das gestoßene Teilchen vor
sich her.
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913
2014
Bremsvermögen nach der Formel von Bethe und Bloch. Erst 20 Jahre später wurde die Bohrsche
Formel quantenmechanisch und relativistisch weiter verbessert, blieb aber immer noch eine Näherung in
der 1. Ordnung Störungstheorie, also eine Impulsnäherung. Die Formel von Bethe und Bloch von 1932
(darin β = vα /c) lautet:
m
dE
πz 2 (e2/4πε0 )2
1 4 mαe Ekin,α
2
=2
n
ln
−
β
(2.15)
e
me
dx
1 − β 2 ∆Emin
mα Ekin,α
Gemessene Kurven (an Protonen-Strahlen in zwei Materialien mit 104 fach unterschiedlicher ElektronenDichte) sind in Abbildung 2.9 zusammen mit den Formeln von Bohr und Bethe/Bloch doppelt-logarithmisch
dargestellt. Dabei ist durch die Material-Dichte ρ dividiert worden, die im wesentlichen zum Faktor Elektronendichte ne proportional ist. Während die Übereinstimmung im mittleren Energie-Bereich beeindruckend
gut ist, zeigt sich bei kleinen Energien in den theoretischen Kurven deutlich der genannte Defekt der Impulsnäherung. Die Abweichung bei großer Energie, wo die Stöße immer kürzer (d.h. unwirksamer) und die
Abbildung 2.9: Energieverlust von Protonen zwischen 100 keV und 105 MeV: durchgezogene Kurven
Messwerte in Luft und Blei (normiert auf die Dichte ρ, die recht gut proportional zur Elektronendichte
ne ist). Blaue gestrichelte Gerade: Bohrsche Theorie nach (Gl. 2.14) mit ∆Emin = 80 eV . Schwarze
gestrichelte Kurven: Gl. (2.15) von Bethe/Bloch. (Abb. nach [3])
Impulsnäherung an sich immer besser werden sollten, hat einen anderen Grund. Die relativistische Rechnung zeigt richtig, wie das
einem flachen Minimum ab Geschwindigkeiten v ≈ 0.8c
p Bremsvermögen nach
2
2
2
2
(d.h. E = γmc = mc / 1 − (v/c) ≈ 3mc , Ekin ≈ 2mc2 ) allmählich wieder ansteigt. Dies Minimum
erklärt sich dadurch, dass zu höherer Energie hin die Geschwindigkeit v = βc ≤ c der Projektile gar nicht
mehr wesentlich anwachsen, der Stoßvorgang also nicht noch kürzer werden kann, während das elektrische
Feld E⊥ (x) senkrecht zur Flugrichtung aber mit demselben Faktor γ weiter anwächst – eine Folge der
Lorentztransformation.
Braggsche Kurve.
che. Beispiele:
Anwendungen der Formeln (2.14) bzw. (2.15) für das Bremsvermögen gibt es zahlrei-
ˆ Aus der Dichte der Ionisationsspur, zusammen mit ihrer Krümmung durch ein Magnetfeld, sind
Energie, Impuls und damit Masse des Teilchens abzulesen. So sind nicht nur die Stöße zwischen
bekannten Teilchen entschlüsselt worden, sondern auch viele neue Teilchen mit bisher unbekannten
Massen entdeckt worden.
ˆ Die Energieabgabe längs der Flugbahn zeigt einen flachen Verlauf bis zu einem scharfen Maximum
2.2 Abbremsung von α-Teilchen: Niels Bohr 1913
2015
Abbildung 2.10: Braggsche Kurven: Energieabgabe verschiedener ionisierender Strahlen längs der Wegstrecke in Wasser (ähnlich: Gewebe). Auf der Ordinate ist die in der Strahlenbiologie benutzte Strahlendosis aufgetragen, die auch ein direktes Maß für den Energieübertrag pro Weglänge dE/dx ist (spezifische
Ionisation). Im Gegensatz zu den Photonen zeigen schwere geladene Teilchen eine wohldefinierte Reichweite und ein scharfes Maximum der spezifischen Ionisation am Ende der Bahn. Die kinetische Energie
der Kohlenstoff-Ionen ist in MeV/u (“MeV pro Nukleon”) angegeben. Ihre Gesamtenergie erhält man
durch Multiplikation mit dem Atomgewicht A, bei Kohlenstoff: A = 12. Bei Protonen (Ladung Z = 1)
von 135 MeV und Kohlenstoff-Kerne (Ladung zu Beginn Z = 6) von 254 MeV/u sieht man hier gleiche
Eindringtiefe 12.5 cm. Ihre Anfangsgeschwindigkeiten unterscheiden sich nur um 30%, die gesamte Energieabgabe längs der Bahn und vor allem im letzten Millimeter aber um den Faktor 12 × 254/135 ≈ 20.
Aus [6] ??Abb. vorläufig??
.
2.3 α-Teilchen: Sonden zur Erkundung des Atominneren
2016
am Ende (Braggsche Kurve der spezifischen Ionisation, s. Abbildung 2.10)8 . Dies Maximum ist um
so schärfer, je schwerer das abgebremste Teilchen ist. Routinemäßig wird dies seit etwa 1995 in der
Strahlentherapie ausgenützt, um mit schweren geladenen Teilchen (von Protonen bis Sauerstoffkernen
aus speziellen Beschleunigeranlagen) lokalisiertes Tumorgewebe fast millimetergenau abzutöten.
ˆ Der Energieverlust bei Durchstrahlung dünner Schichten ermöglicht die empfindliche Messung ihrer
Dicke (s. Rutherford Backscattering Spectroscopy – Kap. 3.3).
Frage 2.5 Wie sind nach Abb. 2.10 nun die vereinfachenden Annahmen zu Aufgaben 2.1 und 2.2 zu
bewerten?
Antwort 2.5 Für das Projektil ist dE/dx = F = ma. Daher ist die Ordinate in Abbildung 2.10
schon proportional zu der auf das Projektil wirkenden Kraft F . Die Kurve zeigt, dass bis kurz vor
Ende der Bahn die Beschleunigung a wirklich gut konstant ist. Nur am Ende hält das Projektil “mit
einem Ruck” an. Die einfachen Abschätzungen in Aufgabe 2.1 und 2.2 sind recht realistisch.
2.3 α-Teilchen: Sonden zur Erkundung des Atominneren
Eine realistische Modellrechnung. Nachdem ein mikroskopisches Modell wie die Bohrsche Theorie der
Abbremsung einmal quantitativ ausgeführt ist, sind nun weitere detaillierte Analysen möglich. Wir können
uns jetzt ein mikroskopisches Bild von den ionisierenden Stößen des α-Teilchens mit den Gasatomen machen.
Als Bohrs Theorie 1913 entstand, war die kürzliche Entdeckung von Ernest Rutherford, dass die positiv geladene Hauptmasse des Atoms auf einen winzigen Kern konzentriert ist, noch weithin unbekannt
oder wurde ignoriert – besonders hartnäckig auch durch J.J. Thomson, Vater des damaligen StandardAtommodells (“Rosinenkuchen”, s. Kap. 1.1: positive Kugel mit eingebetteten Elektronen). Darin wäre
das α-Teilchen als He++ -Ion eine ebensolche harte Kugel wie die Atome der Luftmoleküle in der Nebelkammer, nur dass in seinem Inneren zwei Elektronen zur vollständigen Neutralisation fehlen. Näher als ein
Atomdurchmesser könnten sich die Mittelpunkte solcher Kugeln bei dem Stoßvorgang nicht kommen, sonst
müssten sie sich durchdringen. Daher nun ein konkretes Beispiel zum Durchrechnen eines Stoßes nach Gl.
(2.11) und (2.14):
ˆ Energie E = 5 MeV,
ˆ Stoßparameter b ≈ 0.1 nm – das ist (ca.) der Durchmesser eines Atoms.
α
Drei Ansichten des Coulomb-Parameters. Für eine so konkrete Anwendung der Bohrschen Theorie
braucht man zunächst die Konstante des Coulomb-Gesetzes, am besten in geeigneten Einheiten9 . Da
e2 /4πε0 die Dimension [Energie]×[Länge] hat, suchen wir charakteristische Bezugswerte für genau dies
Produkt. Drei alternative Wege (mindestens) führen zum genauen Wert (vgl. auch den Kasten 2.1 “Formeln und Konstanten” auf S. 2019):
1. Die absoluten Einheiten eV und nm wählen und Zahlenwerte einsetzen:
e2
1.6 × 10−19 As
=e
= 1.44 eV nm
As
4πε0
4 × 3.14 × 8.86 × 10−12 Vm
8
Vgl. auch die deutlich sichtbaren pleochroischen Halos am Ende der Bahn von α-Teilchen in mineralischen Einschlüssen,
Abb. 6.7.
9
In der Atom- und Elementarteilchenphysik taucht die Stärke der elektromagnetischen Wechselwirkung der Elementarladung
e2
e stets mit dem Faktor 4πε
auf. Zur leichteren Lesbarkeit wird dafür in den Formeln hier meist (e2/4πε0 ) geschrieben.
0
Man stößt in vielen Büchern auch auf vom MKSI-System abweichende Einheiten, mit denen 4πε0 = 1 gilt, was die Formeln
stark vereinfacht.
2.3 α-Teilchen: Sonden zur Erkundung des Atominneren
2017
2. Charakteristische Werte für Energie und Länge von einem System ablesen, das vom Coulomb-Gesetz
beherrscht wird, z.B. vom H-Atom. Bindungsenergie BH ≈ 13.6 eV und mittlerer Abstand a0 ≈
0.053 nm werden sehr gut durch die Formeln wiedergegeben, die sich sowohl aus dem Bohrschen
Atommodell (1913) als auch aus der Quantenmechanik (1925) ergeben:
Bindungsenergie
BH =
Bohrscher Radius
a0 =
2
e2
m
4πε0
2~2
2 −1 2
e
~
4πε0
m
(2.16)
(Darin m = 1/(1/me + 1/mp ) die reduzierte Masse von Proton und Elektron.)
Nimmt man den Radius doppelt, ergibt sich multipliziert tatsächlich die gesuchte Konstante:
2 2
2 −1 2
e
e
e2
m
~
=
×
2
4πε0
4πε0 2~2
4πε0
m
= (Bindungsenergie BH ) × (2 × Radius a0 )
(2.17)
= 13.6 eV × 0.106 nm
= 1.44 eV nm
Anmerkung: Dies sieht vielleicht kompliziert aus, hat aber grundsätzliche Bedeutung: Das Produkt aus Bindungsenergie und (mittlerem) Abstand ist unabhängig von der (reduzierten) Masse
und hat daher für jedes durch Coulombkraft gebundene Zwei-Körper-System mit Ladungen ± e
den selben Wert. Einige Anwendungen:
ˆ Argument zur Unmöglichkeit von Elektronen im Kern (Kap. 4.1.4),
ˆ Vergleich zwischen Coulomb-Kraft und Kernkraft zwischen zwei Protonen (Kap. 4.2.4),
ˆ Energieniveaus im myonischen Atom (Kap. 6.5.1),
ˆ Analyse des “Atoms” aus zwei Quarks (Kap. 13.2.3).
3. Mit einer anderen, noch “fundamentaleren” Konstante gleicher Dimension vergleichen:
~c ≈ 200 eV nm (die sollte man sich merken!)
(2.18)
2
0
Das Verhältnis α = e /4πε
≈ 1/137.036 . . . (das man sich als “1/137” auch merken sollte!) heißt
~c
aus historischen Gründen Sommerfeldsche Feinstrukturkonstante, oder modern Stärkeparameter der
Elektromagnetischen Wechselwirkung 10 . Damit ist wieder
e2
200 eV nm
= α ~c =
= 1.44 eV nm
4πε0
137.036...
(2.19)
Das α-Teilchen im Atom. Die Alternative Nr. 3 ist bei Elementarteilchenphysikern besonders beliebt.
Wir machen hier mit Nr. 2 weiter. Der Energieübertrag beim Stoß eines α-Teilchens mit Eα = 5 MeV mit
einem Elektron im Abstand eines Atomdurchmessers b ≈ 2a0 ist dann nach Gl. (2.11)
(2 BH 2a0 )2 1
∆E(b) =
=
me
b2
mα Eα
4 × 13.6 × 13.6
(2 BH )2
≈
eV ≈ 1 eV
1
700
7300 × 5 MeV
(2.20)
Für Ionisierung, wie in der Nebelkammer beobachtet, wird aber eine viel höhere Energie verlangt, bei
Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff etwa das 14- bis 16-fache von 1 eV (vgl. Anmerkung zur Herkunft der
10
α ist eine reine Zahl, ist also unabhängig von unseren sogenannten absoluten, aber doch recht zufällig gewählten physikalischen Einheiten m, s, kg . . . ; α hätte daher in unserem Universum auch für Außerirdische den selben Zahlenwert (aber
nur im Dezimalsystem dieselben Ziffern).
2.3 α-Teilchen: Sonden zur Erkundung des Atominneren
2018
Einheit eV auf S. 2004). Dazu müsste der Nenner von Gl. (2.20) um den selben Faktor ≈ 14 . . . 16 kleiner
sein, also z.B. die kinetische Energie statt Eα = 5 MeV nur Eα ≤ 300 keV. Das ist zum Ende der Spur hin
immer erfüllt – ein “langsames” α-Teilchen ionisiert also praktisch jedes getroffene Atom! Das entspricht
dem Maximum in der Braggschen Kurve (Abbildung 2.10). Für schnelle α-Teilchen, z.B. bei 5 MeV, muss
der andere Faktor im Nenner klein sein: statt b = 2a0 nur b ≤ a0 /2 (b geht quadratisch ein), also viel
kleiner als der Atomradius. Da die sichtbare Tröpfchenspur gleich an der radioaktiven Quelle beginnt, wo
die Energie so hohe Werte hat, kommen solche engen Stöße offenbar vor, wenn auch in größeren Abständen
voneinander. Ein so schnelles α-Teilchen muss schon ins Atom eingedrungen sein, um die Ionisierungsenergie an ein Elektron übertragen zu können. Im Thomson-Modell wäre solche Durchdringung zweier
Atomkugeln undenkbar. (Stoßparameter ist in der Impuls-Näherung auch gleich der nächsten Annäherung
der Teilchenmittelpunkte.)
Es wurde schon erwähnt, dass das in der Nebelkammer am Anfang der Spuren beobachtete Bremsvermögens dE/dx ≈ 0.5 MeV/cm aus Bohrs Formel nur herauskommt, wenn man für ∆Emin etwa 80 eV
einsetzt. Nach Gl. (2.20) entspricht dem ein Stoßparameter bmax ≈ 0.1 a0 . Bei den Stößen, die durch Ionisation die Spur in der Nebelkammer überhaupt sichtbar machen, müssen sich also der Mittelpunkt des
He++ -Ions und das Elektron des Luftmoleküls noch viel näher gekommen sein als eben schon abgeschätzt.
Fazit: Eine subatomare Sonde. Die physikalische Interpretation der beobachteten Wechselwirkung von αTeilchen mit Luft-Atomen mittels eines mikroskopischen Modells führt auf die Möglichkeit, mit α-Teilchen
das Innere der Atome zu studieren.
2.4 Formeln, Konstanten und Größenordnungen
2019
2.4 Formeln, Konstanten und Größenordnungen
Kasten 2.1: Formeln, Konstanten und Größenordnungen
(praktische Näherungen)((layout verbessern))
Universelle Zusammenhänge / fundamentale Konstanten:
Maß aller Geschwindigkeiten: Lichtgeschwindigkeit
c = 3 × 108
m
fm
= 3 × 1023
≈ 1 fm pro 3 × 10−24 s
s
s
Korrespondenz von (Wellen-)Länge und Impuls: pλ = 2π~
Korrespondenz von Länge und Energie: ~c ≈ 200 MeV fm = 200 eV nm
Beispiel: Energie mal Wellenlänge für alle relativistischen Teilchen (d.h. E = pc – s.u.):
E λ = c p λ = c ~ 2π =200 MeV 6.28 fm
⇒ bei λ = 628 nm (Photon des roten Lichts) : E = 2 eV
⇒ bei λ =
1 fm
: E = 1256 MeV
Zusammenhang Energie-Impuls-Geschwindigkeit:
E 2 = (pc)2 + (mc2 )2 , v/c = pc/E
(m ist hier eine unveränderliche Teilcheneigenschaft, p
früher oft “Ruhemasse” genannt.)
2
Kinetische Energie: Ekin = E − mc , Impuls: p = Ekin (2m + Ekin /c2 )
Für nicht relativistische Teilchen (Ekin ≪ mc2 ): p = mv, Ekin ≈ (pc)2/(2mc2 ) = p2 /2m
Für hoch relativistische Teilchen (bei m = 0 exakt): E ≈ Ekin ≈ pc
Stärke der Elektromagnetischen Wechselwirkung:
e2
4πε0 = 1.44 MeV fm=1.44 eV nm
e2
4πε0
1
= α ~c mit α = 137.0360...
die “Sommerfeldsche ) Feinstrukturkonstante”
(Beispiel H-Atom: Bindungsenergie × Durchmesser = 13.6 eV× 0.106 nm = 1.44 eV/nm
Einzelne Daten:
Massen:
Elektron :
Wasserstoff H :
Helium He :
me c2 = 511 keV
mH c2 ≈ 1 GeV(genauer: 939 MeV oder 1836 me )
mHe c2 ≈ 4 GeV(genauer: 3728 MeV ; d.h. mHe < 4mH (!))
Elementar-Ladung: e = 1.6 × 10−19 As
Avogadro-Konstante: NA ≈ 6 × 1026 /kmol
Längen:
Atomdurchmesser ∼ 0.1 nm(∼ 104 Kerndurchmesser)
Kerndurchmesser ∼ 1 . . . 7fm
Literaturverzeichnis
[1] Finkelnburg, Wolfgang: Einführung in die Atomphysik. Springer, Berlin [u.a.], 1964.
[2] Jackson, John David: Classical electrodynamics. Wiley, New York [u.a.]:, 1962.
[3] Musiol, G., J. Ranft, R. Reif und D. Seeliger: Kern-und Elementarteilchenphysik. VCH, 1995.
[4] Segré, Emilio: Nuclei and particles. Benjamin, New York NY [u.a.], 1964.
[5] Segrè, E. und S. Summerer: Die großen Physiker und ihre Entdeckungen. Piper, 1990.
[6] Strahlenschutzkommission: Strahlenhygienische Bewertung von Strahlentherapieverfahren mit Protonen und Schwerionen. BAnz, 96:5339, 25.05.2007.
Index
2-Teilchen-Reaktion
-Stoß, 2008
-Impulsübertrag, 2008
-Impulsnäherung, 2011
-auch bei anziehender Kraft, 2008
-elastischer, 2006, 2009
-inelastischer, 2006
α-Strahlen, 2003
-Benennung, 2003
α-Teilchen
-Sonde, 2016
Abbremsung
-α-Teilchen, 2006
-Bethe/Bloch-Theorie, 2014
-Bohrsche Theorie, 2010
-kleinster Energieübertrag, 2013
Ablenkung
-maximale bei α-e-Stoß , 2010
Abschwächung, 2001
adiabatische Störung, 2013
Alchemie, 2005
Alltagsverstand
-Stoß bedeutet “Berührung”, 2008
Atom
-Durchmesser, 2016
Atom-Modell
-Bohr (1913), 2017
-Thomson (1903, “Rosinenkuchen”), 2018
Atomhypothese
-gestützt durch Radioaktivität (M. Curie), 2003
Avogadro-Konstante, 2001, 2004
β-Radioaktivität
-Benennung, 2003
β-Strahlen, 2003
Becquerel, Henri, 2002
Beschleuniger
-in der Strahlentherapie, 2016
Bethe/Bloch-Formel, 2012
Bezugssysteme, 2007
Bindungsenergie
-H-Atom, 2017
-mittlere im Atom, 2013
Bohr, Niels
-Abbremsung von α-Teilchen, 2001
-Postulate, 2013
Bohrscher Radius, 2017
Bohrsches Atommodell, 2017
Braggsche Kurve, 2016
chemische Energie, 2004
Coulomb-Kraft
-Coulomb-Parameter e2/4πε0 , 2016
-ist α(Feinstruktur-Konst.)×~c, 2017
Curie, Marie
-Nobelpreise, 2002
elastischer Stoß, 2006, 2007
-α-Teilchen–Elektron, 2006
Elektronendichte, 2012, 2013
Energien
-chemische, 2004
-typische bei Kernumwandlungen, 2004
Energieverlust
-maximaler bei α-e-Stoß, 2009
Feinstrukturkonstante α
-Stärke der elektromag. Wechselwirkung, 2017
fundamentale Konstante (c, ~, γ), 2017, 2019
γ-Strahlen, 2003
-Benennung, 2003
Gauss’sche Glockenkurve, 2010
Gauss’sches Durchflutungsgesetz, 2012
Größenordnungen, 2006
H-Atom
-Bindungs-Energie × Durchmesser = CoulombParameter, 2017
Helium
-Ionisierungsenergie, 2004
-Masse, 2019
Impuls-Näherung
-1. Ordnung Störungstheorie, 2011
-bei ionisierenden Stößen, 2011
Impulsübertrag, 2007
-Invariante, 2009
-aus Kraft-Gesetz, 2011
Ionisation, 2004
-spezifische, 2016
Ionisationskeim, 2006
Index
Ionisierungsenergie, 2004
Kraftstoß, 2008
Laborsystem, 2007
Lorentz-Kontraktion, 2014
Magnetfeld
-Ablenkung geladener Teilchen, 2003
Masse
-aus Ionisationsspur bestimmt, 2014
Maxwell, James C.
-Maxwellsche Gleichungen, 2012
Mechanik
-Newtonsche (ab 1680) , 2005
-relativistische (ab 1905), 2005
mikroskopisches Modell
-für Bremsvermögen (Bohr 1913) , 2016
Mindestenergie
-in Bohrs Bremsformel, 2013
Minimal-Ionisation, 2014
Moderne Physik (ab ∼1900)
-Wegbereiter (Ausw.)
-Niels Bohr, 2005
Näherung
-1. Ordnung Störungstheorie, 2011
-Impulsnäherung, 2011
Nebelkammer, 2005
Ostwald, Wilhelm
-Anti-Atomistik, 2001
Phänomene
-neue analysieren, 2001
Poisson-Statistik, 2010
Polonium, 2002
Quark (q)
-Charmonium, 2017
Röntgen, Wilhelm C., 2002
Radioaktivität, 2001
-Chemisch nicht beeinflussbar (M.Curie), 2003
Radium, 2002
Ramsay, William
-Edelgase, 2005
reduzierte Masse, 2017
Reibung, 2007
Reichweite
-Unterschied Ionen-/γ-Strahlung , 2014
-der Wechselwirkung
-beim Stoß, 2008
Relativitätstheorie, 2006
-Energie-Impuls-Beziehung, 2019
2022
Rosinenkuchen-Modell, 2016
Rutherford, Ernest
-Nobelpreis für Chemie, 2003
Schwerpunkt-System, 2008
Soddy, Frederick, 2005
Sommerfeld, Arnold
-Feinstrukturkonstante, 2019
Stärkeparameter, 2017
Störungstheorie
-1. Ordnung, 2011
Standard-Abweichung, 2010
Stoß, 2008
-ist Impulsübertrag, 2008
-wichtiges Untersuchungsmittel, 2006
Stoßparameter, 2011, 2018
Strahlendosis, 2016
Strahlenschutz, 2004, 2005
Strahlentherapie
-mit schweren Ionen, 2016
Szintillation, 2001, 2004
Thomson, Joseph J.
-Rosinenkuchen-Modell, 2016
Thorium, 2001
Tumorgewebe, 2016
ungestörte Zustände, 2011
Uran, 2001
Wärmeabgabe
-von radioaktiven Präparaten, 2004
Wasser
-Tropfen
-diffuse Reflektion, 2005
Wasserstoff
-Ionisationsenergie, 2017
Wilson, C.T.R.
-Nebelkammer, 2005
X-ray, 2002
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