Franz Hamburger Wie ethnozentrisch ist die Sozialpädagogik

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Franz Hamburger
Wie ethnozentrisch ist die Sozialpädagogik?
Lüneburg, 6.6.2015
Die Fragestellung mag überraschen angesichts der Beobachtung, dass insbesondere in der
Pädagogik und in der Sozialpädagogik in den zurückliegenden 30 bis 40 Jahren
Anstrengungen unternommen worden sind, helfend und unterstützend auf die besonderen
Notstände im Zusammenhang mit Einwanderung einzugehen. Diese Anstrengungen wurden
zunächst in der Praxis der außerschulischen Unterstützung und schulischer
Verbesserungsversuche unternommen. Die wissenschaftliche Klärung der mit Migration
zusammenhängenden pädagogischen Fragen war dann Nacharbeit, teilweise affirmativ,
teilweise kritisch zur entwickelten Praxis. Dabei konkurrierten konzeptionelle Vorstellungen
um die beste und die am besten begründete Programmatik für den Umgang mit
Migrationsfolgen. Die kritische Auseinandersetzung mit den Mustern, die in die Konzepte
Eingang gefunden haben, wurde punktuell geführt, hat aber vor allem die beruflichen
Praktiken kaum erreicht. Insofern ist die Frage, welche problematischen Muster in die
sozialpädagogischen Schriften eingegangen sind, immer noch und immer wieder aktuell.
Als „ethnozentrisch“ werden in diesem Zusammenhang nicht nur diejenigen Muster der
Wahrnehmung bezeichnet, die sich explizit auf Nation oder Volk, also verallgemeinerte
Kollektive beziehen, sondern auch Bewertungen, die die Normativität der je eigenen
Lebenswelt als unbefragt gültigen Bewertungsrahmen zu Grunde legen.
Ich betrachte meinen Beitrag als einen Mosaikstein in der laufenden und weiterhin
notwendigen Diskussion. Ich gehe aus von drei Beobachtungen, mache eine methodische
Bemerkung, die eine Anleihe bei der Lebensweltorientierten Sozialpädagogik darstellt und
gehe dann auf vier empirische Beispiele zur Prüfung meiner Fragestellung ein. Am Ende
versuche ich, eine abschließende These zu formulieren.
Drei Beobachtungen
Beim letzten Bundeskongress Soziale Arbeit in Hamburg habe ich beim Blick über die Köpfe
der Anwesenden bei den Plenumsveranstaltungen die Kopftücher vermisst. Natürlich ist diese
Wahrnehmung zunächst meiner eigenen Erwartung geschuldet, eine selbstverständliche
Präsenz von Musliminnen, die sich als solche zu erkennen geben, vorzufinden. Und das
Fehlen von Kopftüchern, soweit diese Beobachtung überhaupt zutreffend ist, sagt nichts
darüber aus, wie viele Musliminnen bzw. Menschen mit Migrationshintergrund anwesend
gewesen sind. Begründet und erklärbar wird diese Erwartung nicht nur mit meinen
beruflichen Arbeitsschwerpunkten, sondern auch mit meinen Alltagserfahrungen, in denen in
den Feldern der Sozialen Arbeit zunehmend Musliminnen aktiv tätig sind, ebenso im Studium
der Sozialpädagogik. Besonders aber sind Musliminnen mit oder ohne Kopftuch Teil der
Klientel der Sozialpädagogik in allen Praxisfeldern. Bei den Berufstätigen sind sie zweifellos
nicht entsprechend repräsentiert, möglicherweise ist aber auch das öffentliche Milieu der
Sozialpädagogik eines, in dem spätfeministische Frauenbilder es erschweren, sich in
anerkannter Weise bewegen zu können. Dies könnte die Beobachtung erklären, falls sie
richtig ist, und sie wäre nur mit einem erheblichen Schuss Spekulation richtig.
Eine zweite Beobachtung bezieht sich auf die gegenwärtige Aufnahme von Flüchtlingen.
Insbesondere in der Wahrnehmung von unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen beherrscht
die Annahme von Traumata die kollektive öffentliche Anamnese. Auch diejenigen, die keinen
jungen Flüchtling kennen oder mit ihm arbeiten, können sich auf Grund des öffentlichen
Meinungsbildes sicher sein, dass traumatische Belastungen die Lebenssituation der
Flüchtlinge kennzeichnen. Die Bilder, die die Medien transportieren, fokussieren nur auf
dramatische Situationen, deren Bewältigung dem Beobachter als schier unmöglich erscheint,
zumindest ohne besonderen Schaden zu nehmen. Die Formulierungen „viele sind
traumatisiert“ oder „oft ist mit Flucht ein Trauma verbunden“ setzen die mediale Anamnese in
eine scheinbar plausible Diagnose um. Für diejenigen, die in die Soziale Arbeit mit jungen
Flüchtlingen einsteigen, und es sind auf Grund der Besonderheit des Arbeitsfeldes häufig
Berufsanfängerinnen, bedeutet das öffentlich markierte Vorausurteil eine Belastung, wissen
sie doch, dass pädagogische Konzepte nur sehr begrenzt oder gar nicht tatsächliche
therapeutische Bedarfe abdecken können. Betrachtet man nun näher die herrschende
Wahrnehmung, dann kann man ihre Besonderheit vor allem auf die lebensweltliche
Fundierung der Wahrnehmungsmuster zurückführen. Im eigenen Erfahrungshorizont
erscheinen die Bilder der Flucht als schrecklich und sie aktivieren Bewältigungsängste und
starke Gefühle des hilflosen Ausgesetztseins. Weil in der Struktur der eigenen Lebenswelt die
Ressourcen für die Bewältigung großer Belastungen noch nicht erlebt wurden, wird als
einziges Bewältigungsmuster das des Traumas projiziert.
Auch eine dritte Beobachtung beruht nicht darauf, dass den Milieus der Sozialen Arbeit
schlicht Rassismus vorgeworfen wird, sondern wohl darauf, dass die Kultur der Empathie und
des Gutmachenwollens die Befangenheit in den Mustern der eigenen Lebenswelt verdeckt. So
wird generell – von der Polizei bis zur Gefängnisseelsorge, vom Kindergarten bis zur Schule
– der Bedarf an Pädagogen und Pädagoginnen „mit Migrationshintergrund“ artikuliert. Der
Zweck dieses speziellen Personals wird durchgehend auf die Funktion eines guten Umgangs
mit „Klientel mit Migrationshintergrund“ reduziert. Auch wenn die Sorge um gute
Dienstleistungen für bestimmte Personengruppen dabei im Vordergrund stehen kann, ist die
Delegation der Integrationsaufgabe an die Repräsentanten der zu Integrierenden faktisch eine
Segregation. Die Repräsentanten der einheimischen Pädagogik entledigen sich der Aufgabe
der notwendigen Reflexion des Eigenen in der Interaktion mit als fremd definierten Personen
und stürzen die Fachkräfte mit Migrationshintergrund in die paradoxe Situation, dass sie
etwas repräsentieren sollen was andere sind. Denn ihre Besonderung als Fachkräfte mit
Migrationshintergrund kann nur als halbierte Integration verstanden werden. Sie sind nicht
der übliche Lehrer, sondern eben der besondere.
Eine methodische Zwischenbemerkung
Die Beobachtungen sind selbstverständlich widersprüchlich. Denn sie thematisieren sowohl
eine unzureichende als auch eine übertriebene Wahrnehmung von Differenz. Was aber als
übertrieben oder als unzureichend verstanden werden kann, erscheint willkürlich. Erst in einer
kritischen und empirischen Auseinandersetzung können solche Behauptungen, was als
unzureichend gelten soll, konkretisiert werden. Eine ähnliche Aufgabe sieht die Soziale Arbeit
vor sich, wenn sie mit dem Anspruch der Lebensweltorientierung antritt.
Versteht man Lebensweltorientierung als ein „pragmatisches Konzept“ (Grunwald/Thiersch
2015, S. 936), dann bezieht es sich auf das sozialpädagogische Handeln, das sich dem
Anspruch unterwirft, sich explizit und reflektiert, anerkennend und zugleich kritisch auf die
Adressaten der Sozialen Arbeit und ihre Lebenswelt zu beziehen. Dabei ist die
lebensweltliche Eingebundenheit des pädagogisch Handelnden Voraussetzung seiner
Handlungsentwürfe und deren Realisierung. Diese lebensweltliche Bindung des Handelnden
selbst kann Ermöglichung eines gelingenden Bezugs zur Lebenswelt der Adressaten ebenso
sein wie eines misslingenden Bezugs, weil der pädagogisch Handelnde in den Befangenheiten
seiner Lebenswelt verstrickt bleibt. Diese Verstricktheit in die eigene Lebenswelt und die
besondere Formierung des eigenen Lebenslaufs kann inzwischen, das heißt nach einigen
biografischen Studien zu den Sozialarbeitern und Sozialpädagoginnen, als ein besonderes
Hindernis gelingenderer Arbeitsbeziehungen gelten (vgl. beispielsweise Melter 2006).
Versteht man aber die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ als die Theorie des
pragmatischen Konzepts, dann kann man ihre analytischen Möglichkeiten nutzen und nicht
nur die Verstricktheiten des performativen Handelns untersuchen, sondern auch die
wissenschaftlichen Äußerungen im akademischen Sprachhandeln. Für beide Dimensionen
stellt sich die Frage, wie Differenzen wahrgenommen werden und wie die Strukturen der je
eigenen Lebenswelt diese Wahrnehmung beeinflussen. Diese Art der Betrachtung, die die
Reproduktion von gesellschaftlichem Bewusstsein und nicht innerwissenschaftliche
Gedankenströme untersucht, thematisiert also einen Diskurs.
Die Texte zur Sozialen Arbeit stellen dabei eine bestimmte Diskursebene dar. Sie vermitteln
thematisch und inhaltlich zwischen teils wissenschaftlichen, teils praktischen Akteuren und
der nachwachsenden Generation von Sozialpädagogen und Sozialarbeiterinnen in der Phase
des Studiums und begrenzt auf den Ort der Hochschule. Eine zentrale Interpretationsleistung
in der Vermittlung erbringen die Dozenten und Dozentinnen, die die Texte einsetzen,
kritisieren oder bestärken in Bezug auf ihren Inhalt und ihre Intentionen. Auch die
Studierenden können die Texte affirmativ oder ablehnend aufnehmen. Insoweit sind die
Inhalte der Texte in der sozialpädagogischen Literatur von begrenzter Relevanz. Gleichzeitig
aber sind sie Repräsentanten einer Bildungskultur, die den Gesetzen des Buchmarktes
unterworfen ist. Insofern in den Texten eine für die Herausbildung von gesellschaftlichem
Bewusstsein und politischer Handlungsbereitschaft relevante Ebene eines bedeutsamen
Akteursnetzwerks (pädagogische Profession und nachwachsende Generation, Wissenschaft
und öffentliche Meinung) untersucht werden kann, ist es für eine Diskursanalyse besonders
geeignet.
Vier empirische Beispiele
Ein Beispiel für die starke Wirkung der eigenen Lebenswelt finden wir bei Klaus
Mollenhauer(1996). So wird von ihm mit großer Selbstverständlichkeit "Interkulturalität" als
eine von vier zentralen theoretischen Problemlagen bestimmt, wobei das Problem lediglich als
"Verschiedenheit kultureller Herkünfte" (Mollenhauer 1996, S. 880) bestimmt wird und als
sichere Grundlage für die Unterscheidung typischer sozialpädagogischer Aufgaben erscheint.
Als Beleg, um die Zentralität des Themas als theoretische Aufgabe zu begründen, wird auf
den Jahresbericht der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1995 hingewiesen, in dem fünf
zurechenbare Projekte aufgeführt sind. Der Beleg ist für eine Satire gut - angesichts der
Reichweite des programmatischen Anspruchs.
Das Problem ist nun nicht die Zuschreibung von Relevanzen, sondern die
Selbstverständlichkeit der Definition als "Kulturproblem", das auf der Annahme einer
grundlegenden Differenz zwischen Nationalkulturen beruht. Die in den Blick genommene
Person wird auf ganz bestimmte Weise wahrgenommen und definiert, nämlich schon vorab
als Fall einer allgemeinen Kategorie. Der von Mollenhauer erwähnte Fall, nämlich die
"Situation eines 16-jährigen türkischen Mädchens, in Berlin-Kreuzberg lebend und
Besucherin einer Jugendfreizeiteinrichtung" (Mollenhauer 1996, S. 881), kann zwar auch
kulturelle Dimensionen erfassen, müsste aber zugleich und vordinglich unter dem
Gesichtspunkt geprüft werden, ob und inwiefern sich die Zuordnung des Problems zu
"Interkulturalität" überhaupt begründen lässt. Woher kommt aber die Sicherheit für die
Vorwegkonstruktion einer grundlegenden Differenz zu anderen sozialpädagogischen
Situationen und sozialpädagogisch relevanten Personen? Es kann nur das Befremdungsgefühl
im Rahmen der eigenen Lebenswelt sein, das diese Sicherheit vermittelt. Während auf
„Augenscheinliches“ gezeigt werden kann, nämlich auf Aussehen oder Sprachhandeln usw.,
bleibt der Horizont der Fremdheitswahrnehmung unthematisiert. Dass ähnliche Themen in
Forschungsprojekten thematisiert werden, erscheint als hinreichende Validierung im
Wissenschaftssystem. Wenn schon DFG-prämiert über das Thema geforscht wird, dann muss
da etwas dran sein. Das hier betrachtete Beispiel erweist sich also – unter anderem – als ein
Beispiel der Befangenheit in der Lebenswelt der wissenschaftlichen
Kommunikationsgemeinschaft. Das Faktum einer DFG-geförderten Forschung erweist sich
als Signal für die Dignität einer Fragestellung bzw. genauer: für die eigenständige, kategorial
gerechtfertigte Unterscheidung von Forschungsgegenständen. Diese Unterscheidung schreibt
sich in das alltägliche Klassifizierungsschema des Wissenschaftlers ein und ordnet seine Welt,
das heißt den Ausschnitt seiner beruflich bearbeiteten Welt.
Ein anderes Beispiel ist eine Passage im 14. Kinder- und Jugendbericht, der mit einer
anschaulichen Reflexion über den Wandel des Aufwachsens in Deutschland eröffnet wird. In
diesem einleitenden Text werden die später differenziert referierten Studien zur Lage der
Kindheit und Jugend zusammengefasst. Dort findet sich auch ein Abschnitt zur Migration und
zum Aufwachsen mit Migrationshintergrund, aber spezielle Aspekte werden nur dieser
besonderen Gruppe zugeschrieben. So auch in der Einleitung:
„In Deutschland wächst eine erhebliche Zahl an Kindern und Jugendlichen auf, für die es zum
Alltag gehört, dass ihre Eltern nicht hierzulande geboren sind und dass ihre Großeltern
zumindest zum Teil nicht hier in Deutschland leben. Sie erleben Heterogenität in vielen
alltäglichen Dingen von Kindesbeinen an. Sie entwickeln daraus Stärken und Kompetenzen,
sie müssen aber oft auch mit den Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten , mit den
widerstreitenden Mustern der Lebensführung ganz unterschiedlicher Kulturen, Lebensstile
und Wertsysteme zurechtkommen, sie erleben die Ambivalenzen kultureller Heterogenität
vielfach am eigenen Leib. Die traditionell enge Verwobenheit von Lebensort, Lebensalltag
und Lebensstilen ist ihnen fremd. Vermeintliche Selbstverständlichkeiten verlieren ihre
Eindeutigkeit und werden eher zu einer allgegenwärtigen Differenzerfahrung.“ (S. 56)
Gerade an diesem Text kann gezeigt werden, dass es nicht um richtig oder falsch einer
Situationsbeschreibung geht, auch dass es nicht um mangelndes Verständnis für die Lage
bestimmter Gruppen von Kindern und Jugendlichen geht. Warum aber werden bestimmte
Merkmale einer Gruppe zugeschrieben oder nur einer Gruppe? Der Jugendbericht analysiert
das Aufwachsen in modernen Gesellschaften so, dass die genannten Erfahrungsmerkmale für
alle Kinder zutreffen, dass die kulturelle und soziale Differenziertheit der Gesellschaft als
universell verbreitet angenommen werden kann. In diesen strukturellen Beschreibungen
werden diese personenunabhängig, also nicht aus der Perspektive der Kinder und
Jugendlichen beschrieben. Hier aber wird scheinbar die Perspektive der Kinder
eingenommen, auch wenn man diese rein hypothetisch formulieren muss. Die Erfahrung von
Fremdheit wird ihnen zugeschrieben, die sie doch in Deutschland schon aufgewachsen sind.
Eine einfache Umkehr der Wahrnehmungsperspektive, subjektiv möglicherweise aus dem
Bestreben verstehen zu wollen motiviert, verschiebt die Fremdheitswahrnehmung aus der
Beobachterperspektive in die Beobachtetenperspektive. Heterogenität, Widersprüchlichkeiten,
Ungleichzeitigkeiten, widerstreitende Muster – alle diese Strukturmerkmale der
einheimischen Gesellschaft werden als verdichteter Erfahrungshorizont einer ausgewählten
und wohldefinierten Gruppe zugeschrieben. Vor allem die behauptete „enge Verwobenheit
von Lebensort, Lebensalltag und Lebensstilen“ ist bemerkenswert. Üblicherweise wird mit
dieser Trias von Elementen der Lebenswelt „Heimat“ beschrieben und vielleicht handelt es
sich hier um eine Projektion von Harmonievorstellungen oder –wünschen auf eine Gruppe,
die als Migrantengruppe „offensichtlich“, nämlich ganz von außen betrachtet, diese Harmonie
nicht erleben kann.
Insbesondere zu dieser Vorstellung von der Harmonie lebensweltlicher Strukturen gibt es
nicht nur eine lange Kritik sozialwissenschaftlicher Studien. Gerade im Hinblick auf das
Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen, deren Vorfahren eingewandert sind, zeigen
empirische Untersuchungen, wie sie sich ihre lokale Lebenswelt aneignen, wenn ihre
Zugehörigkeit zu diesem Lebensort nicht bestritten wird. Eine zentrale Bedingung für die
Möglichkeit der beschriebenen Besonderheiten wird ausgeblendet, nämlich die Vorenthaltung
von Selbstverständlichkeit.
„Hierzulande“ ist der Ort, von dem aus die Erkenntnis über Migrantenkinder formuliert wird,
und wer hierher kommt, muss wohl Fremdheitserfahrungen machen. Auch dass
Selbstverständlichkeiten keine sind, sondern ihre Eindeutigkeit verlieren, ist eine
Beobachtung, die unschwer den zutreffenden allgemeinen Gesellschaftsanalysen des Kinderund Jugendberichts zugeordnet werden kann. Sie wird hier aber gedreht und auf eine
Personengruppe fokussiert. Das Analysieren in Gegensätzen, das sich häufig im
Jugendbericht findet, wird in diesem Abschnitt auf eine zentralisierende Problemperspektive
verengt.
Auch in einer neueren, an sich verdienstvollen Dissertation in der Tradition der
Mädchenhausbewegung findet sich die Dominanz eigenkultureller Wertsetzungen bei der
Wahrnehmung des Fremden. Der „Rollenzerfall migrierter Personen“ (Kirchhart 2008, S.
220) rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung und bildet eine Interpretationsfolie für
heterogene Beobachtungen. Zwar werden ähnliche Problemlagen, die zur Inobhutnahme
führen, bei allen betroffenen Mädchen festgestellt und laufen die empirisch feststellbaren
Differenzierungen entlang anderer Kriterien, doch wird für die Mädchen mit
Migrationshintergrund ein akzentuiertes Bild gezeichnet: „Autoritär-restriktives
Erziehungsverhalten der Eltern greift in einem traditionellen und partikular organisierten
engmaschigen sozialen Netz, das der modern und universalistisch strukturierten Lebenswelt
deutscher Städte widerspricht.“ (Kirchhart 2008, S. 60) Die als Gegenwelt zur Welt der
Migranten konstruierte Eigenwelt der Moderne müsste ja spätestens dann problematisiert
werden, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen für die Notwendigkeit von Inobhutnahme
gerade von Mädchen analysiert werden. So aber kann autoritäres und patriarchalisches
Erziehungsverhalten der Welt der Anderen zugerechnet werden.
Ein letztes Beispiel kommt zwar nicht direkt aus der Sozialpädagogik, aber die Soziologie des
Klaus Hurrelmanns wurde vielfach rezipiert. In seinem jüngsten Buch hat der zusammen mit
dem Journalisten Erik Albrecht eine reißerische Abhandlung über die Jugend von heute
geschrieben mit dem Titel: „Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere
Welt verändert“ (2014). Oberflächliche Verallgemeinerungen, Charakterisierungen wie in der
Bildzeitung, aufgeblasene Trivialitäten und Lobpreisungen der schönen neuen Welt
kennzeichnen dieses Elaborat. In dieser Form ist Jugendsoziologie verkommen zu einer
Apologetik der Phänomene. Natürlich kommen auch die „Berufskritiker“ zu Wort, wobei an
erster Stelle die Pädagogen genannt werden. Und typischerweise kommt der Wandel durch
Einwanderung nur an einer einzigen Stelle (später, nämlich S. 61, ist von speziellen
Programmen für Jugendliche mit Migrationshintergrund die Rede, die aufgesucht werden
müssen, weil sie zu Bildungsangeboten nicht kommen) auf den 250 Seiten zu Wort:
„Die besonders schwachen Schüler stammen ganz überwiegend aus Familien, in denen Vater
und Mutter selbst nur wenig gebildet sind. Viele von ihnen sind nach Deutschland
eingewandert. Sie sind meist schon längere Zeit arbeitslos, verhältnismäßig arm und oft auf
staatliche Unterstützung angewiesen. Im Laufe der Jahre geraten sie in eine verfestigte
randständige Lage und sehen keine Chance mehr, sich durch eigene Anstrengungen daraus zu
befreien.“ (S. 51) Diese Gruppen verursachen dann „riesige Summen von
Wohlfahrtsaufwendungen und darüber hinaus große Produktionsausfälle“ (S. 225). Das „Heer
von Enttäuschten und Ausgestoßenen“ (S. 226) bildet eine „soziale Unterklasse von
unmotivierten Jugendlichen“, das nicht mehr auf „ die eigene Wettbewerbsfähigkeit“ (S. 225)
setzt.
Auch hier wird das Glück der modernen Seligkeit getrübt durch die Invasion der
Rückständigkeit, die eigene Welt des supertechnologischen Fortschritts und der
revolutionären Anpassung der Jugend an diesen Fortschritt der schönen Medienwelt wird
belastet durch die Einwanderung der Dummheit.
Abschließende These
Natürlich rechtfertigen die willkürliche Auswahl der Beispiele und die unsystematischen
Beobachtungen nur eine spekulative These. Auch ist darauf hinzuweisen, dass der
Gedankengang in Bezug auf die allgemeine Diskussion und den öffentlichen Diskurs im
pädagogischen Feld schon mehrfach thematisiert wurde. (vgl. die beiden Bände von
Direm/Mecheril 2009 und Direm u.a. 2010; neuerdings: Buchenhorst 2015). Aber der
Transformationsprozess der Gesellschaft durch Einwanderung und die Veränderung der
pädagogischen Praxis schreiten voran und lassen die in den verschiedenen Phasen der
Bewusstwerdung in den letzten vier Jahrzehnten entwickelten Deutungsmuster schnell
veralten. Die in den Lebenswelten erworbenen Deutungsschemata veralten schneller als sie
kulturell reflektiert und verändert werden können. Das wirft für die Pädagogik und die
Erziehungswissenschaft Dauerprobleme und –aufgaben auf. Während die These vom cultural
lag ursprünglich bezogen war auf das Verhältnis von sich schnell wandelnder Technologie
und kultureller Aneignung dieses Wandels, kann sie heute auch auf das Verhältnis von
Gesellschaft und Lebenswelt bezogen werden. Die Dynamik eines digitalisierten globalen
Kapitalismus und seine mediale Materialität durchdringen traditionelle Grenzen und
Begrenzungen, soziale Definitionsräume und kulturelle Interpretationsrahmen und machen
permanente Re-Interpretationen notwendig. Der lebhafte Handel regressiver
Deutungsangebote verdeutlicht drastisch die Unmöglichkeit einfacher Anpassungs- und
Nachvollzugsstrategien. Dabei können die Interaktionsräume der beruflichen Praxis als
Aushandlungsarenen rekonstruiert werden, in denen scheinbar keine Ordnungen mehr zum
Zuge kommen. Tatsächlich setzen sich lebensweltliche Traditionen des eigenen biografischen
Zusammenhangs ebenso durch wie technologische Scheinlösungen. Von der technischen
Ausstattung des Kinderzimmers angefangen mit seinen digitalisierten Animations- und
Überwachungsspielgeräten bis hin zum Wohnraum für die ganz Alten, die elektronisch rund
um die Uhr kontrolliert werden, dominieren die, man kann das nur ironisch zitieren,
„versachlichten“ Muster der Sozialität. Umstandslos setzt sich in dieser Welt der
uneingeschränkten Kontrolle das Selbstdeutungsmuster einer modernen, technisch und
elektronisch perfekten Welt durch, mit dem die Lebenswelt der modernen Menschen
strukturiert wird. Die Entfremdungsgefühle der kolonialisierten Lebenswelt können dann
unreflektiert auf das personalisierte Fremde projiziert werden. Frauen mit Kopftuch werden so
zum Inbegriff des Rückständigen und Gefährlichen. Für die Fälle der Beratung und der
Erziehung wird mehr denn je die Reflexion auf die eigenen lebensweltlichen Erfahrungen
bedeutsam, die in einem verwissenschaftlichen Nachdenken über das gute Leben Stützung
benötigt. Denn wenn dieser Horizont unbefragt Geltung hat, dann wird das Eigensinnige des
Fremden zusammen mit seiner Vorstellung vom guten Leben einer kolonialistischen Moderne
unterworfen oder externalisiert.
Mehr denn je gehören diese Fragen in die Ausbildung der Sozialen Berufe. Denn die wenigen
empirischen Studien zum tatsächlichen pädagogischen Handeln in sozialpädagogischen
Einrichtungen stellen „kulturalistische Argumentationsweisen“ (Nortman 2010) oder
rassistische Vernachlässigungen der Subjektperspektive (Melter 2006) fest. Dabei zeigt sich,
dass auch der Interkulturalismus als generalisierte Handlungsstrategie die eigenen
Befangenheiten ausblendet und sich anheischig macht, den anderen besser zu verstehen als er
es selbst vermag. Diese Überheblichkeit aber ist eine spezifische Tradition der Sozialen
Berufe, die schon immer mit Differenz umgehen müssen. Sie können sie weder wegdefinieren
noch pathologisieren noch kulturalisieren. Diese Einsicht in der Tradition von „Etwas fehlt“
(Brumlik/Keckeisen 1976) ist immer wieder zu erneuern. Die Lebensweltorientierung , die ja
gerade weder affirmative noch abweisende professionelle Handlungen begründen will
(neuerdings pointiert formuliert von Otto/Ziegler 2015), kann dabei hilfreich sein. Wie eine in
diesem Sinne analytisch differenzierte Reflexion von Erfahrungen geht, hat Astrid Woog in
ihrer Dissertation (1998) gezeigt. Allgemeines (die Prinzipien guter Sozialer Arbeit) und
Besonderes (die spezifische soziokulturelle „Einbettung“ einer Familie) bleiben in einer
Balance, die weder zu Gunsten einer Kulturalisierung noch im Sinne eines „farbenblinden
Liberalismus“ aufgelöst wird.
Literatur
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Hilfsbedürftigkeit für die Sozialpädagogik. In: Kriminologisches Journal 8, S. 241 – 262.
Buchenhorst, R.(Hrsg.) (2015): Von Fremdheit lernen. Zum produktiven Umgang mit
Erfahrungen des Fremden im Kontext der Globalisierung, Bielefeld.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2013): 14. Kinder- und
Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der
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Direm,I./Mecheril,P.(Hrsg.) (2009): Migration und Bildung. Soziologische und
erziehungswissenschaftliche Schlaglichter. Münster u.a.
Dirim,I./Gomolla,M./Hornberg,S./Mecheril,P./Stojanov,K.(Hrsg.) (2010):
Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung,
Münster u.a.
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Hurrelmann, K./Albrecht, E.(2014): Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y
unsere Welt verändert. Weinheim und Basel.
Kirchhart, St.(2008): Inobhutnahme in Theorie und Praxis. Grundlagen der stationären
Krisenintervention in der Jugendhilfe und empirische Untersuchung in einer
Inobhutnahmeeinrichtung für Mädchen, Bad Heilbrunn
Melter,C.(2006): Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe. Eine empirische Studie zu
Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit. Münster u.a.
Mollenhauer, K. (1996): Kinder- und Jugendhilfe. Theorie der Sozialpädagogik - ein
thematisch-kritischer Grundriß. In: Zeitschrift für Pädagogik, 42. Jg., S. 870 - 886. Norman, A.(2010): „Migrationshintergrund ist halt auch irgendwie Thema“. Eltern mit
Migrationshintergrund im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Freiburg im
Breisgau.
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(Hrsg.): Kultur und sozialer Wandel. Ausgewählte Schriften („On culture and social change“).
(Soziologische Texte; Bd. 56), Neuwied am Rhein 1969, S. 134–145.
Otto, H.-U./Ziegler, H.(2015): Soziale Arbeit als emanzipatorische Sozialwissenschaft. Ein
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