Geschichtliche, religiöse und politische Hintergründe zum Kastensystem Zusammenstellung im Rahmen des Seminars an der TU Dortmund, Wintersemester 2010-2011: Annäherungen an den Hinduismus I. II. III. Begrifflichkeit und Konzept Vorstellung des Buches: Christentum und Kastenwesen Vorstellung von Manus Gesetzbuch I. Begrifflichkeit und Konzept 1. Der Begriff der Kaste Das Wort Kaste tritt seit der Mitte des 15. Jh. in Verbindung mit der indischen Gesellschaft auf Es ist portugiesischen und spanischen Ursprungs: casta bedeutet zunächst etwas nicht zu vermischen und stammt wohl von Lateinisch castus (keusch oder rein). Eingeführt wurde das Wort von den ersten portugiesischen Indienreisenden, die es in der Regel auf die sozialen Gruppen von Untertanen in Abgrenzung zum jeweiligen Herrscher anwendeten. Im Laufe des 16. Jh. als sich Portugal als Kolonialmacht in Indien etablierte, treten aber bereits höchst unterschiedliche Verwendungen des Wortes auf. So wurde das Wort für Berufsgruppen (casta der Schuster), als Synonym für gentos (Rasse oder Stamm), als Bezeichnung für eine hochrangige Familienabstammung oder auch zur Kennzeichnung einer Religionsgemeinschaft benutzt. Im Englischen erscheint das Wort Kaste Mitte des 16. Jh. in der Schreibweise cast, die erst zu Beginn des 19. Jh. von der französischen Schreibweise caste abgelöst wurde. Der Begriff der Kaste wies bis zur Mitte des 19. Jh. eine große Unschärfe auf. Im Laufe des 19. Jh. konkretisierte sich dann der westliche Kastenbegriff insoweit, dass eine deutliche Unterscheidung zwischen Kasten und Stämmen getroffen wurde und dass der Versuch unternommen wurde, die mit Kaste bezeichneten sozialen Phänomene konkreter zu fassen und zu erklären. Dies geschah allerdings aus einer sehr einseitigen Perspektive heraus. Da man sich überwiegend an den Auskünften brahmanischer Gelehrter orientierte. Dies führte dazu, dass eine aus brahmanischen Kreisen stammende Gesellschaftsideologie weitgehend übernommen wurde, die eine klare Hierarchie von endogam (Eheschließungen innerhalb einer bestimmten Gruppe) strikt getrennten, berufsbezogenen Gruppen innerhalb der indischen Gesellschaft mit den Brahmanen an der Spitze behauptete. 2. Relevanz des Kastensystems Das Kastensystem ist durch religiöse Werte strukturiert, da der soziale Status des Einzelnen nach dem Grad seiner rituellen Reinheit bestimmt wird und damit seine Eignung für die Durchführung von Ritualen festgelegt wird. Der soziale Status ist an rituelle Rechte gekoppelt und damit stehen soziale Existenz und religiöse Identität in einer engen Verbindung. Soziologe Louis Dumont erklärt: Wer ein Hindu ist bzw. wodurch jemand ein Hindu wird, ergibt sich aus der Geburt in die Kastengesellschaft. Demnach ist Hinduismus ein von Brahmanen dominierter Ritualismus, der einerseits durch die soziale Hierachie des Kastensystems gestützt wird und andererseits dazu dient, die sozialen Hierarchien zu bestätigen. 3. Die Kasten und das Konzept des dharma Die anhaltende Bedeutung der Kastenidentität beruht nicht zuletzt darauf, dass der Einzelne durch die Geburt in der Kastengesellschaft Anspruch auf die Initiationsriten bzw. Lebenszyklusrituale erhält, die ihm seine soziale und rituelle Identität sichern. Die sozialen und rituellen Normen der Kastengesellschaft werden in den klassischen Rechtstexten unter dem Stichwort der Gesetze von Kaste und Lebensphase behandelt, dem sog. Varna-asrama-dharma. Demnach bestimmen sich die dem Einzelnen zukommenden sozialen Pflichten und Rechte danach, welcher Kaste (varna) er zugehört und in welcher Lebensphase (asrama) er sich befindet. 1 Die vier Hauptkasten (varna): 1. Brahmanen (Priester und Gelehrte), 2. Ksatriya (Krieger, Aristokraten, Landbesitzer), 3. Vaisya (Händler, Geschäftsleute, Handwerker), 4. Shudras (Diener, Knechte, Tagelöhner). Das Vier-Stände-Modell erhielt seine mythisch-metaphorische Formulierung in einem der berühmten Hymen des Rigveda, dem sogenannten purusha Hymnus. Der Hymnus beschreibt, wie aus der Opferung des kosmischen Ur Körpers (purusha) die verschiedenen Sphären des Kosmos, die Jahreszeiten, die Tiere und schließlich die vier Hauptkasten entstanden. Die drei oberen Kasten haben allein das Recht, die vedischen Texte zu studieren und die damit verbundenen rituellen Rechte zu erhalten. Die Brahmanen repräsentieren die höchsten Werte der Gesellschaft und die Verhaltensnormen, die für alle gelten sollen, wie z.B. Wahrhaftigkeit oder Gewaltlosigkeit. Sie sind nicht allein durch ihr Veda-Studium im Besitz des rituellen und allen anderen Wissens, sondern sie repräsentieren durch ihre Beschäftigung mit geistigen Inhalten und religiösen Themen auch eine Relativierung des sozialen Machtstrebens. Das heißt sie sollen den anderen das Nichtstreben nach Besitz und Macht vorleben. Als Mitglied einer unterständigen Gärtnerfamilie zum Beispiel liefert man Blüten für die religiösen Rituale. Niemals wird der Gärtner aber das Recht haben, die Blüten auch dem Gott oder Göttin im Tempel als Priester zu opfern. Der Gärtner kann sich auch nicht einfach entscheiden Priester zu werden, weil er dazu nämlich als Brahmane geboren sein muss. Durch die Erfüllung der Pflichten erwirbt man religiöse Verdienste d.h. man erfüllt sein dharma und erwirbt sich dadurch gute Chancen für das Nachleben bzw. für die Wiedergeburt in einer besseren Kaste. Der Begriff dharma bezeichnet eines der zentralen Konzepte des Hinduismus Demnach werden die Existenzen von Lebewesen und damit auch das Kastensystem als Teil und Ausdruck einer kosmischen Ordnung gedeutet, der alle Lebewesen verpflichtet sind Dharma als Zusammenhang von Gesetzmäßigkeiten, der die natürliche Lebensgrundlage für alle Wesen ist. Z. B. Ablauf der Jahreszeiten. Dharma als Katalog von Vorschriften und Gesetzen, die jeder seiner sozialen Position gemäß einzuhalten hat. Dharma als Rechtsordnung, die aus der Einhaltung aller einzelnen Gesetze entsteht. Es ist traditionellerweise die Aufgabe des Königs, das Recht zu schützen und es , wenn nötig mittels seiner Strafgewalt durchzusetzen. Welche Gesetzesvorschriften der Einzelne zu befolgen hat, richtet sich jedoch nicht nur nach seiner Kaste, sondern auch nach der Lebensphase (asrama) in der er sich gerade befindet Die vier Lebensphasen (asrama): - 1. Brahmacarin (Student): Studienzeit bei einem Lehrer= brahmanisches Leben führen. Die Studiendauer hängt von der Kastenzugehörigkeit ab. - 2. Grhasthin (Haushälter): Nach dem Studium soll man heiraten und so den Fortbestand der Familie sichern. Das ist die Zeit, um nach Wohlstand (artha) und Lusterfüllung (kama) zu streben. - 3. Vanaprastha (Waldeinsiedler): Rückzug aus der Welt um sich uneingeschränkt dem spirituellen Heil zu widmen. - 4. Samnyasan (der allem entsagt): In dieser Phase bricht man den Kontakt mit der Familie völlig ab und bereitet sich mit asketischen Praktiken auf den Tod vor. 4. Die Unberührbaren Das Fortleben der mit dem Kastensystem verbundenen Hierarchien, Werte und Normen sowie der daraus resultierenden Diskriminierung zeigt sich in der Lage der Unberührbaren besonders deutlich Ganz am Rande der Gesellschaft leben die so genannten Unberührbaren, die all das repräsentieren und bearbeiten, was die Kastengesellschaft ausgrenzen muss, um ihre Werte der Reinheit aufrechterhalten zu können Sie sind es die Fäkalien, Müll, die Überreste verstorbener entsorgen. Die Gruppe der Unberührbaren ist keine homogene Gruppe, sondern sie zerfällt in verschiedene Statusgruppen (jati), die untereinander nicht immer solidarisch sind Das in der indischen Verfassung festgeschriebene Verbot von Praktiken der Unberührbarkeit hat die Diskriminierung nicht aufgehoben. Nach wie vor wird Unberührbaren die Benutzung des Dorfbrunnens oder das freie Betreten des Dorfes verweigert. Sie müssen in der Regel in eigenen Siedlungen außerhalb des Dorfes leben und sind von den meisten Dorffesten ausgeschlossen. Außerdem gelten für sie diskriminierende Kleidervorschriften, die wohl weniger aus Reinheitsgeboten resultieren, sondern eher als Ausdruck ihrer Unterdrückung durch die höheren Kasten anzusehen sind. 2 Im Zuge der Debatten um die Reformierung des Hinduismus im 19. und 20. Jahrhunderts wurde die Unberührbarkeit immer wieder thematisiert und es formierten sich verschiedene politische Bewegungen, die die Befreiung der Unberührbaren forderten. Eine wichtige Bewegung dieser Zeit ist der Ad Dharma bzw. Adi Hinduismus, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Nordindien bildete. Dabei wird eine Interpretation der Frühgeschichte des Hinduismus entworfen, wonach die Unberührbaren die ursprünglichen Herrscher in Indien waren, die dann durch die eingewanderten Aryas (Arier) versklavt und aus dem arischen Kastensystem ausgeschlossen wurden. Dass sie sich als Nachfahren der indischen Ur Bevölkerung ansehen, bezeichnen sich die Unberührbaren in manchen Teilen Indiens auch als Adi Hindus, als Urhindus. Der Urhinduismus betont die Werte der bhakti, der Gottesliebe, die allen Menschen gleichermaßen Zugang zu Gott eröffnet. Der berühmteste Führer der Unberührbaren, Ambedkar, war nicht nur einer der schärfsten Kritiker des Kastensystems und des Hinduismus, sondern rief die Unberührbaren auch zur Konversion zum Buddhismus auf. Ambedkar lehnte die von Gandhi propagierte Bezeichnung der Unberührbaren als Harijan (Geschöpfe Gottes) als Euphemismus ab. QUELLEN: • Louis DUMONT: Gesellschaft in Indien: Die Soziologie des Kastenwesens. Wien: Europa-Verlag 1976 • Angelika MALINAR: Hinduismus. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht UTB 3197, 2009 Axel MICHAELS: Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck 2006 MANUSMRTI. Manus Gesetzbuch. Aus dem Sanskrit übersetzt und herausgegeben von Axel Michaels unter Mitarbeit von Anand Mishra. Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag 2010 Stefano PIANO: Religion und Kultur Indiens. Köln: Böhlau UTB 2507, 2004. • • • Stephan Euchler II. Vorstellung des Buches: Christentum und Kastenwesen Jürgen Stein: Christentum und Kastenwesen. Zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft in Indien. Frankfurt am Main: Verlag Otto Lembeck 2002, 424 S. Hinweise zum Autor: Dr. Jürgen Stein, geb. 1969, Studium der Religionswissenschaft, Evangelischen Theologie und Mathematik. Längere Forschungsaufenthalte in Indien. Lehrbeauftragter im Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Frankfurt/Main, Gymnasiallehrer. Der Autor setzt bei seiner Untersuchung der Sozialgeschichte der indischen Christen auf der Ebene der sozialen Alltagswirklichkeit an. Indem er die Beziehung von Religion und Gesellschaft am Beispiel der indischen Christen herausarbeitet, stellt er den Grundgedanken des christlichen Kastenwesens dar und ergänzt das Bild des Christentums in Indien aus soziokultureller Sicht, indem er ein differenziertes Bild der sozialen Entwicklungen fertigt, das aus der Kontrastierung von christlicher und indischer Tradition besteht. Daher wird das Buch vom Autor in vier Abschnitte gegliedert: • • • • Kaste in Indien Das Christentum in der indischen Gesellschaft vor dem 19. Jh. Kaste und Mission während der britischen Kolonialherrschaft Die Bedeutung der Kaste unter den Christen im postkolonialen Indien Der Autor stellt sich in seiner Untersuchung dem Problem, inwieweit das Kastenwesen die indischen Christen geprägt hat und unternimmt den Versuch, die Bedingungen des Wechselspiels zwischen Kaste und religiöser Kultgemeinschaft nachzuzeichnen. Er möchte mit seiner Untersuchung zur konkreten Sozialgeschichte Indiens beitragen. Denn die westliche Indienforschung hat sich bezüglich des Kastenwesens lange Zeit mit den Sanskritquellen auseinander gesetzt und in letzter Zeit keinen Versuch mehr unternommen, eine panindische Theorie über das Kastenwesen zu entwerfen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Kaste nicht die einzige Identifikationsmöglichkeit für das Individuum in der indischen Gesellschaft bildet, sondern dass es auch in der Dorfgemeinschaft, in ethischen Gruppen oder in politische, kulturellen oder religiösen Institutionen sein Rückgrat hat. Die christlichen Gruppen Indiens erweisen sich dabei als Geburts-, Ritual- und Solidargemeinschaften, die sowohl Bestandteil einer religionsübergreifenden Kastengesellschaft sind, als auch untereinander kastenhierarchische Bezüge herstellen. Durch den Religionswechsel zum Christentum ändern sich weder die Grundsätze des eigenen Kastenverhaltens noch die Behandlung der christlichen Gruppen als Kasten durch das gesellschaftliche Umfeld, 3 so dass der Begriff Kaste ohne Einschränkung auch auf christliche Gruppen angewendet werden kann. Die Behauptung eines hinduspezifischen Charakters des Kastenwesens kann höchstens auf einer rein ideologischen Ebene aufrechterhalten werden. Doch selbst hier besteht kein Konsens in der Deutung und Anerkennung zentraler religiöser Texte. Die Mehrheit der Brahmanen lehnt es ab, aus diesen Texten eine religiöse Rechtfertigung von streng hierarchisierenden Geburtskasten zu schlussfolgern. Durch den Nachweis der Existenz von Kasten und eines ausgeprägten Kastenverhaltens unter den indischen Christen zeigt der Autor, wie stark die kirchliche Wirklichkeit vom gesellschaftlichen und soziokulturellen Kontext beeinflusst wird und wie weit dabei bisweilen Konfession und ethische Postulate in den Hintergrund treten. In diesem Kontext schildert er die nordindischen und südindischen Konversionsbewegungen. In Südindien, wo der missionarische Erfolg im Bereich der Kasten am größten war und Christen zumeist in sozial höherrangigen Kasten lebten, entwickelten sich ernsthafte Kastenkonflikte innerhalb der Kirchen. Denn mit dem Ende der Kolonialherrschaft und der kolonial geprägten Mission ereigneten sich in Indien auch keine größeren Konversionsbewegungen zum Christentum mehr. Dadurch setzte sich ein Konsolidierungsprozess unter den christlichen Gruppen in der indischen Gesellschaft ein, der allerdings große regionale und schichtenspezifische Differenzen aufwies. Diese Bewegungen zum Christentum hatten lokal unterschiedliche Auswirkungen auf die soziale Interaktion in der Kastengesellschaft, obwohl die individuelle Verhältnisbestimmung zur Kaste nicht durchbrochen wurde. Die christlichen Unberührbaren (Dalits) wurden nach ihrer Kaste und nicht nach ihrer Religion in ihrem gesellschaftlichen Umfeld beurteilt, so dass selbst für die Dalits gemäß ihrer Selbsteinschätzung für die soziale Situation die Religionszugehörigkeit unbedeutend ist. Neben den mit gesellschaftlichen Umfeld übereinstimmenden Hierarchisierungspraktiken haben sich unter den Christen aber auch eigenständige Entwicklungen im Rahmen der Ritual-Übungen ergeben, die im Umfeld der Dalit-Christen mit dem nicht-christlichen gesellschaftlichen Umfeld geteilt wurden. Die sozialen Hierarchien unter den christlichen Kasten werden auch durch die Machtverteilung in den indischen Kirchen bestätigt. Daher vermag das Aufzeigen innerkirchlicher Spannungen als Kastenkonflikte den westlichen Kirchen wertvolle Impulse für eine effizientere Entwicklungsarbeit zu geben. Denn die christlichen Kasten sind nicht nur ein Teil einer Religionen übergreifenden Kastengesellschaft, sondern haben mit der Zeit auch untereinander hierarchische Bezüge hergestellt, wenn in einer Region die christliche Gemeinschaft aus mehreren Kasten besteht. Der Autor regt eine soziale Selbstklärung der indischen Kirchen an, die auch einem Abbau von gefährlichen Aggressionspotenzialen im Verhältnis zur überwältigenden Mehrheit der Hindus dienen könnte, indem er die Situation der Dalits aufgreift und auf die Mitverantwortung von Christen höherer Kasten Bezug nimmt. Peter Wevelsiep, Schwerte Rz-Stein Kastenwesen, 16.05.05, bearbeitet 09.11.10 für das Seminar: „Annäherungen an den Hinduismus“ III. Vorstellung von Manus Gesetzbuch MANUSMRTI. Manus Gesetzbuch. Aus dem Sanskrit übersetzt und herausgegeben von Axel Michaels unter Mitarbeit von Anand Mishra. Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag 2010, 427 S., Kommentar, Glossar, mehrere Register --- ISBN 978-3-458-70028-9 Das traditionelle Kastensystem hat in Indien prägende Wirkungen bis heute. Menschen aus dem Westen haben damit erhebliche Verstehensschwierigkeiten. Dies gilt selbst dann, wenn es erstaunliche Konvergenzen in europäischen und amerikanischen Gesellschaftsstrukturen bis hin zu Schichten-Spezifika und sog. Parallelgesellschaften gibt. Neben den Beschreibungen, die in europäischen Sprachen vorliegen, ist es darum wichtig, an Originalquellen heranzukommen, die weniger Rechtstexte sind als vielmehr Lehrbücher, „Lehr“-Texte für das richtige Verhalten, verbunden mit den entsprechenden Pflichten, die angesichts der Kastenstruktur die Sicht der Brahmanen spiegeln und von daher für die Gesellschaft insgesamt relevant waren/sind. So ist es sehr zu begrüßen, dass der renommierte Heidelberger Indologe Axel Michaels und der Sanskrit-Experte Anand Mishra (derzeit am Südasien-Institut Heidelberg) Manus Gesetzbuch = das Manava Dharmashastra (entstanden etwa zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr. nicht nur zum ersten Mal vollständig übersetzt, sondern auch umfassend kommentiert haben. Damit erleichtern sie das Verständnis für alle jene, die hinter die oberflächlichen Informationen brahmanischen Rechtsverständnisses und indischer Verhaltenskodices kommen wollen. Michaels sieht darum hinter diesen Texten die brahmanische Weltanschauung zum Leitmotiv werden, „bei der ein bestimmter Subtext mitzulesen ist. Denn es handelt sich eigentlich um den groß angelegten Versuch einer Restauration verlorengegangener oder stark gefährdeter Verhältnisse. Gefordert wird eine heilige Allianz von Brahmane und König, gleichzeitig werden offensichtlich wachsende Ansprüche bestimmter Schichten (Bauern, Mischkasten, Fremde, Andersgläubige) teilweise vehement abgewehrt“ (S. 282), vielleicht auch gegen den Einfluss des Buddhismus. Michaels stellt auch die nicht ganz leicht zu überschauende Struktur des Textes sowie seine Verbindung zur tatsächlichen heutigen Rechtspraxis dar. Während dies in der Reihenfolge der Schöpfungstaten Gottes und den Weltzeitaltern noch nicht sogleich erkennbar ist (vgl. S. 11-17, Kap. 1), wird dies bei den Initiationsriten offenkundig (S. 24-28, Kap. 2). Das Studium der Veden (S. 28-32) führt mit Hilfe des Guru dann in die Haltung des tiefer Wissenden, des zweimal Geborenen (Privileg der ersten drei Kasten) und damit über den anderen Stehenden. Das allerdings fordert 4 wiederum zu besonderen Pflichten heraus (am deutlichsten natürlich für die Brahmanen) – im Blick auf den Alltag, die Ernährung, Reinigungsriten, aber auch was Heirat, die Ahnen, das Opfer, die Höherwertigkeit des Wissens gegenüber dem Materiellen betrifft. Gleichzeitig wird hier die Abwertung der Frau gegenüber dem Mann sichtbar (Kap. 3-5). Die ersten Kapitel der Textsammlung stellen insgesamt einen Lebensrhythmus dar, der beim Vedastudium (in der Jugend) begann, zum Haushalter mit Familie führte und schließlich als Zeit der inneren Reife den Weg zum Waldbewohner freigibt (Kap. 6), Vorstufe auf das Entscheidende: „Wenn er [der Weltentsager] so den Ritualen entsagt und frei von Anhaftungen sich ganz seinen Pflichten hingibt, löscht er durch die Weltentsagung das Böse und erlangt den höchsten Zustand“ (S. 127). Nun – ab Kap. 7 – folgen Regeln der Herrschaft mit den Pflichten des Königs und politische Strategien für Krieg und Frieden. Die dazu gehörigen Rechtsgrundlagen im Sinne des rigiden Kastensystems werden dann ausführlich angesprochen (Kap. 8). Über Bedeutung und Stellung der Frauen und ihre untergeordnete, jedoch respektvolle Eingliederung in die Kastenhierarchie spricht das Kap. 9 sowie auch von den verschiedenen Strafmöglichkeiten des Königs. Kap. 10 geht besonders dem Problem von Vermischungen unterschiedlicher Kasten nach, und zwar in legalen, halblegalen und illegalen Verbindungen von Menschen. Schließlich wird noch die Struktur der Stände und Berufe abgeklärt. Im Schlusskapitel 11 wird das Geben und Nehmen so geklärt, dass der Tugendhaftere mehr Rechte gegenüber einem Menschen hat, der z.B. die Rituale und Opfer nicht rechtmäßig durchführt oder vernachlässigt. Dazu gibt es dann passende Sündenregister, Bußübungen und Sühnemöglichkeiten. Am Schluss wird dann die Gottbezogenheit all dieser Anordnungen, Rituale und Verhaltensregeln festgehalten: „Wer so in allen Wesen sein Selbst durch das Selbst in allen erzeugten Wesen erkennt, wird allen gleich und erreicht das brahman, den höchsten Zustand“ (S. 276). Der Autoren und Herausgeber stellen sich natürlich auch die Frage nach der faktischen Verwendung dieses Leitfadens (S. 299ff) und sparen auch Kritik nicht aus (S. 301ff) – im Blick auf die Abwertung der Frau, das elitär brahmanische Denken, die Forderung drastischer Strafen, die überzogenen Reinheitsvorstellungen und ein Weltbild, das die eigene gesellschaftliche Stellung göttlich absichert. Warum aber wurde Manus Gesetzbuch trotzdem zu einem der zentralen Texte des Hinduismus? Es ist eben dieses Weltbild einer übergreifenden Ordnung mit allerdings wenig Mitgefühl und einem fehlenden Gleichheitsgedanken. Dennoch wurde so Jahrhunderte lang auf solche Weise ein Zusammenleben der Gesellschaft gesichert. Viele dieser Vorschriften spielen zwar im heutigen Indien keine Rolle mehr (S. 310-318), aber dennoch gibt es einen entscheidenden Erkenntnisgewinn in diesem erstaunlichen, aber auch irritierenden Buch. Er ist für das Verstehen des oft so fremd wirkenden Hinduismus entscheidend: „Nach wie vor weitgehend gültig sind … die Vorschriften zu Übungsritualen, zu Askese und Reinheit. Hier behauptet sich der Hinduismus und erweist sich als eine Religion, die sich weniger über gemeinsame Glaubensanschauungen, Götter oder Texte als über Rituale und Reinheitsvorschriften definieren läßt“ (S. 318). Dies gilt es immer wieder bei europäisch geprägten Annäherungen an hinduistische Ethik zu beachten. Die vorgestellte Ausgabe des Manusmrti bietet dafür eine solide Grundlage. Vgl. auch eine ausführliche englische Erläuterung zum Manava Dharma-Shastra: http://philtar.ucsm.ac.uk/encyclopedia/hindu/ascetic/dharma.html (abgerufen 15.12.10) Reinhard Kirste im Rahmen des Seminars „Annäherungen an den Hinduismus“ an der TU-Dortmund, TU-DO/WiSe 10-11/Kastensystem, 15.12.10 5