A3 SOZIALE ARBEIT Das Hilfeverständnis im Wandel der Gesellschaft Wenn man sich mit dem Begriff des Helfens befasst, stösst man ziemlich schnell auf den Begriff des 'Altruismus': Definition von Altruismus "Altruistisches Verhalten eines Akteurs ist dann gegeben, wenn er/sie die Absicht hat, einer konkreten Person eine Wohltat zu erweisen und wenn der Akteur freiwillig handelt (und nicht im Rahmen der Aufgaben, die sich durch dienstliche Rollenverpflichtung ergeben)." (Hans Werner Bierhoff, Psychologie hilfreichen Verhaltens. Kohlhammer Verlag, 1990, S. 9) In dieser Definition stecken vier Aussagen, die besonders hervorzuheben sind: 1. Die Handlung sollte für die HilfeempfängerInnen eine Wohltat darstellen. D.h. es sollte eine Unterstützung sein, die für sie einen Vorteil bedeutet. 2. Die altruistische Handlung sollte absichtlich erfolgen. Zufällige Handlungen oder Unterstützungen als unvorhergesehenes Nebenprodukt einer Handlung, wären demnach nicht altruistisch. 3. Die Wohltat sollte einer konkreten Person zukommen. Eine Massnahme, die einer bestimmten Organisation, einer Firma usw. von Vorteil ist, wäre aus dieser Definition ausgeschlossen. 4. Der Akteur sollte freiwillig handeln. D.h. er hätte auch anders handeln können, ohne dass er dadurch einen Nachteil gehabt hätte. Wenn z.B. jemand für seine Tätigkeit bezahlt wird, kann die Handlung durch die Bezahlung erklärt werden. Sie ist also nicht als freiwillig einzustufen. Neben dieser Unterscheidung zwischem altruistischem und professionellem Helfen ist eine zweite Unterscheidung wichtig: Wir müssen nämlich zwischen einer einseitigen und einer gegenseitigen Hilfe unterscheiden. Reziprozität ist der hierbei verwendete Fachbegriff: Definition von Reziprozität "Mit Reziprozität bezeichnet man wechselseitige Austauschleistungen zwischen Individuen oder Gruppen (Gouldner), wobei sowohl gegenständliche Güter und Dienstleistungen als auch die Vermittlung von Bewusstseins- und Gefühlszuständen in die Bewertung der Reziprozität mit einfliessen können" (Martin Diewald, Soziale Beziehungen: Verlust oder Liberalisierung? Berlin, 1991, S.117) Marcel Meier Kressig / A3 Differenzierte Gesellschaft und Soziale Arbeit 1 Arten von Reziprozität 1) Unmittelbare Reziprozität • gegenseitiger Austausch in einem einzigen Austauschprozess • 1. Voraussetzung: Wert und Gegenwert müssen sich klar bestimmen lassen • 2. Voraussetzung: Beteiligte müssen über die notwendigen Ressourcen verfügen • Beispiel: Bezahlung des Psychoanalytikers nach der Therapie • Nachteil: ungeeignet für Unterstützung in Notsituation 2) Aufgeschobene Reziprozität • Reziprozität als Ergebnis vieler einzelner Handlungen im Lauf einer Beziehungsgeschichte • 1. Voraussetzung: Vertrauen in die Beziehung • 2. Voraussetzung: Erwartung der Dauerhaftigkeit und Stabilität der Bez. • Beispiel: Alterssicherung in Entwicklungsländern • Nachteil: gesamtgesellschaftlich nur Austausch mit momentan Schlechtergestellten und nicht mit prinzipiell Schlechtergestellten (von diesen ist auch in Zukunft keine gleichwertige Erwiderung von Leistungen zu erwarten) 3) Generalisierte Reziprozität • Ausgleich der Leistungen findet nicht mehr im Rahmen einer Beziehung statt, sondern innerhalb der Gemeinschaft • Voraussetzung: moralische Norm, die fordert, dass man jenen helfen soll, die Unterstützung benötigen (weil man auch schon Hilfe benötigt hat bzw. in Zukunft einmal benötigen könnte) • Beispiel: "Volksglauben", dass sich Geben und Nehmen irgendwie ausgleichen werden • Nachteil: zwar erhalten so auch Bedürftige Hilfe, die bei den anderen Prinzipien keine bekommen, doch die Verlässlichkeit der Hilfe ist klein, da sie nur moralisch abgesichert ist. Marcel Meier Kressig / A3 Differenzierte Gesellschaft und Soziale Arbeit 2 Wir haben also bisher gesehen, dass wir erstens zwischen altruistischem und professionellen Helfen unterscheiden müssen. Zweitens hat sich gezeigt, dass sich beim Helfen auch die Frage nach der Gegenseitigkeit, des möglichen Ausgleichs stellt. Nun kann man sich zusätzlich fragen, was Menschen dazu führt, Hilfe zu leisten. Diese Frage kann man aus unterschiedlicher Perspektive zu beantworten suchen: Motivationen von "Helfen" Ethische Sicht -> Wann und warum ist jemand zum Helfen verpflichtet? Psychologisch Sicht -> Welche inneren Motive (wie Mitleid, Mitgefühl, Einstellungen usw.) ermöglichen oder verhindern Hilfe? Soziologische Sicht -> welche sozialen und kulturellen Strukturen erleichtern oder erschweren das Helfen? Soziologischer Ausgangspunkt Im folgenden werden wir einen soziologischen Blick auf das Helfen werfen. Dieser Ansatz konzentriert sich auf die sozialen Erwartungen von Hilfe. Es geht also darum, wie die Beteiligten die Situation definieren und welche Erwartungen sie in bezug auf die Handlungen, auf die Motive der anderen Seite haben. Was Hilfe ist und wann Hilfe geleistet wird, hängt von den gegenseitigen Erwartungen ab. Dabei geht es um ein sehr weites Verständnis von Hilfe. Wir können nämlich nach Luhmann Hilfe folgendermassen definieren: Definition von Hilfe Hilfe ist "ein Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse eines anderen Menschen" (Luhmann 1973: 21) Marcel Meier Kressig / A3 Differenzierte Gesellschaft und Soziale Arbeit 3 Wie und ob diese Bedürfnisbefriedigung zustandekommt ist also sozial strukturiert. Denn allein die moralischen Ansprüche und die inneren Einstellungen der Menschen wären, gerade in modernen Gesellschaft, nicht ausreichend. Auf diese Weise würde nie im nötigen Ausmass Hilfe geleistet. Damit lautet nach der obenstehenden allgemeinen Definition unser zweiter Ausgangspunkt folgendermassen: "Hilfe wird durch Strukturen wechselseitigen Erwartungen definiert und gesteuert" (Luhmann 1973: 21) Die beiden soziologisch wichtigen Fragen heissen danach: 1. welche typischen Erwartungen in bestimmten Situationen gibt es? Damit ist die Frage nach den "Erwartungstypen" gemeint. 2. Welche sozialen Umstände bringen welche Erwartungsstrukturen hervor? Damit ist die Frage nach den sozialen Zusammenhängen gemeint, in denen die „Erwartungstypen“ eingebettet sind. In allen Gesellschaften finden wir eine Gemeinsamkeit des Helfens: "Immer ist wechselseitige Hilfe unter Menschen verknüpft mit dem Problem des zeitlichen Ausgleichs von Bedürfnissen und Kapazitäten" (Luhmann 1973: 22). Was in diesem Zitat ein bisschen abstrakt tönt, ist ein ganz einfacher Gedanke: Gemeint ist damit, dass davon auszugehen ist, dass im Normalfall, nicht bei allen Mitglieder einer Gesellschaft zur gleichen Zeit die gleichen Bedürfnisse akut werden. Erst dadurch, dass jeder Einzelne sachlich verschiedenartige Bedürfnisse erlebt und dessen Bedürfnisse nicht mit der Mehrheit der Personen identisch ist, werden Ausgleichsmöglichkeiten möglich. Aufgeschobene Reziprozität Generalisierte Reziprozität (siehe oben) Marcel Meier Kressig / A3 Differenzierte Gesellschaft und Soziale Arbeit 4 Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen Luhmann (1973) bezieht sich auf drei Gesellschaftstypen in der Geschichte, in welchen sich unterschiedliche Formen des Helfens entwickelt haben: nämlich auf die archaische Gesellschaft, die hochkultivierte Gesellschaft und die moderne Gesellschaft. Diese Gesellschaftstypen zeichnen sich durch folgende Merkmale aus: Gesellschaftstyp: zentrales Merkmal: Archaische Gesellschaften Die Dehnbarkeit der Dankbarkeit Hochkultivierte Gesellschaften Die Ausbeutung der Mildtätigen Moderne Gesellschaften Die Beseitigung der Problemfälle Wie sich die Formen des Helfens im Laufe der Geschichte verändert haben, wird nun im folgenden Thema sein: Formen des Helfens in archaischen Gesellschaften Ausgangslage: • relativ wenige, allen bekannte Bedürfnisse • die Notlagen sind den Gesellschaftsmitgliedern vertraut • die Beteiligten kennen sich Marcel Meier Kressig / A3 Differenzierte Gesellschaft und Soziale Arbeit 5 Formen des Helfens: • Zeitpunkt der Not ist unbekannt, dann muss jedoch schnell geholfen werden • persönliche Hilfe unter Stammesangehörigen • wechselseitige Hilfe ("aufgeschobene Reziprozität") • keine institutionalisierte Wechselseitigkeit der Hilfe => Institutionalisierung von Hilfs- bzw. Abgabepflichten nicht direkt verknüpft mit: => Institutionalisierung von Dankespflichten (heutige Formen: Dankespflicht der Kinder, Fürsorgepflicht der Eltern unabhängig von den Gegenleistungen) Regelung des Ausgleichs: • Abgaben an die Gemeinschaft als Gabe (nur bei Überschüssen erwartet) • Dankespflichten sind nicht genau vorgegeben (z.B. als wirtschaftl. Leistungen, Arbeit, Unterwerfung, Prestigezuweisung, Kampfeshilfe usw. möglich) Wann die Dankespflicht erbracht werden muss, ist nicht geregelt -> nach Bedarf und Umständen einlösbar => "Dehnbarkeit der Dankbarkeit" (Luhmann) Beurteilung dieser Form des Helfens: • Vorteil: Trennung von Leistung und Gegenleistung ermöglicht flexible Regelung des Ausgleichs: so kann schnell und angemessen reagiert werden • Schwächen: a) Hilfsbedarf lässt sich nicht voll befriedigen (weil für die Gaben soziale Nähe nötig ist) b) unbestimmte Dankespflicht: unvorhergesehene Gegenerwartungen c) Abgabepflichten (man muss austeilen, Feste veranstalten usw.) verhindern Kapitalbildung, v.a. beim Übergang von Naturalien- zu Geldwirtschaft Marcel Meier Kressig / A3 Differenzierte Gesellschaft und Soziale Arbeit 6 Formen des Helfens in Hochkulturen Ausgangslage: • zunehmende Arbeitsteilung führt zur schichtmässigen Verteilung der Produkte -> Ressourcen und Notlagen unterscheiden sich stark • soziale Spannungen erfordern eine polit. Herrschaft, die das soziale Gefüge politisch und rechtlich zusammenhält • soziale Ungleichheit und politische Herrschaft wird über religiöse Welterklärung begründet • Grundlage für wechselseitige Hilfe entfällt: für die Oberschicht ist es unwahrscheinlich, selbst einmal in Notlage zu geraten Formen des Helfens: • wenn es um Leistungen geht, werden die gegenseitigen Erwartungen rechtlich geregelt (in Form von Verträgen) • für Wohltätigkeit ergibt sich eine kulturelle Lösung: Moral • Hilfe wird individualistisch moralisiert: als gute Tat des Einzelnen, entsprechend der Schichtung von oben nach unten (Almosen) • dennoch ist sie eine öffentliche Angelegenheit: Hilfe ist sichtbar, sie wird unter den Augen der Öffentlichkeit erbettelt und erwiesen bzw. abgelehnt => Standespflicht und allmählich Statussymbol • religiöse Moral: die "heilige Armut" ist von Gott geschickt und gibt den Reichen die Möglichkeit ihre Schuld abzutragen => Almosen als Mittel zur Abbüssung von Sünden • der Notleidende kann an diese religiösen Motive appellieren Marcel Meier Kressig / A3 Differenzierte Gesellschaft und Soziale Arbeit 7 Probleme am Übergang zur modernen Gesellschaft: • In der Gesellschaft werden immer mehr Bereiche über Geld geregelt: -> immer mehr Bedürfnisse können über Geld befriedigt werden -> umgekehrt kann statt Dankbarkeit Geld erwartet werden • Bedarfsausgleich reduziert sich immer mehr auf ein Problem der Geldverteilung (Geld verdirbt nicht, kann zu irgendeinem Zeitpunkt eingesetzt werden) • Schicht wird immer weniger wichtig für die Hilfe: die Vermögenden sollen als Privatpersonen spenden und nicht mehr als Höhergestellte. • => schwierig gemeinsame Interpretationen von Bedarfslagen zu finden => wenn Schichtgrenzen nicht mehr massgebend sind, kann Hilfe von überall kommen d.h. für Hilfeempfangende: es gibt immer andere, die mehr Geld haben für Helfende: es gibt immer andere, die noch bedürftiger sind => "Ausbeutung von Mildtätigkeit" (Luhmann) Marcel Meier Kressig / A3 Differenzierte Gesellschaft und Soziale Arbeit 8 Formen des Helfens in modernen Gesellschaften Ausgangslage: • Gewährung von Hilfe ist nötig, die unabhängig ist von individuellen Entschlüssen • eine zuverlässig erwartbare Hilfeleistung erfolgt durch Bildung eines Funktionssystem und durch Organisationsbildung Formen des Helfens: • Entscheidungen über Hilfe/Nicht-Hilfe in Organisationen der SA werden durch Programme und durch das Personal getroffen • Entscheidungsprogramme, Regeln bestimmen, ob und wann Hilfe gewährt wird => aufgrund dieser Kriterien wird Hilfe für den Hilfesuchenden erwartbar und voraussehbar (-> mehr Kenntnisse nötig) • bei den Helfenden findet sich eine Professionalisierung (Ausbildung und Motivation als Leistung, Gehalt und Prestige als Gegenleistung) • Entscheidung über Hilfe ist nicht Sache der Gegenseitigkeit oder der Moral, sondern Frage der methodischen Schulung und der Auslegung der Programme d.h. nicht der Anblick von Not, sondern der Vergleich von soz. Problem und organisatorischen Rahmenbedingungen führt zur Hilfe negative Folgen: • Effektivität, Zuverlässigkeit der organisierten Hilfe verdrängt andere Formen des Helfens • innerhalb von Organisationen kann es stören, wenn jemand "programmlos" hilft • Hilfsmotive: Vermutung, dass es für jedes Problem eine zuständige Stelle gibt und dass jemand nur noch Hilfe braucht, diese zu finden => Nächstenliebe nimmt die Form der Vermittlung an Marcel Meier Kressig / A3 Differenzierte Gesellschaft und Soziale Arbeit 9