Almut Köhler – Cadherine können auch anders

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Almut Köhler – Cadherine können auch anders
Sie bilden den Klettverschluss zwischen Zellenmembranen und sorgen so für den
Zusammenhalt im Gewebe. Sie hindern Tumorzellen daran, sich vom Tumorgewebe zu lösen
und auszuwandern, um in anderen Organen neue Kolonien zu gründen. Die Rede ist von den
Proteinen aus der Familie der Cadherine. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, denn seit
einigen Jahren wissen Forscher: Die Moleküle können auch die entgegengesetzte Funktion
erfüllen. Dr. Almut Köhler vom Karlsruhe Institut für Technologie (KIT) untersucht in ihrer
Forschungsgruppe einen Vertreter dieses anderen Typs der Cadherine, der
Migrationsbewegungen im sich entwickelnden Froschgehirn oder im Tumorgewebe sogar
aktiv fördern kann.
Dr. Almut Köhler von der Abteilung für Zell- und Entwicklungsbiologie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). ©
privat
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Ein Epithelium ist eine Schicht aus Zellen, die miteinander so verkittet sind, dass sie nichts
durch die Zwischenräume durchlassen. Das ist zum Beispiel im Darm wichtig, wo genau
kontrolliert werden muss, was durch die Darmwand ins Blut gelangt und was nicht. Es sind die
Membranproteine aus der Familie der Cadherine, die wie ein Klettverschluss die Nachbarzellen
in der Epithelschicht zusammenhalten. Sie sitzen in der Membran und ragen in den
extrazellulären Raum hinaus, wo sie nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip mit den Cadherinen
der Gegenseite einrasten. In der Embryonalentwicklung ist diese sogenannte Adhäsion
entscheidend. Die Zellen in einem Teil der Gehirnanlage etwa – der sogenannten kranialen
Neuralleiste – müssen zusammenbleiben. Auf der anderen Seite müssen Zellen auch im
entscheidenden Augenblick auf Wanderschaft gehen, um zum Beispiel die Anlagen für die
Augen zu bilden. „Lange Zeit dachten Forscher, dass Cadherine ausschließlich die Adhäsion
zwischen Zellen vermitteln“, sagt Dr. Almut Köhler von der Abteilung für Zell- und
Entwicklungsbiologie des Zoologischen Instituts am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
Ein anderer Typ von Cadherinen
Die 1971 im westfälischen Schwelm geborene Köhler hatte schon in ihrer Doktorarbeit an der
Bundesforschungsanstalt für Tierzucht und Tierverhalten (heute Friedrich-Loeffler-Institut) mit
der molekularbiologischen Entwicklung des Gehirns zu tun. Allerdings beschäftigte sich die
studierte Veterinärmedizinerin damals noch mit der Wirkung von Hormonen auf die
Geschlechtsunterschiede im bereits weit entwickelten Hirn von geschlüpften Hühnchen. Der
Frosch Xenopus, der nach ihrem Wechsel nach Karlsruhe 2002 zu ihrem Modellsystem wurde,
erlaubt ganz andere Fragestellungen, denn seine Eier entwickeln sich von Anfang an
außerhalb des Körpers der Mutter und der Eischale. „Ich hatte plötzlich experimentellen
Zugang zu sehr frühen Entwicklungsvorgängen bei der Entstehung des Nervensystems“, sagt
Köhler. „Und damit zum Migrationsverhalten von Zellen.“
Transplantiertes Gewebe aus einer kranialen Neuralleiste (grün). Links: Die Zellen haben kein Cadherin 11 und
bleiben in einem kleinen Areal. Rechts: Die Zellen haben Cadherin 11 und wandern offenbar. © Dr. Almut Köhler
Zunächst konzentrierte sich die Forscherin auf die Entwicklung der Augen. Bis das in der
Abteilung bereits bekannte Cadherin 11 ihr Interesse auf sich zog. Dieses Molekül hatten die
KollegInnen in der Abteilung in Zellen identifiziert, die während der Entwicklung aus der
sogenannten kranialen Neuralleiste auswandern, einem Gewebe im Froschembryo, aus dem
später sensorische Nervenzellen, Stützgewebe für sensorische Neuronen, aber auch das
Knorpelgewebe des Kopfes oder das Dentin der Zähne entstehen und das nur in Wirbeltieren
zu finden ist. Die Frage war: Welche Rolle spielt dieses Cadherin bei der Wanderbewegung? Eine
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Frage, die auch in der Klinik relevant ist, denn Cadherin 11 wurde zum Beispiel in Knorpel- oder
Prostatatumorzellen nachgewiesen, die auf Wanderschaft gehen und Metastasen bilden
können.
Ein komplexes Bild
In den folgenden Jahren führte Köhler mit ihrer Forschungsgruppe und verschiedenen
Kooperationspartnern Experimente durch, in denen sie zum Beispiel die Expression von
Cadherin 11 in den Neuralleistenzellen ihrer Embryonen erhöhte oder ganz hemmte, um dann
im Fluoreszenzmikroskop die zellulären Wanderbewegungen im Embryo zu verfolgen. Die
Ergebnisse dieser Studien enthüllten ein kompliziertes Bild, das der einfachen Annahme
„Cadherin ist gleich Adhäsion“ eine erstaunliche Mehrdimensionalität verleiht.
Zwar können besonders hohe Konzentrationen von Cadherin 11 im Gewebe dazu führen, dass
die Zellen sich aneinanderkuscheln. Aber als die Forscher die Bildung des Moleküls mit
sogenannten Morpholino-Oligonukleotiden blockierten, wanderten die Zellen der kranialen
Neuralleiste plötzlich überhaupt nicht mehr aus, sondern zappelten nur noch auf der Stelle.
Weitere Versuche enthüllten, dass neu hergestelltes Cadherin 11 normalerweise in die
sogenannten Filopodien der Zellen transportiert wird, also in jene Fortsätze, die während einer
Wanderung abtastend vor- und zurückgestreckt werden und für das zielgerichtete Kriechen
einer Zelle im Gewebe essenziell sind. Ohne Cadherin 11 in diesen Fortsätzen ist die
Wegfindung unmöglich. Cadherin 11 scheint also ein Molekül zu sein, das unterschiedliche
Wirkungen haben kann.
Und das Bild wurde in Folge noch komplexer. Denn das Protein ist über seine intrazelluläre
Domäne offenbar mit einem für die frühe Entwicklung von Wirbeltierembryonen wichtigen
Signalnetzwerk verschaltet, dem sogenannten kanonischen Wnt-Signalweg. Dieses Netzwerk
aus miteinander interagierenden Signalmolekülen regt Zellen zu einer höheren Teilungsrate an
und vermittelt auf diese Weise zum Beispiel die korrekte Ausbildung des Neuralrohrs, aus dem
später unter anderem die kraniale Neuralleiste wird. Weil Cadherin 11 einen wichtigen
Mitspieler in diesem Netzwerk bindet und aus dem Netzwerk entfernen kann (ß-Catenin),
bildet es eine Art Bremse für das Signalgeschehen und könnte auch auf diese Weise in die
Entwicklung von Froschembryonen eingreifen.
Gewebe aus einer kranialen Neutralleiste (grün markiert). Links: Die Zellen haben Cadherin 11 und bilden
strahlenförmige Filopodien aus. Rechts: Die Zellen haben kein Cadherin 11 und entsprechend keine Filopodien. © Dr.
Almut Köhler
Künstliche Oberflächen und die Klinik
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Schließlich scheint das Molekül auch eine Rolle bei der Differenzierung von Vorläuferzellen in
Neuralleistenzellen zu spielen, wie weitere Ergebnisse von Köhler und ihrem Team belegen, die
demnächst publiziert werden. Die Forscherin untersucht in einem aktuellen Projekt mit der
Heidelberger Akademie der Wissenschaften, wie das Protein die Anhaftung an eine künstliche
Oberfläche in einer Zellkulturschale vermittelt, die als Modell für die Oberfläche einer
Nachbarzelle in lebendem Gewebe dient, und ob es in diesem Zusammenhang auch ein
Induktionsfaktor sein könnte, der nötig ist, damit das Gewebe sich in eine funktionsfähige
Neuralleiste entwickelt. Die Ergebnisse zeigen: Nur wenn die Zellen Cadherin 11 auf der
Oberfläche erkennen, sind sie in der Lage, Filopodien zu dieser benachbarten Membran
auszubilden und an sie zu adhärieren und damit auch die Entstehung der Neuralleiste zu
gewährleisten.
„Ein kompliziertes Bild, das am Ende Konturen annimmt“, sagt Köhler. Cadherine sind wohl
am Zusammenhalt im Gewebe beteiligt und vermitteln ihn über die ihnen mögliche Verkittung
mit ihresgleichen. Aber im gleichen Atemzug können sie die Dispersion von Zellen vermitteln
und spielen daher auch in der Krebsforschung eine immer größere Rolle. Am Ende kommt es
auf den Zelltyp, den jeweiligen Cadherin-Vertreter, seine Interaktionspartner und die
quantitativen Verhältnisse an. Köhler und ihre Forschungsgruppe werden weiter daran
arbeiten, das differenzierte Bild zu vervollständigen, damit es irgendwann möglich wird, die
Erkenntnisse auch bei der Bekämpfung von Krebs in der Klinik nutzbar zu machen.
Fachbeitrag
13.02.2012
mn
BioRegion Freiburg
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen
Dr. Almut Köhler
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Abteilung für Zell- und Entwicklungsbiologie
Zoologisches Institut II
Fritz Haber Weg 2
76131 Karlsruhe
Tel.: 0721/ 608 46380
Fax: 0721/ 608 43992
E-Mail: almut.koehler(at)kit.edu
Abteilung für Zell- und Entwicklungsbiologie des
KIT
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