FMH-Quiz 59

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FMH - Quiz
Vol. 25 Nr. 4 2014
FMH-Quiz 59
Kommentar: Urs Zimmermann, Bülach
Fallbeschreibung
Alice wird im Alter von 2 Stunden wegen eines
schweren Atemnotsyndroms in der Neonatologie hospitalisiert. Die Mutter stammt aus der
Karibik und ist seit 5 Monaten in der Schweiz.
Sie berichtet, die Schwangerschaft sei normal
verlaufen, Kontrollen seien jedoch keine erfolgt. Es handelt sich um das dritte Kind. Das
Datum der letzten Menstruation ist nicht bekannt. In den letzten 8 Tagen vor der Geburt
hatte die Mutter keinerlei gesundheitliche
Probleme. Die Spontangeburt erfolgte in einem Regionalspital und verlief normal: Spontaner Blasensprung, Fruchtwasser klar, keine
Reanimation, Geburtsgewicht 1900 g, Geburtslänge 47 cm, Kopfumfang 33 cm, Gestationsalter 35 Wochen gemäss Ballard-Score.
Die Eintrittsuntersuchung zeigt neben dem
genannten Atemnotsyndrom eine Herzfrequenz
von 160/Min. bei einem arteriellen Blutdruck
von 40/30 mm Hg, eine ausgeprägte Gesichtsblässe und eine Rekapillarisationszeit von >3
Sekunden. Neurologisch: Fehlende Spon­
tanbewegungen, deutliche Muskelhypotonie
und fehlende primitive automatische Reaktionen («Primitivreflexe»). Die grosse Fontanelle
ist unauffällig, ebenso die Augen. Die Leber
reicht in der Medioklavikularlinie 3 cm unter
den Rippenbogen, die Milz ist nicht palpabel.
Frage 1
Nennen Sie bitte die 5 pathologischen Symptome/Symptomkomplexe, die bei diesem
Neugeborenen vorliegen.
Frage 2
Nennen Sie bitte drei Differentialdiagnosen,
die bei diesem klinischen Bild in Frage kommen.
Die notfallmässig durchgeführten Hilfsuntersuchungen ergeben folgende Befunde:
Blutgasanalyse: pH 7.25, PaCO2 29 mm Hg,
Bikarbonat 12 mmol/l, Basenüberschuss
-14mmol/l, PaO2 80 mm Hg (unter 40 % Sauerstoff)
Blutbild: Hämoglobin 170 g/l, Leukozyten
3.4 G/l mit 40% Stab- und 30% Segmentkernigen, Thrombozyten 166 G/l; CRP 52 mg/l
Thoraxröntgenbild: Beidseitige mikromoduläre
Verschattungen mit einem verstärkten Pneumobronchogramm
Frage 3
Kommentieren Sie die Befunde der drei genannten Hilfsuntersuchungen.
Frage 4
Welche Diagnose erachten Sie bei Alice als
die wahrscheinlichste?
Antwort 1
•Frühgeburtlichkeit
(35. Schwangerschaftswoche)
•Atemnotsyndrom
•Instabiler Kreislauf
•Pathologischer Neurostatus
•Hepatomegalie
Antwort 2
•Surfactantmangel
(Hyaline-Membranen Krankheit HMK)
•Schwere bakterielle Infektion (Sepsis)
•Kongenitale Fehlbildung des Herzens
•Metabolische Erkrankung
Antwort 3
•Blutgasanalyse: Schwere metabolische Azidose, mässige Hypoxämie
•Blutbild: Linksverschiebung der Leukozyten
(Formel nach Arneth) als Zeichen der Entzündung
•Thoraxröntgenbild: Vereinbar mit einer
HMK oder einer infektiösen Pneumopathie
Antwort 4
Neonatale Sepsis
Kommentar
Dieser Fall zeigt sehr schön auf, wie komplex
der Zugang zu einem Neugeborenen mit klinischen Auffälligkeiten ist. Genauso wie Kinder
keine kleine Erwachsene sind, sind Neugeborene keine kleine Kinder. Während in der
Erwachsenenmedizin weitgehend in den Dimensionen «krank»-«gesund» also PathologiePhysiologie gedacht werden kann, muss bei
Kindern immer auch die Dimension von
Wachstum und Entwicklung berücksichtigt
werden. Bei Neugeborenen gilt es eine weite-
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re Dimension in die Überlegungen mit einzubeziehen, nämlich jene der Adaptation, der
Anpassung des intrauterinen an das extrauterine Leben. Gleichzeitig demonstriert die
Fallvignette auch wie wichtig es in der Neonatologie ist, Schwangerschafts- und Geburtsgeschichte zu kennen und Risikofaktoren zu
beachten.
Das Leitsymptom zur Aufnahme dieses Kindes
in die Neonatologie ist ein schweres Atemnotsyndrom. Dieses kann sowohl Folge einer
Sepsis, also einer eigentlichen Krankheit
(Dimension «Physiologie-Pathologie»), als
auch Folge einer Frühgeburtlichkeit (Dimension «Wachstum und Entwicklung») sein. Abhängig vom Ausmass der Frühgeburtlichkeit,
ist ein Surfactantmangel als normal anzusehen, weshalb dieser wenn möglich durch eine
Lungenreifungsinduktion prophylaktisch angegangen, und die Geburt in einem Zentrum
erfolgen sollte, in welchem eine entsprechende Therapie des Frühgeborenen möglich ist.
Letztlich kann es sich aber auch um eine
Adaptationsverzögerung handeln (3. Dimension), zum Beispiel durch eine verzögerte
Lungenflüssigkeitsresorption. Natürlich ist
auch ein Mischbild dieser grundsätzlich unterschiedlichen Ursachen möglich. Ähnliche
Überlegungen gelten auch für die andern
Symptomenkomplexe aus der Antwort 1.
Zur Beantwortung der klinisch höchst relevanten Frage 4, welche Diagnose im vorliegenden
Fall die wahrscheinlichste sei, sollte vor allfälligen Zusatzuntersuchungen eine Risikoanalyse erfolgen. Da die in der Schweiz üblichen
Schwangerschaftskontrollen nicht durchgeführt wurden, fehlen relevante Informationen
und ein Risikoprofil lässt sich nur erschwert
erstellen. Ein positiver vaginaler Abstrich mit
beta-hämolysierenden Streptokokken der
Gruppe B würde beispielsweise die Wahrscheinlichkeit massiv erhöhen, dass es sich
um eine early-onset Sepsis handelt. Aber
selbst das Wenige was bekannt ist (problemlose Spontangeburt nach spontanem Blasensprung) kann bei fehlender Angaben zum
Gestationsalter nicht zur Beurteilung herangezogen werden. Bei anamnestisch unbekanntem Gestationsalter liegt lediglich eine
klinische Reifeschätzung mittels BallardScore vor. Damit lässt sich das Gestationsalter im Idealfall auf +/- 2 Wochen genau bestimmen. Im vorliegenden Fall ist von einer
noch grösseren Spannbreite auszugehen, da
die neuromuskulären Reifezeichen im BallardScore bei beschriebenem pathologischen
Neurostatus nur sehr schwer zu beurteilen
sind, was die Genauigkeit der Aussage des
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Scores zusätzlich beeinträchtigt. Das Kind
könnte also 33 bis 37 Wochen alt sein. Eine
spontane Geburt in der 33. SSW würde ein
hohes Risiko für das Vorliegen einer Sepsis
bedeuten. Sollte die Geburt aber in der 37.
SSW erfolgt sein, würde zusätzlich ein Untergewicht für das Gestationsalter vorliegen und
andere Differentialdiagnosen wie zum Beispiel kongenitale Infektionen oder Fehlbildungen würden in den Vordergrund rücken. Aufgrund der fehlenden geburtshilflichen
Geschichte kann daher kein Risikoprofil erstellt werden, welches wegweisend für die
Differentialdiagnose ist.
Als Zusatzuntersuchungen liegen eine Blutgasanalyse, ein Blutbild sowie ein Röntgenbild vor.
Thoraxröntgenbilder von Neugeborenen sind,
wenn sie keine klaren Befunde wie Pneumothoraces, oder Zwerchfellhernien und dergleichen
zeigen, sehr schwierig zu beurteilen. Denn
auch der radiologische Aspekt der Lunge unterliegt einer Adaptation und wird stark durch
allfällige Interventionen wie zum Beispiel der
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Applikation von CPAP (continous positive airway pressure) beeinflusst. Thoraxröntgenbilder sind bei Neugeborenen selten wegweisend,
können aber eine klinische Diagnose bekräftigen. Der hier beschriebene Befund zeigt dies
deutlich: Er passt sowohl zu einer Sepsis, wie
auch zu einem Surfactantmangel.
Die Blutgasanalyse hilft im vorliegenden Fall
am klarsten weiter. Sie zeigt eine ausgeprägte
metabolische Azidose, während die Oxygenation kaum und die Ventilation gar nicht beeinträchtigt sind. Das pCO2 ist sogar sehr niedrig,
was darauf hindeutet, dass zumindest ein Teil
der Atemproblematik im Versuch der respiratorischen Kompensation der metabolischen
Azidose liegt. Beim Vorliegen eines Surfactantmangels müsste von einer viel stärkeren
Beeinträchtigung des Gasaustausches ausgegangen werden. Diese Differentialdiagnose
rückt damit stark in den Hintergrund. Sowohl
eine Sepsis als auch ein kongenitaler Herzfehler und eine metabolische Erkrankung (die
andern drei in Antwort 2 vorgeschlagenen
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Differentialdiagnosen) können sich mit einer
metabolischen Azidose manifestieren.
Das Blutbild schliesslich zeigt eine Linksverschiebung der Leukozyten. Gleichzeitig besteht eine grenzwertige Leukopenie. Aufgrund
des beschriebenen klinischen Bildes wäre
eher mit einer stressinduzierten Leukozytose
zu rechnen. Unter dieser Voraussetzung muss
die grenzwertige Leukopenie zumindest als
Hinweis auf eine Sepsis beachtet werden.
Besonders erwähnenswert ist die CRP-Erhöhung von 52 mg/l, da aus der Literatur bekannt ist, dass sowohl der positive als auch
der negative prädiktive Wert des initialen CRP
bei Neugeborenen sehr niedrig sind und auch
bei Neugeborenen ohne Sepsis durchaus erhöhte CRP-Werte von 50–100mg/l gefunden
werden können. Trotzdem wird wohl kaum ein
Neonatologe ein Neugeborenes mit einer
CRP-Erhöhung von > 50mg/l im Alter von 2
Stunden nicht antibiotisch behandeln. Dieses
Dilemma zwischen evidence based medicine
und klinischer, persönlicher Erfahrung wird in
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vorliegender Fallvignette dadurch aufgelöst,
dass das beschriebene Neugeborene neben
der CRP-Erhöhung genügend klassische Zeichen der neonatalen Sepsis aufweist, um eine
antibiotische Therapie nicht nur zu rechtfertigen, sondern dringend zu indizieren. Es bleibt
zu betonen, dass die CRP Erhöhung hier in das
klinische Bild passt, aber per se keinen wegweisenden Befund darstellt - Auch bei einem
CRP < 10mg/l müsste von einer Sepsis ausgegangen und die antibiotische Therapie unverzüglich eingeleitet werden. Es kann nicht
genug betont werden, dass es bei Neugeborenen keinen Laborparameter gibt, welcher
zuverlässig und rechtzeitig eine Sepsis anzeigt oder ausschliesst. Auch wenn immer
wieder neue Laborparameter gefunden werden, welche einzeln oder in Kombination eine
neonatale Sepsis anzeigen können, muss klar
festgehalten werden, dass die neonatale
Sepsis primär immer eine klinische Diagnose
darstellt, welche oft im Verlauf bestätigt oder
ausgeschlossen werden kann. Aus pragmatischen Gründen ist es vorzuziehen, bei Neugeborenen die Indikation zur antibiotischen
Therapie vor der Bestimmung jeglicher Entzündungszeichen zu stellen. Das serielle Bestimmen von Entzündungszeichen ist hingegen sinnvoll, weil die Laborparameter helfen
können, die Sepsis im Verlauf zu bestätigen
oder auszuschliessen. In diesem Zusammenhang scheint zum Beispiel das Procalcitonin
möglicherweise geeigneter zu sein als das
CRP. Beweisend für eine neonatale Sepsis
wären in vorliegendem Fall eine positive Blutkultur, aber auch eine weitere Zunahme der
Leukopenie oder ein weiteres Ansteigen des
CRP. Hilfreich wäre zudem eine Plazentahistologie. Diese könnte Hinweise auf einen
Amnioninfekt geben; gleichzeitig aber auch
helfen die Frage des Gestationsalters genauer
zu beleuchten.
Zusammenfassend erscheint hier tatsächlich
die neonatale Sepsis, und zwar eine earlyonset Sepsis die wahrscheinlichste Diagnose.
Neben der intensiven klinischen Überwachung, der Unterstützung der Atmung und
gegebenenfalls Stabilisierung des Kreislaufes
ist eine umgehende antibiotische Therapie
dringend angezeigt. Diese sollte gemäss aktuellen schweizerischen Empfehlungen als Kombinationstherapie eines Aminoglykosides mit
Amoxicillin intravenös erfolgen. Mit den vorliegenden Angaben kann aber nur die Differentialdiagnose des Surfactantmangels mit klinisch
genügend hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Das behandelnde Team
dieses Kindes ist gut beraten, die anderen
Differentialdiagnosen nicht aus den Augen zu
verlieren und spätestens bei fehlendem Ansprechen auf die antibiotische und kreislaufstabilisierende Therapie eine umgehende
Reevaluation durchzuführen.
Literatur
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Berger C, Giannoni E, McDougall J, Stocker M.
Empfehlung zur Prävention und Therapie von Termin- und knapp frühgeborenen Kindern mit erhöhtem Risiko einer perinatalen bakteriellen Infektion
(early-onset Sepsis), Paediatrica 24/1, 2013.
Ballard JL, Khoury JC, Wedig K, et al: New Ballard
score, expanded to include extremely premature infants. The Journal of Pediatrics 119 (3): 417–423, 1991.
Schlapbach L, Graf R, Woerner A, Fontana M,
Zimmermann-Baer U, Glauser D, Giannoni E, Roger
T, Müller C, Nelle M, Stocker M. Pancreatic stone
protein as novel marker for neonatal sepsis. Intensive Care Med. 2013 Apr; 39 (4): 754–63.
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