Prof. Dr. jur. Werner Gephart Fragestellungen zur Vorlesung „Gesellschaftstheorie und Recht“ WS 2004/2005 Erste Vorlesung Einführung zu „Gesellschaftstheorie und Recht“ 1. Gesellschaftstheorie und Rechtsanalyse stehen in enger Wechselwirkung. Gleichwohl ist das Recht, nach einer Phase gegenseitiger Befruchtung über lange Zeit aus der Lehre von der Gesellschaft verschwunden. Talcott Parsons gibt hierfür eine Erklärung. 2. Worin bestehen die primären Subsysteme der Gesellschaft, in der Gesellschaftstheorie von Parsons? 3. Wofür interessiert man sich, wenn man Recht von der a. Politik b. Kultur c. Wirtschaft und d. Gemeinschaft her interpretiert? 4. Läßt sich der „Ort“ des Rechts in der Gesellschaft hiernach näher bestimmen? 5. Blickt man von den Rechtsgebieten her auf die Gesellschaftslehre, so scheint es jeweils korrespondierende Deutungen von Gesellschaft zu geben. Nennen Sie die Pendants zum a. Strafrecht b. Zivilrecht c. Öffentlichen Recht d. Verfahrensrecht! Zweite Vorlesung Die Auflösung von Recht in symbolisch vermittelter Interaktion: Das Theoriepotential George Herbert Meads 1. Der Ort des Rechts in den jeweiligen Gesellschaftstheorien bestimmt sich danach, wie das Problem von sozialer Ordnung und Intersubjektivität konzipiert wird. Stellen Sie dar, wie im Ansatz des Symbolischen Interaktionismus die Konstitution von Sprache und Identität miteinander verwoben sind: a. von der Lautgebärde zur Sprache b. von „game“ zu „play“ c. Erläutern sie diesen grundlegenden Prozeß anhand eines Beispiels 2. Erläutern Sie die Figur des „generalized other“. Nehmen Sie das Beispiel der Eigentumsordnung! 3. George Herbert Mead ist das Problem sozialer Kontrolle nicht unbekannt. Wird dieses aber durch „Recht“ erfüllt oder andere emotive und kognitive Mechanismen sozialer Kontrolle? 4. Wenn sich in der Figur des „generalisierten Anderen“ die Wert- und Normvorstellungen eines sozialen Kreises verdichten, wie soll dann die Pluralität von „generalized others“ untereinander abgestimmt sein? 5. Ein verbreiteter Vorwurf gegenüber dem symbolischen Interaktionismus lautet, daß er nicht erklären könne, wie die Grenzen partikularistischer Gemeinschaften überschritten werden, daß also insgesamt die Ebene von „Gesellschaft“ nicht erfasst wäre. Ist diese Kritik berechtigt? 6. Wo ließe sich die Perspektive des „symbolischen Interaktionismus“ für die Rechtsanalyse gleichwohl sinnvoll einsetzen? 7. Erläutern Sie an einem selbst gewählten Beispiel, wie die symbolische Dimension des Rechts mit Hilfe des Meadschen Ansatzes zu analysieren ist. Dritte Vorlesung Die Ausblendung von Recht in den Strukturanalysen der Lebenswelt: Das Erbe von Alfred Schütz 1. Auf welcher Ebene sucht Schütz die herstellung von Intersubjektivität? 2. Wie soll man am „Erleben“ anderer teilhaben können, oder das „Erleben“ „erleben“? 3. Nach Schütz seien hierzu eben „Idealisierungen“ vonnöten. Welche Art von Idealisierungen hebt Schütz hervor? 4. Wie also antwortet Schütz auf die Frage „wie Gesellschaft möglich“ ist? 5. Zwischenfrage: Es gibt in der Soziologie eine breite Debatte über eine sog. „Erlebnisgesellschaft“ (Schütze), Event-Kultur und ähnliche Lebensstilkonzepte. In Kriegszeiten, insbes. zum Ersten Weltkrieg, ist von dem „Kriegserlebnis“ die Rede und auch nach dem 11. September konnte man in den USA das Aufleben von Gemeinschaftsgefühlen beobachten. War das vielleicht eine solche „Erlebnisgemeinschaft“, die aus traumatischen Erfahrungen „Intersubjektivität“ herstellt? 2 6. Alfred Schütz hat zur Überbrückung all der Schwierigkeiten, die mit der rein erlebnismäßigen Verschränkung von Ego und alter verbunden ist, das Konzept der „Lebenswelt“ verwendet. Was bedeutet die a. räumliche b. zeitliche c. sinnhaft-soziale Strukturierung der Lebenswelt? 7. Zeigen Sie an Beispielen, wie „Raum“, „Zeit“, „Sinn“ jeweils sozial und: normativ konstruiert, bzw. durchdrungen sind. 8. Wie aber gelangt man aus dieser unmittelbaren Zone der Lebenswelt, in der jeder Zweifel an die Alltagsrealität suspendiert ist, in die Ferne der Gesellschaft? 9. Wo liegen die Grenzen der Übertragbarkeit des Modells der „Lebenswelt“ auf Gesellschaft? 10. Wir haben gesehen, wie die Welt der Lebenswelt normfrei konzipiert wird, und dies auch noch von einem Autor, der in seiner beruflichen Lebenswelt als Jurist, und zwar als Bankjurist erfolgreich tätig war. Sind nicht gleichwohl noch Spuren des juristischen Denkens in seinem Zugriff auf soziale Wirklichkeiten zu finden? 11. Sollte das Recht also als eine Art „Sinnprovinz“ verstanden werden, wie sind dann die Schemata der „Typisierung“, Konstruktionsformen sozialer Wirklichkeit im Recht für eine Rechtssoziologie nutzbar zu machen? Vierte Vorlesung Interpretatives contra normatives Paradigma 1. Von den Vertretern des interpretativen Paradigmas wird behauptet, das bekämpfte „normative Paradigma“ stelle den Alltagsakteur wie einen wandelnden Subsumtionsautomaten vor. Hiernach ließe sich das Verhalten aus einer Kenntnis der Verhaltensregel, der je konformen Deutung durch den Akteur, sowie das Vorliegen der Anwendungsbedingungen herleiten. Stellen Sie diese Erklärung von Verhalten an einem Beispiel dar. 2. Welche Gegenposition bezieht das interpretative Paradigma? Erläutern Sie auch dies an einem Beispiel! 3 3. In der Selbstbeschreibung stellt sich das interpretative Paradigma wie folgt dar: „ It is apparent that in the interpretative view of social interaction, in contrast with the normative paradigm, definitions of situations and actions are not explicitly or implicitly assumed to be settled once for all by literal application or a preexisting, culturally established system of symbols.“ Stellen sie dagegen die Formulierung von Ta lcott Parsons, der in der Structure of Social Action“ behauptet: „This active element of the relation of men to norms, the creative or voluntaristic sid of it, is precisely what the positivistic appoach tries to minimize.“ Fünfte Vorlesungseinheit Recht als System: Niklas Luhmann 1. Luhmann baut die Theorie des Rechts vom Problem der Abstimmung von „Erwartungen“ auf. a. Wie werden kognitive und normative Erwartungen unterschieden? b. Wie bestimmt sich danach der Begriff des Rechts (Kongruenz der Verhaltenserwartungen, in welchen Dimensionen)? c. Welche Rolle wird dem Konsens bei Luhmann für die wechselseitige Abstimmung von Erwartungen zugeschrieben? Was tritt an die Stelle nicht erfüllbaren Konsensbedarfs? 2. Luhmann schreibt dem Recht eine zentrale Rolle im Prozeß der Differenzierung von Gesellschaften zu. a. Was wird mit „sozialer Differenzierung“ gemeint? b. Was bedeutet Systemdifferenzierung? Nennen sie zentrale Systeme moderner Gesellschaften. c. Wie ist überhaupt „Systembildung“ zu verstehen (System, Umwelt, Komplexität) ? 3. Was ist dann unter einem Rechtssystem zu verstehen? 4. Gehen sie von der folgenden Definition aus: „Das Rechtssystem einer Gesellschaft besteht aus allen sozialen Kommunikationen, die mit Bezugnahme auf das ‚Recht’ formuliert werden.“ Fallen die folgenden Beispiele unter Luhmanns Rechtsbegriff? a. Ist der Rechtsbrecher in diesem Sinne Teil des Rechtssystems? b. Sind Parteien bei einer außergerichtlichen Streitregelung insoweit Akteure im Rechtssystem? c. Ist die juristische Vorlesung Bestandteil des so verstandene n Rechtssystems? d. Gehören Repräsentationen, z.B. eine Court-TV-Show dann zum Rechtssystem? Begründen Sie jeweils Ihre Einschätzung! 5. Gibt es innerhalb der Luhmannschen Systemtheorie den Versuch, das Problem von Naturrecht und materialer Gerechtigkeit zu beantworten? 6. Was heißt „Positivität“ des Rechts in diesem Ansatz? 4 Sechste Vorlesungseinheit Recht im Spannungsfeld von System und Lebenswelt: Jürgen Habermas 1. In der Theorie des kommunikativen Handelns legt Habermas dar, wie „kommunikative Ordnung“ möglich sei, soziale Ordnung also durch verständigungsorientierte Kommunikation entstehen soll. Zur Erinnerung: „Verständigung funktioniert als handlungskoordinierender Mechanismus in der Weise, daß sich die Interaktionsteilnehmer über die beanspruchte Gültigkeit ihrer Äußerungen einigen, d.h. Geltungsansprüche, die sie reziprok erheben, intersubjektiv anerkennen.“ a. Welche Einwände lassen sich gegen konsens-, bzw. verständigungsorientierte Konfliktlösungen einwenden? b. Welche Antworten gibt das Recht, wenn eine solche Einigung nicht gelingt? c. Welche Rolle kommen „Verfahren“ bei der Erstellung kommunikativer Einigung zu (sowohl für die Herstellung, Feststellung als auch beim Scheitern von Konsens)? 2. In der frühen Rechtstheorie von Habermas spielt die Aufteilung der sozia len Welt in „System“ und „Lebenswelt“ eine zentrale Rolle. a. Erläutern Sie die Unterscheidung von System und Lebenswelt. b. Was bedeutet die „Kolonisierung“ der Lebenswelt? c. In dieser Unterscheidung werden die Grenzen der Lebensweltanalysen überwunden (s.o.). Aber ist die Unterscheidung auch durchführbar? d. Wie zeigt sich diese „Kolonisierung“ einer von Recht als technischem Integrationsmedium ursprünglich freien Lebenswelt im Prozess der Verrechtlichung aufzeigen (vier Integrationsschübe, Familien- Schulrecht)? 3. In späteren Arbeiten wird diese kritische Position zum Recht überwunden. Der Rechtsstaat wird vielmehr zum Garanten kommunikativer Ordnung: »Mit der Organisation des Rechtsstaates wird das System der Rechte zu einer Verfassungsordnung ausdifferenziert, in der das Rechtsmedium als verstärkender Transformator der schwachen sozialintegrativen Stromstöße einer kommunikativ strukturierten Lebenswelt wirksam werden kann.« Gleichzeitig gewinnen Verfahren einen zentralen Stellenwert für die Einrichtung einer auch gerechten Ordnung. a. Können Sie den Satz vom Rechtsmedium als „Verstärker“ lebensweltlicher Impulse erläutern? b. Das große Projekt von Zivilgesellschaft, läßt sich als Ausweitung der Rechtsstaatsidee lesen: „Einziger Inhalt des Projekts ist die schrittweise verbesserte Institutionalsierung von Verfahren vernünftiger kollektiver Willensbildung...“ Aber ist das so ohne Weiteres möglich, und was ist vernünftig? 4. Diese „kommunikative“ Theorie des Rechts hat Habermas auch auf internationale Konfliktfelder ausgedehnt. a. Welche Bedingungen müssten erfüllt sein, daß man sich „kommunikativ“ über etwa die von Menschenrechten erhobenen Geltungsansrpüche einigt? b. Habermas hat sich immer gegen einen „Kulturalismus“ gewendet, eine Relativierung von Werten und Normen. Tauchen hierbei nicht erhebliche Probleme auf, wenn die jeweiligen Rechtskulturen behaupten, daß nur sie selbst im Besitz der normativen Wahrheit seien? 5 Siebte Vorlesungseinheit Das Recht in Handlungs- und Systemtheorie von Talcott Parsons 1. Parsons hat das Problem sozialer Ordnung ins Zentrum seiner soziologischen Analyse gestellt. a. Schildern Sie die Ausgangslage des sog. Hobbesianischen Problems der Ordnung! b. Warum ist nach Parsons eine rein auf Macht und Gewaltansdrohung gestützte Ordnung labil? c. In welcher Richtung hat Max Weber eine Antwort auf diese Problematik gegeben? d. Und läßt sich auch Durkheim als Antwort auf die Ordnungsfrage lesen. Und was stellt für ihn die Ressource der Ordnungsbildung dar: Moral, Macht oder Religion? 2. Wenn Sie die systemische Aufteilung der Gesellschaft bei Parsons vor Augen haben (Kultur, Gemeinschaft, Politik und Wirtschaft): wo ist also der Ort des Rechts in dieser Gesellschaftstheorie und wie hängt dies mit Parsons’ Lösung der Ordnungsfrage zusammen? Schlußfrage: Versuchen Sie zu umschreiben, was man aus der Gesellschaftstheorie für Rechtsanalyse und Jurisprudenz lernen kann, wenn sie die Quid-Juris-Frage, was nämlich konkretes Recht sein soll, nicht beantworten kann! 6