1 Geschichtliche, religiöse und politische Hintergründe - RPI

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Geschichtliche, religiöse und politische Hintergründe zum Kastensystem
Zusammenstellung im Rahmen des Seminars an der TU Dortmund, Wintersemester 2010-2011:
Annäherungen an den Hinduismus
I.
II.
III.
Begrifflichkeit und Konzept
Vorstellung des Buches: Christentum und Kastenwesen
Vorstellung von Manus Gesetzbuch
I. Begrifflichkeit und Konzept
1. Der Begriff der Kaste
Das Wort Kaste tritt seit der Mitte des 15. Jh. in Verbindung mit der indischen Gesellschaft auf
Es ist portugiesischen und spanischen Ursprungs: casta bedeutet zunächst etwas nicht zu
vermischen und stammt wohl von Lateinisch castus (keusch oder rein).
Eingeführt wurde das Wort von den ersten portugiesischen Indienreisenden, die es in der
Regel auf die sozialen Gruppen von Untertanen in Abgrenzung zum jeweiligen Herrscher
anwendeten.
Im Laufe des 16. Jh. als sich Portugal als Kolonialmacht in Indien etablierte, treten aber
bereits höchst unterschiedliche Verwendungen des Wortes auf.
So wurde das Wort für Berufsgruppen (casta der Schuster), als Synonym für gentos (Rasse
oder Stamm), als Bezeichnung für eine hochrangige Familienabstammung oder auch zur
Kennzeichnung einer Religionsgemeinschaft benutzt.
Im Englischen erscheint das Wort Kaste Mitte des 16. Jh. in der Schreibweise cast, die erst zu
Beginn des 19. Jh. von der französischen Schreibweise caste abgelöst wurde.
Der Begriff der Kaste wies bis zur Mitte des 19. Jh. eine große Unschärfe auf.
Im Laufe des 19. Jh. konkretisierte sich dann der westliche Kastenbegriff insoweit, dass eine
deutliche Unterscheidung zwischen Kasten und Stämmen getroffen wurde und dass der
Versuch unternommen wurde, die mit Kaste bezeichneten sozialen Phänomene konkreter zu
fassen und zu erklären.
Dies geschah allerdings aus einer sehr einseitigen Perspektive heraus. Da man sich
überwiegend an den Auskünften brahmanischer Gelehrter orientierte.
Dies führte dazu, dass eine aus brahmanischen Kreisen stammende Gesellschaftsideologie
weitgehend übernommen wurde, die eine klare Hierarchie von endogam (Eheschließungen
innerhalb einer bestimmten Gruppe) strikt getrennten, berufsbezogenen Gruppen innerhalb
der indischen Gesellschaft mit den Brahmanen an der Spitze behauptete.
2. Relevanz des Kastensystems
Das Kastensystem ist durch religiöse Werte strukturiert, da der soziale Status des Einzelnen
nach dem Grad seiner rituellen Reinheit bestimmt wird und damit seine Eignung für die
Durchführung von Ritualen festgelegt wird.
Der soziale Status ist an rituelle Rechte gekoppelt und damit stehen soziale Existenz und
religiöse Identität in einer engen Verbindung.
Soziologe Louis Dumont erklärt: Wer ein Hindu ist bzw. wodurch jemand ein Hindu wird, ergibt
sich aus der Geburt in die Kastengesellschaft.
Demnach ist Hinduismus ein von Brahmanen dominierter Ritualismus, der einerseits durch die
soziale Hierachie des Kastensystems gestützt wird und andererseits dazu dient, die sozialen
Hierarchien zu bestätigen.
3. Die Kasten und das Konzept des dharma
Die anhaltende Bedeutung der Kastenidentität beruht nicht zuletzt darauf, dass der Einzelne
durch die Geburt in der Kastengesellschaft Anspruch auf die Initiationsriten bzw.
Lebenszyklusrituale erhält, die ihm seine soziale und rituelle Identität sichern.
Die sozialen und rituellen Normen der Kastengesellschaft werden in den klassischen
Rechtstexten unter dem Stichwort der Gesetze von Kaste und Lebensphase behandelt, dem
sog. Varna-asrama-dharma.
Demnach bestimmen sich die dem Einzelnen zukommenden sozialen Pflichten und Rechte
danach, welcher Kaste (varna) er zugehört und in welcher Lebensphase (asrama) er sich
befindet.
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Die vier Hauptkasten (varna): 1. Brahmanen (Priester und Gelehrte), 2. Ksatriya (Krieger,
Aristokraten, Landbesitzer), 3. Vaisya (Händler, Geschäftsleute, Handwerker), 4. Shudras
(Diener, Knechte, Tagelöhner).
Das Vier-Stände-Modell erhielt seine mythisch-metaphorische Formulierung in einem der
berühmten Hymen des Rigveda, dem sogenannten purusha Hymnus. Der Hymnus beschreibt,
wie aus der Opferung des kosmischen Ur Körpers (purusha) die verschiedenen Sphären des
Kosmos, die Jahreszeiten, die Tiere und schließlich die vier Hauptkasten entstanden.
Die drei oberen Kasten haben allein das Recht, die vedischen Texte zu studieren und die
damit verbundenen rituellen Rechte zu erhalten.
Die Brahmanen repräsentieren die höchsten Werte der Gesellschaft und die
Verhaltensnormen, die für alle gelten sollen, wie z.B. Wahrhaftigkeit oder Gewaltlosigkeit. Sie
sind nicht allein durch ihr Veda-Studium im Besitz des rituellen und allen anderen Wissens,
sondern sie repräsentieren durch ihre Beschäftigung mit geistigen Inhalten und religiösen
Themen auch eine Relativierung des sozialen Machtstrebens. Das heißt sie sollen den
anderen das Nichtstreben nach Besitz und Macht vorleben.
Als Mitglied einer unterständigen Gärtnerfamilie zum Beispiel liefert man Blüten für die
religiösen Rituale. Niemals wird der Gärtner aber das Recht haben, die Blüten auch dem Gott
oder Göttin im Tempel als Priester zu opfern. Der Gärtner kann sich auch nicht einfach
entscheiden Priester zu werden, weil er dazu nämlich als Brahmane geboren sein muss.
Durch die Erfüllung der Pflichten erwirbt man religiöse Verdienste d.h. man erfüllt sein dharma
und erwirbt sich dadurch gute Chancen für das Nachleben bzw. für die Wiedergeburt in einer
besseren Kaste.
Der Begriff dharma bezeichnet eines der zentralen Konzepte des Hinduismus
Demnach werden die Existenzen von Lebewesen und damit auch das Kastensystem als Teil
und Ausdruck einer kosmischen Ordnung gedeutet, der alle Lebewesen verpflichtet sind
Dharma als Zusammenhang von Gesetzmäßigkeiten, der die natürliche Lebensgrundlage für
alle Wesen ist. Z. B. Ablauf der Jahreszeiten.
Dharma als Katalog von Vorschriften und Gesetzen, die jeder seiner sozialen Position gemäß
einzuhalten hat.
Dharma als Rechtsordnung, die aus der Einhaltung aller einzelnen Gesetze entsteht. Es ist
traditionellerweise die Aufgabe des Königs, das Recht zu schützen und es , wenn nötig mittels
seiner Strafgewalt durchzusetzen.
Welche Gesetzesvorschriften der Einzelne zu befolgen hat, richtet sich jedoch nicht nur nach
seiner Kaste, sondern auch nach der Lebensphase (asrama) in der er sich gerade befindet
Die vier Lebensphasen (asrama):
- 1. Brahmacarin (Student): Studienzeit bei einem Lehrer= brahmanisches Leben führen.
Die Studiendauer hängt von der Kastenzugehörigkeit ab.
- 2. Grhasthin (Haushälter): Nach dem Studium soll man heiraten und so den Fortbestand
der Familie sichern. Das ist die Zeit, um nach Wohlstand (artha) und Lusterfüllung (kama)
zu streben.
- 3. Vanaprastha (Waldeinsiedler): Rückzug aus der Welt um sich uneingeschränkt dem
spirituellen Heil zu widmen.
- 4. Samnyasan (der allem entsagt): In dieser Phase bricht man den Kontakt mit der Familie
völlig ab und bereitet sich mit asketischen Praktiken auf den Tod vor.
4. Die Unberührbaren
Das Fortleben der mit dem Kastensystem verbundenen Hierarchien, Werte und Normen sowie
der daraus resultierenden Diskriminierung zeigt sich in der Lage der Unberührbaren
besonders deutlich
Ganz am Rande der Gesellschaft leben die so genannten Unberührbaren, die all das
repräsentieren und bearbeiten, was die Kastengesellschaft ausgrenzen muss, um ihre Werte
der Reinheit aufrechterhalten zu können
Sie sind es die Fäkalien, Müll, die Überreste verstorbener entsorgen.
Die Gruppe der Unberührbaren ist keine homogene Gruppe, sondern sie zerfällt in
verschiedene Statusgruppen (jati), die untereinander nicht immer solidarisch sind
Das in der indischen Verfassung festgeschriebene Verbot von Praktiken der Unberührbarkeit
hat die Diskriminierung nicht aufgehoben.
Nach wie vor wird Unberührbaren die Benutzung des Dorfbrunnens oder das freie Betreten
des Dorfes verweigert. Sie müssen in der Regel in eigenen Siedlungen außerhalb des Dorfes
leben und sind von den meisten Dorffesten ausgeschlossen. Außerdem gelten für sie
diskriminierende Kleidervorschriften, die wohl weniger aus Reinheitsgeboten resultieren,
sondern eher als Ausdruck ihrer Unterdrückung durch die höheren Kasten anzusehen sind.
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Im Zuge der Debatten um die Reformierung des Hinduismus im 19. und 20. Jahrhunderts
wurde die Unberührbarkeit immer wieder thematisiert und es formierten sich verschiedene
politische Bewegungen, die die Befreiung der Unberührbaren forderten.
Eine wichtige Bewegung dieser Zeit ist der Ad Dharma bzw. Adi Hinduismus, die sich zu
Beginn des 20. Jahrhunderts in Nordindien bildete.
Dabei wird eine Interpretation der Frühgeschichte des Hinduismus entworfen, wonach die
Unberührbaren die ursprünglichen Herrscher in Indien waren, die dann durch die
eingewanderten Aryas (Arier) versklavt und aus dem arischen Kastensystem ausgeschlossen
wurden.
Dass sie sich als Nachfahren der indischen Ur Bevölkerung ansehen, bezeichnen sich die
Unberührbaren in manchen Teilen Indiens auch als Adi Hindus, als Urhindus.
Der Urhinduismus betont die Werte der bhakti, der Gottesliebe, die allen Menschen
gleichermaßen Zugang zu Gott eröffnet.
Der berühmteste Führer der Unberührbaren, Ambedkar, war nicht nur einer der schärfsten
Kritiker des Kastensystems und des Hinduismus, sondern rief die Unberührbaren auch zur
Konversion zum Buddhismus auf.
Ambedkar lehnte die von Gandhi propagierte Bezeichnung der Unberührbaren als Harijan
(Geschöpfe Gottes) als Euphemismus ab.
QUELLEN:
•
Louis DUMONT: Gesellschaft in Indien: Die Soziologie des Kastenwesens. Wien: Europa-Verlag 1976
•
Angelika MALINAR: Hinduismus. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht UTB 3197, 2009
Axel MICHAELS: Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck 2006
MANUSMRTI. Manus Gesetzbuch. Aus dem Sanskrit übersetzt und herausgegeben von Axel Michaels unter
Mitarbeit von Anand Mishra. Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag 2010
Stefano PIANO: Religion und Kultur Indiens. Köln: Böhlau UTB 2507, 2004.
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Stephan Euchler
II. Vorstellung des Buches: Christentum und Kastenwesen
Jürgen Stein: Christentum und Kastenwesen. Zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft in Indien.
Frankfurt am Main: Verlag Otto Lembeck 2002, 424 S.
Hinweise zum Autor: Dr. Jürgen Stein, geb. 1969, Studium der
Religionswissenschaft,
Evangelischen
Theologie
und
Mathematik. Längere Forschungsaufenthalte in Indien.
Lehrbeauftragter im Fachbereich Evangelische Theologie der
Universität Frankfurt/Main, Gymnasiallehrer.
Der Autor setzt bei seiner Untersuchung der Sozialgeschichte
der indischen Christen auf der Ebene der sozialen
Alltagswirklichkeit an. Indem er die Beziehung von Religion
und Gesellschaft am Beispiel der indischen Christen
herausarbeitet, stellt er den Grundgedanken des christlichen
Kastenwesens dar und ergänzt das Bild des Christentums in
Indien aus soziokultureller Sicht, indem er ein differenziertes
Bild der sozialen Entwicklungen fertigt, das aus der
Kontrastierung von christlicher und indischer Tradition besteht.
Daher wird das Buch vom Autor in vier Abschnitte gegliedert:
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•
•
Kaste in Indien
Das Christentum in der indischen Gesellschaft vor dem 19. Jh.
Kaste und Mission während der britischen Kolonialherrschaft
Die Bedeutung der Kaste unter den Christen im postkolonialen Indien
Der Autor stellt sich in seiner Untersuchung dem Problem, inwieweit das Kastenwesen die indischen Christen
geprägt hat und unternimmt den Versuch, die Bedingungen des Wechselspiels zwischen Kaste und religiöser
Kultgemeinschaft nachzuzeichnen. Er möchte mit seiner Untersuchung zur konkreten Sozialgeschichte Indiens
beitragen. Denn die westliche Indienforschung hat sich bezüglich des Kastenwesens lange Zeit mit den
Sanskritquellen auseinander gesetzt und in letzter Zeit keinen Versuch mehr unternommen, eine panindische
Theorie über das Kastenwesen zu entwerfen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Kaste nicht die
einzige Identifikationsmöglichkeit für das Individuum in der indischen Gesellschaft bildet, sondern dass es auch in
der Dorfgemeinschaft, in ethischen Gruppen oder in politische, kulturellen oder religiösen Institutionen sein
Rückgrat hat.
Die christlichen Gruppen Indiens erweisen sich dabei als Geburts-, Ritual- und Solidargemeinschaften, die sowohl
Bestandteil einer religionsübergreifenden Kastengesellschaft sind, als auch untereinander kastenhierarchische
Bezüge herstellen. Durch den Religionswechsel zum Christentum ändern sich weder die Grundsätze des eigenen
Kastenverhaltens noch die Behandlung der christlichen Gruppen als Kasten durch das gesellschaftliche Umfeld,
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so dass der Begriff Kaste ohne Einschränkung auch auf christliche Gruppen angewendet werden kann. Die
Behauptung eines hinduspezifischen Charakters des Kastenwesens kann höchstens auf einer rein ideologischen
Ebene aufrechterhalten werden. Doch selbst hier besteht kein Konsens in der Deutung und Anerkennung
zentraler religiöser Texte. Die Mehrheit der Brahmanen lehnt es ab, aus diesen Texten eine religiöse
Rechtfertigung von streng hierarchisierenden Geburtskasten zu schlussfolgern.
Durch den Nachweis der Existenz von Kasten und eines ausgeprägten Kastenverhaltens unter den indischen
Christen zeigt der Autor, wie stark die kirchliche Wirklichkeit vom gesellschaftlichen und soziokulturellen Kontext
beeinflusst wird und wie weit dabei bisweilen Konfession und ethische Postulate in den Hintergrund treten. In
diesem Kontext schildert er die nordindischen und südindischen Konversionsbewegungen. In Südindien, wo der
missionarische Erfolg im Bereich der Kasten am größten war und Christen zumeist in sozial höherrangigen
Kasten lebten, entwickelten sich ernsthafte Kastenkonflikte innerhalb der Kirchen. Denn mit dem Ende der
Kolonialherrschaft und der kolonial geprägten Mission ereigneten sich in Indien auch keine größeren
Konversionsbewegungen zum Christentum mehr. Dadurch setzte sich ein Konsolidierungsprozess unter den
christlichen Gruppen in der indischen Gesellschaft ein, der allerdings große regionale und schichtenspezifische
Differenzen aufwies. Diese Bewegungen zum Christentum hatten lokal unterschiedliche Auswirkungen auf die
soziale Interaktion in der Kastengesellschaft, obwohl die individuelle Verhältnisbestimmung zur Kaste nicht
durchbrochen wurde. Die christlichen Unberührbaren (Dalits) wurden nach ihrer Kaste und nicht nach ihrer
Religion in ihrem gesellschaftlichen Umfeld beurteilt, so dass selbst für die Dalits gemäß ihrer Selbsteinschätzung
für die soziale Situation die Religionszugehörigkeit unbedeutend ist.
Neben den mit gesellschaftlichen Umfeld übereinstimmenden Hierarchisierungspraktiken haben sich unter den
Christen aber auch eigenständige Entwicklungen im Rahmen der Ritual-Übungen ergeben, die im Umfeld der
Dalit-Christen mit dem nicht-christlichen gesellschaftlichen Umfeld geteilt wurden. Die sozialen Hierarchien unter
den christlichen Kasten werden auch durch die Machtverteilung in den indischen Kirchen bestätigt. Daher vermag
das Aufzeigen innerkirchlicher Spannungen als Kastenkonflikte den westlichen Kirchen wertvolle Impulse für eine
effizientere Entwicklungsarbeit zu geben. Denn die christlichen Kasten sind nicht nur ein Teil einer Religionen
übergreifenden Kastengesellschaft, sondern haben mit der Zeit auch untereinander hierarchische Bezüge
hergestellt, wenn in einer Region die christliche Gemeinschaft aus mehreren Kasten besteht.
Der Autor regt eine soziale Selbstklärung der indischen Kirchen an, die auch einem Abbau von gefährlichen
Aggressionspotenzialen im Verhältnis zur überwältigenden Mehrheit der Hindus dienen könnte, indem er die
Situation der Dalits aufgreift und auf die Mitverantwortung von Christen höherer Kasten Bezug nimmt.
Peter Wevelsiep, Schwerte
Rz-Stein Kastenwesen, 16.05.05, bearbeitet 09.11.10 für das Seminar: „Annäherungen an den Hinduismus“
III. Vorstellung von Manus Gesetzbuch
MANUSMRTI. Manus Gesetzbuch. Aus dem Sanskrit übersetzt und herausgegeben von Axel Michaels
unter Mitarbeit von Anand Mishra. Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag 2010, 427 S., Kommentar,
Glossar, mehrere Register --- ISBN 978-3-458-70028-9
Das traditionelle Kastensystem hat in Indien prägende Wirkungen bis heute.
Menschen aus dem Westen haben damit erhebliche Verstehensschwierigkeiten. Dies
gilt selbst dann, wenn es erstaunliche Konvergenzen in europäischen und
amerikanischen Gesellschaftsstrukturen bis hin zu Schichten-Spezifika und sog.
Parallelgesellschaften gibt. Neben den Beschreibungen, die in europäischen
Sprachen vorliegen, ist es darum wichtig, an Originalquellen heranzukommen, die
weniger Rechtstexte sind als vielmehr Lehrbücher, „Lehr“-Texte für das richtige
Verhalten, verbunden mit den entsprechenden Pflichten, die angesichts der
Kastenstruktur die Sicht der Brahmanen spiegeln und von daher für die Gesellschaft
insgesamt relevant waren/sind. So ist es sehr zu begrüßen, dass der renommierte
Heidelberger Indologe Axel Michaels und der Sanskrit-Experte Anand Mishra (derzeit
am Südasien-Institut Heidelberg) Manus Gesetzbuch = das Manava Dharmashastra
(entstanden etwa zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr. nicht nur zum ersten Mal
vollständig übersetzt, sondern auch umfassend kommentiert haben.
Damit erleichtern sie das Verständnis für alle jene, die hinter die oberflächlichen Informationen brahmanischen
Rechtsverständnisses und indischer Verhaltenskodices kommen wollen. Michaels sieht darum hinter diesen
Texten die brahmanische Weltanschauung zum Leitmotiv werden, „bei der ein bestimmter Subtext mitzulesen ist.
Denn es handelt sich eigentlich um den groß angelegten Versuch einer Restauration verlorengegangener oder
stark gefährdeter Verhältnisse. Gefordert wird eine heilige Allianz von Brahmane und König, gleichzeitig werden
offensichtlich wachsende Ansprüche bestimmter Schichten (Bauern, Mischkasten, Fremde, Andersgläubige)
teilweise vehement abgewehrt“ (S. 282), vielleicht auch gegen den Einfluss des Buddhismus. Michaels stellt auch
die nicht ganz leicht zu überschauende Struktur des Textes sowie seine Verbindung zur tatsächlichen heutigen
Rechtspraxis dar.
Während dies in der Reihenfolge der Schöpfungstaten Gottes und den Weltzeitaltern noch nicht sogleich
erkennbar ist (vgl. S. 11-17, Kap. 1), wird dies bei den Initiationsriten offenkundig (S. 24-28, Kap. 2). Das
Studium der Veden (S. 28-32) führt mit Hilfe des Guru dann in die Haltung des tiefer Wissenden, des zweimal
Geborenen (Privileg der ersten drei Kasten) und damit über den anderen Stehenden. Das allerdings fordert
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wiederum zu besonderen Pflichten heraus (am deutlichsten natürlich für die Brahmanen) – im Blick auf den
Alltag, die Ernährung, Reinigungsriten, aber auch was Heirat, die Ahnen, das Opfer, die Höherwertigkeit des
Wissens gegenüber dem Materiellen betrifft. Gleichzeitig wird hier die Abwertung der Frau gegenüber dem Mann
sichtbar (Kap. 3-5).
Die ersten Kapitel der Textsammlung stellen insgesamt einen Lebensrhythmus dar, der beim
Vedastudium (in der Jugend) begann, zum Haushalter mit Familie führte und schließlich als Zeit der inneren Reife
den Weg zum Waldbewohner freigibt (Kap. 6), Vorstufe auf das Entscheidende: „Wenn er [der Weltentsager] so
den Ritualen entsagt und frei von Anhaftungen sich ganz seinen Pflichten hingibt, löscht er durch die
Weltentsagung das Böse und erlangt den höchsten Zustand“ (S. 127).
Nun – ab Kap. 7 – folgen Regeln der Herrschaft mit den Pflichten des Königs und politische Strategien
für Krieg und Frieden. Die dazu gehörigen Rechtsgrundlagen im Sinne des rigiden Kastensystems werden dann
ausführlich angesprochen (Kap. 8). Über Bedeutung und Stellung der Frauen und ihre untergeordnete, jedoch
respektvolle Eingliederung in die Kastenhierarchie spricht das Kap. 9 sowie auch von den verschiedenen
Strafmöglichkeiten des Königs. Kap. 10 geht besonders dem Problem von Vermischungen unterschiedlicher
Kasten nach, und zwar in legalen, halblegalen und illegalen Verbindungen von Menschen. Schließlich wird noch
die Struktur der Stände und Berufe abgeklärt.
Im Schlusskapitel 11 wird das Geben und Nehmen so geklärt, dass der Tugendhaftere mehr Rechte
gegenüber einem Menschen hat, der z.B. die Rituale und Opfer nicht rechtmäßig durchführt oder vernachlässigt.
Dazu gibt es dann passende Sündenregister, Bußübungen und Sühnemöglichkeiten. Am Schluss wird dann die
Gottbezogenheit all dieser Anordnungen, Rituale und Verhaltensregeln festgehalten: „Wer so in allen Wesen sein
Selbst durch das Selbst in allen erzeugten Wesen erkennt, wird allen gleich und erreicht das brahman, den
höchsten Zustand“ (S. 276).
Der Autoren und Herausgeber stellen sich natürlich auch die Frage nach der faktischen Verwendung dieses
Leitfadens (S. 299ff) und sparen auch Kritik nicht aus (S. 301ff) – im Blick auf die Abwertung der Frau, das elitär
brahmanische Denken, die Forderung drastischer Strafen, die überzogenen Reinheitsvorstellungen und ein
Weltbild, das die eigene gesellschaftliche Stellung göttlich absichert. Warum aber wurde Manus Gesetzbuch
trotzdem zu einem der zentralen Texte des Hinduismus? Es ist eben dieses Weltbild einer übergreifenden
Ordnung mit allerdings wenig Mitgefühl und einem fehlenden Gleichheitsgedanken. Dennoch wurde so
Jahrhunderte lang auf solche Weise ein Zusammenleben der Gesellschaft gesichert. Viele dieser Vorschriften
spielen zwar im heutigen Indien keine Rolle mehr (S. 310-318), aber dennoch gibt es einen entscheidenden
Erkenntnisgewinn in diesem erstaunlichen, aber auch irritierenden Buch. Er ist für das Verstehen des oft so fremd
wirkenden Hinduismus entscheidend: „Nach wie vor weitgehend gültig sind … die Vorschriften zu Übungsritualen,
zu Askese und Reinheit. Hier behauptet sich der Hinduismus und erweist sich als eine Religion, die sich weniger
über gemeinsame Glaubensanschauungen, Götter oder Texte als über Rituale und Reinheitsvorschriften
definieren läßt“ (S. 318). Dies gilt es immer wieder bei europäisch geprägten Annäherungen an hinduistische
Ethik zu beachten. Die vorgestellte Ausgabe des Manusmrti bietet dafür eine solide Grundlage.
Vgl. auch eine ausführliche englische Erläuterung zum Manava Dharma-Shastra:
http://philtar.ucsm.ac.uk/encyclopedia/hindu/ascetic/dharma.html (abgerufen 15.12.10)
Reinhard Kirste
im Rahmen des Seminars „Annäherungen an den Hinduismus“ an der TU-Dortmund,
TU-DO/WiSe 10-11/Kastensystem, 15.12.10
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