Ratschläge für die Praxis Wie niedrig darf das Hämoglobin sein? Rudolf Gross 1. Normalbereichei Das normale Hämoglobin des Blutes wird in den Lehrbüchern der Hämatologie (zum Beispiel 3, 4) und der Labormedizin (zum Beispiel 1) bei geringen Abweichungen untereinander mit einem Mittelwert von 15,5 g/dl für männliche, gesunde weiße Erwachsene angegeben (bei Farbigen liegt es zum Teil um 0,5 bis 1,0 niedriger) (4), für die entsprechenden Frauen mit 13,7; die 95 Prozent Vertrauensbereiche reichen - eine meines Wissens bisher nicht bewiesene Gauss-Verteilung unterstellend von 13,3 bis 17,7 beziehungsweise von 11,7 bis 15,5 g/dl. Der normale Hämatokrit (abhängig von der Erythrozytenzahl, ihrem Einzelvolumen, der Hämoglobinkonzentration, den Leukozyten und anderen Einflußgrößen) beträgt 2. Blutsubstitution und Gefahren Bei Blutverlusten spielen die Schnelligkeit des Eintritts, das ursächliche Grundleiden und etwaige begleitende Störungen, zum Beispiel des Herzens, der Lunge, des SäureBlasen-Haushaltes eine wesentliche Rolle. Ich habe in der perniziosareichen Nachkriegszeit Kranke erlebt, die mit Werten um eine Million Erythrozyten in die Klinik und zur Wiederherstellung kamen. Eine Zeitlang wurde es dann Mode, reichlich Blut zu geben (etwa nach normalen Geburten!), bis die Indikationen mit dem Einfluß der Hepatitisund neuerdings der HIV-Infektio- bei Männern 46,0 (± 2 s = 39,8 bis 52,0), bei Frauen 40,9 ( -± 2 s = 34,9 bis 46,9 (4). Zu diesen wichtigen Werten zwei kurze Ratschläge für die Praxis: ■ Wenn man nicht den (heute üblicherweise elektronisch bestimmten) Hämatokrit erhält, aber diesen Wert wissen möchte, braucht man nur die Blutsenkungsröhrchen nach zwei Stunden schrägzustellen, das heißt eine starke Beschleunigung der Senkung herbeizuführen, und kann nach 12 bis 24 Stunden durch Senkrechtstellung den Hämatokrit mit ausreichender Genauigkeit von unten nach oben ablesen. ■ Bei Patienten mit vorausgegangenen zerebrovaskulären Störungen halte ich den Hämatokrit im unteren Bereich der Geschlechtsnorm und ergänze die etwaigen kleinen Aderlässe (nicht über 200 ml!) durch gleiche Mengen des aggregationshemmenden und zirkulationsfördernden Rheo-Macrodex®. nen (letztere werden in verschiedenen Statistiken meist mit ein bis drei Prozent der Aids-Kranken angegeben, Hämophile nicht mitgerechnet), strenger gestellt wurden. Wann genügt die Substitution mit Eisen beziehungsweise Vitamin B12, wann sollte man Blut geben? Die wichtigsten Ursachen der Anämien sind: (traumatisch, C) Blutverluste operativ und - oft übersehen - chronisch anhaltende oder rezidivierende kleinere Blutungen, zum Beispiel aus Hämorrhoiden, Ulzera, Tumoren). C) Erkrankungen nicht nur der blutbildenden Organe, sondern komplexer Genese (zum Beispiel Infektanämien, Tumoranämien oder andere). C) Anomalien des Hämoglobins (Hämoglobinopathien und ähnliches mit veränderter 0 2-Aufnahme in den Lungenkapillaren oder Abgabe in der Körperperipherie. 3. Pathophysiologie des Blutersatzes Zu dieser wichtigen und im Hinblick auf die Infektionsgefahr noch wichtiger gewordenen Frage haben Lundsgard-Hansen und Mitarbeiter (2) in einer neueren experimentellen Arbeit anhand von acht gemessenen Parametern sowie Extrapolationen Stellung genommen, die zugleich die häufige unmittelbare Relevanz experimenteller Arbeit für die praktische ärztliche Entscheidung eindrucksvoll wiedergeben. Die wichtigsten Schlußfolgerungen daraus sind: • Einen allgemeingültigen, akzeptablen Mindestwert gibt es nicht; die adäquate Hb-Konzentration ist eine individuelle und verlaufsabhängige Größe, die sorgfältige Beobachtung erfordert, am besten auf einer Intensivstation. O Den O2-Transport nicht beeinträchtigende Störungen vorausgesetzt, kann man Hb-Konzentrationen über 10 g/dl als im allgemeinen gefahrlos und als relative Indikation einer Substitution ansehen. (7-)8 bis 10 g/dl oder ein Hämatokrit von 20 bis 30 Prozent können bei (vorzugsweise autologen) Transfusionen und unter sorgfältiger Überwachung passager nach Angaben in der Literatur (bei 2) noch als akzeptabel angesehen werden. Steht autologes Blut nicht zur Verfügung, sind die kritischen Werte wegen der kürzeren Lebensdauer von Fremderythrozyten etwas höher anzusetzen. • Das Hauptrisiko liegt bei anämischen Patienten in der koronaren Minderversorgung mit Sauerstoff. Zwischen Herzleistung und koronarem Blutangebot besteht eine enge Korrelation. • Maßgeblich für die lebenswichtige Sauerstoffversorgung der Organe sind das zur Verfügung stehende 02-Volumen (V02, in ml/min), der arterielle 0 2-Druck (paO 2, in mm HG), die Körpertemperatur in °C, die die Dissoziationskurven Dt. Ärztebl. 87, Heft 15, 12. April 1990 (55) A-1195 (sogenannter Bohr-Effekt) beeinflussenden arteriellen pHa und gemischt venösen pHv, die Säurebasenwerte. Der Organismus kompensiert Sauerstoffdefizite oberhalb von etwa 11 g/dl Hb durch Erhöhung der venösen Sauerstoffspannung pvO 2 (normal40Hg,etspchndiner Sättigung von rund 75 Prozent), als zweite Hauptkompensation durch Erhöhung des Minutenvolumens (Beeinträchtigung dieses Kompensationsmechanismus durch Schrittmacher, Betablocker und an- dere!). Je höher das pH (negativer dekadischer Logarithmus der Wasserstoffionenkonzentration, normal 7,35 bis 7,45), um so stärker die Beanspruchung des Minutenvolumens. Am günstigsten ist in dieser Hinsicht eine Acidose (zum Beispiel um 7,30). Die Beachtung des Zusammenwirkens der genannten Faktoren und ihre messende Kontrolle, etwa auf Intensivstationen, ist Voraussetzung für die Vermeidung einer Anoxämie lebenswichtiger Organe und für eine gezielte Blutsubstitution. Frauen haben anderen Alkohol-Stoffwechsel Schädigung der Frauen durch Alkonkl hol beitragen kann. In einer italienischen Untersuchung an 20 Männern und 23 Frauen (darunter jeweils sechs Alkoholabhängige) wurde der Frage nach der Ursache des unterschiedlichen Blutalkoholspiegels zwischen Männern und Frauen bei vergleichbarem Alkoholkonsum nachgegangen. Nach Gabe von 0,3 g/kg Körpergewicht Alkohol wurde der Unterschied im Blutalkoholspiegel nach intravenöser und oraler Verabreichung als First-pass-Effekt interpretiert. Die AlkoholdehydrogenaseAktivität wurde durch endoskopische gastrische Biopsie ermittelt. Bei den Normalpersonen betrug der First-pass-Effekt und die ADH-Aktivität bei Frauen 23 Prozent, bei Männern 59 Prozent. Es bestand eine signifikante Korrelation (r s = 0,659) zwischen dem First-passStoffwechsel und der ADH-Aktivität in der Mukosa des Magens. Bei den männlichen Alkoholikern betrug die Metabolisierungsrate und die ADHAktivität gerade die Hälfte verglichen mit den männlichen Normalpersonen. Weibliche Alkoholabhängige wiesen eine noch geringere ADH-Aktivität als die männlichen Alkoholiker auf, eine First-pass-Verstoffwechslung ließ sich kaum noch nachweisen. Die Untersucher kommen zu dem Schluß, daß die erhöhte Bioverfügbarkeit des Alkohols in Abhängigkeit von der verminderten gastralen Oxidierung zur verstärkten akuten, aber auch zur chronischen Frezza, M., di Padova, C., Pozzato, G., Terpin, M., Baraona, E., Lieber, C. S.: High blood alcohol levels in women. The role of decreased gastric alcohol dehydrogenase activity and firstpass metabolism. N. Engl. J. Med. 1990; 322: 95-9. A 1196 - Dr. Charles S. Lieber: Alcohol Research and Treatment Center, Veterans Administration Medical Center, 130 W. Kingsbridge Rd., Bronx, NY 10468, USA. Hypertriglyzeridämie bei AIDS Ein Zusammenhang zwischen der Induktion einer Hypertriglyzeridämie durch Zytokine und einer Kachexie bei chronischen Infektionen wurde bereits von anderen Wissenschaftlern vermutet. Da Patienten mit erworbenem Immunschwäche-Syndrom (AIDS) häufig einen progressiven Gewebeschwund erfahren, entschieden sich die Autoren zu einer Untersuchung der Lipid-Serum-Spiegel und der Körperzellmasse bei Patienten mit AIDS. Lipid-Serum-Spiegel und Körperzellmasse wurden bei 32 Patienten mit AIDS, acht asymptomatischen HIV-positiven Patienten und bei 17 heterosexuellen und homosexuellen Kontrollpersonen ohne HIVAntikörper bestimmt. Die mittleren Triglyzerid-Konzentrationen und das Vorliegen einer Hypertriglyzeridämie waren bei Patienten mit AIDS (50 Prozent) signifikant erhöht, verglichen zu den (56) Dt. Ärztebl. 87, Heft 15, 12. April 1990 Literatur (1) Diem, K. (Red.): Documenta Geigy, Basel 1960 (2) Lundsgard-Hansen, P.; Doran, I. E.; Blauhut, B.: Is there a generally valid, minimum acceptable Haemoglobin Level? Infusionstherapie 16 (1989) 167 — (3) Wintrobe, M. (Chief Edit.): Clinical Hematology, Philadelphia, Lea a. Febiger, 1974 — (4) Williams, W. I.; Beutler, E.; Erslev, A. I.; Lichtman, M. A.: Hematology New York, McGraw-Hill, 1983 Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. med. Dr. h. c. Rudolf Gross Herbert-Lewin-Straße 5 5000 Köln 41 FÜR SIE REFERIERT Kontrollpersonen (p < 0,002 und p < 0,005), während die mittleren Triglyzerid-Spiegel der HIV-positiven Personen intermediär waren. Es wurden keine Unterschiede bei den Cholesterin-Spiegeln zwischen diesen drei Gruppen festgestellt. Unter Verwendung des Gesamtkörperkaliums, auf Größe und Alter angepaßt, als Parameter für die Körperzellmasse, wiesen 16 von 32 Patienten mit AIDS, jedoch keiner der symptomfreien HIV-Positiven oder der Kontrollpersonen einen signifikanten Schwund der Körperzellmasse auf. Es bestand keine direkte Verbindung zwischen dem Triglyzerid-Spiegel und dem Gesamtkörperkalium unter den AIDS- oder HIV-positiven Personen. Bei Patienten mit AIDS waren der mittlere Triglyzerid-Spiegel und das Vorliegen einer Hypertriglyzeridämie bei Präsenz oder Nichtvorhandensein eines Zellschwundes ähnlich So kommen die Autoren zu dem Schluß, daß eine Hypertriglyzeridämie ein verbreiteter Befund bei AIDS darstellt und unabhängig ist von dem Grad des Zellschwundes. Lng Grunfeld, C. et al.: Hypertriglyceridemia in the Acquired Immunodeficiency Syndrome. Am. Journ. of Med. 86 (1989) 27-31. Dr. Carl Grunfeld, Metabolism Section (111F), Veterans Administration Medical Center, 4150 Clement Street, San Francisco, California 94121, USA.