Vollständige Induktion F. Lemmermeyer 13. Januar 2014 Aussagen, die für alle natürlichen Zahlen gelten, kann man oft mit vollständiger Induktion beweisen. Das Vorgehen ist dabei folgendes: 1. Man zeigt, dass die Aussage für n = 1 gilt (wenn die Aussage auch für n = 0 sinnvoll und richtig ist, kann man auch die Aussage für n = 0 als richtig nachweisen; gilt die Aussage nur für natürliche Zahlen n ≥ 5, beginnt man mit dem Fall n = 5.). Dies nennt man den Induktionsanfang oder die Induktionsverankerung. 2. Man zeigt: gilt die Aussage für eine ganz bestimmte natürliche Zahl n, dann ist die Aussage auch für n + 1 richtig. Diesen Beweis nennt man den Induktionsschritt. Damit ist dann bewiesen, dass die Aussage für alle natürlichen Zahlen gilt. Die Induktionsverankerung zeigt, dass die Aussage für n = 1 richtig ist. Nach dem Induktionsschritt, angewandt auf n = 1, wissen wir aber: gilt die Aussage für n = 1, dann ist sie auch für n = 2 richtig. Wendet man den Induktionsschritt auf n = 2 an, erhält man die Richtigkeit der Aussage für n = 3. Auf diese Art und Weise kann man sich zu jeder noch so großen natürlichen Zahl hochhangeln. Es gibt also keine natürliche Zahl, für welche die Aussage falsch ist, und damit ist sie für alle natürlichen Zahlen bewiesen. Beispiel 1 Wir wollen dieses Beweisprinzip am denkbar einfachsten Fall vormachen. Satz 1. Die Summe der ersten n natürlichen Zahlen ist für alle n ≥ 1 gleich Sn = 1 + 2 + 3 + . . . + n = 1 n(n + 1) . 2 Wir beweisen diese Aussage mit vollständiger Induktion. I. Induktionsverankerung: die Aussage gilt für n = 1, weil 1 = II. Induktionsschritt: wir nehmen an, es sei Sn = 1 + 2 + 3 + . . . + n = 1·(1+1) 2 gilt. n(n + 1) 2 für eine ganz bestimmte natürliche Zahl n. Wir müssen dann zeigen, dass auch (n + 1)(n + 2) Sn+1 = 1 + 2 + 3 + . . . + n + (n + 1) = 2 gilt. Dies rechnet man so nach: Sn+1 = 1 + 2 + 3 + . . . + n + (n + 1) = Sn + (n + 1) n(n + 1) + (n + 1) = 2 n = (n + 1) · +1 2 n+2 = (n + 1) · 2 (n + 1)(n + 2) . = 2 nach Definition von Sn nach Induktionsannahme Ausklammern von (n + 1) Addition der Brüche Beispiel 2 Satz 2. Für alle n ≥ 1 gilt Sn = n X k=1 1 1 1 1 n 1 = + + + ... + = . k(k + 1) 1·2 2·3 3·4 n(n + 1) n+1 Bevor man sich ans Beweisen macht, sollte man sich davon überzeugen, dass man die Aussage verstanden hat. Hier ist 1 1 = , 1·2 2 1 1 1 1 S2 = + = + = 1·2 2·3 2 6 1 1 1 1 S3 = + + = 1·2 2·3 3·4 2 S1 = 2 2 , 3 + 1 1 3 + = . 6 12 4 Der Beweis durch vollständige Induktion läuft so: I. Induktionsanfang: haben wir schon gezeigt, und zwar für n = 1 ebenso wie für n = 2 und n = 3 (die letzten beiden Rechnungen sind für den Beweis nicht notwendig). II. Induktionsschritt: es ist 1 1 1 1 1 + + + ... + + Sn+1 = 1·2 2·3 3·4 n(n + 1) (n + 1)(n + 2) 1 = Sn + (n + 1)(n + 2) n 1 1 1 = + = n+ n + 1 (n + 1)(n + 2) n+1 n+2 1 1 n2 + 2n + 1 1 (n + 1)2 n(n + 2) 1 · + = · = · = n+1 n+2 n+2 n+1 n+2 n+1 n+2 n+1 . = n+2 Damit ist wieder alles gezeigt. Ableitungen Die meisten Abituraufgaben der letzten Jahre, in denen Induktion gefragt war, befassten sich mit n-ten Ableitungen. Für die üblichen Untersuchungen von Hoch-, Tief- und Wendepunkten einer Funktion f genügt die Funktion f selbst, sowie die ersten drei Ableitungen f 0 , f 00 , f 000 . In der höheren Analysis spielen auch die weiteren Ableitungen eine große Rolle, auch wenn ihr Einfluss am Schaubild nicht so direkt erkennbar ist wie im Fall der ersten oder zweiten Ableitung. Die n-te Ableitung von f (x) wird mit f (n) (x) bezeichnet; insbesondere ist die 0-te Ableitung gleich der Funktion selbst (f (0) (x) = f (x)), und es gilt f (1) (x) = f 0 (x), f (2) (x) = f 00 (x), und f (3) (x) = f 000 (x). Die Bezeichnung f 0000 (x) ist nicht gebräuchlich: ab der vierten Ableitung schreibt man f (4) . Die wichtigste Beziehung für Induktionsbeweise ist die Gleichung 0 f (n+1) (x) = f (n) (x) , d.h. die n + 1-te Ableitung ist die Ableitung der n-ten Ableitung. Satz 3. Die n-te Ableitung von f (x) = e2x ist gegeben durch f (n) (x) = 2n e2x . 3 I. Induktionsverankerung: hier kann man entweder die Aussage für n = 0 nachweisen, wo die Behauptung auf die Definition hinausläuft, oder für n = 1; dann muss man zeigen, dass f (1) (x) = f 0 (x) = 2e2x ist, was aber ebenfalls klar ist. 2. Induktionsschritt: gilt die Behauptung für ein n, dann muss sie auch für n + 1 wahr sein. Wir nehmen also an, dass wir f (n) (x) = 2n e2x für ein bestimmtes n bereits wissen. Ableiten liefert dann 0 0 f (n+1) (x) = f (n) (x) = 2n e2x = 2 · 2n e2x = 2n+1 e2x , und das war zu beweisen. Übungen 1. Berechne 1 3 + 1 15 + ... + 1 . 4n2 −1 Hinweis: versuche durch Berechnung der ersten Glieder eine Formel zu erraten. Beweise diese mit Induktion. 2. Zeige, dass für alle n ≥ 1 1 1 1 √ 1 √ √ +√ √ + ... + √ √ = ( 2n + 1 − 1) 2 2n − 1 + 2n + 1 1+ 3 3+ 5 gilt. 3. Zeige, dass für alle n ≥ 1 die Aussage n X Sn = (2k − 1) = 1 + 3 + 5 + . . . + 2n − 1 = n2 k=1 gilt. 4. Zeige, dass für alle n ≥ 1 die Aussage Sn = n X 2k = 1 + 2 + 4 + . . . + 2n = 2n−1 − 1 k=0 gilt. 4 5. Zeige, dass für alle n ≥ 1 die Aussage Sn = n X 3k = 1 + 3 + 9 + . . . + 3n = k=0 3n+1 − 1 2 gilt. 6. Verallgemeinere die beiden letzten Formeln auf Summen der Form Sn = n X qk . k=0 7. Zeige, dass für alle n ≥ 1 die Aussage Sn = n X k 2 = 1 + 4 + 9 + . . . + n2 = k=0 n(n + 1)(2n + 1) 6 gilt. 8. Zeige, dass für alle n ≥ 1 die Aussage Sn = n X (−1)k−1 k 2 = 1 − 4 + 9 − . . . + (−1)n−1 n2 = (−1)n−1 k=0 n(n + 1) 2 gilt. 9. Zeige, dass die n-te Ableitung von f (x) = xex gegeben ist durch f (n) (x) = (x + n)ex . 10. Zeige, dass die n-te Ableitung von f (x) = ekx gegeben ist durch f (n) (x) = k n ekx . 11. Finde eine geschlossene Formel für die n-te Ableitung von f (x) = xe−x , und beweise sie mittels vollständiger Induktion. 12. Zeige, dass die 2n-te Ableitung von f (x) = sin(2x) gegeben ist durch f (n) (x) = (−1)n 22n sin(2x). 5 13. Zeige, dass die n-te Ableitung von f (x) = x2 ex gegeben ist durch f (n) (x) = ((x + n)2 − n)ex . 14. Zeige, dass die Summe Sn = 1 · 2 + 2 · 3 + 3 · 4 + . . . + n(n + 1) gegeben ist durch Sn = n(n + 1)(n + 2) . 3 Lösungen Im folgenden gebe ich manchmal nur das Rückgrat der Beweise. 1. Berechne 1 3 + 1 15 + ... + 1 . 4n2 −1 Man findet Sn = I. S1 = 1 3 = II. Sei Sn = 1 2·1+1 n . n+1 1 1 1 n + + ... + 2 = . 3 15 4n − 1 2n + 1 ist richtig. Dann ist 1 n 1 = + 4(n + 1)2 − 1 2n + 1 4(n + 1)2 − 1 2 (n + 1)(2n + 1)2 (4(n + 1) − 1)n + 2n + 1 = = (2n + 1)(4(n + 1)2 − 1) (2n + 1) · (2n + 1)(2n + 3) n+1 = 2n + 3 Sn+1 = Sn + Die notwendigen Umformungen sind schwer zu sehen; leichter ist es, wenn man die Gleichung n 1 n+1 + = , 2 2n + 1 4(n + 1) − 1 2n + 3 die man ja beweisen soll, einfach nachrechnet (Nenner wegschaffen und ausmultiplizieren). 6 2. Zeige, dass für alle n ≥ 1 1 1 1 1 √ √ √ +√ √ + ... + √ √ = ( 2n + 1 − 1) 2 2n − 1 + 2n + 1 1+ 3 3+ 5 gilt. I. Induktionsverankerung: √ 1 1 √ √ = ( 3 − 1). 2 1+ 3 Nenner wegschaffen und ausmultiplizieren bestätigt die Richtigkeit. Eine zweite Möglichkeit ist Erweitern: √ √ √ 1 1 √ 3− 1 3−1 √ √ = √ √ √ √ = = ( 3 − 1). 3−1 2 1+ 3 ( 1 + 3 )( 3 − 1 ) II. Induktionsschritt: Sn+1 = Sn + √ 1 √ 2n + 1 + 2n + 3 √ √ 1 √ 2n + 3 − 2n + 1 √ √ √ = ( 2n + 1 − 1) + √ 2 ( 2n + 3 + 2n + 1 )( 2n + 3 − 2n + 1) √ √ √ √ 2n + 1 − 1 2n + 3 − 2n + 1 2n + 3 − 1 = + = . 2 2 2 3. Zeige, dass für alle n ≥ 1 die Aussage Sn = n X (2k − 1) = 1 + 3 + 5 + . . . + 2n − 1 = n2 k=1 gilt. 4. Zeige, dass für alle n ≥ 1 die Aussage Sn = n X 2k = 1 + 2 + 4 + . . . + 2n = 2n−1 − 1 k=0 gilt. 7 5. Zeige, dass für alle n ≥ 1 die Aussage Sn = n X 3k = 1 + 3 + 9 + . . . + 3n = k=0 3n+1 − 1 2 gilt. 6. Verallgemeinere die beiden letzten Formeln auf Summen der Form Sn = n X qk . k=0 7. Zeige, dass für alle n ≥ 1 die Aussage Sn = n X k 2 = 1 + 4 + 9 + . . . + n2 = k=0 n(n + 1)(2n + 1) 6 gilt. 8. Zeige, dass für alle n ≥ 1 die Aussage Sn = n X (−1)k−1 k 2 = 1 − 4 + 9 − . . . + (−1)n−1 n2 = (−1)n−1 k=0 n(n + 1) 2 gilt. 9. Zeige, dass die n-te Ableitung von f (x) = xex gegeben ist durch f (n) (x) = (x + n)ex . I. n = 0: f (0) (x) = xex = f (x). II. f (n+1) (x) = (f (n) (x))0 = ((x+n)ex )0 = ex +(x+n)ex = (x+n+1)ex . 10. Zeige, dass die n-te Ableitung von f (x) = ekx gegeben ist durch f (n) (x) = k n ex . I. n = 0: f (0) (x) = k 0 ekx = ekx = f (x). II. f (n+1) (x) = (f (n) (x))0 = (k n ekx )0 = k · k n ekx = k n+1 ekx . 8 11. Finde eine geschlossene Formel für die n-te Ableitung von f (x) = xe−x , und beweise sie mittels vollständiger Induktion. f 0 (x) = (−x + 1)e−x , f 00 (x) = (x − 2)e−x und f 000 (x) = (−x + 3)e−x lassen uns vermuten, dass f (n) (x) = (−1)n (x − n)e−x ist. I. n = 0: f (0) (x) = (−1)0 (x − 0)e−x = xe−x . II. f (n+1) (x) = ((−1)n (x − n)e−x )0 = (−1)n e−x − (−1)n (x − n)e−x = (−1)n e−x (1 − (x − n)) = (−1)n e−x (1 − x + n) = (−1)n e−x (−x + n + 1) = −(−1)n e−x (x − n − 1) = (−1)n+1 (x − (n + 1))e−x . 12. Zeige, dass die 2n-te Ableitung von f (x) = sin(2x) gegeben ist durch f (n) (x) = (−1)n 22n sin(2x). I. n = 0: f (0) (x) = (−1)0 20 sin(2x) = sin(2x) = f (x). II. Sei f (2n) (x) = (−1)n 22n sin(2x). Dann folgt f (2n+1) (x) = (−1)n 22n cos(2x) · 2 = (−1)n 22n+1 cos(2x), f (2n+1) (x) = −(−1)n 22n+1 sin(2x) · 2 = (−1)n+1 22n+2 sin(2x), und das war zu zeigen. 13. Zeige, dass die n-te Ableitung von f (x) = x2 ex gegeben ist durch f (n) (x) = ((x + n)2 − n)ex . 14. Zeige, dass die Summe Sn = 1 · 2 + 2 · 3 + 3 · 4 + . . . + n(n + 1) gegeben ist durch Sn = n(n + 1)(n + 2) . 3 9