Amiodaron - Deutsches Ärzteblatt

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MEDIZIN
ÜBERSICHTSARBEIT
Amiodaron und
Schilddrüsendysfunktion
George J. Kahaly, Markus Dietlein, Roland Gärtner,
Klaus Mann, Henning Dralle
ZUSAMMENFASSUNG
SUMMARY
Einleitung: Amiodaron als jodhaltiges Antiarrhythmikum ruft
in circa 40 % der Fälle Funktionsstörungen der Schilddrüse
(SD) hervor. Diese werden durch den hohen Jodgehalt beziehungsweise immunbedingte zytotoxische Effekte verursacht. Methoden: Übersichtsarbeit auf der Basis einer selektiven Literaturaufarbeitung der Autoren. Ergebnisse: Die
Amiodaron-induzierte Hyperthyreose ist ein therapeutisch
schwer zu beeinflussendes Krankheitsbild. 2 Formen werden unterschieden. Der Typ I ist durch eine gesteigerte Bildung von SD-Hormon gekennzeichnet. Der Typ II entsteht
durch eine inflammatorisch-destruierende Einwirkung auf
das Organ mit gesteigerter Hormonfreisetzung. Die Farbdopplersonografie der SD dient der Unterscheidung beider
Formen. Beim Typ I sollte Amiodaron eher abgesetzt werden. Thionamide, Perchlorat und Lithium stehen beim Typ I,
Glucocorticoide beim Typ II zur Verfügung. Die Thyreoidektomie ist die Therapieoption für schwere Formen des Typ I.
Bei der Amiodaron-induzierten Hypothyreose muss das
Präparat nicht abgesetzt werden. Diskussion: Eine ausgiebige Untersuchung von Morphologie und Funktion der SD
vor Amiodarongabe beugt den beschriebenen Komplikationen effektiv vor. Pathologische SD-Veränderungen werden
dadurch frühzeitig entdeckt und beseitigt.
Dtsch Arztebl 2007; 104(51–52): A 3550–5
Amiodarone-Induced Thyroid Dysfunction
Schlüsselwörter: Amiodaron, Schilddrüse, Schilddrüsenfunktion, interdisziplinär, evidenzbasiert
I. Medizinische
Univ.-Klinik und
Poliklinik, Mainz:
Prof. Dr. med. Kahaly
Klinik und Poliklinik
für Nuklearmedizin,
Universität zu Köln:
Prof. Dr. med. Dietlein
Medizinische
Univ.-Klinik, Klinikum
Innenstadt,
LMU München:
Prof. Dr. med. Gärtner
Klinik für Endokrinologie, Universitätsklinikum Essen: Prof. Dr.
med. Mann
Klinik und Poliklinik
für Allgemein-,
Viszeral- und
Gefäßchirurgie,
MLU Halle: Prof. Dr.
med. Dralle
A 3550
E
rgebnisse randomisierter Studien bestätigen die
Überlegenheit von Amiodaron in der Therapie
von Vorhof- und Kammerarrhythmien (1). Das Problem
einer Amiodarontherapie ist jedoch seine Organtoxizität. Gefürchtete Komplikationen sind unter anderem
eine therapieresistente Schilddrüsen(SD)-Dysfunktion
(2, 3).
Basierend auf neueren Erkenntnissen zur Diagnostik und Therapie von SD-Veränderungen unter Amiodaron sollen im Folgenden aktuelle, evidenzbasierte
und interdisziplinäre Empfehlungen zu der Prophylaxe und dem praktischem Prozedere formuliert werden. Bislang fehlten Standards, die von allen Mitgliedern der Sektion Schilddrüse der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie getragen werden. Die folgende Übersichtsarbeit basiert auf einer selektiven
Literaturauswahl durch George J. Kahaly und seine
Koautoren.
Introduction: Amiodarone, an iodine containing antiarrhythmic, induces functional thyroid dysfunction in circa 40%
of patients receiving it.These disorders can be iodineinduced, or due to immunotoxic effects on thyrocytes.
Methods: Selective literature review. Results: 2 types of
amiodarone-induced hyperthyroidism are recognized. Type
1 is caused by unregulated hormonal synthesis; type 2 is
due to the release of preformed hormone by inflammatory
destruction of the gland. Color-flow doppler sonography is
a helpful diagnostic tool. In type 1, amiodarone should be
discontinued where possible, although this will not immediately restore normal thyroid function. Thionamides, potassium perchlorate, and lithium can be used to treat type
1, and steroids to treat type 2. Patients with mixed forms
should be managed with combination therapy. Thyroidectomy is advisable for patients with severe type 1. Amiodarone need not be discontinued in amiodarone-induced hypothyroidism. Discussion: Amiodarone-induced thyroid
complications are best prevented through accurate monitoring of thyroid morphology and function both before and
during amiodarone treatment.
Dtsch Arztebl 2007; 104(51–52): A 3550–5
Key words: amiodarone, thyroid, thyroid function, interdisciplinary, evidence based
Prävalenz und prädisponierende Faktoren
Prävalenz und Inzidenz der Amiodaron-bedingten SDDysfunktion schwanken geografisch und korrelieren
mit der Jodzufuhr (2). Eine Hypothyreose kommt eher
in Ländern mit ausreichender Jodversorgung vor, wie
den USA (22 versus 2 % Hyperthyreose), während sie
in Gebieten mit geringerer Jodaufnahme, wie Italien
(5 %) oder Holland (6 %), seltener (versus 12 bis 13 %
Hyperthyreosen) ist. Weltweit wurden Hyperthyreosen
bei 1 bis 23 % und Hypothyreosen bei 1 bis 36 % der mit
Amiodaron behandelten Patienten beschrieben (3). Prädisponierende Faktoren für eine Amiodaron-induzierte
Hyperthyreose sind vor allem eine hohe Jodzufuhr
und/oder Knotenstruma mit niedrigem basalem TSH
(funktionelle Autonomie) infolge langjährigen Jodmangels. Genetische Faktoren (zum Beispiel HLA-Antigene als Risikomarker für die Entwicklung einer Immunthyreopathie) spielen ebenfalls eine Rolle, sind je⏐ Jg. 104⏐
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doch nicht für einen Großteil der Varianzaufklärung verantwortlich (Kasten). Die Präsenz von SD-Antikörpern
und eine subklinische Hypothyreose prädisponieren, bei
gleichzeitig erhöhter Jodzufuhr, für die Entstehung einer Amiodaron-induzierten Hypothyreose (4).
Pharmakologie und molekulare Wirkung
Amiodaron (2-N-Butyl-3-[3,5-diiodo-4-diethylaminoethoxybenzoyl]-benzofuran) ist mit den SD-Hormonen
strukturverwandt (Grafik 1) und enthält 39 % Gewichtsanteile Jod. Mit jeder Tablette (200 mg Amiodaron) werden etwa 75 mg gebundenes Jod aufgenommen, wobei
der freie Anteil (9 mg) selektiv in die SD gelangt. Diese
hohe Jodeinnahme führt zu einem 40-fachen Anstieg der
Jodurie. Die hohen Jodspiegel bleiben über 6 Monate nach
Absetzen der Medikation bestehen, weil Amiodaron als
lipophile Substanz im Fettgewebe gespeichert wird (5).
Der Hauptmetabolit ist Desethyl-Amiodaron, das in den
meisten Geweben eine höhere Konzentration als die Muttersubstanz aufweist. Die Halbwertszeit von Amiodaron
beträgt 20 bis 100 Tage. Amiodaron hat vielfältige Wirkungen auf die SD (Tabelle 1):
akute, vorübergehende Änderungen der SD-Funktion
Hypothyreose bei Patienten, die für die inhibitorische
Wirkung großer Jodmengen anfällig sind
Hyperthyreose, durch
– jodinduzierte Hyperthyreose bei einer Knotenstruma
– einen entzündlich-destruktiven Zustand
– eine Immunhyperthyreose.
Amiodaron und seine dealkylierten Metaboliten hemmen kompetitiv die extrathyreoidale Konversion von T4
in das aktive T3 (6). Wegen ihrer Strukturähnlichkeit zu
Jodthyroninen sind sie weiterhin wirksame Dejodase-Inhibitoren. Bevorzugt wird die Typ I 5’-Dejodase gehemmt. Amiodaron und die Metaboliten binden auch an
nukleäre T3-Rezeptoren und verändern deren Interaktion
mit Co-Aktivatoren oder Co-Repressoren der Transkription T3-regulierter Gene.
KASTEN
Prädisponierende Faktoren
einer Amiodaron-induzierten
Schilddrüsendysfunktion
Hyperthyreose
Knotenstruma
Funktionelle Autonomie
Langjähriger Jodmangel
Subklinische Hyperthyreose
Genetische Risikofaktoren
Hypothyreose
Thyreoperoxidase(TPO)-Antikörper
Subklinische Hypothyreose
Strukturähnlichkeit
zwischen
Amiodaron und
T3/T4
GRAFIK 1
Laborveränderungen unter
Amiodarontherapie
Der Beginn der Amiodaronbehandlung geht mit einem
vorübergehenden Abfall der fT4-Spiegel und einer
meist transienten TSH-Erhöhung einher, bedingt durch
die inhibitorische Wirkung von Jod auf die SD (sogenannter Wolff-Chaikoff-Effekt). Im Verlauf der Amiodarontherapie überwiegt die hemmende Wirkung des
Medikaments auf die Deiodaseaktivität und den SDHormonrezeptor (6). Dies führt zu einem erhöhten fT4,
erniedrigtem fT3, erhöhtem reversem T3 und einem
vorübergehenden TSH-Anstieg (bis zu 20 mU/L). Im
Verlauf normalisieren sich die TSH-Spiegel oder bleiben
leicht supprimiert, sodass die häufigste Laborkonstellation unter einer Langzeittherapie bei euthyreoten Patienten wie folgt ist: fT4-Anstieg um 20 bis 30 %, fT3-Abfall
in den unteren Normbereich, basales TSH im unteren
Normbereich beziehungsweise supprimiert (7). Die Kasuistik eines 68-jährigen Patienten stellt einen Befund
unter Amiodarontherapie dar.
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TABELLE 1
Relatives Risiko von Amiodaron-induzierten
Nebenwirkungen, insbesondere der Schilddrüsendysfunktion*
Gesamtpatientenjahre: Amiodaron 2 580, Placebo 2 545
Odds Ratio
P=
Hypothyreose
7,3
0,00005
Hyperthyreose
2,5
0,0043
Lungenfibrose
3,1
0,0003
Neuropathie
2,8
0,071
Hepatopathie
2,7
0,0072
Bradykardie
2,6
0,0003
*nach einer durchgeführten Metaanalyse an einem großen
Patienten- und Kontroll-Kollektiv, Referenz 1
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Diagnostik vor und
während einer Amiodarontherapie
Schilddrüsen-Untersuchung vor und während
einer Amiodarontherapie
GRAFIK 2
TABELLE 2
Prävalenz der Nebenwirkungen von Amiodaron*
(dosis-/zeitabhängig)
Fälle (in Prozent)
Hornhautablagerungen
> 90
Photosensibilität
50–75
SD-Dysfunktion
30–40
Toxische Hepatitis
20–50
Gastrointestinale Beschwerden
20–30
Neuropathie, Tremor
5–30
Interstitielle Pneumonie
5–20
* nach Referenz 10
Wegen der häufigen Beeinträchtigungen der SD-Funktion
durch Amiodaron sollten vor Therapiebeginn basales
TSH, Serum-fT3/-fT4 und SD-Peroxidase (TPO)-Antikörper bestimmt sowie eine SD-Sonografie durchgeführt
werden, um prädisponierte Patienten rechtzeitig zu erkennen beziehungsweise um eventuelle spätere SD-Funktionsveränderungen eindeutig der Amiodarontherapie zuordnen zu können (5, 8). Liegen SD-Knoten mit einem
Durchmesser > 1 cm vor oder besteht eine Knotenstruma,
ist zusätzlich die SD-Szintigrafie sinnvoll, weil hyperfunktionelle Knoten auch bei einem normwertigen TSH
vorliegen können. Grundsätzlich kann man eine Radiojodtherapie unter der Behandlung mit Amiodaron bis zu
einem Jahr nach Absetzen nicht durchführen (9). Die protrahierte Jodfreisetzung aus Amiodaron verhindert, dass
das Radiojod therapeutisch nutzbar in die SD aufgenommen wird. Liegen TPO-Antikörper vor, besteht ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung entweder einer manifesten
Hypothyreose oder einer immunogenen Hyperthyreose.
In diesen Fällen ist eine engmaschige Funktionskontrolle
der SD erforderlich (Grafik 2).
Während einer Dauertherapie mit Amiodaron sind in
regelmäßigen Abständen, auch bei initial normaler SDFunktion, Kontrollen der SD- (fT3/fT4, TSH und 1 × im
Jahr TPO-Antikörper) und Leber-Funktion notwendig.
Diese sollten, nach Erreichen der kumulativen Gesamtdosis, nach 3 Monaten und dann alle 6 Monate durchgeführt
werden. Konzentrationen von Amiodaron und seinen Metaboliten im Plasma zeigten in mehreren Untersuchungen
keine klinisch relevante Korrelation zur antiarrhythmischen Wirkung der Substanz. Auch im Hinblick auf die
Verträglichkeit hat die Höhe der Plasmaspiegel keine Aussagekraft.
Neben- und Wechselwirkungen
KASUISTIK
Ein 68-jähriger Patient stellte sich in unserer Schilddrüsenambulanz zur Abklärung einer neu aufgetretenen SD-Dysfunktion
vor. Es bestand seit 3 Jahren eine absolute Arrhythmie, die mit
Amiodaron (200 mg/Tag) erfolgreich behandelt wurde. Der
Patient gab Belastungsdyspnoe, Schlafprobleme und Fingertremor an. Inspektorisch und palpatorisch war der Hals unauffällig. Das SD-Volumen im Ultraschall betrug 17 mL bei echoarmer, inhomogener Binnenstruktur und gering vermehrter
Vaskularisation in der Duplexsonografie. Laborchemisch bestand eine manifeste Hyperthyreose: TSH < 0,01 mU/L, fT3
6,8 pg/mL, fT4 3,9 ng/dL, Thyreoperoxidase- und Thyreoglobulin-Ak waren erhöht, IL-6 mit 10 pg/mL ebenfalls erhöht (Referenzwert < 6). Aus diesen Befunden schlossen wir auf eine
Amiodaron-induzierte Immunthyreopathie mit hyperthyreoter
Stoffwechsellage (AIH Typ II). Entsprechend wurde Prednisolon
(zunächst 50 mg/Tag) verordnet. Die Amiodarondosis wurde
beibehalten. Bei der kurzfristigen Kontrolle waren die peripheren SD-Werte und die Symptome zwar rückläufig, jedoch weiterhin auffällig, weshalb wir 20 mg/Tag Methimazol empfahlen.
2 Wochen später waren fT3 und fT4 im Normbereich.
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Nebenwirkungen von Amiodaron sind – abhängig von
Dosis und Therapiedauer – neben der SD-Dysfunktion
Kornealablagerungen, Photosensibilisierung und Hyperpigmentation der Haut, Lungen- und Lebertoxizität sowie
Optikus-Neuropathien (Tabelle 2). Klinisch relevante
Wechselwirkungen sind die Erhöhung der Digitalisspiegel sowie die potenziell erhöhte Blutungsneigung bei antikoagulierten Patienten (10). Für Digitalis wird empfohlen, die Dosis um die Hälfte zu reduzieren. Ist der Patient
antikoaguliert, sollten zweimal wöchentlich Kontrollen
des INR-Werts durchgeführt werden und die Dosisreduktion anhand der gewünschten INR festgesetzt
werden. Die gleichzeitige Anwendung von Arzneimitteln, die durch Cytochrom P4503A4 metabolisiert werden (Ciclosporin, Statine), und Amiodaron – einem Hemmer des CYP3A4 – kann zu höheren Plasmaspiegeln
führen. Wenn unter Amiodaron gravierende Komplikationen auftreten, kann die Gabe von Colestyramin (3 × 4
bis 8 g) oder Sukralfat (2 × 2 g) den Abbau beschleunigen
(3). Sowohl bei Akut-, als auch bei Langzeitapplikation
von Amiodaron reduzieren Colestyramin und Sukralfat
signifikant die enterohepatische Zirkulation und beschleunigen somit die Elimination.
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Differenzialdiagnose der AIH
Für die Diagnose einer Amiodaron-induzierten Hyperthyreose (AIH) ist die Bestimmung des basalen TSH und des
fT3 notwendig (11). Ausschlaggebend für die Diagnose einer AIH sind ein supprimiertes TSH (< 0,1 mU/L) und erhöhte fT3-Werte. 2 Formen einer AIH werden unterschieden (Tabelle 3). Der Typ I ist durch SD-Vorerkrankungen
wie Morbus Basedow und Knotenstruma sowie durch eine gesteigerte Bildung von SD-Hormonen gekennzeichnet. Die überschüssige SD-Hormonsynthese ist Folge der
erhöhten Jodbelastung. Da vor einem elektiven Behandlungsbeginn mit Amiodaron eine SD-Diagnostik obligat
durchgeführt wird, ist der Typ I heute selten geworden.
Der Typ II entsteht in der Regel ohne Vorerkrankung der
SD. Der Mechanismus ist hier entweder eine inflammatorisch-destruierende Einwirkung auf die SD mit gesteigerter Freisetzung von SD-Hormonen oder das Ergebnis einer arzneimittelinduzierten lysosomalen Aktivierung, die
zu einer destruktiven Thyreoiditis mit Anreicherung von
Histiozyten in der SD führt (12). Die Entwicklung einer
Typ II-AIH kann nicht im Vorfeld ausgeschlossen werden.
Milde Formen des Typs II können sich spontan wieder
zurückbilden oder zu einer Hypothyreose führen. Die
Farbdopplersonografie der SD zeigt eine vermehrte Vaskularisierung beim Typ I und eine verminderte bis fehlende Vaskularisierung beim Typ II (13–14). Die Interleukin6-Spiegel können beim Typ II erhöht sein (15), sind allerdings, wie das Serum-Thyreoglobulin, unzuverlässige
Differenzierungsmarker. Das SD-Szintigramm ist durch
eine fehlende Technetium-Speicherung charakterisiert
(11), weil die hohen endogenen Jodspiegel die Aufnahme
von Technetiumpertechnat vermindern. Ein normaler oder
erhöhter Uptake ist eine Rarität und spricht für einen Typ
I. In der Regel ist die SD-Szintigrafie bei der Differenzialdiagnose der AIH nicht hilfreich.
Therapie der AIH Typ I
Die Behandlung der AIH wird dadurch erschwert, dass die
üblichen Thionamide kompetitiv zum Jod in der SD
wirken, das heißt es sind sehr hohe Dosen notwendig.
Außerdem müssen die Nebenwirkungen der Thionamide
sowohl auf die Leber, als auch auf das Knochenmark mitberücksichtigt werden. Eine Radiojodtherapie ist in der
Regel wegen der verminderten Aufnahme von radioaktivem Jod nicht möglich. Bei der AIH Typ I sollte Amiodaron, falls eine alternative antiarrhythmische Therapie
(β-Blocker, Flecainid, Propafenon) verfügbar ist, abgesetzt werden. Allerdings hemmt Amiodaron die periphere
Konversion von T4 zu T3, wirkt also auch thyreostatisch,
sodass das Absetzen die Hyperthyreose verschlimmern
kann. Prospektive kontrollierte Studien (16–17) und eine
aktuelle europäische Umfrage (11) haben die Rolle der
Thionamide für die AIH Typ I (Tabelle 4) (18) und die der
Glucocorticoide für die AIH II unterstrichen.
Thionamide
Thionamide hemmen kompetitiv zum Jodid die Thyreoperoxidase und die Synthese von SD-Hormonen. Bei der
AIH müssen die Thionamide hoch dosiert verabreicht
werden (Methimazol beginnend mit 40 bis 60 mg täglich
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TABELLE 3
Merkmale der Amiodaron-induzierten Hyperthyreose (AIH)
Charakteristika
AIH Typ I
AIH Typ II
Vorbestehende SD-Erkrankung
häufig
nein
Struma diffusa/nodosa
häufig
nein
Auftreten
früh (Wochen)
spät (Monate)
Mechanismus (SD-Hormone)
Bildung erhöht
Freisetzung
Farbdoppler-Sonografie
Durchblutung erhöht
Durchblutung vermindert
Tc-Uptake (SD-Scan)
unverändert
erniedrigt
Interleukin-6-Spiegel im Serum
unverändert
leicht erhöht
Thyreoglobulin-Spiegel im Serum
stark erhöht
leicht erhöht
SD-Antikörper
(erhöht)
normal bis erhöht
Verlauf
schwer
mild bis schwer
Histologie
entzündlich
destruktiv
Absetzen von Amiodaron
ja
nein
Ansprechen der Therapie
schlecht
gut
Definitive Therapie notwendig
ja
nein
Übergang in Hypothyreose
nein
möglich
Risiko bei späterer Jodexposition
Hyperthyreose
Hypothyreose
per os, Carbimazol 60 bis 90 mg täglich, Propylthiouracil
400 bis 600 mg täglich). Trotz langer Halbwertszeit von
Methimazol ist eine Verteilung auf 2 bis 3 Dosen pro Tag
(wie beim Propylthiouracil) mit einem Nachtintervall von
circa 8 h zu empfehlen. Auf das Ansprechen muss einige
Tage gewartet werden (Grafik 3).
TABELLE 4
Evidenzbasierte Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der
Amiodaron-induzierten Hyperthyreose Typ I und Typ II*
Evidenzgrad
Empfehlung
Farbdoppler-Sonografie
1a
A
Interleukin-6 (Serum)
2a
C
SD-Antikörper (Serum)
3a
B
Tc-Uptake (Scan)
3b
C
Thyreoglobulin (Serum)
4
D
Methimazol (bei Typ I)
1a
A
Perchlorat (bei Typ I)
1b
A
Steroide (bei Typ II)
1b
A
Thyreoidektomie (bei Typ I)
3a
B
Diagnostik
Therapie
* Diese Empfehlungen entsprechen denen der interdisziplinären Sektion Schilddrüse der
Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie.
Evidenzgrad und Härtegradempfehlungen nach Referenz 18.
Evidenzgrad: 1a) mehrere randomisierte prospektive Studien sowie Metaanalysen
mit positivem Nachweis; 1b) Keine Metaanalyse; 2a) Einzelne prospektiv kontrollierte Studien
mit positivem Nachweis; 3a) Positive Expertenmeinung mit Empfehlung;
3b) Neutrale Expertenmeinung; 4) Einzelne Fallberichte.
Empfehlungen: A) sehr empfehlenswert, B) empfehlenswert,
C) neutral bzw. möglich, D) nicht empfehlenswert
A 3553
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Vorgehen bei
der Amiodaroninduzierten Hyperthyreose
GRAFIK 3
Thyreoidektomie
Ist eine SD-Autonomie ursächlich für die AIH Typ I,
so kann diese nicht dauerhaft mit Medikamenten therapiert werden. Es bleibt nur die operative Entfernung
des SD-Gewebes, sofern der Patient diesem Verfahren
sicher unterzogen werden kann. Hauptvorteil der chirurgischen Sanierung der AIH ist die umgehende
Behebung der Hyperthyreose verbunden mit der Möglichkeit, die Amiodarontherapie weiterzuführen. Die
subtotale Thyreoidektomie kann zwar vor einer lebenslangen Substitutionstherapie mit LT4 bewahren, birgt
jedoch die Rezidivgefahr. Deshalb ist eine nahezu totale
Thyreoidektomie vorzuziehen. Die perioperative Mortalität und Morbidität sind bei notfallmäßiger Hyperthyreose erhöht, weshalb in solchen Fällen die SD-Operation wenn möglich in einem operativen SD-Schwerpunktzentrum erfolgen sollte (21).
Therapie der AIH Typ II
Vorgehen bei
der Amiodaroninduzierten Hypothyreose
GRAFIK 4
Perchlorat
Kaliumperchlorat blockiert die thyreoidale Jodaufnahme
durch direkte Hemmung des Natrium-Jodid-Symporters
und somit den aktiven Jodtransport der SD (19). Die Kombination von Perchlorat und Thionamiden ist wirksamer.
Zur Minderung des intrathyreoidalen Jodgehalts werden
täglich 600 bis 1 000 mg Perchlorat per os, verteilt auf 2
Dosen, verabreicht.
Lithium
Lithium vermindert die Freisetzung sowohl der SDHormone als auch von Jod und hemmt zusätzlich die
T4-Dejodination (20). Beim Typ I normalisiert die
Kombinationstherapie von Thionamiden und Lithium
die SD-Stoffwechsellage rascher (circa 4 Wochen) als
die Thionamid-Monotherapie (circa 10 Wochen) beziehungsweise der Verzicht auf Thionamide. Empfohlen
werden eine abendliche Dosis von 600 bis 900 mg
(86 bis 130 mmol) und eine wöchentliche Kontrolle
der Lithiumblutspiegel (therapeutischer Bereich 0,4
bis 1,3 mmol/L). Bei schwerer Herzinsuffizienz ist die
Lithiumtherapie kontraindiziert.
A 3554
Glucocorticoide haben sich bei der AIH Typ II durch ihre
antiinflammatorischen Effekte auf den destruierenden
Entzündungsprozess und durch ihre Hemmung proteolytischer lysosomaler Enzymaktivitäten als wirksam erwiesen (22). Die zusätzliche Wirkung der Steroide durch die
Hemmung der 5’-Dejodase ist weniger entscheidend, weil
Amiodaron selbst ein potenter Dejodase-Inhibitor ist.
Empfohlen wird eine einleitende gewichtsbezogene Dosis
von 1 mg/kg KG Prednisolon für 2 Wochen, anschließend
eine ausschleichende Dosisreduktion alle 2 Wochen für
eine Gesamtdauer von 20 Wochen. Die Steroidtherapie
ist auch dem oralen Kontrastmittel Iopanoic-Säure mit
blockierender Eigenschaft der T4/T3-Konversion überlegen.
Je ausgeprägter die entzündliche Zerstörung des Organs ist, desto selbstlimitierender wird die AIH Typ II.
Deshalb ist die erneute Verabreichung von Amiodaron
nach Erreichen einer Euthyreose bei der AIH Typ II vertretbar (23).
Therapie von Mischformen
Ist die Differenzialdiagnose der AIH nicht eindeutig
oder liegt der Verdacht auf eine Mischform vor, so ist eine kombinierte Therapie von Thionamiden und Glucocorticoiden empfohlen (zum Beispiel Methimazol und
Prednisolon, beginnend jeweils mit 40 mg täglich beziehungsweise 0,5 mg/kg KG/Tag [2–3, 10]). Weil Mischformen zunehmen, empfehlen einige Arbeitsgruppen,
alle 3 Formen der AIH sofort mit der Kombinationstherapie zu behandeln (8).
Therapie der Amiodaron-induzierten
Hypothyreose
Die zu Therapiebeginn transiente TSH-Erhöhung ist physiologisch und muss nur behandelt werden, wenn sich im
Verlauf eine Hypothyreose entwickelt. Falls Amiodaron
indiziert ist, muss die Einnahme bei der Amiodaron-induzierten Hypothyreose nicht beendet werden (8, 10). Wegen der zugrunde liegenden Kardiopathie wird allgemein empfohlen die Thyroxinsubstitution der manifesten
Hypothyreose einschleichend zu beginnen und die Erhal⏐ Jg. 104⏐
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tungsdosis von 1,5 µg LT4/kg KG/Tag nicht zu überschreiten. Unter LT4-Therapie sollte das basale SerumTSH im oberen Normbereich liegen. Die Amiodaron-induzierte subklinische Hypothyreose kann bei fehlender
Klinik eher abwartend kontrolliert werden (Grafik 4).
Amiodarontherapie in der
Schwangerschaft und Stillzeit
Amiodaron ist plazentagängig und tritt in die Muttermilch
über. Hauptgefahren für den Fetus sind Bradykardien, ein
verlängertes QT-Zeitintervall und eine Hypothyreose mit
Struma. Allerdings führte die Therapie von 64 Schwangeren mit Amiodaron lediglich in 3 % der Fälle zu einer Struma und in 17 % zu einer passageren Hypothyreose bei den
Neugeborenen (24). Eine milde symptomarme neurologische Retardierung und leichte Sprachstörungen wurden
bei wenigen Neugeborenen festgestellt. Darüber hinaus
ist, trotz gemessener hoher Konzentration von Amiodaron
und Desethyl-Amiodaron in der Muttermilch, lediglich
bei einem einzigen Säugling eine passagere Hypothyreose
berichtet worden. Nach Absetzen des Präparats normalisierte sich die SD-Funktion des Kindes. Angesichts dieser
Daten und der geringen Nebenwirkungsrate scheint die
Gabe von Amiodaron bei schwangeren Frauen mit lebensbedrohlichen kardialen Arrhythmien und fehlenden wirksamen Alternativpräparaten vertretbar.
Ausblick
In der Erprobung befindet sich eine Substanz mit effektiven und vergleichbaren elektrophysiologischen und arrhythmogenen Wirkungen, die jodfrei ist (Dronedaron).
Im Vergleich zu Amiodaron ist Dronedaron weniger lipophil und hat eine kürzere Halbwertzeit. Klinische Untersuchungen lassen vermuten, dass eine baldige Ablösung von
Amiodaron möglich ist (25).
Danksagung
Für die kritische Durchsicht des Manuskripts und die konstruktiven Kommentare
bedanken sich die Autoren bei allen Mitgliedern der interdisziplinären Sektion
Schilddrüse der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie sehr herzlich.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des
International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 30. 11. 2006; revidierte Fassung angenommen: 8. 8. 2007
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Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. George J. Kahaly
I. Medizinische Universitätsklinik und Poliklinik
55101 Mainz
E-Mail: [email protected]
@
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt.de/english
A 3555
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