Panorama Der Landbote Freitag, 20. Mai 2016 BIOLOGIE Eine regelrechte Invasion findet derzeit im Osten der USA statt: Milliarden von Singzikaden kriechen gleichzeitig aus dem Boden. Ihr einzigartiger Lebenszyklus gibt der Forschung Rätsel auf. Siebzehn Jahre lang haben sie als unscheinbare braune Larven unter der Erde gelebt. Sie haben gefressen. Sind gewachsen. Haben sich gehäutet und weiter gefressen. Jahr für Jahr. Nun ist ihre Zeit gekommen. In diesen Tagen kriechen sie im Nordosten der USA zu Milliarden aus dem Erdboden. Mit einer letzten Häutung verwandeln sie sich in Wesen mit blutroten Augen und durchscheinenden Flügeln: Singzikaden der Gattung Magicicada. Auf Büschen und Bäumen sitzen die Insekten dicht an dicht – bis zu 370 pro Quadratmeter. Um Weibchen anzulocken, erzeugen die Männchen der nur zwei bis drei Zentimeter langen Tiere ein durchdringendes Zirpgeräusch, das die Lautstärke einer Motorsäge er- reichen kann. Ihr einziges Ziel: sich zu paaren. Das gleichzeitige und massenhafte Auftreten der nordamerikanischen Singzikaden versetzt selbst Wissenschaftler in Erstaunen. «Es gibt nichts Vergleichbares im Tierreich», sagt Thomas Hertach, Zikadenforscher an der Universität Basel. Periodische Zikaden haben den längsten bekannten Lebenszyklus unter den Insekten. Sie vermehren sich entweder in einem 17- oder einem 13-Jahr-Rhythmus. Es gibt verschiedene Zikadenpopulationen, sogenannte Bruten, die in verschiedenen Gegenden der USA auftreten. Weil ihre jeweiligen Lebenszyklen zeitlich versetzt sind, kommt es fast jedes Jahr irgendwo zu einer Zikadeninvasion. Dieses Jahr ist Brut V an der Reihe (siehe Karte). Geschützt in der Masse Erstaunlicherweise besteht eine Brut meist nicht nur aus einer Art von Zikaden, sondern aus mehreren – die aktuelle Brut V bei- spielsweise aus drei verschiedenen Arten. Dennoch schlüpfen alle im selben Jahr, innerhalb eines Zeitfensters von wenigen Wochen im Mai und Juni, sobald die Bodentemperatur über 18 Grad Celsius steigt. Wie die Tiere es geschafft haben, ihre Lebenszyklen derart zu synchronisieren, ist bis heute nicht geklärt. Doch ihr gleichzeitiges Auftreten ist aus biologischer Sicht sinnvoll: «Die schiere Masse sichert das Fortbestehen der Population», sagt Hertach. Denn selbst wenn Räuber wie Vögel oder Eichhörnchen sich sattgefressen haben, bleiben doch immer noch Millionen von Individuen übrig, die sich fortpflanzen können. Trotz ihrer riesigen Zahl richten die Insekten an der Vegetation kaum Schaden an. Und auch für Menschen sind sie völlig ungefährlich, denn sie können weder beissen noch stechen. Das Leben der erwachsenen Tiere ist kurz: Die Männchen sterben gleich nach der Paarung. Die iStock «Es gibt nichts Vergleichbares im Tierreich.» Thomas Hertach, Zikadenforscher an der Universität Basel Weibchen leben nur wenige Wochen länger, um ihre Eier in die Rinde von Zweigen zu legen. Nach einigen Wochen schlüpfen millimetergrosse Larven, die sich zu Boden fallen lassen und sich in der Erde vergraben – um dort für die nächsten 13 oder 17 Jahre auszuharren. Manche verrechnen sich Doch woher wissen die Tiere, wann exakt diese Anzahl von Jahren vergangen ist und sie schlüpfen müssen? «Sie zählen auf irgendeine Weise mit», sagt Chris Simon, Evolutionsbiologin und Zikadenforscherin an der Universität von Connecticut. Wäh- 11 ka. Viel seltener ist hingegen, dass sich Tiere um ein, zwei oder drei Jahre «verrechnen». Das Zeitgefühl der Zikaden Selten einzeln anzutreffen, sondern meist in Massen: Singzikade der Gattung Magicicada. | rend ihrer Zeit im Boden ernähren sich die Larven von Säften, die sie aus den Wurzeln der Pflanzen saugen. Dabei stellen ihnen ihre Futterpflanzen von Frühjahr bis Herbst mehr Nahrung zur Verfügung als während der kalten Zeit im Winter. «Daran erkennen die Tiere wahrscheinlich, wann wieder ein Jahr vergangen ist», sagt Simon. Wissenschaftlich erwiesen ist das jedoch nicht. Hingegen scheint klar zu sein, dass die Zikaden in Vier-JahresBlöcken rechnen. Bis zum Schlüpfen machen die Larven der 17Jahr-Zikaden fünf Häutungsstadien durch, von denen das erste ein Jahr und die vier weiteren je vier Jahre dauern. Es kommt jedoch immer wieder vor, dass manche Tiere sich verzählen: Bei den 17-Jahr-Zikaden kriecht ein bestimmter Anteil einer Brut – oft Tausende von Tieren – bereits nach 13 Jahren, also vier Jahre zu früh, aus dem Boden. Andere wiederum verspäten sich und kommen erst nach 21 Jahren ans Licht, wie etwa im Jahr 2002 in Nebras- Suche nach der inneren Uhr Manchmal führen solche Irrungen zu dauerhaften Verschiebungen des Lebenszyklus: Im Verlauf der Evolution kam es mehrmals vor, dass sich aus einer bestimmten Brut von 17-Jahr-Zikaden eine Unterpopulation abgespalten hat, die nun im 13-JahresRhythmus lebt. «Bei ihnen muss sich genetisch etwas verändert haben», sagt Chris Simon. Die Veränderungen könnten in sogenannten Uhren-Genen aufgetreten sein, wie sie bei vielen Organismen, unter anderem Taufliegen, Mäusen und auch beim Menschen, schon seit längerem bekannt sind. Allerdings steuert die Aktivität von Uhren-Genen in der Regel biologische Rhythmen, die ungefähr einen Tag dauern, also beispielsweise unseren Schlaf-Wach-Rhythmus. Für längere Rhythmen von mehreren Jahren sind bisher jedoch keine Uhren-Gene bekannt. Doch sie könnten die Taktgeber für den Lebensrhythmus der Zikaden sein. Um solche UhrenGene zu finden, will Biologin Chris Simon nun das komplette Erbgut von 13- und 17-Jahr-Zikaden derselben Art entschlüsseln und beide miteinander vergleichen. Bisher sucht sie allerdings noch nach einer Finanzierung für das Projekt. Die Geheimnisse der periodischen Zikaden zu erforschen, ist für Wissenschaftler nicht nur des Geldes wegen schwierig. «Wenn Sie 17 Jahre warten müssen, bis dieselbe Brut wieder schlüpft, können Sie diese vielleicht nur dreimal im Leben beobachten», sagt Thomas Hertach. Verschwindet Brut V in wenigen Wochen wieder im Erdreich, wird sie erst im Jahr 2033 zurückkehren. Claudia Hoffmann RÜCKKEHR NACH 17 JAHREN New York Michigan Pennsylvania Maryland Ohio Indiana West Virginia Virginia Kentucky Im violett markierten Gebiet tauchen die Zikaden derzeit auf. sci/ak Ökoputzmittel sind gefährlicher, als viele glauben PSYCHOLOGIE Steht «öko» drauf, halten wir Putzmittel für weniger giftig, als sie eigentlich sind. Das kann fatale Folgen haben – insbesondere für Kinder. Egal, ob ökologisch oder nicht: Putzmittel gehören nicht in die Hände von Kindern. pa/dpa Die häufigste Ursache für Vergiftungsnotfälle bei Kindern sind Putzmittel. Bei der Notrufnummer 145 von Toxinfo Suisse gingen letztes Jahr über 5700 Anrufe wegen möglicher Vergiftungen von Kindern mit Haushaltprodukten wie Bad- und WC-Reinigern ein. Dass solche Produkte unerreichbar für Kinder aufbewahrt werden sollten, ist den meisten Eltern bewusst. Doch wissen sie überhaupt, wie giftig Entkalker und Co. wirklich sind? Das wollte der Psychologe Michael Siegrist von der ETH Zürich mit seinem Team in einer Studie herausfinden. Die Forschenden liessen dazu 60 Laien einschätzen, wie gefährlich 33 gängige Reini- gungs- und Waschmittel sind, wenn diese versehentlich verschluckt werden. Die Probanden konnten dabei jede Flasche in die Hand nehmen, die Gefahrensymbole betrachten und die Warnhinweise lesen. Danach mussten sie die Produkte nach ihrer Gefährlichkeit ordnen. Diese Einschätzung verglichen die Forscher danach mit derjenigen von Experten. Entkalker enthält Säure Bei elf der 33 Produkte unterschätzten die Laien die Gefährlichkeit. Am weitesten lagen sie daneben, wenn auf den Flaschen ein Ökolabel prangte. Im Gegensatz dazu stuften sie nichtökologische Produkte als gefährlicher ein, als sie eigentlich sind. «Wir waren überrascht, wie stark sich die Leute bei Ökoprodukten verschätzen», sagt Studienleiter Siegrist. So hielten die Laien etwa einen ökologischen Entkalker für ungefährlich. Vor einem nicht ökologischen Entkalker hingegen hatten sie viel grösseren Respekt und stuften ihn als eines der giftigsten Produkte ein. «Eigentlich sind aber beide gleich gefährlich», sagt Siegrist. Denn beide enthalten starke Säuren, die beim Verschlucken oder bei Augenkontakt das Gewebe verätzen können. Verantwortlich für die Fehleinschätzungen ist laut Siegrist der sogenannte HeiligenscheinEffekt. Durch diesen beeinflussen einzelne positive Eigenschaften von Dingen deren Gesamteindruck so stark, dass sie die Nachteile überstrahlen. So lassen sich Menschen vom Vorteil von Ökoprodukten – der guten Abbaubarkeit und Umweltverträglichkeit – derart positiv stimmen, dass sie andere Aspekte wie deren Giftigkeit verharmlosen. Symbole täuschen Kinder Dass diese Fehleinschätzungen fatale Folgen haben können, er- lebt Christine Rauber, Leitende Ärztin von Toxinfo Suisse. «Wir betreuen auch schwere Vergiftungsfälle, die durch Ökoprodukte entstanden sind.» Hinzu komme, dass die ökologischen Mittel häufig Abbildungen von Zitronen oder anderen Früchten auf der Verpackung tragen, so Rauber. Das berge die Gefahr, dass Kinder sie für Lebensmittel halten. «Man sollte sich daher nicht von Labels beeinflussen lassen und strikt auf die Gefahrensymbole achten.» Michael Baumann PRODUKTION Scitec-Media GmbH, Agentur für Wissenschatsjournalismus Leitung: Beat Glogger Verantwortliche Redaktorin: Claudia Hofmann [email protected], www.scitec-media.ch