Selbstverletzendes Verhalten

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Selbstverletzendes Verhalten:
Eine Bewältigungsstrategie?
Dr. med. Rainer Jung
Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie
Ärztehaus Braunschweig | Fortbildung am 14. September 2011
Auftakt  Bis in die 1980er Jahre hinein galt selbstverletzendes Verhalten als sicherer Hinweis auf eine schizophrene Psychose.
 Zwischen 1980 und 1990 galt selbstverletzendes Verhalten als nahezu sicherer Beweis für eine Borderline‐Persönlichkeitsstörung.
 Nach 1990 galt selbstverletzendes Verhalten zeitweise als sicherer Beweis für das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs.
 Inzwischen wird das Thema in der Fachliteratur umfangreich und differenziert abgehandelt.
Spektrum Selbstschädigung (I)
 Soziokulturelle und psychopathologische Phänomene:
 Sozial akzeptierte Formen
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Schmuck: z. B. Tätowierungen, Piercing
religiös oder soziokulturell motiviert: z. B. Beschneidungen, rituelle Narben  Sozial nicht akzeptierte Formen
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psychopathologische Ursachen
rechtliche Beweggründe: z. B. Vortäuschung einer Straftat
materielle Beweggründe: z. B. Versicherungsbetrug  Physische Schädigung des eigenen Körpers
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durch direkte Verletzungen (Selbstverletzendes Verhalten i. e. S.)
ohne direkte Verletzungen (z. B. Essstörungen oder Suchtmittelkonsum)  Psychische Schädigung der eigenen Person
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bewusstes oder unbewusstes Herbeiführen von negativen Folgen für die eigene Person (intra‐ und interpsychisch)
Spektrum Selbstschädigung (II)
 Psychopathologische Formen:
 „heimliche“ Selbstschädigung
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kritisches Verhalten wird geleugnet
Herstellen einer Krankenrolle bei sich oder bei anderen
Artifizielle Störungen / Factitious Disorders
z. B. Münchhausen‐ und Münchhausen‐by‐proxy‐Syndrom  „offene“ Selbstschädigung
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kritisches Verhalten wird nicht geleugnet
ohne vorrangiges Ziel, die Rolle eines körperlich Kranken zu übernehmen z. B. Eckhardt‐Henn A (1997, 2000)
Selbstverletzendes Verhalten (SVV): Klassifikation
Typ I: Schwere bis lebensbedrohliche Selbstverletzungen
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vorwiegend bei Psychosen und akuten Intoxikationen
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z. B. Selbstamputationen, Selbstkastrationen, Zerstörung der Augen
Typ II: Oberflächliche und mittelschwere Selbstverletzungen
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vorwiegend bei Persönlichkeits‐ und depressiven Störungen, Esserkrankungen sowie PTBS
z. B. Ritzen, Schneiden, Verbrennen, Beißen, Schlagen, Manipulation von Wunden u. v. m.
nach: Favazza AR (1998): The coming of age‐of‐self‐mutilation
Typ III: Stereotype Selbstverletzungen
•
vorwiegend bei geistiger Retardierung, Minderbegabung, Autismus oder Stoffwechseldefekten
•
rhythmisch wiederholte Handlungsmuster wie z. B. sich Beißen, Schlagen, Kratzen, Augen‐, Nase‐ oder Ohrenbohren
SVV (Typ II): Definition
 direkte, offene Verletzung oder Beschädigung des eigenen Körpers
 funktionell motiviert
 Verhalten sozial nicht akzeptiert
 keine direkte Suizidabsicht
SVV: ICD‐10 und DSM‐IV
 keine eigenständige Diagnose in ICD‐10 und DSM‐IV
 nur Erfassung auf Symptomebene
 ICD‐10:
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F60.31: emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline‐Typ
F63.8: sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle
(F68.1: artifizielle Störung)
X60‐X84: vorsätzliche Selbstschädigung
 DSM‐IV:
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301.83: Borderline‐Persönlichkeitsstörung
(300.19: Factitious Disorders)
SVV: Prävalenzen
 Auftreten in allen Altersstufen
 Erwachsene Allgemeinbevölkerung / > 6 Monate / (Typ II): ca. 2 ‐ 5 %
(Jugendliche mehr)
 klinische Populationen gesamt: mindestens 20 % (Jugendliche mehr)
 BPS: > 70‐80 %
 Frauen > Männer (?)
 Beginn häufig 13.‐16. LJ
 Gipfel: 18.‐24. LJ
 ab 30.‐40.LJ oft abnehmend
Übersichten bei: Klonsky ED, Muehlenkamp JJ (2007); Sachsse U (2010)
SVV: Komorbiditäten (Erwachsene)
 Mittlere relative Auftretenshäufigkeit psychischer Störungen bei Patienten mit SVV (Typ II):
 Persönlichkeitsstörungen
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41 %
vorrangig: Borderline‐ und dissoziale PST
 Depressive Störungen
37 %
 Abhängigkeitserkrankungen
16 %
 Angststörungen einschl. PTBS
15 %
 Essstörungen
9 %
Metaanalyse von:
Nitkowski D, Petermann F (2011)
SVV: Aspekte zur Pathogenese
 Besserung einer psychogenen Lähmung nach Muskelbiopsie: Oppenheim H (1889)
 SVV ist Suizidprophylaxe („fokaler Suizid“): Menninger K (1938)
 SVV ist Selbstfürsorge: Sachsse U (1987)
 SVV ist mögliche Folge von Traumatisierung: Sachsse U (1987)
 Viele Arbeiten zentrieren auf:
 Entwicklung eines aversiven Spannungsbogens mit abschließender Entladung durch SVV
 Generelle Schwierigkeiten bei der Affektregulation
 SVV als mögliches Symptom bei verschiedenen stressassoziierten Erkrankungen: Schmahl C, Stiglmayr C (2009)
SVV: Einflussfaktoren
 Bindungsstörungen und Traumatisierung
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Vernachlässigung/Invalidierung , Unterbrechung früher Beziehungen
Missbrauch: psychisch, sexuell, körperlich
 Neurobiologische Faktoren
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Störungen im serotonergen und endogenen Opioid‐System
reduzierte Schmerzwahrnehmung (bei hohem psychischen Spannungsniveau)
 Impulsivität
 Gestörte Emotionsregulation
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krisenhafter innerer Spannungsanstieg „in den roten Bereich“
besonders: Erkennen, Verstehen und Steuern von Affekten
 Erhöhte Dissoziationsneigung
 Mangel an funktionalen Bewältigungsstrategien und Problemlösefähigkeiten
Petermann F, Nitkowski D (2008)
SVV: Bio‐Psycho‐Soziales Modell
Umwelt
Genetik und Neurobiologie
Verhalten
SVV
Kognitionen
Affekte
Engel GL (1977); modifiziert: Linehan M (1996)
SVV: Gewichtung der Funktionen
 Intrapersonelle Motive sind häufiger als interpersonelle Motive!
 Oft mehrere Motive gleichzeitig!
1.
Spannungsreduktion
2.
Reduktion aversiver Affekte / Emotionen
3.
Wiedererlangung von Kontrolle / Beendigung dissoziativer Zustände
4.
Selbstbestrafung
5.
narzisstisches Regulans
6.
Eher nicht zielführend (!): Anstreben von Zuwendung, Hilfsappelle
Übersicht bei: Kleindienst N, Bohus M et al (2008); Sachsse U (2010)
SVV: Teufelskreis – Positive Wirkung nur kurzfristig!
SVV
Kurzfristig: Erleichterung, Drucklinderung.
Anschließend häufig: Schuld‐
und Schamgefühle, Enttäuschung
Langfristig:
Zunehmend negatives Selbstbild
SVV vs. Suizidversuch
 SVV und Suizidalität sind keine sich ausschließenden Gegensätze  SVV‐Impulse sind nicht zwangsläufig Suizidimpulse
 Zentrales Unterscheidungskriterium: Suizidabsicht
 Emotionales Befinden vor der Handlung?
 Motivation oder Funktion der Selbstschädigung?
 Erfolg der Handlung?
 Verwendete Selbstverletzungsmethode bzw. Verletzungsschwere
 Anzahl vergleichbarer Handlungen in der Vergangenheit
 Cave: nicht suizidales SVV kann aus dem Ruder laufen!
 SVV: möglicher Prädiktor für spätere Suizidhandlung (O´Connor u. Sheehy)?
Nitkowski D, Petermann F (2010); O´Connor R, Sheehy N (2000)
Grundprinzipien der Therapie (I)
 Korrekte notfallmedizinische somatische Versorgung
 Akute Suizidalität abklären
 Langfristig: spezifische Psychotherapie
 Keine spezifische Pharmakotherapie verfügbar
 Haltung: gelassene und respektvolle Neugier (Einzeltherapeut, Team)
 Psychiatrisch‐psychotherapeutische Differentialdiagnostik
 Stabile Beziehung – schriftlicher Behandlungsvertrag
 Dynamische Hierarchisierung der Behandlungsziele: Gefährliches zuerst! (unabhängig vom gewählten psychotherapeutischen Verfahren)
 Vermittlung eines individuell nachvollziehbaren Störungsmodells
Grundprinzipien der Therapie (II)
 Praktikabel und gut belegt: Module und Tools der Dialektisch‐
Behavioralen Therapie (DBT) nach Linehan („KVT‐Upgrade“)
 Kompatibilität mit anderen therapeutischen Grundrichtungen gegeben
 SVV ist erlerntes Verhalten und kann durch neue Lernerfahrungen verändert werden
 SVV als Akt der Selbsthilfe würdigen, aber gleichzeitig Verhaltens‐
änderungen auf den Weg bringen („validieren“ und „pushen“).  Handlungsbasiertes Vorgehen (Skillstraining, „Notfallkoffer“)
 Verhaltensanalysen zur Klärung der konkreten Einzelsituation und zur
 Identifikation und Bearbeitung verfestigter automatisierter Denk‐ und Handlungsmuster
 Förderung und Überprüfung von Adhärenz und Commitment; Stärkung von Eigenverantwortung („Entscheidung für einen neuen Weg“)
Linehan M (1996); Bohus M (2000); Schmahl C u. Stiglmayr (2009) Für Betroffene und Therapeuten: SVV ist behandelbar!
Niemals aufgeben!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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