Leitfaden für Pädiater

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Quelle: Cover+Titel Andreas Mann/Sophia/Sarah/Luca/bmp
Ein perfektes Gebiss haben die wenigsten Kinder. Trotzdem starten die Besuche beim Fachzahnarzt für Kieferorthopädie gemeinhin erst
in der späten Grundschulphase. Es gibt jedoch
einige Störungen im Zahnwechsel und in der
Kiefer-Gesichts-Entwicklung, bei denen eine
deutlich frühere Vorstellung beim Fachzahnarzt für Kieferorthopädie sinnvoll wäre. Ein
gemeinsam vom Berufsverband der Deutschen
Kieferorthopäden und vom Berufsverband der
Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin
herausgegebener Leitfaden zur kinderärztlichkieferorthopädischen Untersuchung setzt deshalb nicht umsonst die erste Untersuchung bereits im dritten Lebensjahr an.
Privatdozentin Dr. Ariane Hohoff, derzeit
kommissarische Leiterin der Poliklinik für
Kieferorthopädie der Universitätszahnklinik
Münster, erläutert die Prinzipien dieses interdisziplinären Vorgehens regelmäßig auf der
Fortbildungstagung in Bad Orb. Sie plädiert
nicht ohne Grund für ein Screening durch den
Kinderarzt: „Die Annahme, die Kinder seien
ohnehin wegen Kariesprophylaxe in zahnärztlicher Behandlung und damit genügend
überwacht, trügt.“ Erste Erfolge zeigen, dass
Pädiater nach vergleichsweise kurzer Einweisung wesentliche Kieferanomalien zuverlässig
erkennen können. Kinderärzte, die ihre kleinen
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Patienten regelmäßig sehen, eignen sich demnach hervorragend als kieferorthopädischer
„Radar“.
von Dr.
Martina Lenzen-Schulte
Leitfaden für Pädiater
Der Leitfaden bietet dem Kinderarzt zum einen
drei standardisierte Untersuchungsbogen für
das dritte, fünfte und siebte Lebensjahr. Zum anderen enthält er für jede dieser Untersuchungen
einzelne Erläuterungen zu Befunden im Gesicht,
im Gebiss und in der Funktion beziehungsweise
zu Gewohnheiten, sogenannten Habits, die darauf Einfluss nehmen können. Erklärt wird nicht
nur, wie die Befunde zu verschlüsseln sind, sondern auch, welche klinisch-pädiatrische Bedeutung ihnen zukommen kann.
Hohoff, die den Leitfaden zusammen mit
der Emerita der kieferorthopädischen Poliklinik in Münster, Professor Ulrike Ehmer, konzipiert hat, hebt vor allem basale Prinzipien der
Untersuchung hervor. „Zählen Sie die Zähne
tatsächlich durch“, empfiehlt sie zum Beispiel
explizit. Mit drei Jahren sollte das Milchgebiss
je zehn Zähne im Ober- und Unterkiefer enthalten. Mit einer „Zahnunterzahl“ können zahlreiche Syndrome einhergehen, auch die Trisomie
21. Ungleich häufiger fehlen indes Milchzähne
schlicht deswegen, weil sie infolge Karies zer-
Schon im Säuglingsoder Kindergartenalter kann
Bedarf für eine
Behandlung
bestehen.
Leitfaden für
kinderärztlichkieferorthopädische
Untersuchungen
zu bestellen bei:
Berufsverband
Deutscher Kieferorthopäden,
Ackerstraße 3,
10155 Berlin
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Kieferorthopädie
stört wurden und gezogen werden mussten
oder bei einem Trauma verloren gingen. Hier
ist es je nach Lokalisation der Lücke wichtig,
für Platzhalter zu sorgen, denn sonst kippen
die Nachbarzähne, drängen sich in die Lücke
und der Durchbruch der Zähne des permanenten Gebisses wird behindert.
Wer Asymmetrien ausmachen will – ob
beispielsweise der Unterkiefer wirklich in der
Mitte des Gesichtes steht –, kann diese bei den
runden und weichen Formen der kleinen Kinder oft besser erkennen, wenn er das Gesicht
von oben aus der Vogel- und von unten aus der
Froschperspektive betrachtet.
Abbildungen 1 bis 3:
links:
Frontal offener Biss
Die Frontzähne
berühren sich in der
Vertikalen nicht.
Mitte:
Frontzahnstufe
Die Schneidezähne des
Oberkiefers („Hasenzähne“) ragen so weit
nach vorn, dass ein entspannter Lippenschluss
unmöglich wird.
rechts:
Kreuzbiss
(einseitig rechts)
Die Zähne des
Oberkiefers reichen
transversal nicht über
diejenigen des Unterkiefers; der einseitige
Kreuzbiss ist wesentlich häufiger und
gravierender in seiner
Auswirkung auf die
Gebissentwicklung, da
es zu einer seitlichen
Verschiebung kommt.
Quelle:
Dr. Markus Heise
Daumenlutschen – des Kieferorthopäden Qual
Einige Fehlstellungen sind hausgemacht.
Schuld hat oft das Daumenlutschen. Was vielen Eltern bereits auf Ultraschallbildern vom
Ungeborenen als Ausdruck des Behagens ihres
Kindes erscheint, kann bei Anhalten weit über
die orale Phase zu einem offenen Biss, bei dem
die Kau- und Abbissfunktion der Zähne nicht
mehr gegeben ist, führen. Außerdem können
die oberen Frontzähne auch nach vorn verdrängt werden und anschließend vorstehen.
Denn, so warnt Hohoff: „Der Daumen ist der
stärkste Kieferorthopäde.“ Der Arzt erkennt
den passionierten Daumenlutscher daran, dass
es neben neun dunklen Brüdern einen einzigen
sauberen Fingernagel gibt, der zudem manchmal einen verhornten Lutschhöcker aufweist.
Allerdings finden auch Bettzipfel, Kleidungsstücke, Wangen und Schnuller zum Lutschen
Verwendung. Schnuller sind in den Augen der
Kieferorthopäden das kleinere Übel, weil sich
ihr Gebrauch besser kontrollieren lässt. Wenn
das Abgewöhnen partout nicht gelingen will,
kann es mit Hilfe einer Mundvorhofplatte versucht werden.
Vergebliches Mühen beim Logopäden
Ein offener Biss kann nicht nur vom Daumenlutschen, sondern auch von einem Vitamin-DMangel oder von einem fehlerhaften Schluckmuster herrühren. Bei extremer Ausprägung
stehen die Schneidezähne weit nach vorn über
(„Hasenzähne“). Ein solcher offener Biss oder
eine Lücke zwischen den Zähnen können Probleme bei der Artikulierung verursachen. „Bei
der Lautbildung entweicht Luft, was die Kinder durch die Zunge kompensieren wollen.
Das Ergebnis ist dann das Lispeln“, lautet die
Erklärung von Professor Karl-Heinz Dannhauer, Leiter der Selbständigen Abteilung
Kieferorthopädie des Zentrums für Zahn-,
Mund- und Kieferheilkunde der Universität
Leipzig.
Charakteristisch ist, dass die Kinder „S“
und „Z“ nicht richtig sprechen können, aber
auch die Intonation von „D“, „T“ und „N“
kann gestört sein. Während normalerweise
beim Schlucken die Zunge gegen den Gaumen
drückt, liegt beim offenen Biss die Zunge zwischen den Zähnen, sodass dadurch von innen
Druck auf die Zähne ausgeübt wird. Dadurch
entsteht häufig ein Teufelskreis: Die Zunge
zwischen den Zähnen verstärkt den offenen
Biss, dieser bedingt den falschen Zungengebrauch.
Meist wenden sich die Eltern an einen Logopäden. Werden indes die Fehlstellungen
nicht behoben, mühen sich alle Beteiligten
naturgemäß vergeblich ab. Das zu wissen ist
auch deshalb so wichtig, weil selbst diskretere Veränderungen von Kiefer und Gebiss den
Sprechübungen Grenzen setzen können und
vom Logopäden nicht zwingend als Ursache
wahrgenommen werden. Aufgrund dieser
Zusammenhänge kann eine mangelhafte Artikulation auch zum Fingerzeig werden, den
Kieferorthopäden zu konsultieren.
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Nicht nur die Sprache, auch der Schlaf kann
durch Platzmangel im Mund-Rachen-Raum
beeinträchtigt sein. Das bereits mehrfach angeprangerte Lutschen schiebt nämlich nicht nur
die oberen Schneidezähne nach vorn, überdies
verschmälert sich auch der Oberkiefer. Das bedingt wiederum eine Rücklage des Unterkiefers,
wodurch der gewohnte Parkplatz für die Zunge – vorn im Oberkiefer – nicht mehr genutzt
werden kann. Die dorsal-kaudale Position der
Zunge engt den Oropharynx zwangsläufig ein:
Schnarchen und Obstruktion sind die Folge.
Der Zusammenhang zwischen Abweichungen der Bisslage beziehungsweise Zahnfehlstellungen und Schnarchen (bis hin zur
Schlafapnoe) ist inzwischen nicht nur für Erwachsene belegt. Die zahnärztliche Schlafmedizin ist zwar ein noch junges Fach, sie kann
aber immer nachhaltiger zeigen, wieviel der
Kieferorthopäde dazu beitragen kann, eine ungehinderte Atmung (wieder) zu gewährleisten.
Der Forschung und Fortbildung auf diesem Gebiet dient nicht zuletzt die Gründung der Deutschen Gesellschaft Zahnärztliche Schlafmedizin
(DGZS). Deren Vorstandsmitglied Dr. Markus
Heise ist niedergelassener Kieferorthopäde in
Herne und erklärte auf der jüngsten Tagung
der Arbeitsgruppe Pädiatrie der Deutschen
Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) in Tübingen: „Man kann den
Ober- und Unterkiefer dazu bringen, nachzuentwickeln, was die natürliche Entwicklung allein nicht geschafft hat. Wenn die Obstruktionen
für die schlafbezogenen Atemstörungen verantwortlich sind, ist die Behebung der Engstellen
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Kieferorthopädie
Wenn die Zunge den Schlaf stört
eine kausale Therapie.“
Im Wesentlichen wird
durch Vergrößerung der
Zahnbogen im Unterund Oberkiefer mehr
Platz geschaffen. Durch
die Lagekorrektur des
Unterkiefers erhält die
Zunge nach vorn ebenfalls mehr Raum.
„Die kieferorthopädische Behandlung ist
zudem nicht invasiv,
zeitlich begrenzt und
die Compliance der
Kinder ist gut“, listete
Heise weitere Vorteile
auf. Erste Studien auf
diesem Gebiet können nachweisen, dass die Behandlung die Apnoe-Hypoxie zu senken vermag. Eltern und auch Kinder selbst berichteten,
dass sich die Schlafqualität und die zuvor beklagte Tagesmüdigkeit sowie Konzentrationsstörungen verbesserten. Allerdings ist jeweils
individuell zu prüfen, ob eine kieferorthopädische Maßnahme nicht Atmungsstörungen,
die bevorzugt im Schlaf auftreten, verstärken
könnte, etwa wenn Extraktionen von bleibenden Zähnen mit anschließendem Lückenschluss
geplant sind. Denn dies führt zu einer Verkleinerung des Zahnbogens mit einem reduzierten
Platzangebot für die Zunge.
Abbildung 4:
Die beiden
Röntgenbilder
zeigen die Wirkung
einer kieferorthopädischen Behandlung (über 1,5 Jahre)
auf das Lumen der
Luftröhre (gelber
Strich)
Quelle:
Dr. Markus Heise
Frühgeboren – eine Hypothek für die
Kieferentwicklung?
Frühgeborene machen mittlerweile rund sechs
Prozent aller Lebendgeborenen aus. Sie bedürfen manchmal einer Intubation und/oder
Ernährung über eine Magensonde. Je nach
Zentrum und medizinischen Erfordernissen
werden die hierfür erforderlichen Schläuche
entweder durch den Mund oder durch die Nase
gelegt, was zu Verformungen in den entsprechenden Regionen führen kann. „So plausibel
die Zuschreibung von Ursache und Wirkung
aber scheint“, schränkt Hohoff ein, „wirkliche Evidenz dafür haben wir nicht. Es könnte
durchaus sein, dass zum Beispiel der unreifere
Knochen oder die weniger ausgereiften oralen
Funktionen der Frühgeborenen dafür mitverantwortlich sind.“ Um diesbezüglich wissenschaftlich basierte Erkenntnisse zu gewinnen,
wird im Universitätsklinikum Münster derzeit
eine prospektive Langzeitstudie durchgeführt.
Die zahnärztliche
Schlafmedizin ist ein
noch junges Fach.
Kieferorthopädie
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Kassenleistungen für Mundgesundheit
Die häufigsten kieferorthopädischen Probleme sind Lücken zwischen den Zähnen oder Zahnengstand,
verdrehte oder in zweiter Reihe stehende Zähne, Überbiss (vorstehende Schneidezähne) oder Kreuzbiss (obere und untere Backenzähne treffen nicht genau aufeinander). Die Krankenkassen haben fünf
Indikationsgruppen geschaffen von „leichten“ bis „extrem stark ausgeprägten“ Zahn- oder Kieferfehlstellungen. Bezahlt werden lediglich Korrekturen ab dem Schweregrad drei, also „ausgeprägte“
Fehlstellungen. Die Grade eins und zwei sind eine versicherungstechnische Grenze und müssen aus
eigener Tasche bezahlt werden, auch wenn die Behandlung kieferorthopädisch notwendig ist.
Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen bei Sechs- bis 18-Jährigen zweimal pro Jahr die Erhebung
des Mundhygienestatus, eine Zahnreinigung und die Fluoridierung der Zähne. Gerade bei Kindern
und Jugendlichen, denen regelmäßige Zahnpflege schwerfällt, können professionelle Zahnreinigung,
Fluoridisierung oder antibakterielle Chlorhexidin-Anwendungen das Kariesrisiko senken. Versiegelungen im Umfeld von Brackets zum Beispiel können ebenfalls sinnvoll sein, da die Zahnoberfläche aufgeraut wird, um die Brackets zu befestigen. Zudem sind diese Stellen für die Zahnbürste nur
schwer zugänglich. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten hierfür nicht.
(gek)
Bei Behinderung differenziert helfen
Abbildung 5:
Die Mundvorhofplatte dient dazu,
einen offenen Biss
und eine Frontzahnstufe im frühen
Wechselgebiss rückgängig zu machen.
Sie sollte zwei Stunden tagsüber und die
gesamte Nacht
getragen werden.
Quelle:
Dr. Markus Heise
Eine andere Patientengruppe, die von früher
kieferorthopädischer Behandlung profitiert, ist
ein Teil der Morbus-Down-Kinder. Bei nicht
wenigen fällt die oft deutliche Protrusion („Vorstoßen“) der Zunge auf, die auf der Unterlippe liegt und den Mundschluss behindert. Hier
kann – neben interdisziplinären Maßnahmen
aus Physiotherapie, Pädaudiologie und Phoniatrie – die frühzeitige Therapie mit einer Stimulationsplatte nach Castillo Morales bereits
im Neugeborenen- oder Säuglingsalter hilfreich
sein.
Auch für andere Behinderungen – etwa bei
spastischen Zerebralparesen – schafft man es
durch kieferorthopädische Behandlung inzwischen, das Aussehen so zu beeinflussen, dass
die Fazies nicht mehr auf eine Behinderung
schließen lässt – ein für Eltern oft sehr entlastender Erfolg. Die Universitätszahnklinik Münster
hat sich inzwischen zu
einer Anlaufstelle für
die zahnärztliche Therapie von Säuglingen und
Kindern mit Behinderungen und Fehlbildungen entwickelt. Hinzu
kommt, dass die dortige
Kieferchirurgie auch für
Patienten mit kraniofazialen Fehlbildungen und
Lippen-Kiefer-GaumenSpalten ein operatives
Zentrum darstellt. So verfügt man inzwischen
über kompetente interdisziplinäre Erfahrungen
mit Behinderungen und Fehlbildungen (siehe
Literatur und Links).
Literatur und Links
1. Schulte A, Cichon P, Ehmer U, Hohoff A, Machtens E,
Scheutzel P: Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft
für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Grundsätze bei
der zahnärztlichen Behandlung von Personen mit Behinderungen. DZZ. 2004; 59: 551-552
2. Hohoff A, Seifert E, Ehmer U, Lamprecht-Dinnesen A:
Artikulation in children with Down’s syndrome. Fortschritte der Kieferorthopädie. J Orofacial Orthop. 1998;
59: 220-228
3. Hohoff A, Rabe H, Ehmer U, Harms E: Palatal development of preterm and low birthweight infants compared to
term infants – What do we Know? Part 3: Discussion and
Conclusion. Head & Face Medicine. Nov 2 2005; 1: 10
4. Spezialsprechstunde für Säuglinge und Kinder mit Behinderungen / Sprechstunde für Patienten mit kraniofazialen Fehlbildungen / Interdisziplinäre Sprechstunde
für Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten/ Studie zur orofazialen Entwicklung von Frühgeborenen
und Kindern mit geringem Geburtsgewicht im Vergleich
zu reif geborenen Kindern:
Poliklinik für Kieferorthopädie, Universitätszahnklinik
Münster, Tel.: +49 (0)251/83 47108
www.zmkweb.uni-muenster.de/einrichtungen/kfo/
dienstleistungen/sprechst.html
5. Frank W et al.: Mundgesundheit nach kieferorthopädischer Behandlung mit festsitzenden Apparaturen. HTABericht. Mai 2008
http://gripsdb.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta205_
bericht_de.pdf
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Mit einem Artikel der Zeitschrift Stiftung Warentest (test 7/2006, S. 92–95) geriet die Kieferorthopädie vor zwei Jahren in die Diskussion. Das Bundesgesundheitsministerium hat danach einen
Health-Technology-Assessment (HTA)-Bericht in Auftrag gegeben, der im April dieses Jahres vom
Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) veröffentlicht
wurde [5]. HTA-Berichte dienen der systematischen Bewertung medizinischer Technologien, Prozeduren und Hilfsmittel, wobei Kriterien wie Wirksamkeit, Sicherheit und Kosten untersucht werden. Der HTA-Bericht ist eine Entscheidungshilfe bei gesundheitspolitischen Fragestellungen und
hat gegebenenfalls Einfluss auf den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Auszüge aus der Stellungnahme des DIMDI zum HTA-Bericht (www.dimdi.de):
„Die Kieferorthopädie trägt bedeutsam zum Gesamtumfang zahnmedizinischer Behandlungen bei.
Indikationen würden heute jedoch nicht auf ausreichender wissenschaftlicher Basis gestellt, sondern
vor allem nach subjektiver Einschätzung und Erfahrung des Behandlers, so die Autoren des Berichts.
Damit können sie aber nicht ausreichend begründet werden: weder ethisch gegenüber dem Patienten,
noch ökonomisch gegenüber dem Sozialversicherungssystem. Dazu gedachte Indizes wie der Index
of Treatment Need (IOTN) besitzen in der Praxis keine Bedeutung ... Vorliegende Untersuchungen zur
Wirksamkeit beziehen sich vor allem auf die Korrektur von Zahnfehlstellungen und auf die Zahngesundheit. Die Wissenschaft fordert heute jedoch eine Verallgemeinerung auf die Mundgesundheit.
Dazu liegen allerdings keine Studien vor, auch nicht zur langfristigen Wirkung kieferorthopädischer
Eingriffe. Darüber hinaus fehle eine allgemein akzeptierte wissenschaftliche Definition von „Mundgesundheit“. Die vorhandene Literatur ist laut Autoren unzureichend. Unbeantwortet lassen sie daher
wichtige Fragen wie: Verbessern festsitzende kieferorthopädische Apparate langfristig den Mundgesundheitszustand? Verbessern sie langfristig die Gesundheit der Zähne? Müssen Fehlstellungen überhaupt behoben werden, um die natürliche Bezahnung zu erhalten? Immerhin thematisiert die wissenschaftliche Literatur das Risiko für Karies. Quantifiziert wird es jedoch nicht ... Intensiv geforscht
werde zu Diagnostik und Weiterentwicklung von Geräten und Techniken. Wenig erfolge jedoch zu
Interventionsbedarf, Nachhaltigkeit, Einflussfaktoren auf den Erfolg oder zur Quantifizierung von
Nebenwirkungen wie Karies oder Wurzelresorption. Nötig seien qualitativ hochwertige Studien und
koordinierte Forschungsvorhaben mit dem Ziel der Datensammlung ... Völlig offen lassen muss der
Bericht auch die Frage, auf welcher Basis Indikationen für kieferorthopädische Maßnahmen zu stellen
sind ...“
Auszug aus der Stellungnahme des Berufsverbandes der Deutschen Kieferorthopäden (www.bdk-on
line.org):
„Es drängt sich der Verdacht auf, dass die in der Studie angesprochene Abweichung von wissenschaftlich nachgewiesenem Nutzen der kieferorthopädischen Behandlung und der durch Werbung und Industrie hervorgerufenen Nachfrage nach kieferorthopädischer Behandlung ein Ansatzpunkt für die
Gesundheitspolitik ist, eine Koppelung der Feststellung des kieferorthopädischen Behandlungsbedarfes an den Umfang der Leistungserbringung zu sehen. Beispielhaft wird hier unter anderem die
Indikation zur kieferorthopädischen Behandlung genannt. Hier würden wissenschaftlich fundierte
Studien fehlen, um einen exakten medizinischen Behandlungsbedarf nachzuweisen ... Die Indikation zur kieferorthopädischen Behandlung ist eine Frage, die sich in der Regel in der täglichen Praxis
nicht nur nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten stellt, sondern auch nach dem Leidensdruck der
Patienten ... Die ethische Frage der Indikation zur Behandlung ist daher für den Praktiker leicht zu
klären, da die Indikation zur Behandlung immer gemeinsam mit dem Patienten auf der Grundlage
des Fachwissens des Fachzahnarztes für Kieferorthopädie getroffen wird. Hierzu wissenschaftliche
Studien zu erbitten, ist ein wünschenswerter Weg, würde dies doch sowohl die politische Diskussion
positiv beeinflussen wie auch die Sicherheit für den Praktiker erhöhen. Jedoch kann das Nichtvorliegen von wissenschaftlichen Studien nicht die Grundlage für die Infragestellung der Leistungspflicht
durch Versicherungen sein ...“
(gek)
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Kieferorthopädie
Die Kieferorthopädie in der Diskussion
Dürftige Studienlage zu Auswirkungen auf Zahn- und Mundgesundheit
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