Selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter Fortbildung 07.06.2016 Neumünster, Veranstaltungsreihe Was ist da los? – Was kann ich tun? Prof. Dr. Janine Trunk Definition Selbstverletzendes Verhalten (SVV): Wiederholte offene Verletzungen/Schädigungen des eigenen Körpers (Ritzen, Schneiden, Kratzen, Kopfschlagen), die sozial nicht akzeptiert sind und nicht mit suizidaler Absicht einhergehen (allerdings aufgrund der Schwere der Verletzung in Selbsttötung enden können) Häufigkeit Ca. 2% der Gesamtbevölkerung zwischen 15 und 40 Jahren Bei 5 – 10 % der Psychiatriepatient/innen zählt SVV zu den Symptomen der jeweiligen Erkrankungen (z.B.: Borderline-Persönlichkeitsstörung, Bulimie, Traumatisierung) Beginn und Verlauf Einstiegsalter: 14 Jahre Höhepunkt: zwischen 18 und 24 Jahren Je früher das Einstiegsalter, desto schlechter die Prognose Im mittleren Erwachsenenalter: Abnahme des SVV Psychische Funktionen von SVV bei Jugendlichen a) Selbstregulation Ausdruck, Kontrolle und Regulation von Gefühlen Erleichterung, Beruhigung, Entspannung Abnahme von innerem Druck Glücksgefühle Selbstbestrafung Selbstfürsorge Identität Betroffene können Gefühle oft nicht wahrnehmen, benennen und einschätzen u.a. durch Betrachtung des eigenen Blutes, Umlenkung der Aufmerksamkeit von seelischem auf körperlichen Schmerz diffuse negative Affekte und Verzweiflung (= innere Leere) werden durch SV in sichtbare Form gebracht körpereigene Opiate (Endorphine) werden freigesetzt und lösen „gutes Gefühl“ aus zur Bewältigung von Schuldgefühlen / für die eigene Unzulänglichkeit „büßen“ Wundversorgung als einzige Möglichkeit, sich selbst etwas Gutes zu tun SVV kann helfen, sich das Gefühl zu geben, Belastungen standzuhalten b) soziale Aufmerksamkeit Zuwendung von Bezugspersonen Regulation von Nähe und Distanz Gruppenzugehörigkeit SVV wirkt manipulativ, um Betroffene denken teilw., nur durch aktive Schädigung des eigenen Körpers Aufmerksamkeit & Zuwendung zu erhalten Konflikt im Sinne von „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“ einzelne Gruppen haben hohes Bedürfnis nach Autonomie und Originalität Interessen durchzusetzen nicht verlassen zu werden Konflikte zu beenden / sich zu versöhnen SVV wirkt nur auf der Ebene der Symptome (Verringerung negativer Zustände), hinter dem SVV stehende Probleme werden durch das Verhalten verdrängt *Fortbildung zu Selbstverletzendem Verhalten im Jugendalter* 07.06.2016 Neumünster Prof. Dr. J. Trunk* Ursachen und Risikofaktoren für SVV Psychosoziale Einflüsse, frühe familiäre Sozialisation Biologische Einflussfaktoren Frühe Traumatisierungen infolge körperlichen, emotionalen Genetische Faktoren wie oder sexuellen Missbrauchs Temperament bildet die Grundlage für Verlust wichtiger Bezugspersonen Emotionsregulierung und Entwertung (Invalidierung) kindlicher Bedürfnisse und Stresstoleranz Gefühle oder Abwertung und Zurückweisung des Kindes durch nahe Bezugspersonen eigene emotionale Reaktionen werden unterdrückt Kinder/Jugendliche entwerten sich selbst Gefühle wie Schuld und Scham bei Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und Gefühle steigen und behindern damit die angemessene Auseinandersetzung mit Problemen aufgrund permanenter Selbstverachtung werden keine korrigierenden Lernerfahrungen gemacht Auslöser für SVV Hormonelle Veränderungen in der Pubertät Entwicklungsaufgaben o Eingehen und Aufrechterhalten von Beziehungen zum anderen Geschlecht o Bewältigung schulischer/beruflicher Anforderungen Leben unter schlechten sozialen Bedingungen (z.B. ungünstiges Familienklima) Das „erste Mal“ Erste Verletzungen, bei denen Betroffene den spannungslindernden und stimmungserhellenden Effekt feststellen, sind Abbildung: Bedingungsmodell zum SVV im Jugendalter häufig zufällig und unbeabsichtigt (modifiziert nach Petermann & Winkel, 2009; S. 111) Oft sind Freund/innen Modelle Ist SVV einmal als Strategie der Emotionsregulation und Problembewältigung entdeckt, wird es in der Regel schnell zur festen Gewohnheit Folgen von SVV Kurzfristige angenehme Folgen Abnahme von emotionaler Anspannung, negativer Gefühle und dissoziativer Zustände Euphorische Stimmung (induziert durch körpereigene Endorphine) Aufmerksamkeit von Bezugspersonen Langfristige negative Folgen Schuld und Versagen Kosmetische und gesundheitliche Folgeprobleme (Infektionen / Narben) Negative Reaktionen der Umwelt Fehlen konstruktiver Lösungen eigener Probleme, die durch SVV nur kurzfristig aus dem Bewusstsein gehoben werden Es resultiert ein Teufelskreis aus dem Verlangen nach den angenehmen Wirkungen von SVV und dem Bestreben, anschließende negative Gefühle schnell wieder loszuwerden 2 *Fortbildung zu Selbstverletzendem Verhalten im Jugendalter* 07.06.2016 Neumünster Prof. Dr. J. Trunk* Frühwarnsignale Tragen von langärmeliger Kleidung auch im Sommer und beim Sport Weigerung bei Aktivitäten wie Schwimmen und Baden teilzunehmen Weigerung, gemeinsame Wasch- und Umkleiden zu benutzen Häufiges und lange andauerndes Einschließen im eigenen Zimmer oder im Bad Heimliches Aufbewahren oder Mitführen von z.B. Rasierklingen, Messern, Scheren, Scherben, Nadeln, Chemikalien Heimliches Aufbewahren von Utensilien zur Wundversorgung (Desinfektions-/Verbandmaterial,…) Verletzungen, Verbrennungen, Kratzer und Narben, für die es keine plausible Erklärung gibt meist an für die Person leicht zugänglichen Körperstellen (vor allem Extremitäten) am nicht dominanten Arm sind Narben gehäuft, sie können aber auch beide Arme sowie Bauch, Brust, Beine, Genitalien oder das Gesicht von Narben übersät sein langsame und schlechte Heilung, weil die Betroffenen die Wundheilung stören Muster aus zahlreichen Schnitten in unterschiedlichem Grad der Abheilung Bagatellisierung der Gründe für die Wunden, wie z.B. Folge von Unfällen Im Internet gibt es einen Test, mit dem die Einschätzung der SV bei Jugendlichen durch Lehrkräfte/ Schulsozialarbeiter/innen und Eltern erleichtert wird: http://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.de/ritzen/ Interventionsmöglichkeiten Was tun – Basics In der Arbeit mit Jugendlichen: Eigene authentische Haltung zu SVV entwickeln SVV sollte weder dramatisiert noch tabuisiert werden – SSV nicht als Sondersituation behandeln!! Offen SVV ansprechen Verständnis für die Dynamik hinter SVV und individuelle Belastung der Jugendlichen anerkennen Im Rahmen der Möglichkeiten: Weitere Gespräche und Unterstützung anbieten aber: keine bedingungslose Unterstützung! Mögliche Fragen: Wie war das Erleben vor der Selbstverletzung? Was hat den Druck verursacht? Wie fühlte sich die Person danach? Absprachen für gefährliche Situationen oder Zeiten treffen, Notfallkoffer packen Auf eigene Grenzen und Belastung achten! Was tun – in case of emergency RUHE BEWAHREN!! Wundversorgung (ggf. mit ärztlicher/medizinischer Unterstützung) Eltern/Freund/innen informieren Trennung von Handlung (SVV) und Person (betroffene/r Jugendliche/r) wichtig!! Falls die Versorgung aus persönlichen Gründen schwerfällt: Betonen, dass es sich nicht um Ablehnung der Person handelt! Therapiemöglichkeiten Rein medizinische Interventionen inklusive Medikation Psychologische Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie [kVT], systemische Familientherapie [sFT], tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie [tfP]) Traumatherapie Integratives stationäres Therapiekonzept Durch Medikamente, Kontrolle und Fixierungen wird das Symptom SVV unterdrückt kVT: Betroffene sollen bewusste Affektkontrolle und alternative Problemlösestrategien lernen sFT: SVV als Ausdruck eines ungünstigen Familiensystems tfT: SVV als Ausdruck eines Konfliktes; Ziel ist es, diesen Konflikt und dahinterstehende Mechanismen aufzudecken Traumabearbeitung Bei schwerem SVV und komorbider psychischer Störung Wichtige Rolle der Schulsozial/- und Jugendarbeit: Informationen geben und Betroffene zu den Beratungsstellen vor Ort begleiten, ggf. in Einzelfällen: Skills-Training nach Linehan 3 *Fortbildung zu Selbstverletzendem Verhalten im Jugendalter* 07.06.2016 Neumünster Prof. Dr. J. Trunk* (Fach)-Literatur zu SVV Ackermann, Stefanie (2002): Selbstverletzung als Bewältigungshandeln junger Frauen. 2. Auflage, Mabuse-Verlag. Bergmann, Wolfgang (2004): Das Drama des modernen Kindes. Hyperaktivität, Magersucht, Selbstverletzung. 2. Auflage, Walter-Verlag. Bühler-Baumann, Lilianne (2004): Selbstverletzung in der weiblichen Adoleszenz. Funktionen selbstverletzenden Verhaltens und Konsequenzen für die Soziale Arbeit. Edition Soziothek. Levenkron, Steven (2001): Der Schmerz sitzt tiefer. Selbstverletzung verstehen und überwinden. 4. Auflage, Kösel-Verlag. Petermann, Franz / Winkel, Sandra (2009): Selbstverletzendes Verhalten - Erscheinungsformen, Ursachen und Interventionsmöglichkeiten. 2. Auflage, Hogrefe-Verlag. Sachsse, Ulrich (2002): Selbstverletzendes Verhalten - Psychodynamik-Psychotherapie, das Trauma, die Dissoziation und ihre Behandlung. 7. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht Schoppmann, Susanne (2003): „Dann habe ich ihr einfach meine Arme hingehalten" Selbstverletzendes Verhalten aus der Perspektive der Betroffenen. Huber-Verlag. Smith, Gerrilyn (2001): Selbstverletzung - Damit ich den inneren Schmerz nicht spüre... Ein Ratgeber für betroffene Frauen und ihre Angehörigen. Kreuz-Verlag. Tauber, Kristin (1998): Ich blute also bin ich: Selbstverletzung der Haut bei jungen Mädchen und Frauen. Centaurus-Verlag. Romane/Jugendliteratur Dunker, Kristina (2009): Schmerzverliebt. Beltz-Verlag. Bates, Dianne (2010): Liebt mich! Planet Girl Verlag. Fröse, Deborah (2009): In meiner Haut. Beltz-Verlag. Brugmann, Alyssa & Günther Herbert (2009): Solo. Deutscher Taschenbuch Verlag. Abens, Anja (2010): Schnittstellen- Warum ich mich immer selbst verletzen musste. Bastei Verlag. Grassl, Phillipp (2009): Wunden im Dunkeln- Narben im Hell. Books on Demand. Einführung zum Skill-Training: http://www.skillsshop.ch/home.html und Fach Bücher von Marsha M. Linehan sowie von Martin Bohus. Manual für die Arbeit mit selbstverletzenden Jugendlichen: Fleischhaker, C., Sixt, B. & Schulz, E. (2011). DBT-A: Dialektisch-behaviorale Therapie für Jugendliche: Ein Therapiemanual mit Arbeitsbuch auf CD. Berlin/Heidelberg: Springer. Links zu SVV http://www.rotetraenen.de/ http://verstecktescham.de/svv http://rotelinien.de/start.html http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_Haeufige_Probleme/s_3488.html Zugrundegelegte Fachliteratur in der Fortbildung: Brunner, R. & Schmahl, C. (2012). Nicht-suizidale Selbstverletzung (NSVV) bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Kindheit und Entwicklung, 21 (1), 1-5. Brunner, R., Parzer, P., Haffner, J., Stehen, R., Roos, J., Klett, M. & Resch, F. (2007). Prevalence and psychological correlates of occasional and repetitive deliberate self-harm in adolescents. Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine, 161, 641-649. Feselmayer, S. & Andorfer, U. (2009). Trauma und Sucht. Selbstverletzung versus Selbstfürsorge. Psychopraxis, 6, 16-21. Frank, R. (2005). Selbstverletzendes Verhalten. Monatsschrift Kinderheilkunde, 153, 1082-1086. Holtmann, M., Bölte, S. & Poustka, F. (2006). Suizidalität bei depressiven Kindern und Jugendlichen unter Behandlung mit selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern. Nervenarzt, 77, 1332-1337. Killus, J. (2008). Selbstverletzendes Verhalten. Fachzeitschrift Aktion Jugendschutz, 44 (3), 4-13. Küchenhoff, J. & Agarwalla, P. (2012). Körperbild und Persönlichkeit. Berlin/Heidelberg: Springer. Linehan, M. (1996, 2007). Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. München: CIP-Medien. Ludäscher, P., Greffrath, W. C., Schmahl, C., Kleindienst, N., Kraus, A., Baumgärtner, U., Magerl, W., Treede, R.-D. & Bohus, M. (2009). A cross-sectional investigation of discontinuation of self-injury and normalizing pain perception in patients with borderline personality disorder. Acta Psychiatrica Scandinavica, 120, 62-70. Nock, M.K. (2009). Why do people hurt themselves? New insights into the nature and functions of self-injury. Current Directions in Psychological Science, 18, 78-83. Nock, M.K. (2010). Self-injury. Annual Review of Clinical Psychology, 6, 339-363. Oerter, R. & Dreher, E. (2008). Jugendalter. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (6., vollst. überarb. Aufl., Kap. 8, S. 271-332). Weinheim: Beltz. Petermann, F. (2012). Selbstverletzendes Verhalten. Kindheit und Entwicklung, 21 (1), 1-4. Petermann, F. & Winkel, S. (2009): Selbstverletzendes Verhalten - Erscheinungsformen, Ursachen und Interventionsmöglichkeiten. 2. Auflage. Göttingen: Hogrefe. Preiß, D. (2008). Perspektiven für Mädchen bei selbstverletzendem und aggressivem Verhalten. Fachzeitschrift Aktion Jugendschutz, 44 (3),14-19. Plener, P. L., Kaess, M. Bonenberger, M., Blaumer, D. & Spröber, N. (2012). Umgang mit nicht-suizidalem Verhalten (NSVV) im schulischen Kontext. Kindheit und Entwicklung, 21 (1), 16-22. Rauber, R., Hefti, S., In-Albon, T. & Schmid, M. (2012). Wie psychisch belastet fühlen sich Jugendliche mit selbstverletzendem Verhalten? Kindheit und Entwicklung, 21 (1), 23-39. Walsh, B.W. (2006). Treating self-injury. New York: Guilford. 145 4