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Allgemeine Psychologie in Klinik
und Forschung
N. Birbaumer und P. Pauli
D-3
EINLEITUNG
In einem Experiment über die nicht-bewusste Wirkung von Emotionen wurden den männlichen
Versuchspersonen für 15 ms negative (z. B. Spinnen, Schlangen) und positive (z. B. unbekleidete
Mädchen) Bilder dargeboten. Bei einer Darbietungszeit von 15 ms kann man diese Bilder bewusst
nicht erkennen. Als Vergleichsreize wurden dieselben Bilder ± durch Zuschneiden unkenntlich
gemacht ± für 15 ms dargeboten. Unmittelbar nach jedem Bild wurde für 200 ms ein positives,
negatives oder zerschnittenes Bild dargeboten, das man leicht erkennen konnte (Maskierungsreiz).
Danach stuften die Versuchspersonen den affektiven Gehalt (Valenz) der bewusst erkannten Bilder
ein. In den Ergebnissen dieses Experiments des schwedischen Emotionsforschers Arne Öhman wurde
deutlich, dass die subjektiven Einstufungen der Valenz deutlich vom emotionalen Gehalt der
(unbewusst) schnell dargebotenen Bilder beeinflusst waren. Wenn z. B. ein negatives Bild vor einem
positiven Bild dargeboten wurde, schwächte dies den positiven Eindruck ab. Besonders stark
wirkten evolutionär wichtige negative Reize (¹prepared-Reizeª) wie Spinnen und Schlangen.
p
p
PH
3.1
Wahrnehmung
PS
l l l Die Wahrnehmungspsychologie
untersucht die Gesetzmäûigkeiten, die
zwischen Sinnesreizen und den bewussten
Empfindungen, Wahrnehmungen
und Verhaltensweisen bestehen
Sinnesorgane sind darauf spezialisiert, auf bestimmte Umweltreize zu reagieren. Über die Prozesse der Transduktion
und Transformation (Abschn. B-9.6) wird die Energie, die
von bestimmten Umweltreizen ausgesendet wird, von den
Sinnesorganen in neuronale Aktivität umgewandelt und ans
ZNS weitergeleitet.
Der proximale Reiz entspricht der physikalischen Energie,
die auf unsere Sinnesorgane einwirkt. Der distale Reiz dagegen entspricht dem Objekt in der wirklichen Welt.
Ein entferntes Haus beispielsweise nimmt man als ein dreidimensionales Objekt wahr, das eine bestimmte Höhe, Breite und
Tiefe hat. Die physikalische Energie, die als Lichtmuster auf die
Netzhaut fällt, ist aber zweidimensional. Der zweidimensionale
proximale Reiz wird durch Empfindungs- und Wahrnehmungsprozesse zu einem dreidimensionalen distalen Reiz verarbeitet.
Traditionell wird zwischen Empfindung (engl. sensation) und
Wahrnehmung (engl. perception) unterschieden (s. Abb. 3±
1). Empfindungen sind einfache Einheiten der Sinneserfahrung, z. B. Helligkeit, Farbe, Wärme. Wahrnehmung bezieht
a
Abb. 3-1. (a) Der Unterschied zwischen
Empfindung und Wahrnehmung. Schauen
Sie das Bild mindestens 15 Sekunden an,
um herauszufinden, was es darstellt. Wenn
Sie nichts erkennen können, so erleben Sie
den Unterschied zwischen Empfindung
und Wahrnehmung. Schauen Sie nun Teil
(b) dieser Abbildung auf der nächsten
Seite an, und dann wieder das Bild hier.
Was nehmen Sie nun wahr? Hier hat
Wahrnehmungslernen stattgefunden.
Nach Sekuler, Blake, 1990 in Bourne LE,
Russo RF. Psychology. W. Norton, New
York (1998) S. 135
3.1 Wahrnehmung
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b
sich auf die Deutung der Sinnesempfindungen, ein Bezug
auf Erfahrenes und Erlerntes wird hergestellt.
werden kann, wohl aber von einem Vergleichgewicht von 53 g,
ist die Unterschiedsschwelle hier 3 g.
Das Einnehmen eines Medikaments kann die Empfindungen
¹bitterª und ¹sauerª auslösen. Die dazugehörige Wahrnehmung
ist ¹Ich nehme ein scheuûliches Medikament ein.ª
Weber stellte nun fest, dass ein systematischer Zusammenhang zwischen Unterschiedsschwellen und absoluten Reizgröûen besteht. So können 50 g gerade von 53 g unterschieden werden, 100 von 106, 200 von 212 etc. Der gerade eben
merkliche Unterschied zwischen 50 und 53 g entspricht dem
zwischen 100 und 106 g usw.
Die Weber-Regel besagt, dass die Unterschiedsschwelle
(DE) proportional dem relativen Reizzuwachs (DS/S) ist:
Jede Empfindung hat vier Grunddimensionen:
· Räumlichkeit. Ort der Reizempfindung bezogen auf die
Raumstruktur des Körpers.
· Zeitlichkeit. Beginn und Ende der Empfindung.
· Qualität. Innerhalb jeder Sinnesmodalität gibt es verschiedene Qualitäten, z. B. beim Sehen die Grauwerte und
die Farben Rot, Grün und Blau, beim Gehör die Tonfrequenz, beim Geschmackssinn die Qualitäten süû, sauer,
salzig und bitter.
· Intensität. Die Intensität oder Quantität einer Empfindung
ist z. B. beim Gehör die Lautstärke oder beim Sehen die
Stärke der Helligkeit.
l l l Die Psychophysik ist Teil der
Wahrnehmungspsychologie;
sie untersucht die quantitative Beziehung
zwischen physikalischer Reizgröûe
und subjektiver Empfindungsgröûe
Unterschiedsschwellen. Sie entsprechen dem Reizzuwachs,
der nötig ist, um eine gerade merkliche Empfindungsveränderung auszulösen. Man spricht auch vom Differenzlimen
oder vom ¹gerade eben merklichen Unterschiedª (jnd ± siehe
Abb. 3±2 von just noticeable difference). Unterschiedsschwellen wurden erstmals von Ernst Weber im Jahre 1834 untersucht. Es werden zwei Reize dargeboten, und der Proband
muss entscheiden, ob sich diese unterscheiden oder nicht.
Beispielsweise werden dem Probanden zur Bestimmung der Unterschiedsschwellen der Gewichtswahrnehmung zwei Gewichte
auf die Hand gelegt, und er muss entscheiden, ob diese gleich
viel wiegen oder nicht. Da ein Standardgewicht von 50 g nicht
von einem Vergleichsgewicht von 51 oder 52 g unterschieden
38
Abb. 3-1 b
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D
DE S
S
In unserem Beispiel ergibt sich eine Unterschiedsschwelle
von 0,06 3/50 oder 6/100 oder 12/200.
Die Weber-Regel zeigt, dass Sinne wie flexible Messapparaturen funktionieren, deren Empfindlichkeit automatisch an
die Messgröûe angepasst wird. Die Weber-Regel gilt für alle
Arten von Sinnesempfindungen (z. B. Gewicht, Gröûe, Helligkeit, Geschmack), die aber verschiedene Unterschiedsschwellen haben.
Unterschiedsschwellen eignen sich zur neurologischen Prüfung
der Hautsensibilität, etwa um Erkrankungen peripherer Nerven
(z. B. diabetische Neuropathie) festzustellen. Bei der simultanen
Raumschwellenbestimmung werden die abgestumpften Spitzen
eines Stechzirkels mit unterschiedlichem Abstand auf die Haut
gesetzt. Gesucht wird der minimale Abstand zwischen den Spitzen, bei dem die beiden Reizpunkte gerade noch als getrennt
wahrgenommen werden. Abnorme Unterschiedsschwellen sprechen für eine gestörte Hautsensibilität.
Psychophysische Skalen. Gustav Theodor Fechner hat 1860,
basierend auf der Weber-Regel, psychophysische Skalen
konstruiert, die die Beziehung zwischen der Intensität der
Empfindung und der Reizstärke beschreiben. Die Unterschiedsschwellen wurden wie psychologisch gleiche Intervalle behandelt.
Fechner hat anhand von Unterschiedsschwellen den Zusammenhang zwischen Reiz- und Empfindungsstärke ermittelt (Abb.
deutet, dass die Empfindungsintensität normalerweise langsamer zunimmt als die Reizintensität.
Bei der Schmerzempfindung dagegen nimmt die Empfindungsintensität schneller zu als die Reizintensität, der Exponent ist n ˆ 2,1. Dies bedeutet funktionell, dass eine
Schmerzempfindung ungefähr mit dem Quadrat der Reizstärke wächst. Bei schmerzhaften Reizen bewirkt also eine Verdopplung der Reizintensität ungefähr eine Vervierfachung
der Schmerzempfindung (Abb. 3-3).
Abb. 3-2. Nach dem Weber-Fechner-Gesetz folgt der Zusammenhang zwischen Empfindungsstärke (in Differenzschwellen)
und Reizstärke einer logarithmischen Funktion. jnds = just noticeable differences
3-2). Beispielsweise wird ein erster gerade wahrnehmbarer Reiz
(absolute Schwelle) als Standardreiz präsentiert (z. B. ein Gewicht von 10 g). Im nächsten Schritt wird nun ein Vergleichsreiz
bestimmt, der sich gerade eben merklich davon unterscheidet
(z. B. 11 g). Dieser Gewichtsreiz dient nun als Standardreiz, und
im nächsten Schritt wird der nächste Vergleichsreiz bestimmt,
der sich feststellbar davon unterscheidet (z. B. 13 g).
Das Weber-Fechner-Gesetz besagt, dass die Empfindungsstärke E dem Logarithmus der Reizstärke S proportional ist.
E log S
Eine relative Zunahme der physikalischen Reizstärke bedingt
also im Bereich schwacher Reize eine starke Zunahme in der
Empfindungsstärke, im Bereich starker Reize aber nur geringe Veränderungen in der Empfindungsstärke (Abb. 3-2).
Etwa 100 Jahre später wurde das Weber-Fechner-Gesetz
von S. Stevens experimentell überprüft und ± zumindest für
den mittleren Reizstärkebereich ± bestätigt. Bei sehr groûen
und sehr kleinen Reizstärken hat er aber Diskrepanzen zwischen den experimentellen Befunden und den Vorhersagen
des Weber-Fechner-Gesetzes beobachtet.
Absolute Schwellen. Unter Reiz- oder Absolutschwellen versteht man diejenige minimale Reizintensität, die gerade eben
noch eine Empfindung hervorruft. Da derselbe schwellennahe Reiz aber manchmal wahrgenommen wird und manchmal
nicht, sind mehrere Messdurchgänge zur Schwellenbestimmung notwendig. Diese Variabilität ist wahrscheinlich darauf
zurückzuführen, dass jeder Sinneskanal auch ohne externe
Reize eine gewisse variable Spontanaktivität hat. In Abhängigkeit von der Stärke dieses spontanen ¹Rauschensª wird
dann derselbe schwache Reiz manchmal wahrgenommen
oder nicht.
l l l Die Absolutschwelle ist die Reizintensität,
bei der 50 % der Reize wahrgenommen
werden
Absolute Schwellen können mit der Grenz- oder der Konstanzreizmethode bestimmt werden. Bei der Grenzmethode
werden Reize in kleinen Schritten von deutlich unterschwellig zu deutlich überschwellig (oder umgekehrt) präsentiert.
Bei der Konstanzreizmethode dagegen werden Reize, die von
überschwellig bis unterschwellig reichen, in zufälliger Reihenfolge dargeboten. In beiden Fällen gibt der Proband an,
ob er einen Reiz wahrgenommen hat oder nicht.
Die Hörschwelle wird mit der Grenzwertmethode bestimmt, indem Töne von nicht hörbar bis deutlich hörbar schrittweise lauter werden. Wird die Tonserie z. B. 20-mal wiederholt, so werden
einige Töne nie wahrgenommen, manche immer, und einige
Töne werden nur manchmal wahrgenommen. Die Absolutschwelle entspricht der Reizintensität, die in 10 Messdurchgän-
l l l Der Zusammenhang zwischen
Empfindungs- und Reizstärke kann
durch die so genannten StevensPotenzfunktionen beschrieben werden
Stevens-Potenzfunktion. Danach ist die Empfindungsstärke
E eine Potenzfunktion der Reizintensität S, wobei k eine beliebige Variable ist.
E k (S)n
Empfindungen sind entsprechend dieser Exponentialgleichungen gesetzmäûig mit den physikalischen Eigenschaften
des Reizes verbunden, der sie hervorruft. Bei n ˆ 1 ist die
Empfindung direkt proportional der Reizstärke. Der Exponent n ist für jede Sinnesdimension anders und normalerweise < 1 (Helligkeit 0,50, Geräuschempfindung 0,41). Dies be-
Abb. 3-3. Stevens-Potenzfunktionen für verschiedene Reizdimensionen, hier Helligkeit und elektrische Schmerzreize
3.1 Wahrnehmung
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gen zu einer Wahrnehmung führte, in den andern 10 Messdurchgängen aber nicht.
Absolutschwellen werden durch Antworttendenzen beeinflusst. Eine Person kann die Tendenz haben (absichtlich oder
unabsichtlich) anzugeben, einen Reiz erkannt zu haben oder
nicht erkannt zu haben. Dadurch wird die Absolutschwelle
unter- oder überschätzt.
Bei einem Fluglotsen soll die Fähigkeit zur Wahrnehmung von
Lichtpunkten auf einem Bildschirm untersucht werden. Die absolute Wahrnehmungsschwelle für Lichtpunkte kann mit der
Konstanzreizmethode untersucht werden, indem Lichtpunkte,
die in der Intensität von unter- bis überschwellig reichen, in zufälliger Reihenfolge gezeigt werden. Der Proband muss jeweils
entscheiden, ob er etwas gesehen hat oder nicht. Um eine gute
Wahrnehmungsleistung zu erreichen, die für seinen Beruf Voraussetzung ist, könnte der Fluglotse die Antworttendenz haben,
oft ¹Punkt gesehenª zu sagen, obwohl er sich nicht sicher war.
Diese Antworttendenz bedingt eine Unterschätzung der Wahrnehmungsschwelle.
l l l Wahrnehmung ist nicht nur eine
Funktion der Stärke eines Reizes,
sondern hängt auch von einem
Entscheidungsprozess ab
Signalentdeckungstheorie. Mit der Signalentdeckungstheorie (SDT von signal detection theory) lassen sich Empfindungs- und Entscheidungsprozesse (bzw. Antworttendenzen)
gleichzeitig erfassen. Ein physikalischer Reiz, der auf ein
Sinnesorgan trifft, löst eine Impulsaktivität aus. Jeder Sinneskanal hat aber auch eine Spontanaktivität, die ohne von
auûen ankommende Reize besteht. Aufgrund dieses Rauschens kann bei schwachen Reizen nicht ohne weiteres entschieden werden, ob eine leichte Zunahme in der Impulsaktivität durch einen Reiz oder durch die Spontanaktivität bedingt ist. Die Entscheidung, ob ein Signal vorhanden ist oder
nicht, erfolgt nach einem bestimmten Kriterium, ab dem ein
bestimmter Erregungszustand als reizbedingt angesehen
wird. Man spricht vom Entscheidungs- oder Reaktionskriterium (engl. response bias).
Eine SDT-Untersuchung basiert darauf, dass der Proband
in jedem Untersuchungsdurchgang entscheiden muss, ob ein
Reiz vorhanden war oder nicht, wobei der Reiz im typischen
Fall nur in der Hälfte der Durchgänge präsentiert wird. Sind
die Reize überschwellig, ist diese Aufgabe einfach. Liegen die
Reize aber im Bereich der absoluten Schwellen, wird die Entscheidung schwieriger.
Im Falle des Fluglotsen könnten Empfindungs- und Entscheidungsprozesse untersucht werden, indem ein schwacher Lichtpunkt in 50 % der Untersuchungsdurchgänge präsentiert wird
und in 50 % der Durchgänge nicht. Bei der Aufgabe ist jeweils
zu entscheiden, ob der Lichtpunkt wahrgenommen worden ist
oder nicht. Hier gibt es nun zwei Fehlerarten: Ein falscher Alarm
(false alarm) bedeutet, der Proband sagt ¹Ja, ich habe einen
Lichtpunkt gesehenª, obwohl keiner vorhanden war. Eine Auslassung (miss) bedeutet, er sagt ¹Nein, ich habe nichts gesehenª,
obwohl der Lichtpunkt vorhanden war. Auûerdem gibt es zwei
Arten von korrekten Antworten: Ein Treffer (hit) liegt vor, wenn
er sagt ¹Ja, der Lichtpunkt war daª und er war vorhanden, und
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Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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Abb. 3-4 a±c. Antwortmuster nach der Signalentdeckungstheorie in Abhängigkeit von Antworttendenzen
eine korrekte Zurückweisung (correct rejection) bedeutet, er sagt
¹Nein, kein Lichtpunktª, und es war auch keiner vorhanden.
Die Sensitivität, also die Genauigkeit der Wahrnehmung,
wird durch Verrechnung der Treffer und der falschen Alarme
bestimmt. Hohe Sensitivität ist durch viele Treffer und wenige falsche Alarme gekennzeichnet. Absolute Schwellen werden nicht bestimmt. Das Entscheidungskriterium lässt sich
durch eine Betrachtung aller vier Antwortkategorien bestimmen (Abb. 3-4 a±c).
Entscheidungsprozesse bei der Schwellenmessung. Die SDT
hat klar gezeigt, dass subjektive Entscheidungsprozesse (bzw.
Antworttendenzen) das Ergebnis von Schwellenmessungen
mitbestimmen. Motivationen, Training, Erwartungen und
weitere psychologische Faktoren können das Entscheidungskriterium und damit Wahrnehmungsprozesse beeinflussen.
In Abhängigkeit von diesen Faktoren entscheidet man eher
konservativ ± gibt also nur an, etwas wahrgenommen zu haben, wenn man sich sicher ist ± oder nicht.
Mit der Signalentdeckungstheorie kann untersucht werden, wie
genau und mit welchen Antworttendenzen z. B. Radiologen
Röntgenbilder befunden. Bei jedem Röntgenbild muss entschie-
den werden, ob ein ¹Schattenª auf dem Bild einen Tumor
(¹Signalª) oder die normale Körperanatomie (¹Rauschenª) wiedergibt. Beispielsweise könnte Radiologe A fast alle Tumoren erkennen, während Radiologe B im Vergleich dazu einige mehr
übersieht.
Die SDT zeigt aber, dass das Wissen über die ¹Hit-Rateª der
beiden Radiologen nicht genügt, um ihre diagnostische Genauigkeit (Sensitivität) beurteilen zu können. Erst die zusätzliche
Kenntnis der false alarms, also wie häufig Krebs diagnostiziert
wurde, ohne dass er vorlag, ermöglicht eine Abschätzung der
Diagnosesensitivität. Beim Radiologen A beispielsweise könnte
die hohe Hit-Rate mit einer gleichzeitig hohen False-Alarm-Rate
einhergehen, seine diagnostische Genauigkeit wäre also
schlecht.
Die beiden ¾rzte könnten auch aufgrund unterschiedlicher
Motivationen unterschiedliche Entscheidungskriterien haben.
Arzt A will eventuell auf keinen Fall einen Tumor übersehen,
während Arzt B auf keinen Fall einen Patienten mit einem falschen Krebsverdacht belasten will.
Durch Schulungen mit dem Ziel der Qualitätssicherung kann
erreicht werden, dass die Entscheidungskriterien ± und damit
auch die Hit- und False-Alarm-Raten ± verschiedener ¾rzte einem Qualitätsstandard entsprechen.
l l l Als Wahrnehmung werden jene Vorgänge
bezeichnet, die einer Sinnesempfindung
Bedeutung verleihen.
Die Prozesse der Wahrnehmungsorganisation führen zur inneren
Repräsentation eines wahrgenommenen
Objekts
Abb. 3-5. Die Kontur entsteht hier durch den Helligkeitsunterschied. Da die Kontur eine Fläche einschlieût, wird eine Figur
vor einem Hintergrund wahrgenommen. Ob aber eine Vase oder
zwei Gesichter vor einem formlosen Hintergrund wahrgenommen werden, hängt von den Fixierungen des Beobachters auf
die Konturen ab
Prozesse der Wahrnehmungsorganisation. Der Prozess der
Wahrnehmungsorganisation beinhaltet die Wahrnehmung
von Form, Gestalt, Tiefe und Bewegung sowie die so genannte Wahrnehmungskonstanz.
Formwahrnehmung. Veränderungen in Helligkeit, Farbe oder
Textur werden als Konturen wahrgenommen. Eine Form oder
Figur entsteht, wenn die Kontur eine Fläche einschlieût. Der
Hintergrund einer Figur dagegen wird als mehr oder weniger
formlos wahrgenommen. Was als Figur oder als Hintergrund
wahrgenommen wird, hängt aber vom Verhalten des Beobachters ab (Abb. 3-5).
Gestaltwahrnehmung. In vielen Fällen wird eine Figur aber
auch wahrgenommen, obwohl die Kontur die Figur nicht
vollständig umschlieût (Abb. 3-6). Man spricht hier von Gestaltwahrnehmung als einem Prinzip der Wahrnehmungsorganisation.
Die Gestaltpsychologie, die Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt wurde, hat die Regelhaftigkeit der visuellen Wahrnehmung nachgewiesen. Ein
grundlegendes Prinzip der Wahrnehmungsorganisation ist
das der Prägnanz oder der ¹guten Gestaltª. Es besagt, dass
Reize so wahrgenommen werden, als wären sie nach möglichst einfachen Organisationsprinzipien aufgebaut (Abb. 37). Weitere Gestaltprinzipien sind:
Abb. 3-6. Die Figur ¹Dreieckª wird als Gestalt wahrgenommen,
obwohl die Konturen nur ansatzweise vorhanden sind
· Prinzip der Nähe. Elemente, die näher beieinander sind, werden als zusammengehörend wahrgenommen.
· Prinzip der ¾hnlichkeit. ¾hnliche Elemente werden als Teil
derselben Figur wahrgenommen.
· Prinzip der Konturergänzung oder Geschlossenheit. Fehlende
Konturen werden ergänzt, so dass eine vollständige Figur entsteht.
3.1 Wahrnehmung
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Abb. 3-7. Einige Gestaltprinzipien. (a) Nach dem Prinzip der
Nähe werden beieinander befindliche Objekte als zusammengehörend wahrgenommen, hier als acht XX-Paare und nicht 16 eigenständige X. (b) Nach dem Prinzip der ¾hnlichkeit werden
identische oder ähnliche Objekte als zusammengehörend wahrgenommen, hier also Reihen von X und O. (c) Nach dem Prinzip
der Konturergänzung werden unvollständige Figuren meist ausgefüllt, hier also trotz gestrichelter Linie ein Kreis wahrgenommen. Nach Bourne LE, Ekstrand B. Einführung in die Psychologie. D. Klotz, Eschborn (1992) S. 103
l l l Die Wahrnehmung von Entfernung und
Tiefe basiert auf Informationen aus dem
Netzhautbild jeden Auges allein
(monokulare Tiefeninformation) und auf
Informationen, die nur durch beide Augen
gleichzeitig erfasst werden können
(binokulare Tiefeninformation)
Tiefenwahrnehmung. Das Netzhautabbild visueller Reize ist
zweidimensional, die Wahrnehmung der Umwelt ist aber
dreidimensional.
Monokulare Tiefeninformation basiert auf Überlappung,
Gröûe, Schattierung, Texturgradient und linearer Perspektive
(Abb. 3-8). Diese Tiefeninformationen werden in der Malerei
eingesetzt, um räumliche Bilder entstehen zu lassen.
Die so genannte parallaktische Verschiebung liefert ebenfalls monokulare Tiefeninformation, wird aber durch Bewegung erzeugt. Es handelt sich hier um eine scheinbare Bewegung von Objekten, die entsteht, wenn sich der Beobachter
bewegt. Schaut man beispielsweise aus einem fahrenden
Zug, so scheinen sich die näheren Objekte schneller zu bewegen als die entfernten Objekte. Dieser Effekt entsteht auch,
wenn man beispielsweise den Kopf hin und her bewegt. Ursache ist, dass sich bei Bewegung des Beobachters das Netzhautabbild der betrachteten Objekte verschiebt. Diese parallaktische Verschiebung ist für nahe Objekte gröûer als für
entfernte und trägt zur Tiefenwahrnehmung bei.
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Abb. 3-8. Monokulare Tiefenhinweise: In diesen beispielhaften
Bildern wird Tiefe aufgrund von (a) teilweiser Überlappung (ein
vorderes und ein hinteres Objekt), (b) Gröûe (das gröûere Objekt
erscheint näher), (c, d) Schatten (der Schatten fördert die räumliche Wahrnehmung) oder (e) Texturgradienten (durch Veränderung der Punktdichte bzw. Punktdicke entsteht Tiefe) wahrgenommen. Nach Bourne LE, Ekstrand B. Einführung in die Psychologie. D. Klotz, Eschborn (1992) S. 104
Binokulare Tiefeninformation basiert auf der Konvergenz
der Augäpfel und auf der retinalen Disparität (oder Querdisparation).
· Konvergenz. Wenn ein Gegenstand in der Ferne fixiert
wird, müssen die beiden Augen so ausgerichtet werden,
dass ihre Achsen aufeinander zulaufen (sie konvergieren).
Da dieser Konvergenzwinkel umso gröûer ist, je näher das
betrachtete Objekt ist, enthält er Entfernungsinformation,
die zur Wahrnehmung von Tiefe verwendet wird.
· Retinale Disparität. Jedes Auge betrachtet aufgrund des
Augenabstands ein Objekt in der Ferne aus einer etwas
unterschiedlichen Perspektive. Das Abbild des betrachteten Objekts fällt in beiden Augen daher nicht genau auf
korrespondierende, sondern auf etwas unterschiedliche
Netzhautpositionen. Diese Verschiebung (Disparität) in
der Netzhautposition zwischen den beiden Augen ist umso geringer, je weiter ein Objekt entfernt ist. Die retinale
Disparität ist die Information, die am stärksten zur Tiefenund Entfernungswahrnehmung beiträgt.
l l l Wahrnehmungskonstanz bedeutet,
dass die interne Repräsentation
der Umwelt unverändert bleibt,
obwohl sich die proximalen Reize,
also die physikalischen Informationen,
die auf unsere Sinnesorgane einwirken,
ständig ändern
Wahrnehmungskonstanz. Betrachtet man beispielsweise ein
weit entferntes Auto, so ist sein Netzhautabbild relativ klein.
Nähert es sich, wird das Netzhautabbild immer gröûer. Trotzdem wird die Gröûe des Autos als konstant wahrgenommen.
Diese so genannte Wahrnehmungskonstanz ist eine herausragende Fähigkeit unseres Wahrnehmungssystems. Die interne Repräsentation der Umwelt verändert sich nicht, obwohl die physikalischen Informationen, die auf unsere Sinnesorgane fallen, von den Lichtverhältnissen, dem Betrachtungswinkel oder von Bewegungen abhängen.
· Helligkeits- und Farbkonstanz. Die Lichtmenge, die von
einem Gegenstand reflektiert wird und auf unser Auge
trifft, ändert sich stark in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen. Beispielsweise reflektiert ein Blatt dieses
Buches im Sonnenlicht eine gröûere Lichtmenge als in
einem dunklen Raum. Trotzdem nehmen wir immer ein
weiûes Blatt Papier wahr. Dies ist möglich, da in diesem
Beispiel auch die schwarze Schrift in Abhängigkeit von
den Lichtverhältnissen eine gröûere oder kleinere Lichtmenge reflektiert. Das Helligkeitsverhältnis, der Kontrast,
zwischen weiûem Blatt und schwarzer Schrift bleibt konstant, und so auch die Helligkeitswahrnehmung. Dass die
Helligkeitswahrnehmung vom Kontrast abhängt, verdeutlicht Abb. 3-9.
· Gröûen- und Formkonstanz. Das Netzhautabbild eines
Gegenstands verändert sich stark in Abhängigkeit von der
Entfernung und der Betrachtungsperspektive. Beispielsweise ist das Netzhautabbild einer Person relativ klein,
wenn die Person weit weg ist, und relativ groû, wenn sie
nahe ist. Die Wahrnehmung der Gröûe der Person bleibt
aber konstant. Eine Tür beispielsweise wird unabhängig
vom Betrachtungswinkel immer als rechteckig wahrgenommen (Formkonstanz), obwohl der distale Reiz, also
die physikalische Information, die auf die Netzhaut trifft,
je nach Betrachtungswinkel zwischen Rechteck und Trapez variiert.
Die Gröûenkonstanz hängt von drei Faktoren ab: Der Gröûe
des Netzhautabbilds, der Entfernung des Objekts und der
wirklichen Objektgröûe. Die Gröûe des Netzhautbilds kann
Abb. 3-9. Das graue Quadrat in der Mitte erscheint in Abhängigkeit vom umgebenden Rand etwas dunkler oder etwas heller,
obwohl es exakt dasselbe Grau ist, also exakt dieselbe physikalische Energie auf das Auge reflektiert
normalerweise genau erfasst werden, da diese Information
auf der Retina vorhanden ist. Auch die Entfernungsschätzung ist normalerweise aufgrund von monokularen und binokularen Tiefenhinweisen relativ genau. Da diese beiden
Faktoren also bekannt sind, kann die Gröûe des Objekts
wahrgenommen werden. Optische Gröûentäuschungen basieren meistens darauf, dass ¹falscheª Entfernungsinformationen vorliegen (Abb. 3-10).
Wahrnehmungskonstanz basiert aber auch auf unserem
Wissen über die Welt. Normalerweise wissen wir, welche Eigenschaften (Form, Gröûe, Farbe, Helligkeit etc.) ein Objekt
hat. Dieses Wissen steuert den Wahrnehmungsprozess (Topdown-Prozess; s. u.) und erleichtert die Wahrnehmung von
Konstanzen.
Bewegungswahrnehmung. Wenn sich ein Gegenstand bewegt, reizt sein Netzhautabbild sequentiell die Retinazellen.
Eine vergleichbare sequentielle Veränderung der Retinaaktivierung ist aber auch möglich, wenn der Beobachter seine
Augen oder sich bewegt, was aber nicht zur Bewegungswahrnehmung führt. Um Bewegung wahrzunehmen, muss
daher ein Vergleich zwischen eigenen Bewegungen und
Fremdbewegungen stattfinden.
· Bezugsrahmen. Bewegungswahrnehmung geschieht in einem Bezugsrahmen. Als Bezugsrahmen dient häufig ein
gröûeres Objekt. Kleinere Objekte werden in diesem Bezugsrahmen als bewegt wahrgenommen (ein Vogel fliegt
am Himmel, ein Hund rennt über die Wiese, etc.). Von einer induzierten Bewegung spricht man, wenn sich eigentlich der Bezugsrahmen bewegt, dies aber fälschlicherweise
als Bewegung des Objekts wahrgenommen wird (z. B.
wenn der Zug auf dem Nachbargleis losfährt, nimmt man
dies als eigene Bewegung wahr; wenn Wolken am Mond
vorbeiziehen, nimmt man wahr, dass sich der Mond durch
die Wolken bewegt).
· Scheinbewegung (Phi-Phänomen). Wenn zwei Lichtpunkte abwechselnd in einer bestimmten Frequenz anund ausgeschaltet werden, so wird wahrgenommen, dass
sich der Lichtpunkt von der einen zur anderen Stelle bewegt.
3.1 Wahrnehmung
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wartungen und Motivationen beeinflusst. Man spricht dann
von konzeptgesteuerter oder Top-down-Verarbeitung.
Wenn der Arzt ein Krankenzimmer betritt und nicht weiû, welcher Patient dort liegt, so läuft das Erkennen des Patienten über
datengeleitete Bottom-up-Wahrnehmungsprozesse ab. Hat der
Arzt dagegen eine Erwartung, welchen Patienten er dort antreffen wird, so erleichtern Top-down-Prozesse das Erkennen. Die
Wirkung der Top-down-Prozesse wird besonders deutlich, wenn
nun ein anderer Patient als der Erwartete in diesem Zimmer
liegt.
Abb. 3-10. (a) Bei der Hering-Helmholtz- und (b) der PonzoTäuschung werden die oberen Querlinien als länger wahrgenommen als die unteren Querlinien. Diese Illusion entsteht, da aufgrund der konvergierenden vertikalen Linien (Prinzip der linearen Perspektive) die oberen Querlinien als weiter weg erscheinen
als die unteren, das Netzhautabbild beider Querlinien aber identisch ist (bei Gröûenkonstanz müsste das weiter entfernte Objekt
ein kleineres Netzhautabbild erzeugen). (c) Bei der Müller-LyerIllusion wird die obere Linie als länger wahrgenommen als die
untere. Beide Linien sind gleich lang, die obere Linie scheint auûerdem aufgrund der Tiefeninformationen (hintere Winkel) weiter weg zu sein
· ¹Templatesª und Prototypen. Das Erkennen von Objekten
könnte durch einen Vergleich mit im Gedächtnis gespeicherten Abbildern geschehen. Es ist aber unmöglich, dass
es von jedem bekannten Objekt ein Abbild gibt und dass
Wahrnehmung darin besteht, dieses Abbild zu finden.
Wahrscheinlicher ist, dass Prototypen ± also idealisierte
Abbilder von Objekten ± abgespeichert werden. Ein wahrgenommenes Objekt aktiviert den Prototyp, der am besten
zu ihm passt, und dadurch wird das Objekt erkannt.
· Merkmalserkennung. Erkennen geschieht auch durch Verarbeitung und Zusammensetzung eindeutiger Merkmale
von Objekten. Wenn diese eindeutigen Merkmale vorhanden sind, so kann ein Objekt erkannt werden, auch wenn
relativ viel Information fehlt (Abb. 3-11).
· Kontexteinflüsse. Der Kontext der Wahrnehmung stellt
eine wichtige Informationsquelle dar. Vermutlich werden
aufgrund des Kontexts bestimmte neuronale Schaltkreise
voraktiviert und andere gehemmt. Ein Reiz, der zum Kontext passt, trifft also auf voraktivierte Schaltkreise und
wird so leichter identifiziert. Der Kontext wirkt im Sinne
eines Top-down-Prozesses (Abb. 3-12).
Subliminale Wahrnehmung. Ein Reiz, der unterhalb der
Wahrnehmungsschwelle dargeboten wird, wird zwar nicht
bewusst wahrgenommen, kann aber trotzdem das Verhalten
beeinflussen. Experimentell wurde subliminale Wahrnehmung eindeutig nachgewiesen.
l l l Die Prozesse der Identifikation führen
dazu, dass einem Perzept eine Bedeutung
zugewiesen wird. Normalerweise basiert
diese Identifikation von Reizen oder
Objekten auf datengesteuerten Bottomup- und konzeptgesteuerten Top-downProzessen, die gleichzeitig ablaufen
Prozesse der Identifikation und des Erkennens. Um einen
Reiz oder eine Reizkonfiguration erkennen zu können, ist ein
Vergleich mit im Gedächtnis gespeicherten Reizen, mit dem
Wissen über die Welt, notwendig. Von datengeleiteter oder
Bottom-up-Verarbeitung spricht man, wenn dieser Informationsverarbeitungsprozess von der beobachtbaren Realität
ausgeht. Ausgehend von den physikalischen Reizeigenschaften steht am Ende des Wahrnehmungsprozesses das Erkennen des Wahrgenommenen. Häufig wird das Identifizieren
und Erkennen von Objekten aber von Vorerfahrungen, Er44
Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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Abb. 3-11. Solange eindeutige Merkmale der Objekte vorhanden sind, ist ein Erkennen möglich (mittlere Spalte). Weglassen
eindeutiger Merkmale dagegen erschwert das Erkennen (rechte
Spalte). Nach Zimbardo PG. Psychologie. Springer Verlag, Heidelberg (1992) S. 146
é
Abb. 3-12. Durch die Kombination von Bottom-up- und Topdown-Prozessen werden diese Wörter eindeutig erkannt, obwohl
das A und das H in den Wörtern auf derselben visuellen Information basieren
Semantische Bahnung (Priming) beispielsweise bedeutet, dass
ein Wort schneller und besser erkannt wird, wenn zuvor ein damit assoziiertes Bahnungswort (engl. priming word) dargeboten
wird. Wird zuerst das Wort ¹Blumeª gezeigt, so wird danach ein
damit assoziiertes Wort wie ¹Roseª schneller erkannt als ein
nicht damit assoziiertes Wort wie ¹Lampeª. Dieser Effekt tritt
auch auf, wenn das Bahnungswort subliminal dargeboten wurde. Das Bahnungswort wird so kurz gezeigt (ca. 15 ms), dass der
Proband es nicht benennen und auch nicht erraten kann. Trotzdem beeinflusst es sein darauf folgendes Verhalten, hier das Erkennen des nachfolgenden Wortes.
l l l Die Effektivität subliminaler Werbung
oder subliminaler Lernprogramme konnte
nicht nachgewiesen werden
Weltbekannt wurde ein Bericht über die Wirkung subliminaler
Werbung von J. Vicary (1957). Er behauptete, dass das subliminale Einblenden von Wörtern wie ¹esst Popcornª und ¹trinkt Colaª während eines Kinofilms den Konsum von Popcorn und Cola
erhöht hat. Später stellte sich aber heraus, dass dieser Bericht
nur erfunden wurde, um dem Film Publicity zu verschaffen. Auûerdem wäre der Befund aus methodischen Gründen anzweifelbar, da der gezeigte Film mit dem Namen ¹Picnicª Ess- und
Trinkszenen beinhaltete. Dadurch wäre ein erhöhter Popcornund Cola-Konsum ebenfalls erklärbar.
Objektivieren lässt sich die Wirkung subliminaler Werbung
oder Lernprogramme aber nicht. In einer Studie wurde einer
Gruppe von Probanden ein Tonband gegeben, das durch subliminale Suggestionen das Selbstwertgefühl verbessern sollte, einer andern Gruppe ein Tonband, das die Gedächtnisleistung verbessern sollte. Tatsächlich erhielt aber jeweils nur die Hälfte der
Probanden pro Gruppe das angekündigte Band, die andere
Hälfte erhielt jeweils das andere Band. Beide Gruppen hörten die
Bänder über Wochen an, und tatsächlich berichteten auch relativ
viele Personen, die versprochene Wirkung zu bemerken. Die
Wirkung war aber abhängig von der Annahme, welches Band
gehört wurde, und nicht vom tatsächlichen Bandinhalt. Auûerdem lieûen sich die angegebenen Veränderungen (z. B. durch Gedächtnistests) nicht objektivieren.
3.2
Die Beziehungen zwischen physikalischen
Reizen und subjektiven Reaktionen werden
in der Psychophysik bestimmt. Dabei gelten
meist exponentielle Beziehungen zwischen
den beiden Gröûen. Auûer durch die Reizstärke wird Wahrnehmung aber auch durch
zentrale Konzepte und Erwartungen gesteuert, was häufig zu Eindrücken führt, die
weit von der Realität abweichen. Dabei spielen die so genannten Gestaltgesetze eine
groûe Rolle, die Regelhaftigkeiten in die
wahrgenommenen Objekte projizieren. Die
meisten dieser Wahrnehmungsprozesse laufen ohne Mitwirkung unseres Bewusstseins
subliminal ab, weshalb wir Wahrnehmungsfehler und Täuschungen auch meist nicht erkennen.
Bewusstsein und
Aufmerksamkeit
PH
PS
l l l Bewusstsein besteht aus einigen
wenigen elementaren psychologischen
Operationen, deren Zusammenwirken
den für Bewusstsein notwendigen
Erregungsanstieg bewirkt
Aktivierung und Vigilanz. Wir müssen zwischen allgemeiner
Aktivierung und Vigilanz und der spezifischen fokussierten
Aktivierung der Aufmerksamkeit unterscheiden. Während
die allgemeine Hintergrundaktivierung von Tiefschlaf und
Koma bis zu höchster Vigilanz reicht und das Erregungsniveau aller mentalen Funktionen formt, ist bei fokussierter
Aufmerksamkeit nur ein spezifischer sensorischer, kognitiver, emotionaler Inhalt in seinem Erregungsniveau angehoben, während alle übrigen Inhalte gehemmt, unterdrückt
werden.
Wachheit und Aktivierung allein garantieren nicht die bewusste Wahrnehmung eines Sinnesreizes oder einer Bewegung. In den Endstadien des Morbus Alzheimer etwa ist der
Patient durchaus wach und führt einfache, gezielte, automatische Bewegungen durch, ohne dass dem Patienten die Umgebung bewusst wird.
Binding. Damit ein Sinnesreiz oder eine Reaktion als einheitliche Erfahrung bewusst wird, muss er aus den Elementen
des Reizes (z. B. Ecken, Kanten etc.) zu einem ganzheitlichen
Objekt zugesammengebunden werden (engl. binding), und
die Aufmerksamkeit muss diese gebundene Objektrepräsentation aus den übrigen Sinnesreizen herausheben, fokussieren und die nicht-relevanten, altbekannten automatisierten
Repräsentationen hemmen. Der Binding-Prozess muss dabei
nicht bewusst ablaufen, er ist nur die Voraussetzung für die
Entstehung eines einheitlichen Bewusstseinsinhalts.
3.2 Bewusstsein und Aufmerksamkeit
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p
45
Kurzzeitgedächtnis. Die Hervorhebung relevanter Sinnesrepräsentationen erfordert zunächst eine Bewertung ihrer vitalen Bedeutung und Priorität gegenüber konkurrierenden
Zielen. Diese Bewertung erfolgt über einen gedächtnisgestützten Vergleich mit vergangenen, gespeicherten Repräsentationen. Dafür sind ein intaktes Kurzzeitgedächtnis und ein
intaktes Arbeitsgedächtnis für unmittelbar vorausgegangene
Information notwendig (Kap. B-6).
Komplexität und Neuheit. Wie schon in der Einleitung hervorgehoben, wird bewusstes Erleben von dem zentralen Vergleichsprozess dann erzeugt, wenn die angekommene Information so komplex ist, dass sie mit automatisierten Routineoperationen des Langzeitgedächtnisses nicht mehr verarbeitet werden kann, sondern einen multisensorischen Vergleich
Abb. 3-13. Differenz zwischen bewusster und nicht-bewusster
Wahrnehmung einfacher visueller Sinnesreize (Flackerlicht von
7,4 Hz). Ist der Reiz bewusst, ergeben sich die abgebildeten magnetenzephalographischen Muster. Die nicht-bewussten sind hier
nicht gezeigt, nur das Mehr an Aktivität bei der bewussten
Wahrnehmung bei zwei gesunden Versuchspersonen (J. S. und
C. H.). (Die unterlegte Farbskala zeigt die Zunahme der magnetischen kortikalen Reaktion auf den bewusst wahrgenommenen
Reiz. ‡ und gelb Eintritt, und blau Austritt des magnetischen
Feldes; grüne Punkte magnetische Sensoren. Oben frontal, unten
okzipital.) Die blauen Verbindungen zeigen die zusätzlich, im
Vergleich zu nicht-bewusster Wahrnehmung desselben Musters
auftretenden Korrelationen (Kohärenzen) zwischen den verschiedenen Hirnarealen bei bewusster Wahrnehmung. Erläuterungen im Text. Nach Tononi G, Edelman GM (1998) Consciousness and Complexity. Science, 282:1846±1851
46
Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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im Kurzzeitgedächtnis oder emotionalen Vergleich benötigt.
Abb. 3-13 zeigt die magnetenzephalographisch (mittels
MEG) gemessene Zunahme der Komplexität von kortikalen
Verbindungen für bewusste im Vergleich zu nicht-bewussten
mentalen Operationen.
l l l Damit das Kurzzeitgedächtnis bewusstes
Erleben herstellen kann, muss es über
rückwirkende Erregungsschleifen
verfügen (recurrent-feedback networks),
die unmittelbar vorausgegangene
Informationen aktiv halten (re-entry
loops)
Re-entry (¹Wiedervorstellungª). Neuronale Repräsentationen von Sinnesreizen würden nach einer einmaligen Erregung der beteiligten Zellensembles wieder abklingen. Das
Kurzzeitgedächtnis muss die Sinnesrepräsentation daher
nicht nur mit dem kurz zuvor eingegangenen Reiz vergleichen, sondern sie auch für die neu einlaufende Information
verfügbar halten. Dies geschieht über rückläufige, zu den
(thalamischen) Eingangskanälen zurückführende Faserzüge,
die die bereits verarbeitete Information (bzw. deren Repräsentation in Form eines Erregungsmusters) als Kontextinformation verfügbar machen (Abb. 3-14).
Dies erfolgt zyklisch und so lange, bis ein neuer Reizeingangsvektor ein neues Erregungsmuster an anderer Stelle erzeugt. (Anatomisch schlägt sich dieser Mechanismus auch in
einer überproportional starken, vom Kortex zum Thalamus
verlaufenden Faserverbindung nieder, die diesen ¹Topdown-Stromª bei komplexeren Sinnesrepräsentationen oder
Bewegungen steuert; Kap. B-5, B-8.)
Abb. 3-14. Rückführendes (recurrent) verteiltes neuronales
Netz, wie man es z. B. zwischen primären kortikalen Arealen
(unten) und sekundären kortikalen Arealen (oben) oder zwischen
Thalamus und Kortex als Grundlage bewusster Prozesse annimmt. Die rückführenden Bahnen von den ¹höherenª zu den
¹einfacherenª (primären) Strukturen sind rechts und dick gezeichnet
Abb. 3-15. Kortikale Magnetfeldreaktionen während der Wahrnehmung von akustischen Reizmerkmalen. Links sind die Antworten auf seltene von
der Seite kommende Geräusche im Vergleich zu
häufig dargebotenen Geräuschen aus der Mitte dargestellt (in beiden Fällen die gesprochene Silbe
¹daª), rechts sieht man die Reaktionen auf seltene
Darbietungen der Silbe ¹baª in einer Sequenz von
¹daª. Oben ist die gesamte Oberfläche des Gehirns
in einer zweidimensionalen Projektion gezeigt (Ansicht von oben, Nase oben), unten sieht man ein
realistisches Gehirnmodell (seitliche Ansicht von
links). Grüne Pfeilspitzen (oben) und Flächen (unten) geben die Orte des Gehirns in der Nähe der primären auditorischen Areale an, in denen evozierte
Magnetfelder erzeugt werden, die mit der Verarbeitung akustischer Reizunterschiede einhergehen
(sog. Mismatch-Felder). Rote Kreise (oben) und Flächen (unten) zeigen Regionen, in denen erhöhte
magnetische Schwingungsaktivität im Gammabereich auftritt. Rote Verbindungslinien (oben) zeigen
zusätzlich Areale, zwischen denen Anstiege der Kohärenz im Gammaband beobachtet wurden, die vermutlich eine erhöhte Kopplung dieser Gehirnregionen widerspiegeln. Man kann deutlich erkennen,
dass sich die Topographie der evozierten MismatchFelder nicht zwischen den Bedingungen unterscheidet, das heiût, in diesen Regionen wird lediglich angezeigt, dass ein Unterschied in den dargebotenen
Geräuschen aufgetreten ist. Die Topographie der
Gammaschwingungen ist dagegen für die Art dieses
Reizunterschieds spezifisch. Räumliche Informationen werden im posterioren Parietalkortex verarbeitet, inhaltliche Informationen dagegen im anterioren Temporal- und im inferioren Präfrontalkortex
Oszillationen. Nicht alle Bewegungen und Sinnesreize benötigen diesen periodischen, oszillierenden Vorgang, aber doch
die meisten. Abb. 3-15 zeigt die hochfrequente Oszillation
der Magnetfelder im Kortex, die dem (nicht-bewussten) frühen, bereits in 100 ms abgeschlossenen perzeptiven Bindungsprozess zugrunde liegen, und die später auftretenden
(bewussten) etwas langsamer oszillierenden Felder, die die
aufmerksame Zuwendung repräsentieren. Diese hochfrequenten Schwingungen werden Gammaband genannt und
lassen sich im Elektroenzephalogramm (EEG) und im Magnetenzephalogramm (MEG) beim Menschen und auf Einzelzellniveau auch bei Tieren beobachten.
l l l Die Entstehung bewusster Vorgänge
ist an die Zuweisung erhöhter
Verarbeitungsressourcen an die
informationsverarbeitenden Systeme
gebunden
Begrenzte Aufmerksamkeit und Bewusstsein. Die kognitive
Psychologie geht heute davon aus, dass es verschiedene Formen von Bewusstsein gibt. Diese Erkenntnis wird von neurobiologischen Befunden gestützt, die in Kap. B-5 und B-8 erläutert werden. Drei wichtige Befunde haben zur Annahme
von mehreren Bewusstseinsformen geführt (s. auch Box 3-1):
· Bewusstseinsprozesse resultieren stets aus vorbewusster
(subliminaler) Informationsverarbeitung.
· Die Annahme eines einzigen Selektionssystems (Flaschenhalstheorien) ist mit den experimentellen Befunden nicht
vereinbar.
· Die Zahl der Verarbeitungsmechanismen ist begrenzt, und
jeder benötigt seine eigenen ¹Ressourcenª. Bei Aufgaben,
deren Ressourcen sich überlappen, kommt es zur Ressourcenkonkurrenz, die sich meist in Interferenzen und Leistungsstörungen äuûert. Unter Ressource versteht man in
der Psychologie eine nicht direkt beobachtbare Erregungshöhe, die einem informationsverarbeitenden System
(z. B. KZG) verliehen werden muss, damit es eine bestimmte Leistung erbringen kann. Jene Systeme des
¹mentalen Apparatsª, die die Ressourcen für eine oder
mehrere sensorische und motorische Funktionen zur Verfügung stellen, nennt man Kontrollsysteme mit limitierter
Kapazität (LCCS von limited capacity control systems;
Abschn. B-5.3). Ressourcen werden in der Regel antizipatorisch ± d. h. vor einem Reiz oder einer Reaktion ± nach
Warnsignalen, die Reiz oder Reaktion (oder beides) ankündigen, zur Verfügung gestellt.
Alle Theorien der Aufmerksamkeit gehen von einer limitierten Aufmerksamkeitskapazität (LC von limited capacity) aus.
Der gemeinsame Mechanismus hinter allen Bewusstseinsformen und Aufmerksamkeit wird in Situationen sichtbar und
messbar, in denen die Anforderungen die Kapazität (Ressource) der Person für die Aufgabe überschreiten. Die Aufgabenschwierigkeit wird als die Differenz zwischen erwarteter und
aktueller Leistung definiert. Erwartete Aufgabenschwierig3.2 Bewusstsein und Aufmerksamkeit
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47
Box 3-1.
Bewusstsein als Metapher
Die Schwierigkeit, Bewusstsein wissenschaftlich eindeutig zu
definieren, führte zu unterschiedlichen Metaphern und Umschreibungen. Diese liefern zwar keine eindeutigen Definitionen, grenzen aber das Problem so ein, dass es sich psychologisch und neurowissenschaftlich erforschen lässt.
Stellen Sie sich Bewusstsein als Demokratie vor. Jede Demokratie hat ein Parlament (in der psychologischen Forschung
als Workspace, Arbeitsplatz, des Bewusstseins bezeichnet).
Das Parlament besteht aus rechten und linken Parteien (analog zur rechten und linken Hirnhemisphäre). Das Parlament
(Bewusstsein ± Workspace) wird nur eingeschaltet, wenn
neue, unvorhersagbare und schwierige, vital wichtige Probleme auftauchen. Die meisten Probleme einer Demokratie
werden von rasch und effizient arbeitenden Spezialkommissionen gelöst (nicht-bewusste, automatische Informationsverarbeitung). Nur neue und schwierige Probleme gelangen
ins Parlament, was natürlich eine (unbewusste) Vorprüfung
des Diskussionsbedarfs voraussetzt. Im Parlament schlieûlich
erfolgt die Diskussion des Problems (z. B. Sinneseindruck)
durch die Abgeordneten. Je schwieriger das Problem (Fokus
der Aufmerksamkeit), umso intensiver und länger (und lauter) die Diskussion (umso ¹bewussterª wird der Sinneseindruck). Diese (bewusste) Verarbeitung der Information durch
das Parlament ist zwar ineffizient in Bezug auf ihre Dauer
und auch unsicher in Bezug auf ihren Ausgang (z. B. Gesetzesbeschluss, der an die Kommissionen oder den Bürger ausgegeben wird), sichert aber den Vergleich mit den unterschiedlichsten Auffassungen (multisensorische Vergleiche)
und mit vergangenen ähnlichen Problemen (z. B. Vergleich
mit gespeicherten Sinneseindrücken).
keit und Leistung sind somit ein zentraler Bestandteil jeder
Aufmerksamkeitstheorie.
Bewusstsein (siehe Box 3-1) sichert also den Informationsfluss zwischen den verschiedenen Arbeitseinheiten und
erlaubt auch neuen Zugriff auf unterschiedliche Kombinationen, die normalerweise isoliert bearbeitet werden. Auch die Metapher einer Theaterbühne wird oft herangezogen. Dabei ist natürlich der Regisseur des Stücks wichtig, der selbst nicht auftritt, aber doch den Ablauf wesentlich
mitbestimmt. In der Bewusstseinsmetapher einer Demokratie
ist der Regisseur der Kontext der gesamten Situation (Grundgesetz, Erwartungen an das Parlament). Im psychologischen
Bereich sprechen wir analog zum Regisseur oft vom Selbstbewusstsein, das neuroanatomisch in den präfrontalen Kortexregionen lokalisiert wird. Das Selbst (der Direktor, Kontext, Regisseur, das Grundgesetz) enthält allgemeine Ziele
(Zielkontexte) und Konzepte (Konzeptkontext, Wissen) und
auf einer oberflächlichen Ebene unmittelbare Ziele und Erwartungen. Das Bewusstseinssystem (Parlament) reagiert besonders sensibel auf Verletzungen dieser Zielerwartungen,
aber auch der unmittelbaren Erwartungen (in unserer Analogie z. B. Einschränkung von Freiheiten, Gesetzesverletzungen, Ungerechtigkeit etc.).
Wie in Kap. B-5 dargestellt, lassen sich heute diese
scheinbar unpräzisen Metaphern recht gut in neuronale Mechanismen und Strukturen übersetzen und gewinnen dadurch an Klarheit.
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Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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l l l Ein Groûteil der Informationsverarbeitung
läuft ohne Mitwirkung des Bewusstseins
vorbewusst ab
Bedingungen für Bewusstsein. Nur ein Bruchteil der ankommenden Reize wird bewusst. Bewusstsein tritt nur auf:
· beim Erwerb neuer Information oder beim Lernen neuer
Reaktionen,
· bei der Abgabe von Urteilen und Wahlreaktionen sowie
· beim Nicht-Eintreffen erwarteter Reize.
Auf der motorischen Seite wird uns Verhalten erst in Situationen bewusst, die:
· neue Aktionspläne und
· Wahl (Entscheidung) zwischen Handlungsalternativen erfordern,
· in gefährlichen oder als schwierig beurteilten Situationen
und
· bei Handlungen, die eine starke Gewohnheit oder ¹Versuchungª überwinden müssen.
Aber auch in diesen vier Situationen tritt Bewusstsein oft erst
nach bereits erfolgter Handlung auf (z. B. beim Bergsteiger,
der eben ¹instinktivª einen gefährlichen Schritt vollzogen
hat und dem dies erschreckt bewusst wird).
Abb. 3-16. Das ¹Cocktail-Party-Phänomenª. Die Versuchsperson konzentriert sich auf die Information, die dem rechten Ohr
dargeboten wird, die Information, die gleichzeitig dem linken
Ohr dargeboten wird, kann nicht wiedergegeben werden
l l l Aufmerksamkeitsprozesse werden nicht
über das Ausfiltern unwichtiger
Information, sondern über einen
übergeordneten Prozess der Bewertung
ankommender Information gesteuert
Flaschenhalstheorien. Abb. 3-16 zeigt ein ¹natürlichesª dichotisches Hörexperiment, aus dem man ± fälschlich ± auf
die Existenz eines einzigen (Flaschenhals-)Filters schloss:
das Cocktail-Party-Phänomen. Aus einer Vielzahl ankommender Reize wird von dem selektiven Filter jener Reiz ausgewählt, dessen physikalische Charakteristiken überlegen
sind (z. B. der lauteste Schwätzer einer Gesellschaft). Abb. 317 erläutert den Grundgedanken der Flaschenhalstheorie
von Broadbent: Ein Informationskanal mit limitierter Kapazität (LC) führt zum KZG. Bevor die Information zum KZG
gelangt, wird vom vorgeschalteten Filter nur ein physikalisch herausragender Reiz aus den vielen ankommenden ausgewählt. Die vollständige Analyse der Reize erfolgt erst nach
der Passage durch den Filter.
Kritik der Filtertheorie. Dass Flaschenhalstheorien unvollständig sind, zeigt sich bereits an alltäglichen Beobachtungen, wie
der bewussten Wahrnehmung des eigenen Namens auf einer
¹verrauschtenª Gesellschaft, auch wenn er von jemand leise gesprochen wird. Die Mutter, die von ihrem Kind selbst bei lautem
Verkehrslärm aus dem Schlaf geweckt wird, ist ein besonders
deutliches Beispiel. Aber auch experimentell lässt sich zeigen,
dass die ankommende Information vor ihrer Selektion relativ
vollständig und unbewusst analysiert und beurteilt wird. Auch
schwierige Aufgaben, die geteilte Aufmerksamkeit erfordern,
werden gelöst, wenn nicht dieselben Ressourcen benötigt werden (s. u.). Zum Beispiel kann man gleichzeitig addieren oder andere Rechenoperationen und eine Handgeschicklichkeitsaufgabe
(visuelle Folgeaufgaben) durchführen. Dagegen wird dieselbe
Rechenoperation nicht gelöst, wenn man gleichzeitig Wahlreaktionen auf visuell dargebotene Zahlen durchführen muss. Dieses
Ergebnis ist mit der Annahme eines einzigen Kanals mit begrenzter Kapazität unvereinbar.
Wir werden später sehen, dass der Grad der Interferenz (Störung) zwischen zwei Aufgaben von der cerebralen Distanz
der daran beteiligten Analysatoren abhängt. Je mehr sich
diese überlappen (also gemeinsame Ressourcen nutzen), umso gröûer ist die Interferenz.
Die Ablehnung der Flaschenhalstheorie bedeutet aber nicht, dass
ankommende Informationen nicht bereits auf einer früheren
Verarbeitungsebene (100 ms) vor ihrer vollständigen Verarbeitung, d. h. vor dem Erreichen des KZG, gehemmt werden könnten. Die Aktivität solcher frühen Filter kann man vor allem an
kortikalen Hirnpotentialen ablesen; man kann sie sich als parallel zu den limitierten Ressourcensystemen geschaltete Systeme
vorstellen, die Information nicht blockieren, sondern abschwächen. Besonders bei automatisierter Verarbeitung oder Handlung
wird die Rolle der frühen nicht-bewussten Bewertung und des
Ausschlusses von Information sichtbar.
l l l Das Kontrollsystem mit limitierter
Kapazität (LCCS von limited capacity
control system) bestimmt die Grenzen
der Aufmerksamkeit
Kanalkapazität. Jeder sensorische Kanal (optisch, akustisch,
taktil) besitzt nur eine begrenzte Kapazität der Informationsübertragung. Diese Begrenzung der Sinnessysteme ist durch
eine Reihe von Faktoren bedingt: Anzahl und Ausrichtung
von rezeptiven Feldern, Grenzfrequenzen der afferenten Fasern, Konvergenz und Divergenz der kommunizierenden
Neuronenverbände und vor allem durch die Ernährungsund Stoffwechselbedingungen der beteiligten Zellverbände.
Da aber offensichtlich groûe Teile der im ZNS gleichzeitig
angekommenen Informationen verarbeitet und erst danach
zentral ausgewählt werden, müssen wir zusätzlich zu den
Grenzen der sensorischen Übertragung (Kanalkapazität) noch
einen oder mehrere zentrale Aufmerksamkeitsmechanismen
annehmen. Der Schluss von psychologischen Experimenten
auf ein oder mehrere LCCS ist natürlich hypothetisch. Ob
diesen LCCS reale physiologische Systeme entsprechen, muss
die Biologische Psychologie klären.
Automatische und kontrollierte Verarbeitung. Ein Reizmuster oder eine motorische Antwort werden dann aus den bestehenden Alternativen ausgewählt, wenn sie eine bestimmte
Erregungsschwelle übersteigen. Wenn ein bestimmtes Erregungsmuster eines Reizes im Gehirn durch die Aufmerksamkeitsprozesse aktiviert und von der Hintergrundinformation
abgehoben wird, ist es nicht notwendigerweise sofort bewusst. Bei überlernten, geübten Aufgaben (z. B. Autofahren)
erfolgt die Reaktion ohne Bewusstsein, und andere Reaktionssysteme können gleichzeitig ohne gegenseitige Behinderung (Interferenz) funktionieren (geteilte Aufmerksamkeit). Wir nennen diesen Vorgang der unbewussten selektiven Absenkung von Erregungsschwellen ¹Tuningª. Dieser
englische Ausdruck ist schwer zu übersetzen; damit ist das
automatische Einstellen von Erregungsschwellen gemeint.
Die gesamte ankommende Information wird zuerst für
wenige Millisekunden in einem sensorischen Speicher gehalten (sensorisches Gedächtnis). Dort werden Mustererkennung
(Erkennung der wesentlichen Merkmale), Codierung und danach der besprochene Vergleich (Match) vorgenommen.
Passt der ankommende Reiz vollkommen in ein (überlerntes)
gespeichertes Reiz-Reaktions-Muster, wird die Reaktion ¹au-
Abb. 3-17. Grundgedanke eines Flaschenhalsmodells der Aufmerksamkeit.
Erläuterungen im Text
3.2 Bewusstsein und Aufmerksamkeit
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49
Abb. 3-18. Kognitive Prozesse der Informationsverarbeitung.
Unten sind die einzelnen Stadien der Verarbeitung vom Eingang
des Reizes bis zur Reaktion skizziert. Darunter einige Beispiele
von experimentellen Umweltvariationen, mit denen die Stadien
beeinflussbar sind. Darüber die eigentlichen Aufmerksamkeitsprozesse: Die Aktivierung und Mobilisierung sensorischer Systeme führt sowohl zu verbesserter Mustererkennung (unten) als
auch zu dem multisensorischen Vergleich gespeicherter mit angekommener Information. Je nach Resultat dieser Vergleiche
wird bei neuer oder komplexer Information der Ressourcen mobilisierende Prozess willentlicher Anstrengung (effort) aktiviert
(rot). Dieser kann sowohl sensorische als auch motorische Aktivierung beeinflussen und wird zur Entscheidung über Reaktionsalternativen benötigt. Abschlieûend erfolgen dann Planung
und Ausführung der entsprechenden Reaktion, nicht ohne eine
vorherige Bewertung der antizipierten Konsequenzen (rechts
und oben). Bei überlernter, automatischer Verarbeitung wird die
Beteiligung von Effort-Systemen minimal
tomatischª ausgelöst, d. h. ohne besondere Erhöhung der Erregung in den beteiligten Netzwerken und ohne Mitwirkung
des Bewusstseins (Abb. 3-18).
buchstabe inmitten ablenkender Buchstaben mehrmals dargeboten. Die Person darf nur auf den Zielbuchstaben reagieren. Nach mehreren Wiederholungen spielt die Zahl der ablenkenden Buchstaben keine Rolle mehr für Reaktionszeit
und Fehler. Die Person reagiert ¹automatischª auf den Buchstaben. Wenn man dagegen wiederholt den Zielbuchstaben
mit ablenkenden Buchstaben austauscht, verlängert sich die
Reaktionszeit, und die Fehler steigen mit der Zahl der ablenkenden Reize. Daraus schlieût man auf ¹kontrollierte Sucheª.
Ressourcenzuordnung (resource allocation). Während es
mehrere KZG-Systeme (z. B. akustisch, visuell, taktil etc.) zu
geben scheint, die die Anzahl gleichzeitig durchführbarer
l l l Kontrolliert-exekutive Aufmerksamkeit
und Informationsverarbeitung werden nur
in neuen oder komplexen Situationen und
Handlungen aktiviert
Willentliche Anstrengung. Erst wenn neue oder komplexe Situationen und Handlungen auftauchen (Mismatch) und Reaktionsalternativen bestehen, wird das LCCS aktiviert. Das
LCCS erregt zusätzlich die beteiligten informationsverarbeitenden und reaktionsplanenden Systeme und hemmt die
nicht-beteiligten. Dabei greift die Stärke motivationaler Einflüsse direkt in die Hemmung und Erregung ein (Triebkonkurrenz). Dies bedeutet, dass Reize oder Reaktionen, die in
der Vergangenheit mit biologisch bedeutsamen Reizen (z. B.
Triebbefriedigung) assoziiert waren, eher einen Erregungsanstieg auslösen. Dieser Effort-Mechanismus (willentliche Anstrengung) koordiniert in neuen und komplexen Situationen
Ein- und Ausgabeprozesse (sensorische und motorische Aktivierung), geht mit Bewusstsein und erhöhtem Energieverbrauch (z. B. mehr Glucoseverbrauch im ZNS) einher und erfordert eine ¹kontrollierte Sucheª durch ständigen Vergleich
von KZG- und LZG-Inhalten oder aktive Bewegungsplanung
(Wille).
Abb. 3-18 gibt diese Modellvorstellung wieder. Kontrollierte Suche erfordert in jedem Fall die Kapazität des KZG
oder Arbeitsgedächtnisses. Interferenzen von anderen Aufgaben sind hier wahrscheinlich, wenn mehrere Aufgaben
ganz oder teilweise gleiche KZG-Ressourcen erfordern.
Ein Beispiel für ein Experiment, das diese Prozesse widerspiegelt: Auf einem Bildschirm wird ein und derselbe Ziel50
Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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Abb. 3-19. Einige wichtige Verarbeitungsmechanismen: Für jeden der drei Verarbeitungsschritte Encodierung, zentrale Verarbeitung und Reaktionsvorbereitung bzw. -ausführung werden je
zwei Verarbeitungsarten (räumlich-verbal), je zwei Sinnesmodalitäten (visuell-akustisch) und je zwei Reaktionsmodalitäten
(manuell-vokal) angenommen. Bei neuen Aufgaben konkurrieren diese sechs Verarbeitungsdimensionen um die limitierten
Ressourcen
Abb. 3-20. Typische Aufgabe zur Untersuchung der selektiven
Aufmerksamkeit. Links: Die Versuchsperson fixiert das Kreuz in
der Mitte, im rechten Gesichtsfeld erscheint zunächst ein Hin-
weisreiz (Aufleuchten des Quadrats) und kurz danach (Mitte)
entweder der Zielreiz am Ort des Hinweisreizes oder auf der Gegenseite (rechts)
Aufgaben beschränken, existieren nur ein, maximal zwei
übergeordnete Effort-Systeme (eines für sensorische, eines
für motorische Verarbeitung). Wenn Überlappungen zwischen den sechs auf Abb. 3-19 dargestellten Verarbeitungsdimensionen durch simultane Aufgabendarbietung entstehen,
wird das LCCS aufgerufen und die Aufmerksamkeitsenergie
auf eine Dimension (z. B. visuell) konzentriert (Ressourcenzuordnung). Jedes der auf Abb. 3-19 gezeigten Verarbeitungssysteme verfügt über beschränkte Ressourcen, sonst könnten
mehrere neue Aufgaben sowohl innerhalb einer Verarbeitungsdimension (z. B. visuell) als auch zwischen diesen ohne
Interferenz gelöst werden. Dies gelingt innerhalb einer Dimension am schlechtesten (neue akustische Aufgaben stören
akustische mehr als visuelle). Aber auch zwischen den Verarbeitungsdimensionen sind die Ressourcen beschränkt: Eine
komplexe visuelle Aufgabe stört z. B. eine akustisch-musikalische erheblich. Erst nach häufiger Wiederholung tritt Automatisierung ein, und geteilte Aufmerksamkeit wird möglich.
Natürlich sind mehr als sechs Verarbeitungsdimensionen
denkbar, die hier beschriebenen sind nur die wichtigsten bei
der menschlichen Informationsverarbeitung.
l l l Nach Warnsignalen muss ein gerade
ablaufender Konzentrationsvorgang
unterbrochen werden; dies ist ein
eigenständiger Mechanismus im LCCS
Die Ressourcenzuordnung des LCCS erfordert extensive multisensorische Vergleichsprozesse sowie Information über die motivationale Bedeutung (wichtig ± unwichtig) der einzelnen zu vergleichenden Informationen. Nach Abschätzung (¹Bewertungª in
Abb. 3-18) der Alternativen, erfolgt dann zusätzliche Aktivierung der aus der Konkurrenz ¹siegreichª hervorgegangenen Dimension und Hemmung der übrigen Dimensionen in Abb. 3-19.
Dabei handelt es sich um Verarbeitungsdimensionen, die sich
aus der Kombination der Sinnesmodalitäten (z. B. visuell-akustisch) der Art der Codierung (z. B. räumlich-verbal) und den Reaktionsmöglichkeiten (z. B. manuell-vokal) ergeben. Jede dieser
Dimensionen benötigt bei neuen Aufgaben einen verstärkten
Zustrom an aktivierenden Ressourcen in jene Verarbeitungssysteme, die mit einer bestimmten Reiz-Reaktions-(S-R-)Abfolge
befasst sind.
Unterbrechung und Lösung (interrupt and disengagement)
der Aufmerksamkeit. Führt die in Abb. 3-18 gezeigte Bewertung der Reizkonfiguration zu einem Mismatch, also einem
Warnsignal, so muss das informationsverarbeitende System
die gerade ablaufenden Operationen unterbrechen und die
alten Ziele vorerst aufgeben. Abb. 3-20 zeigt eine typische
Aufgabe zur Aufmerksamkeit.
Zuerst erfolgt ein Warnsignal (Hinweisreiz; Cue), kurz danach erscheint der Zielreiz (Target) in dem erwarteten oder
unerwarteten Feld. Auf den unerwarteten Reiz reagiert die
Versuchsperson langsamer. Es braucht Zeit, sich vom erwarteten Ort zu lösen. Die Leistung ist an dem Ort erleichtert, auf
den die Aufmerksamkeit gelenkt war, und am anderen gehemmt. Abb. 3-21 führt die wesentlichen Denkoperationen
auf, wenn ein angekündigter Reiz beantwortet wird. Personen mit Neglect, die eine Körper- oder Gesichtshälfte völlig
ignorieren, achten automatisch auf periphere Reize, wenn ihre Aufmerksamkeit nicht gebunden ist, ignorieren diese aber
völlig, wenn sie aufmerksam mit einem anderen Reiz oder
Gedanken beschäftigt sind. Es liegt hier ein Defekt des ¹Disengagementª vor, die Personen können sich nicht von dem
gerade aufmerksam verfolgten Vorgang lösen.
é
Wir können die Aufgaben der kontrollierten
(selektiven) Aufmerksamkeit wie folgt zusammenfassen: (1) Setzen von Prioritäten
zwischen konkurrierenden und kooperierenden Zielen in einer Zielhierarchie zur
Kontrolle von Handlung; (2) Aufgeben (disengagement) alter oder irrelevanter Ziele;
(3) Selektion von sensorischen Informationsquellen zur Kontrolle der Handlungsparameter (sensorische und motorische Selektion); und (4) selektive Präparation und Mobilisierung von Effektoren (Tuning)
3.2 Bewusstsein und Aufmerksamkeit
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Lernen von Annäherung und Vermeidung und dem Lernen
von Signalbedeutungen zugrunde liegen, im Wesentlichen
aufgeklärt. Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts begann man ±
vorerst im Tierversuch ± die biologischen Grundlagen dieser
im Reich des Lebendigen universell geltenden Lerngesetze
systematisch physiologisch zu erforschen.
Dabei wiederholte sich der erstaunliche Erfolg der Lernpsychologie auch in der Lernphysiologie: Den Gesetzmäûigkeiten für die Modifikation von Verhalten und Denken lagen
wiederum universelle, d. h. für alle Lebewesen geltende physiochemische Prozesse zugrunde. In ihrer Universalität lassen
sich die psychologischen und physiologischen Lernvorgänge
durchaus mit den Prinzipien der Weitergabe von biologischer
Information über Generationen, den Gesetzen der Vererbung,
vergleichen, mit denen sie erstaunliche Parallelen aufweisen.
Die Anwendung der Biologischen Psychologie des Lernens
auf die Heilung von psychischen und physischen Krankheiten stellt eine der wichtigsten Aufgaben der Humanwissenschaften für die Zukunft dar.
l l l Lernen und Gedächtnis kann als
Konditionierung (Verhaltensgedächtnis)
oder als kognitiver Prozess
(Wissensgedächtnis) aufgefasst werden
Abb. 3-21. Hypothetische mentale Operationen, die nach Aufleuchten des Hinweisreizes (Cue) aus Abb. 3-20 ablaufen. Der
Hinweisreiz unterbricht (Interrupt) zunächst die Aufmerksamkeit
der Versuchsperson von ihrem derzeitigen Fokus. Die Person
muss daher ihre Aufmerksamkeit von diesem Punkt lösen (Disengage). Danach muss sie die Aufmerksamkeit auf den Ort des
Cues lenken (Move). Die Fixierung (Engage) der Aufmerksamkeit
auf den neuen Punkt bewirkt, dass am kortikalen Ort der Reizverarbeitung der Cues erhöhte neuronale Aktivität auftritt
p
p
PH
3.3
Lernen und Gedächtnis1
PS
l l l Die Entwicklung der Lernpsychologie
zeigt universelle Gesetzmäûigkeiten
von Lernprozessen auf
Die Anpassung des Organismus an sich ständig verändernde
Umweltbedingungen erfordert eine Vielzahl homöostatischer
und nicht-homöostatischer Anpassungsvorgänge. All diese
physiologischen Regelungen setzen aber voraus, dass der Organismus lernt, potentiell gefährliche Situationen und Reize
schon vor deren Auftreten zu vermeiden und potentiell nützliche Situationen aufzusuchen. Meist werden solche ¹nützlichenª Situationen auch als lustvoll erlebt und deshalb wiederholt aufgesucht. Die Lernpsychologie hat in den letzten
100 Jahren die psychologischen Gesetzmäûigkeiten, die dem
1
Dieser Abschnitt wurde verändert aus Birbaumer N, Schmidt RF (1999) Biologische Psychologie, 4. Aufl. Springer, Heidelberg, übernommen.
52
Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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Zwei Formen des Lernens. Die Lern- und Gedächtnispsychologie ist in zwei theoretisch divergierende Forschungsrichtungen geteilt, die sich auch in der Physiologie von Lernen
und Gedächtnis wiederfinden:
· Lernen und Gedächtnis als Konditionierung (klassisch
oder instrumentell),
· Lernen und Gedächtnis als kognitive Prozesse.
Die Divergenz ist vor allem methodisch und weniger theoretisch begründet: Während Lernen und Behalten im Tierversuch einfacher mit Konditionierungsprinzipien vorhersagbar sind, werden im Humanversuch der Erwerb, das
Behalten und Wiedergeben von Wissen und Fertigkeiten mit
Prinzipien der Informationsverarbeitung erklärt (Verhaltensgedächtnis und Wissensgedächtnis). Während die behavioristisch orientierten Konditionierungsforscher (z. B. B. F.
Skinner) auch komplexe Lernprozesse (z. B. Spracherwerb)
auf der Grundlage von Konditionierungsregeln erklären wollen, glauben kognitive Gedächtnisforscher, dass zusätzliche
Prinzipien zum Verständnis von Wissenserwerb notwendig
sind.
Lernen in Netzwerken. Die Kontroverse setzt sich auch in der
Biologischen Psychologie des Lernens fort. Während die einen glauben, Lernen und Gedächtnis auf Einzelzellniveau erklären zu können, gehen die anderen davon aus, dass in der
evolutionären Entwicklung komplexer Lern- und Gedächtnisvorgänge viele, einander z. T. überlappende Systeme hinzugekommen sind: Sowohl die Repräsentation als auch die
Verarbeitung von Information komme nicht ohne Zusammenarbeit vieler neuronaler Netzwerke aus und könne nicht
aus der Tätigkeit einer einzigen Zelle erklärt werden.
Eine Biologische Psychologie des Lernens sollte alle aus
der Lern- und Gedächtnispsychologie bekannten Phänomene
in physiologische Prozesse übersetzen können. Die Kenntnis
der psychologischen Gesetze des Lernens ist daher Voraussetzung für eine zielführende physiologische Analyse eben
dieser Prinzipien.
l l l Gedächtnisinhalte werden entweder
implizit, d. h. unbewusst, oder explizit,
d. h. bewusst und willentlich,
wiedergegeben; synonyme Begriffspaare
sind prozedural versus deklarativ und
Verhaltens- versus Wissensgedächtnis
Gedächtnissysteme. Ein Gedächtnissystem (Abschn. B-6.1)
besteht aus einer abgrenzbaren Gruppe von Hirnarealen und
-prozessen, die auf die Speicherung und Wiedergabe ganz
bestimmter Informationen spezialisiert sind. Die Information,
die in die einzelnen Systeme aufgenommen werden soll, wird
seriell codiert und encodiert: Sie wird zeitlich ± in der
Reihenfolge ihres Eintreffens ± verschlüsselt. Gespeichert
wird in der Regel parallel, das bedeutet, dass die Information
gleichzeitig in mehreren Systemen abgelegt werden kann.
Abb. 3-22 gibt die wichtigsten, heute unterscheidbaren
Gedächtnissysteme wieder. Diese Systeme sind nicht streng
voneinander abgrenzbar, sondern es bestehen flieûende
Übergänge und Überlappungen zwischen ihnen.
Implizites versus explizites Lernen und Gedächtnis. Die
Grobunterscheidung zwischen implizitem und explizitem
Lernen, wie sie Abb. 3-22 zeigt, bezieht sich ausschlieûlich
auf die subjektive Erfahrung der Person zum Zeitpunkt der
Wiedergabe aus dem jeweiligen Gedächtnissystem: Erfolgt
die Wiedergabe ohne willentliche Anstrengung und nichtbewusst, so sprechen wir von implizitem Gedächtnis, erfolgt
Abb. 3-22. Klassifikation des Gedächtnisses. Deklaratives (explizites) Gedächtnis ist für die bewusste Wiedergabe von Fakten
und Ereignissen verantwortlich. Prozedurales (implizites) Gedächtnis ist für die Wiedergabe von Fertigkeiten, Gewohnheiten,
Bewegungsfolgen und Regeln sowie für die klassische Konditionierung verantwortlich. Priming bedeutet Erleichterung der Einprägung oder Wiedergabe durch einen unmittelbar vorher dargebotenen Reiz
sie intentional-willentlich, nennen wir dies explizites Gedächtnis.
Die Begriffe implizit ± explizit werden oft mit prozedural
± deklarativ synonym gebraucht, was wiederum den alten
Begriffen Verhaltensgedächtnis und Wissensgedächtnis entspricht. Tabelle 3-1 zeigt aber auch, dass diese einfache Dichotomie ± prozedural = motorische Fertigkeiten und deklarativ = bewusstes Wissen von Fakten ± der Heterogenität von
Lern- und Gedächtnisprozessen nicht mehr vollständig gerecht wird (sie wird dennoch aus didaktischen Gründen hier
weitgehend beibehalten).
Tabelle 3-1. Explizit-deklaratives und implizit-prozedurales Gedächtnis
Deklaratives Wissensgedächtnis
Prozedurales Habitgedächtnis
Ort
Hippocampus, dorsomedialer Nucleus des
Thalamus, sekundäre sensorische Areale,
präfrontaler Kortex
Motorischer und prämotorischer sowie lateralpräfrontaler Kortex, extrapyramidale Kerne
(Striatum), Cerebellum, limbische und dienzephale
Verstärkerstrukturen
Codierung
Konfigurationen von Reizen und Reaktionen
(propositionell) ± kognitiv (episodische und
semantische Inhalte). Speichert Fakten,
Episoden, und Daten: ¹Gewusst, was.ª
Kann in einem Durchgang gelernt werden
(Alles-oder-Nichts-Lernen)
S-R- und S-S-Assoziationen (Wahrscheinlichkeitslernen) ± behavioral (Verhaltensakte, Gewohnheiten
(habits)). Speichert gezielte Bewegungsfolgen (skills)
und Regeln (Prozeduren):
¹Gewusst, wie.ª Benötigt Wiederholungen
Wiedergabe
Nur nach Konsolidierung, nur über aktiven,
intentionalen Suchprozess zugänglich
(¹controlled processingª) ± ¹reflektivª:
Wiedergabe stark vom Kontext und elaborierter Verarbeitung abhängig
Keine Konsolidierung (¹automatic processingª),
kein aktiver Suchprozess notwendig ± ¹reflexivª:
Wiedergabe weniger stark vom Kontext abhängig.
Elaborierte Verarbeitung nicht notwendig
Auslöser für Wiedergabe
Incentives, propositionelle Cues (Hinweisreize)
CS und SD
Behalten
Zielgerichtete Erwartungen werden aufgebaut
und bestätigt bzw. verworfen
Für viele Verarbeitungssysteme zugänglich
Phylogenetisch jung, ontogenetisch spät
(ab 3±5 Jahren)
Der bewussten Erinnerung zugänglich
Verstärkung stabilisiert habit
In den Verarbeitungssystemen (z. B. visuell,
motorisch) selbst enthalten; phylogenetisch alt,
ontogenetisch früh (infantile ¹Erinnerungenª).
Der bewussten Erinnerung schwer zugänglich
3.3 Lernen und Gedächtnis
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53
Mit den Begriffen prozedural und deklarativ soll betont
werden, dass wir die Tatsache, dass wir ¹etwas wissenª (prozedural), von der Tatsache unterscheiden müssen, dass ¹wir
wissen, dass wir es wissenª (deklarativ). Prozedural ist die
Modifikation von Verhalten beim Erlernen einer Fertigkeit,
deklarativ ist die Fähigkeit wiederzugeben, wann und wie die
Information erworben wurde. Prozedurales Gedächtnis ist
selten bewusst, benötigt weniger aktive Willensanstrengung
(Effort) und Aufmerksamkeit und kann verbal nur schwer
¹auf Kommandoª aufgerufen werden. Prozedurales Gedächtnis ¹enthältª also in detaillierter Form die Aktionen, deklaratives Gedächtnis vor allem die sprachlich codierten Regeln
ihrer Ausführung.
Deklaratives Gedächtnis lässt sich in episodisches und semantisches Gedächtnis untergliedern. Episodisches Gedächtnis enthält die Ereignisse unserer eigenen Vergangenheit,
weshalb es oft auch als autobiographisch bezeichnet wird.
Das semantische Gedächtnis ist unabhängig von Zeit und
Ort, es enthält generelle Konzepte und Regeln, also Sinnzusammenhänge und Bedeutung. Man kann sich z. B. an das
Konzept ¹Löweª erinnern, ohne je einen Löwen gesehen zu
haben. Nach einem aktuellen Erlebnis mit einem Löwen wird
der Gedächtnisinhalt episodisch.
Wir wollen zuerst die wichtigsten Formen impliziten Lernens und danach das explizite Wissensgedächtnis darstellen.
l l l Die enge zeitliche Paarung (Kontiguität)
von Reiz und Reaktion ist das Kennzeichen
assoziativen Lernens; nicht-assoziativer
Wissenserwerb erfolgt ohne Kontiguität
Assoziatives und nicht-assoziatives Lernen. Konditionierungsvorgänge werden als assoziatives Lernen bezeichnet,
da der zentralnervöse Prozess in der Herstellung einer Assoziation zwischen Reizen (S von Stimulus) und Reaktionen (R)
besteht und damit von Wissenserwerb abgegrenzt ist. Wissenserwerb besteht in der aktiven Rekonstruktion der gesamten Reizsituation, Assoziationen spielen dabei ebenfalls eine
Rolle, sind aber nicht ausschlaggebend.
Assoziatives Lernen wird von nicht-assoziativem Lernen
abgegrenzt: Bei nicht-assoziativen Lernprozessen ändert sich
Verhalten auch als Konsequenz von Wiederholung der Reizsituation oder der Reaktion, und nicht als Folge der engen
zeitlichen Paarung (Assoziation) von Reizen und Reaktionen.
Habituation und Sensitivierung sind Beispiele für nicht-assoziative Lernvorgänge: Die ¾nderungen im Verhalten sind
dabei nur eine Funktion der Reizstärke und der wiederholten
Darbietung und nicht der zeitlichen Paarung (Kontiguität).
l l l Bei der klassischen Konditionierung
wird ein neutraler Reiz mit einem
unkonditionierten Reiz solange zeitlich
eng gepaart, bis ersterer alleine die
konditionierte Reaktion auslöst
Akquisition (Aneignung) der klassischen Konditionierung.
Die Prinzipien der klassischen Konditionierung sind universelle Lerngesetze: Sie gelten von einfachen Lebewesen (z. B.
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Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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Schnecken) bis zum Menschen. Ein neutraler Reiz, z. B. Licht
oder Ton (CS), wird kurz vor (optimales Intervall 200±500
ms) einem unkonditionierten Reiz, US (Futter), dargeboten,
der eine unkonditionierte Reaktion, UR (Speichelfluss), auslöst. Nach wiederholter Paarung (Kontiguität) löst der CS
auch ohne US eine konditionierte Reaktion, CR (Speichelfluss), aus. Die CR ist in der Regel schwächer als die UR.
Überschreitet das CS-US-Intervall 1 s, so wird eine klassische
(Pawlowsche) Konditionierung zunehmend unwahrscheinlicher, abgesehen von potentiell toxischen Geruchs- und Geschmacksreizen bzw. Reizen, die eine angeborene (prepared)
¹assoziativeª Verbindung bei längerem CS-US-Intervall aufweisen (z. B. Essen und Darbietung eines toxischen Reizes
eine Stunde später). Die optimalen Intervalle zwischen CS
und US bei konditionierter Geschmacksaversion sind (in Abhängigkeit vom Chemismus des toxischen US) Minuten bis
Stunden.
Eigenschaften der klassischen Konditionierung. Die wiederholte Darbietung des CS allein nach erfolgter Konditionierung führt zur Abschwächung der CR und wird Extinktion
(Löschung) genannt. Extinktion und Habituation weisen
viele ¾hnlichkeiten auf, so dass häufig davon ausgegangen
wird, dass die zugrunde liegenden neuronalen Prozesse identisch sind.
Eine CR wird auch auf Reize ausgelöst, die dem ursprünglichen CS sehr ähnlich sind; wenn der CS ein Ton von 1000
Hz war, so erfolgt eine ± allerdings abgeschwächte ± CR auf
einen 700-Hz-Ton, auch wenn dieser nie mit dem US gepaart
wurde: Wir nennen diesen Vorgang Generalisation.
Werden zwei CS (z. B. ein Licht und ein Ton) abwechselnd
und hintereinander dargeboten und folgt nur auf den CS1
(Licht) ein US (z. B. Lärm), so reagiert der Organismus nach
mehreren Durchgängen nur noch auf CS1. Er hat gelernt, CS1
von CS2 zu unterscheiden (Diskrimination).
Erscheint der US vor dem CS, so erfolgt in der Regel keine
Konditionierung, d. h. der CS löst danach, allein dargeboten,
keine CR aus. Man nennt diese Situation Rückwärtskonditionierung. Wird der CS alleine, vor der eigentlichen Konditionierung, also CS-US-Paarung dargeboten, so fällt die Konditionierung schwächer aus; dieses Phänomen wird als latente
Hemmung bezeichnet.
Abb. 3-23 zeigt eine Versuchsanordnung, die für das Erlernen von Verhaltensketten wichtig ist: Ein ursprünglich für
eine bestimmte CR (Speichelfluss) wirksamer CS1 (Licht) löst
eine völlig neue Reaktion aus (Anheben des Beins). Lernvorgänge dieser Art nennen wir Konditionierung zweiter und
höherer Ordnung. Die in Abb. 3-23 a dargestellte Versuchssituation entspricht der von Pawlow entwickelten klassischen
Konditionierung: Ein neutraler Reiz (Licht, CS1) wird kurz
vor dem Futter (US) dargeboten. Das Tier lernt, auch auf CS1
mit der nun konditionierten Reaktion (CR, Speichelfluss) zu
reagieren. In Abb. 3-23 b fungiert der ursprüngliche US als
CS2 und wird kurz vor einem neuen US, einem aversiven
elektrischen Reiz dargeboten, nachdem die Situation aus
Abb. 3-23 a bereits gelernt wurde. Abschlieûend (Abb. 323 c) erscheint nur der Lichtreiz von Abb. 3-23 a, das Tier
zeigt kurz eine Speichelreaktion und hebt danach die Pfote.
Abb. 3-24. Zielreaktion eines Vogels auf einen Attrappenschnabel unmittelbar nach dem Ausschlüpfen (0) und 1, 2, 3 und
4 Tage später
Abb. 3-23 a±c. Konditionierung zweiter Ordnung. Dabei dient
die Speichelflussreaktion als vermittelnder Reiz für die Auslösung der motorischen Reaktion (Pfoten anheben). Erläuterung
im Text
l l l Unter Prägung verstehen wir das Erlernen
eines Verhaltens auf ein spezifisches
Reizmuster in einer begrenzten Periode
der Entwicklung
Prägungsvorgang. Prägung (Imprinting) ist eine spezielle
Form von assoziativem Lernen auf der Grundlage einer angeborenen Sensibilitätserhöhung für spezifische Reiz-Reaktions-Verkettungen in einem bestimmten Abschnitt der Entwicklung eines Lebewesens. Populäres Beispiel sind Konrad
Lorenz junge Graugänse, die innerhalb eines eng umschriebenen Zeitabschnitts ihrer Entwicklung lernten, auch dem
Menschen zu folgen, wenn der natürliche Auslöser (Muttergans) nicht vorhanden war. Bei der Prägung äuûert sich also
die soziale Bindung in Form von Annäherungsverhalten an
das ¹geprägteª Objekt (in der Regel das Muttertier) und in
Abwehr- und Fluchtverhalten gegenüber fremden Objekten.
Prägung tritt vor allem bei Tieren auf, die sich schon wenige Stunden nach der Geburt fortbewegen können, vor allem bei Vögeln. Ohne rasche Einprägung potentiell bedrohlicher Objekte und örtliche Bindung an die für Fütterung ¹Verantwortlichenª würden diese Tiere Gefahr laufen, sich zu
weit vom Bindungsobjekt zu entfernen und nicht zu überleben. Bei Säugetieren, die nach der Geburt längere Zeit völlig
hilflos sind, findet man Prägung selten. In der Regel benötigt
aber auch Prägung einige Lerndurchgänge mit Verstärkungen; es liegt also kein fundamentaler Unterschied zu den anderen Formen assoziativen Lernens vor (Abb. 3-24).
Präferenzen und Prädispositionen. Bei Säugern und beim Menschen existieren ähnliche Formen des Lernens, bei denen Reaktionen assoziativ an biologisch bedeutsame Auslösereize mit
ganz spezifischen Reizqualitäten gebunden werden. Geruchsund Geschmacksreize z. B. führen zu lebenslangen Präferenzen,
auch wenn CS und US bzw. Reaktion und Konsequenz Stunden
auseinander liegen. Das bereits erwähnte Phänomen der Preparedness, der Prädisposition, auf bestimmte Objekte ± oft schon
nach einmaliger Darbietung ± besonders stabile Erinnerungen
(¹Alles-oder-Nichts-Lernenª) auszubilden, beruht ebenfalls auf
angeborenen, besonders sensitiven Reiz-Reaktions-Mustern: So
verlernen wir physiologische Angstreaktionen wie Schweiûdurchfeuchtung der Haut bei Darbietung von Spinnen und
Schlangen sehr viel langsamer als bei faktisch höchst gefährlichen Reizen, z. B. technischen Objekten oder Waffen.
l l l Bei der instrumentellen (operanten)
Konditionierung folgt unmittelbar auf die
zu lernende Reaktion ein belohnender
oder bestrafender Reiz; dies führt zu
positiver Verstärkung oder Bestrafung
des Verhaltens
Ablauf der instrumentellen (operanten) Konditionierung.
Wenn auf eine motorische Reaktion (z. B. Tastendruck in einer Skinner-Box) unmittelbar eine positive oder negative
Konsequenz (z. B. Futter) folgt und danach die Reaktion wie3.3 Lernen und Gedächtnis
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derholt (bzw. unterlassen) wird, so heiût dies instrumentelles
oder operantes Lernen. Von instrumenteller Konditionierung
spricht man, weil die Reaktion als ¹Instrumentª für die Konsequenz benutzt wird; operante Konditionierung leitet sich
vom Englischen ¹to operate onª (einwirken) ab: Die Reaktion
wirkt auf die Konsequenz. Dabei muss die Konsequenz unmittelbar, d. h. im Sekundenabstand auf die Reaktion folgen,
sonst wird nicht gelernt. Ausnahmen sind wieder angeborene
(prepared) Reiz-Reaktions-Verbindungen (s. o.). Wie bei der
klassischen Konditionierung gelten die Prinzipien instrumentellen Lernens für Mensch und Tier gleichermaûen.
Primäre Verstärker. Die positiven oder negativen Konsequenzen, die zu instrumentellem Lernen führen, nennt man positive oder negative Verstärker. Primäre positive Verstärker
sind Reize, die angeboren oder sehr früh in der ontogenetischen Entwicklung die Wahrscheinlichkeit für das Wiederauftreten einer Reaktion erhöhen (positive Verstärker): Nahrung, Flüssigkeit, sexuelle Aktivität, soziale Zu- und Abwendung, Temperaturänderungen etc. Strafreize unmittelbar
nach einer Reaktion reduzieren die Auftrittswahrscheinlichkeit der Reaktion. Ein negativer Verstärker ist ein Reiz, nach
dessen Beendigung oder Vermeidung sich die Auftrittswahrscheinlichkeit der vorausgegangenen Reaktion erhöht.
Sekundäre Verstärker. Dies sind verstärkende Reize, die erst
durch zeitliche Paarung mit primären Verstärkern die Wahrscheinlichkeit von Verhalten verändern; z. B. kann ein völlig
neutraler Lichtreiz, wenn er mit Futtergabe gepaart wurde,
danach selbst als sekundärer positiver Verstärker Verhalten
beeinflussen. Generalisierte Verstärker sind verstärkende
Reize, die auf eine Vielzahl von Verhaltensklassen modifizierend einwirken (z. B. Geld, soziales Prestige etc.).
Eigenschaften instrumentellen Lernens. Tabelle 3-2 zeigt die
wichtigsten Kategorien und Typen instrumentellen Lernens:
· Darbietung eines positiven Verstärkers unmittelbar nach einer
Reaktion führt zu Erhöhung der Reaktionsrate und Annäherung an die Lernsituation (Belohnung, 1).
Tabelle 3-2. Verhaltenskonsequenzen (vertikale Spalten)
operanter Verstärkungsprozeduren (horizontale Reihen):
p(R)" Konsequenz der Prozedur ist ein Anstieg der Reaktionswahrscheinlichkeit p(R) jener Reaktionen, auf die ein
verstärkender Reiz folgt; p(R)# Konsequenz der Prozedur ist
ein Abfall der Reaktionswahrscheinlichkeit p(R) jener Reaktion, auf die ein verstärkender Reiz folgt. Die Zahlen beziehen sich auf die Erläuterungen im Text
Prozedur
56
Konsequenz
p(R)"
p(R)#
Darbietung
(presentation)
Belohnung
(Annäherung)
Bestrafung
1 (passives
Vermeiden)
Beenden
(termination)
Bestrafung Typ I
(Flucht)
Belohnung Typ I
2 (Auszeit, time out)
5
Ausbleiben
(omission)
Bestrafung Typ II
(aktives
Vermeiden)
Belohnung Typ II
3 (Extinktion)
6
4
Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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· Beenden eines negativen Verstärkers, z. B. Abschalten eines
elektrischen Schocks, führt zu Wiederholung dieser Fluchtreaktion bei neuerlichem Auftreten des Schocks (Bestrafung
vom Typ I, 2).
· Wird durch eine Reaktion das Auftreten eines negativen Verstärkers verhindert, z. B. durch Händewaschen Verschmutzung, so wird diese Reaktion bei Wiederauftreten der Situation wieder ausgelöst. Aktives Vermeiden kann auch mit ¹tu
das, sonst ¼ª umschrieben werden (Bestrafung vom Typ II, 3).
· Dagegen wird bei passivem Vermeiden (¹tu das nicht, sonst
¼ª) ein Strafreiz nach der Reaktion dargeboten. Ein elektrischer Schlag nach Tastendruck führt in Zukunft zum Unterlassen der Reaktion (Bestrafung, 4).
· Wird eine Reaktion vom Beenden eines positiven Verstärkers
gefolgt, so sinkt ihre Auftrittswahrscheinlichkeit, z. B. ein tobendes Kind kurz in ein leeres Zimmer bringen (Auszeit, 5).
· Bleibt ein positiver Verstärker aus, so sinkt die Verhaltenshäufigkeit, es wird gelöscht (Extinktion, 6).
Wie bei der klassischen Konditionierung führt positive Verstärkung einer Reaktion in Gegenwart eines so genannten
diskriminativen Reizes (SD) zum Anstieg dieser Reaktion im
Vergleich zu Reaktionen in Gegenwart eines nicht-verstärkten Reizes (S-Delta) oder eines Reizes, auf den Bestrafung
folgt: instrumentelle Diskrimination im Gegensatz zu instrumenteller Generalisation, bei der eine in Gegenwart eines SD1
verstärkte Reaktion auch in Gegenwart eines unverstärkten,
aber ähnlichen SD2 auftritt.
Wie beim klassischen Konditionieren wird die Akquisitionsrate (Lernerwerbsphase) und Stabilität (Extinktionsresistenz) von einer Reihe von Variablen beeinflusst. Neben
dem motivationalen Zustand des Lebewesens sind die Verstärkungspläne (schedules of reinforcement) entscheidend.
Ein Verstärkungsplan kennzeichnet die Abfolge der Darbietung von negativen und positiven Verstärkern oder von
Strafreizen. Wird ein Verhalten jedes Mal bei seinem Auftreten verstärkt, so wird zwar rasch gelernt, aber auch wieder
rasch verlernt. Bei intermittierender Verstärkung, bei der
nicht jede Reaktion verstärkt wird, bleibt das Gelernte länger
stabil.
Vergleich zwischen klassischer und instrumenteller Konditionierung. Die beiden Konditionierungsformen weisen ¾hnlichkeiten (z. B. die Zeitintervalle zwischen den kritischen Ereignissen), aber auch Unterschiede auf, die eine beiden Prozessen gemeinsame, identische physiologische Basis unwahrscheinlich erscheinen lassen. Instrumentelles Lernen vegetativ-autonomer Reaktionen ist schwerer zu erzielen als
die klassische Konditionierung viszeraler Reaktionen und
umgekehrt: Klassische Konditionierung muskulärer Aktivitäten (von Verhalten) benötigt mehr Lerndurchgänge.
l l l Beim Wissensgedächtnis wird ein
Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis
vom Langzeitgedächtnis abgegrenzt;
Speicherung im Langzeitgedächtnis
erfordert Konsolidierung
Allgemeines Modell des Wissensgedächtnisses. Hermann Ebbinghaus unterschied bereits 1885 zwischen Gedächtnisspanne und natürlichem Gedächtnis, heute Kurzzeit- (KZG)
Abb. 3-25. Gedächtnis als Informationsverarbeitungssystem. Die einzelnen Stadien oder Ebenen der Gedächtnissysteme sind als
rote Rechtecke, die beteiligten Prozesse grau gezeichnet. Einzelheiten im Text
und Langzeitgedächtnis (LZG) (engl. STM von short term
memory; LTM von long term memory) genannt. Das KZG
wird häufig auch Arbeitsgedächtnis (working memory) genannt oder als aktives Gedächtnis und unmittelbares Gedächtnis mit begrenzter Speicherkapazität bezeichnet. Der
Übergang vom KZG in das LZG erfordert meist organismusinterne oder -externe Wiederholung (rehearsal) des dargebotenen Materials. Der zugrunde liegende Prozess wird Konsolidierung genannt (Abb. 3-25). Unter Konsolidierung wird
das zyklische ¹Kreisenª (Wiederholen) von Information im
selben Abschnitt des KZG verstanden, das die Information
dort ¹am Lebenª hält, so dass sie nach einer bestimmten Anzahl von Zyklen eine hypothetische kritische Schwelle zum
LZG überschreiten kann.
In dem Modell von Abb. 3-25 passieren die Reize zuerst
das sensorische Gedächtnis, danach KZG und LZG: Auf jeder
der drei Ebenen wirken kognitive, informationsverarbeitende
Prozesse (in Abb. 3-25 grau eingerahmt) und bereiten die Information für die nächste Verarbeitungsstufe auf.
Ikonisches und echoisches Gedächtnis. Merkmalsextraktion,
Erkennen und Identifikation des Reizes, Mustererkennen und
Benennen sind die wichtigsten Encodierungsaufgaben des
sensorischen Gedächtnisses. Im visuellen System wird es als
ikonisches, im akustischen als echoisches Gedächtnis bezeichnet. Die Information ist nicht nur kurzlebig (im ikonischen weniger als 1 s), sondern wurde auch noch nicht mit
Langzeitinhalten verglichen und somit bewertet.
Unter Encodierung verstehen wir auf psychologischer
Ebene die Umformung oder Verschlüsselung der Information
in unverwechselbare zeitliche Sequenzen, räumliche Konfigurationen oder semantische Beziehungen. Auf neuronaler
Ebene wird die Information durch ¾nderung zellulärer Bestandteile und neuronale Aktivität so umformatiert, dass sie
für den nächsten Verarbeitungsschritt verfügbar ist und
gleichzeitig die psychologische Ebene korrekt abbildet
(Abschn. B-6.1, D-3.1).
l l l Dem Kurzzeitgedächtnis ist ein
sensorisches Gedächtnis vorgeschaltet, das
die Information für das KZG aufarbeitet
l l l Das Kurzzeitgedächtnis (KZG) hat
eine beschränkte Speicherkapazität von
7  2 Elementen und besteht aus einem
Arbeitsbereich (workbench) und seinen
Inhalten
Perzeptive Repräsentation im sensorischen Speicher. Wenn
eine groûe Zahl von Reizen (z. B. 12 Buchstaben) extrem kurz
dargeboten werden (z. B. < 50 ms), so können 0,5±1 s danach
oft bis zu 80 % wiedergegeben werden, ähnlich wie bei optischen Nachbildern. Nach wenigen Sekunden sinkt die
Wiedergabe auf bis zu 20 % ab. Aus solchen und anderen
Befunden schlieût man auf die Existenz eines sensorischen
Speichers mit groûer Speicherkapazität in den primären Sinnessystemen, der die sensorischen Reize für Sekunden und
Sekundenbruchteile stabil hält, um die Codierung und Merkmalsextraktion (s. u.) sowie die Anregung von Aufmerksamkeitssystemen zu ermöglichen. Alle ankommenden Reizmuster werden nicht-bewusst und äuûerst schnell (in ms) auf
einige wichtige Elemente (z. B. bedrohlich ± neutral) analysiert, bevor selektive Aufmerksamkeitssysteme aktiviert werden. Auch dieser Befund macht die Annahme eines umfangreichen und äuûerst schnell funktionierenden Gedächtnissystems notwendig. Dieses schnelle perzeptive Repräsentationssystem fasst gleichzeitig auftretende Merkmale zusammen (Binding) und ermöglicht damit bereits auf vorbewusster Ebene die Bildung von Gestalten und von Bedeutung.
¹The magic number 7ª. Ohne Training können wir maximal
sieben bis neun Zahlen oder Einheiten wiedergeben. Die
Inhalte des KZG sind aber nicht wie im sensorischen
Gedächtnis ¹rohª, den ankommenden Reizen entsprechend
und unbearbeitet, sondern werden auf einer Art Werkbank
wiederholt, zu Einheiten verkettet und geordnet. Damit
können trotz des raschen Verlusts von Information in Sekunden bis Minuten viele Inhalte als zusammengesetzte Einheiten behalten werden. Auf der Werkbank werden also neue
Inhalte erzeugt, die so nicht in der Umgebung vorhanden
waren. Je mehr Inhalte einströmen, umso weniger Platz
bleibt für Assoziation, Organisation und Gruppierungen. Die
Arbeit an der Werkbank benötigt Aufmerksamkeitsressourcen und äuûert sich als bewusste, kontrollierte Verarbeitung.
Durch die Organisation von Elementen in Chunks (Verhaftungen, Gruppierungen oder Superzeichen) können sehr viel
gröûere Informationsmengen auch ohne Wiederholung
(rehearsal) im KZG aufgenommen werden. Es passen allerdings nicht mehr als 5±7 Chunks in das KZG. Chunks können
die Verbindungen z. B. von Buchstabengruppen in einem
3.3 Lernen und Gedächtnis
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Tabelle 3-3. Typische Fragen und Antworten im Experiment von Craik und Tulving. Elaborierte Verarbeitung, die
z. B. durch die Satzfrage ausgelöst wurde, führt zu besserer
Reproduktion als weniger elaborierte Verarbeitung
Art
Frage
Antwort
Ja
Nein
Form
Is the word in capital letters? TABLE
(Ist das Wort in Groûbuchsta- (TISCH)
ben geschrieben?)
table
(Tisch)
Reim
Does the word rhyme with
weight?
(Reimt sich das Wort mit
weight (Gewicht)?)
crate
(Korb)
MARKET
(MARKT)
Satz
Would the word fit in the
sentence:
¹He met a _____ in the
street.ª?
(Passt das Wort in den Satz:
¹Er traf einen _____ auf der
Straûe.ª?)
FRIEND
(FREUND)
cloud
(Wolke)
Wort oder mehrerer Töne zu einem Rhythmus darstellen.
Deshalb ist das KZG auch für Sprachverständnis und Sprachproduktion essentiell. Die Informationsmenge pro Chunk
kann sehr hoch sein.
Die wesentliche Funktion des KZG besteht in Wiederholung (rehearsal) und Konsolidierung, wobei nach jedem Memorierungsdurchgang eine Teileinheit (Chunk) des verfügbaren Materials in das LZG übertragen wird.
Elaboriertes Speichern und Erinnern. Die Übertragung in das
LZG erfolgt nur bei ¹tieferª und ¹reichhaltigerª Codierung
der Information im KZG. Dies wird elaboriertes Memorieren
genannt. Darunter versteht man das Fortschreiten der Reizanalyse von ¹oberflächlicherª physikalischer Beschaffenheit
etwa eines Satzes über dessen syntaktische und phonemische
Struktur bis zur ¹tiefenª semantischen Analyse seiner Bedeutung. Je elaborierter die Codierung, umso mehr Zeit benötigt
sie, aber umso stabiler wird die Information behalten; je
mehr Beziehungen (zeitliche, räumliche und semantische)
zwischen den dargebotenen Inhalten entwickelt werden, umso reichhaltiger der ¹Codeª und umso gröûer ist die Wahrscheinlichkeit der Übertragung ins LZG.
Tabelle 3-3 zeigt einige typische Fragen und Antworten
aus einem Experiment von Craik und Tulving: Nachdem die
Versuchspersonen viele solcher Fragen beantwortet hatten,
wurden Behaltens- und Wiedergabeerkennungstests für die
Wörter durchgeführt. Wörter, die elaboriertes Verarbeiten erfordert hatten (z. B. Satz statt Form in Tab. 3-3), wurden sehr
viel besser behalten.
l l l Im Langzeitgedächtnis ist die Information
nach ihrer Bedeutung und im Kontext
gespeichert; zur Wiedergabe
muss das Gedächtnismaterial
aus dem Langzeitspeicher in das
Kurzzeitgedächtnis gebracht werden
Neurobiologische Theorien, die auf tierphysiologischen Untersuchungen basieren, gehen in der Regel von der Annahme
eines einheitlich organisierten LZG aus, das sich vor allem in
veränderten Proteinsynthesemechanismen der Nervenzelle
wiederfindet. Untersuchungen aus der Kognitiven Psychologie legen dagegen nahe, dass mindestens zwei grundlegend
verschiedene Formen von LZG existieren, nämlich prozedurales und deklaratives Gedächtnis. Letzteres kann episodisch
oder semantisch sein (s. o.).
Merken im Kontext. Gedächtnisexperimente mit sprachlichem und nicht-sprachlichem Material zeigen, dass sich Tiere wie Menschen nicht nur das zu lernende Objekt einprägen
und es wiedergeben, sondern sich stets auch inzidentiell
(ohne Absicht) die gesamte Umgebung einprägen, in der gelernt wurde. Die Codierung der Information im LZG und ihr
Abruf sind kontextabhängig: Ein Abruf ist nur dann erfolgreich, wenn der Kontext oder groûe Teile des ursprünglichen
Kontexts der Codierung in Realität oder in der Vorstellung
wiederhergestellt werden. Es handelt sich hier um ein ganz
ähnliches Phänomen wie beim oben erwähnten Unterschied
zwischen elaboriertem und oberflächlichem Memorieren; je
mehr vom ursprünglichen Kontext eingeprägt wurde und je
vielfältiger der Kontext ist (z. B. multisensorische Reizung im
Gegensatz zu nur einer Sinnesmodalität), umso eher wird ein
Teilelement der ursprünglichen Umgebung bei der Einprägung später den gesamten Gedächtnisinhalt auslösen. Auch
der physiologische Zustand (¹Aktivierungª, Gefühl) der Lernenden gehört zum Einprägungskontext, weshalb in der Regel korrekte Wiedergabe an den ursprünglichen Zustand gebunden ist (zustandsabhängiges Lernen). Zum Beispiel kann
man ein unter Alkoholeinfluss erlerntes Verhalten sehr viel
leichter unter neuerlichem Alkoholeinfluss als nüchtern wiedergeben.
Dem Wiedergabeprozess liegt also ein Mustervervollständigungsprozess zugrunde: Das Muster der Abrufungsreize
muss zumindest teilweise dem gespeicherten Muster entsprechen. Nur wenn einige Musterelemente passen (Matching),
wird das gesamte Muster wiedergegeben. Solche Teile der ursprünglich eingeprägten Reizsitutation nennt man ¹retrieval
cuesª (Hinweisreize für Wiedergabe), das Arbeitsprinzip ¹encoding specificity principleª. Wiedererkennen ist deshalb
sehr viel leichter als Wiedergeben, weil sehr viel mehr Hinweisreize des ursprünglichen Musters und des Einprägungskontexts vorhanden sind.
Wiedergabeprozesse dagegen erfordern in jedem Fall ¹Rücktransportª der Information in das KZG (oder Arbeitsgedächtnis),
eine direkte Wiedergabe von Wissen aus dem LZG ist vermutlich
nicht möglich (deswegen können wir auch nicht gleichzeitig aktiv reproduzieren und speichern). Allerdings ist das LZG bisher
fast nur im Zusammenhang mit deklarativem Wissen studiert
worden. Prozedurales Wissen benötigt vermutlich den dazwischengeschalteten Arbeitsspeicher weniger.
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Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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é
p
p
PH
3.4
Verhaltensgedächtnis (implizit) behält Fertigkeiten und konditionierte Reaktionen,
während Wissensgedächtnis (explizit) Episoden und Fakten speichert. Allerdings spielen
die Prozesse assoziativen Lernens in allen
Gedächtnisformen die entscheidende Rolle.
Insofern bestehen flieûende Übergänge
zwischen impliziten und expliziten Gedächtnissystemen. Instrumentelle (operante) Konditionierung bewirkt durch unmittelbare
Belohnung und Bestrafung den Erwerb und
die Aufrechterhaltung vor allem motorischer, aber auch physiologischer Reaktionen. Wissensgedächtnis wird in sensorischen
Speicher, Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis unterteilt. Das Kurzzeitgedächtnis hat eine sehr begrenzte Speicherkapazität und ist zur bewussten (expliziten) Erinnerung notwendig. Zur Speicherung verwendet das Kurzzeitgedächtnis unterschiedliche Organisationsformen und Gruppierungen des Lernmaterials wie elaboriertes Speichern, kontext- und zustandsabhängiges
Einprägen und Verhaftungen von Zeichen.
Denken
PS
l l l Die Erforschung von Denkvorgängen
geschieht im Rahmen der Kognitiven
Psychologie
Kognitionen. Kognitionen sind psychologische Prozesse,
Wissen und Fähigkeiten, die zum Denken, Kategorisieren,
Abstrahieren, Problemlösen, Organisieren, Planen und Entscheiden eingesetzt werden. Es handelt sich also um die psychologischen Vorgänge, die sich ¹im Kopf ª abspielen.
Wenn ein erfahrener Neurologe hört, dass ein Patient einen
Schlaganfall in der Hippocampusregion hatte, so weiû er sofort,
dass daneben das Subikulum und der entorhinale Kortex liegen.
Er hat eine mentale Vorstellung (mentale Repräsentation) von
dieser Gehirnregion, die er vor dem ¹geistigenª Auge betrachten
kann. Im selben Moment hat er aber auch präsent, welche wichtigen Funktionen vom Hippocampus gesteuert werden und welche diagnostischen Untersuchungen bei diesem Patienten notwendig sind. Dieses Wissen ist als symbolische Repräsentation
gespeichert. Beide mentale Repräsentationen entstehen durch
Lernen und Erfahrung.
Mentale Repräsentationen. Grundlage und Vehikel der kognitiven Prozesse sind mentale Repräsentationen. Erinnerungen und Wissen sind encodierte mentale Repräsentationen,
die durch konkrete Erfahrungen oder durch abstrakten Wissenserwerb (z. B. Lesen) entstanden sind. Wir unterscheiden
analoge und symbolische Repräsentationen. Analoge Repräsentationen entsprechen in der Regel sensorischen und
perzeptuellen Erfahrungen. Hier kann das Objekt vor dem
¹geistigen Augeª betrachtet werden (mentale Vorstellungen).
Analoge Repräsentationen sind aber keine perfekten Abbilder der Objekte, sondern können Verzerrungen enthalten.
Beispielsweise bekamen Personen die Aufgabe, sich die Karte einer Insel mit verschiedenen markanten Punkten einzuprägen.
Später sollten sie sich mental von einem Punkt der Insel zu einem anderen bewegen. Die mentalen Bearbeitungszeiten waren
proportional zu den geographischen Abständen zwischen den
Punkten.
Symbolische Repräsentationen haben eine semantische Beziehung zu den repräsentierten Objekten. Wörter und Konzepte
sind typische Beispiele für symbolische Repräsentationen.
Wenn wir uns einen Stuhl vorstellen, so wird seine analoge Repräsentation aktiviert. Gleichzeitig existiert aber eine symbolische Repräsentation dieses Objekts, das Wort ¹Stuhlª. Diese Repräsentation hat keinerlei ¾hnlichkeit mit einem echten Stuhl,
gleichwohl repräsentiert sie dieses Objekt und seine Charakteristika (das dazugehörige Konzept).
l l l Mentale Repräsentationen sind meist
als verbale oder bildlich-abstrakte
Knotenpunkte assoziativer Netzwerke
(Propositionen) gespeichert
Assoziative Netzwerke. In der Kognitiven Psychologie stellt
man die assoziativen Verbindungen zwischen den Elementen
der Propositionen (Bedeutungseinheiten) symbolisch als
Netzwerke dar. Die Stärke der assoziativen Verbindungen eines Netzwerks bestimmt die Wahrscheinlichkeit, mit der ein
Netzwerk durch einen äuûeren Reiz aktiviert und erinnert
werden kann. Wenn ein äuûerer Reiz zu einem Netzwerk oder
einem Element davon passt, so wird dieses aktiviert und auch
die assoziativ verknüpften Propositionen. Ein Element kann
also, bei starken assoziativen Verknüpfungen, das gesamte
Netzwerk aktivieren (z. B. ¹wenn ich nur den Hals einer Giraffe sehe, aktiviert dies die Vorstellung der gesamten Giraffeª).
Abb. 3-26 zeigt symbolisch das Netzwerkmodell der mentalen Repräsentation ¹Angst vor Schlangenª. Dieses Netzwerk
beinhaltet ± wie die meisten Netzwerke ± drei Arten von Propositionen (Bedeutungseinheiten): sensorische (Reizpropositionen: z. B. ¹kriechtª, ¹gezacktª), motorisch-physiologische
(Reaktionspropositionen: z. B. ¹rennenª, ¹Herzklopfenª) und
Bedeutungspropositionen (z. B. ¹Angstª, ¹gefährlichª).
Empirische Bestätigungen für solche Netzwerkmodelle von
Vorstellungen sind:
· Die Vorstellung einer Wurfbewegung löst auch ohne sichtbare
Bewegung elektromyographische Reaktionen in jenen Muskeln aus, die an der vorgestellten Bewegung normalerweise
beteiligt sind. Die motorische Reaktion ist Teil des aktivierten
Netzwerks.
· Die Vorstellung einer Emotion löst spezifische physiologische
Veränderungen aus, die normalerweise mit dieser Emotion
auftreten. Die physiologische Reaktion ist Teil des aktivierten
Netzwerks.
· Gedächtnisleistung ist stimmungsabhängig, positive Gedächtnisinhalte werden in positiver Stimmung besser erinnert als
negative Gedächtnisinhalte und umgekehrt. Die Emotion ist
3.4 Denken
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ß
Abb. 3-26. Dieses Netzwerk symbolisiert eine ¹Angst vor
Schlangenª. Die Informationen sind in Propositionen codiert
(sensorische, motorische und Bedeutungspropositionen), die
durch Assoziationen miteinander verbunden sind. In einer deskriptiven Form könnte dieses Netzwerk wie folgt gelesen werden: ¹Ich gehe durch den Wald und sehe eine groûe Schlange,
die schnell auf mich zu kriecht. Sie hat ein gezacktes Muster,
könnte also gefährlich sein. Meine Augen folgen der Schlange,
mein Herz beginnt stark zu schlagen. Ich bin alleine und habe
Angst. Ich laufe weg.ª Dieses Netzwerk hat die Funktion eines
sensomotorischen Programms. Es kann durch einen objektiven
sensorischen Input aktiviert werden (echte Schlange im Wald),
aber auch durch Teilinformation (etwas Geschlängeltes auf dem
Boden) oder durch abstrakte Information (Beschreibung einer
Schlange in einer Zeitschrift). Je stärker die assoziativen Verbindungen zwischen Propositionen, desto wahrscheinlicher wird
das gesamte Netzwerk durch eine Teilinformation aktiviert. Bei
Schlangenphobikern sind die assoziativen Verbindungen besonders stark, die Schwelle zur Aktivierung des Netzwerks mit allen
Komponenten (Angst, Herzklopfen, Weglaufen) ist sehr niedrig
(z. B. genügt schon ein gekrümmter Stock)
Teil des Netzwerks, eine bestehende Stimmung aktiviert dazu
passende Propositionen.
· Ein Reiz, der zu einer Vorstellung passt, wird schneller erkannt und die Vorstellung wird verstärkt (Priming). Die Vorstellung erleichtert dem passenden Reiz die Aktivierung des
Netzwerks über die Schwelle.
Konzepte sind hierarchisch organisiert. Ein Konzept kann
Teil eines weiteren, übergeordneten Konzepts sein.
l l l Bildung von Konzepten und
Kategorisierung ist ein Charakteristikum
menschlichen Denkens, unabhängig
von kulturellen Einflüssen
Konzepte. Konzepte oder Schemata entsprechen der symbolischen Repräsentation einer grundlegenden Kategorie von
Wissen über Objekte oder Ereignisse, die gemeinsame Merkmale haben (z. B. eine Tierart, ein Autotyp, ¹die Nationª). Sie
spezifizieren die Charakteristika und Eigenschaften, die Teile
der Kategorie von anderen Kategorien unterscheiden. Aufgrund der relevanten Eigenschaften lassen sich Objekte meist
eindeutig als zum Konzept gehörig oder nicht zugehörig zuordnen.
Das Konzept ¹Autoª beinhaltet Autos verschiedenster Art, vom
Sportwagen bis zum Minibus. Das Konzept ist definiert durch
ein fahrbares Objekt mit vier Rädern und Motor. Ein Anhänger
mit vier Rädern gehört nicht dazu, weil er keinen Motor hat.
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Das Konzept ¹Fahrzeugeª beinhaltet die Konzepte ¹Autoª, ¹Lastwagenª und ¹Motorradª. Die Konzepte ¹Sportwagenª oder ¹Kombiª sind Teile des Konzepts ¹Autoª.
Konzepte helfen uns, bestehendes Wissen schnell auf neue
Situationen zu übertragen. Auch noch nie gesehene Objekte
können aufgrund ihrer Merkmale als zu einem Konzept gehörend erkannt werden. Das zu diesem Konzept vorliegende
Wissen kann dann sofort auf dieses neue Objekt angewandt
werden.
Auch ein völlig neu entwickeltes Automodell wird problemlos
als Auto erkannt. Das im Umgang mit Autos erworbene Wissen
kann sofort aktiviert werden, ohne dass erst der Umgang mit
diesem neuen Objekt erlernt werden muss. Beispielsweise kann
ein erfahrener Autofahrer auch ohne genauere Einweisungen
problemlos mit einem neuen, noch nie gesehenen Auto fahren.
Die mit anderen Autos gemachte Erfahrung wird sofort auf das
neue Objekt übertragen, das als zum selben Konzept gehörig erkannt wird.
Laien haben bestimmte Konzepte von Krankheiten. Das Konzept ¹Erkältungª beispielsweise ist definiert durch ¹laufende Naseª und ¹Hustenª. Eine Person mit diesen Charakteristika aktiviert dieses Konzept und das damit assoziierte Erfahrungswissen
(z. B. ¹Tee trinkenª, ¹fern bleiben, um Ansteckungsgefahr zu reduzierenª etc.). Ob es sich tatsächlich um eine Infektion handelt,
Abb. 3-27. Ausschnittartige Darstellung
der hierarchischen Organisation von
formalen Konzepten, ausgehend vom
Konzept ¹Tierª
kann anhand dieses ¹Laienkonzeptsª von Erkältung nicht erkannt werden. Diagnosesysteme dagegen definieren spezifische
Erkrankungen über formale Konzepte.
oder sie zeigen auf ein Spielzeugauto und sagen auch ¹Autoª
dazu. Das Kind erlernt das Konzept schrittweise durch mehrfachen Kontakt mit Elementen der Konzeptkategorie.
l l l Formale Konzepte sind eindeutig
definierbar, natürliche Konzepte werden
aber meist durch einen Prototyp definiert
l l l Beim Problemlösen geht es darum,
wie man von einem definierten
Ausgangszustand, der Situation zu Beginn
des Problemlöseprozesses, zu einem
erwünschten Endzustand gelangt, der
durch die Lösung erreicht werden soll.
Die Lösung des Problems kann entweder
planvoll, überlegt und logisch
angegangen werden, oder es kommt
durch Intuition zur Problemlösung
Formale und natürliche Konzepte. Formale Konzepte sind
eindeutig definierbar, sie entsprechen Definitionen in einem
Lexikon (Abb. 3-27). Die meisten Konzepte, die wir im Alltag
benutzen, sind aber unklar definiert. Diese natürlichen Konzepte können am besten durch Beispiele beschrieben werden.
Oft gibt es ein besonders gutes und typisches Beispiel ± einen
Prototyp ± für das Konzept. Die Prototypen dienen als Referenzpunkte; je ähnlicher ein Element einem Prototyp ist, umso leichter wird es als Teil des Konzepts erkannt und benannt.
¹Schwalbeª und ¹Huhnª sind Elemente des Konzepts ¹Vögelª. Da
eine Schwalbe dem Prototyp eines Vogels ähnlicher ist als ein
Huhn, wird ausgehend vom Begriff ¹Schwalbeª schneller und
einfacher das Konzept (bzw. der Begriff) ¹Vogelª aktiviert.
Studien über die Zuverlässigkeit von Diagnosen haben ergeben, dass Alkoholabhängigkeit gerade bei Patienten aus höheren
sozialen Schichten häufig übersehen wird. Diese Beobachtung
kann durch die Befunde erklärt werden, wonach natürliche Konzepte (d. h. die Repräsentationen einer Kategorie von Wissen;
s. u.) vorwiegend über Prototypen definiert werden. Der ¹Prototypª eines Alkoholkranken beinhaltet das Charakteristikum ¹niedere soziale Schichtª. Ein Patient aus einer höheren sozialen
Schicht weicht relativ stark von diesem Prototyp ab, wird also
schwer als zum Konzept ¹Alkoholabhängigkeitª zugehörig erkannt.
Erlernen von Konzepten. Die Charakteristika klar definierbarer, formaler Konzepte können einfach erlernt werden, auch
durch Anweisungen. Häufiger ist aber, dass Konzepte durch
die Erfahrungen mit Mitgliedern der Konzeptkategorie erlernt werden müssen, und neue Erfahrungen bedingen eine
Veränderung bestehender Konzepte.
Das Konzept ¹Autoª wird in der Kindheit gelernt. Die Eltern zeigen auf einen fahrenden Gegenstand und sagen ¹Autoª dazu,
Problemlösung als Informationsverarbeitung. Informationsverarbeitungstheorien gehen davon aus, dass der Prozess des
Problemlösens über verschiedene Stufen oder Schritte abläuft (Abb. 3-28).
· In der Vorbereitungsphase werden der Ausgangszustand
und das Endziel bzw. Zwischenziele definiert. Auûerdem
werden Hintergrundwissen und vorhandene Fähigkeiten
analysiert und notwendige Zwischenschritte zur Zielerreichung festgelegt.
· In der Ideengenerierungsphase werden verschiedene alternative Lösungsmöglichkeiten generiert. Es wird auf bestehende Erfahrungen mit ähnlichen Problemen oder auf
externes Wissen (um Rat fragen, nachlesen etc.) zurückgegriffen. Hypothesen über den Erfolg der verschiedenen
Lösungsmöglichkeiten entstehen.
· In der Beurteilungs- und Auswahlphase wird aufgrund
bestimmter Kriterien (z. B. welche mögliche Lösung ist am
einfachsten oder am Erfolg versprechendsten?) eine Lösungsalternative ausgewählt.
· Es kommt dann zu einem Lösungsversuch. Ist das gewünschte Ziel erreicht, so ist die Problemlösung abgeschlossen. Ist das Ziel nicht erreicht, so kann eine andere
Lösungsalternative ausgewählt und ausprobiert werden.
Wenn kein bisher generierter Lösungsansatz zum Ziel
führt, so muss die Vorbereitungsphase wiederholt werden.
3.4 Denken
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beiten vor einem neuen Zug systematisch möglichst viele Zugvariationen, um den besten Zug zu identifizieren. Der Mensch
dagegen denkt nur über eine begrenzte Anzahl von sinnvollen
und plausiblen Zugvariationen nach, um den nächsten Zug zu
planen. Eine Heuristik könnte sein, möglichst viele Spielfiguren
in die Mitte des Spielfelds zu bringen.
Gestalttheorie. Nach der Gestalttheorie werden Probleme
durch eine Umorganisation der Problemelemente gelöst. Die
Problemlösung wird nicht langsam und schrittweise durch
logisches Denken gefunden, sondern durch ein so genanntes
Aha-Erlebnis erkannt. Diese ¹Einsichtª in das Problem wird
gewonnen, indem die verschiedenen Problemteile plötzlich
ein sinnvolles Ganzes ergeben.
Von Archimedes sagt die Legende, dass er während eines Bades
plötzlich das Prinzip des hydrostatischen Auftriebs erkannte. Er
sah, dass der Wasserstand in der Badewanne davon abhing, wie
tief er seinen Körper eintauchte. Dadurch erkannte er, dass die
Kraft, die im Wasser auf ihn wirkte, davon abhing, wie viel Wasser sein Körper verdrängte. Dieser Moment der Einsicht hat ihn
so begeistert, dass er durch die Straûen von Syrakus rannte und
¹Heurekaª (ich habe es gefunden) rief.
Probleme beim Problemlösen. Problemlösen wird häufig
durch funktionelle Fixiertheit und mentale Einstellungen
(mental set) erschwert. Im ersten Fall sind die Problemelemente assoziativ mit einer angenommenen Funktion verbunden, die nicht zur Problemlösung beiträgt. Erst wenn eine
neue Funktion der Problemelemente erkannt wird, kann das
Problem gelöst werden. Im zweiten Fall werden Lösungsstrategien verfolgt, die zwar früher erfolgreich waren, für die Lösung des aktuellen Problems aber ungeeignet sind.
Abb. 3-28. Informationsverarbeitungsansätze unterteilen das
Problemlöseverhalten in verschiedene Schritte. Erläuterungen
im Text
l l l Heuristiken sind Faustregeln, die die
Komplexität eines Problems reduzieren.
Nur sinnvoll erscheinende Lösungswege
werden weitergehend bearbeitet
Die Suche nach Problemlösungen kann verschiedenen Strategien folgen. Zufallsorientierte Suchstrategien sind wegen
ihrer Ineffizienz selten. Algorithmen sind systematische Lösungsstrategien, wie wir sie vor allem aus der Mathematik,
der Informatik und Logik kennen. Ein solches Vorgehen garantiert zwar eine erfolgreiche Problemlösung, ist aber meistens ineffizient und zeitaufwendig. Auch aufgrund der begrenzten kognitiven Verarbeitungskapazitäten verwendet der
Mensch vorwiegend Heuristiken (Faustregeln) als Problemlösungsstrategie.
Beim Schachspiel arbeiten Computer normalerweise nach Algorithmen, der Mensch nach Heuristiken. Schachcomputer bear62
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In einem klassischen Versuch der Gestaltpsychologen bekommen die Versuchsprobanden eine Schachtel mit Kerzen, eine
Schachtel mit Reiûnägeln und eine Schachtel mit Streichhölzern. Die Aufgabe ist, eine brennende Kerze an der Wand zu befestigen. Die Lösung dieses Problems fällt normalerweise schwer,
da die Schachteln die Funktion von Aufbewahrungsbehältern
haben. Erst wenn diese funktionelle Fixiertheit überwunden
wird, kann die Lösung, eine Schachtel mit den Reiûzwecken an
der Wand zu befestigen und die Kerze darauf zu stellen, erkannt
werden.
l l l Wörter sind Symbole, die für Objekte,
Ereignisse, Handlungen und innere
Zustände stehen. Durch systematische
Kombination von Wörtern
(nach grammatikalischen Regeln)
können Beziehungen zwischen Objekten
oder Konzepten ausgedrückt werden,
die die Wörter repräsentieren
Sprache. Das Denken ± also mentale Repräsentationen, Konzepte, Wissen und Problemlösen ± basiert gröûtenteils auf
sprachlichen Fähigkeiten. Sprache besteht aus einem hierarchisch gegliederten System von Grundbausteinen, den Phonemen (Sprachlaute) und den Buchstaben (für Geschriebenes). Diese elementaren Einheiten werden zu gröûeren lin-
guistischen Einheiten kombiniert. Silben werden zu Wörtern
kombiniert, Wörter zu Phrasen, Phrasen zu Sätzen, Sätze zu
Texten. Die Regeln der Syntax geben vor, wie Wörter aneinander gereiht werden müssen, um Sätze zu bilden. Als Semantik wird die Bedeutung einer sprachlichen ¾uûerung bezeichnet.
Sprachverständnis. Ein Satz wird auf mindestens drei Bedeutungsebenen analysiert. Erstens muss die Bedeutung der einzelnen wahrgenommenen Wörter bekannt sein. Die Wörter
werden im Kurzzeitgedächtnis verarbeitet, die Bedeutung
mit Hilfe des Langzeitgedächtnisses erkannt. Zweitens werden mehrere Wörter zu Bedeutungseinheiten, zu Propositionen, zusammengefasst, deren Verständnis wiederum auf dem
vorhandenen Wissen im Langzeitgedächtnis beruht. Drittens
werden die Propositionen zum kompletten Satz zusammengefügt, der die Beziehung der Propositionen zueinander beschreibt. Dieser letzte Verarbeitungsschritt hängt stark von
unserem ¹Wissen über die Weltª, dem semantischen Gedächtnis ab. Durch dieses Wissen kann ein Satz eine über die
gesprochene Information hinausgehende Bedeutung erhalten.
¹Der verletzte Patient ruft aufgeregt nach dem Arzt vom Dienst.ª
Zum Verständnis dieses einfachen Satzes muss zuerst die Bedeutung der einzelnen Worte bekannt sein und erkannt werden. Dies
geschieht ± wenn es die Muttersprache ist ± normalerweise sehr
schnell und automatisch, das entsprechende Wissen im Langzeitgedächtnis wird aktiviert. Die Propositionen dieses Satzes
gehen aber über die Bedeutung der einzelnen Worte hinaus. Beispielsweise kann die Proposition ¹Arzt vom Dienstª nicht einfach durch Wissen über die einzelnen Worte erschlossen werden,
zusätzliches Wissen über diese Proposition ist notwendig. In diesem Beispielsatz gibt es auûerdem noch die Propositionen ¹der
verletzte Patientª und ¹ruft aufgeregt nachª. Die Propositionen
werden zusammengeführt, wobei erst im Kontext des gesamten
Satzes die Bedeutungen der einzelnen Propositionen eindeutig
werden. Zum Beispiel hat die Proposition ¹ruft aufgeregt nachª
je nach Kontext (verletzt?, freudig?) eine andere Bedeutung.
Aufgrund unseres semantischen Wissens wird auch klar, dass es
sich hier um eine Notaufnahme in ein Krankenhaus handeln
muss.
Bottom-up- und Top-down-Prozesse. Sprachverständnis
basiert aber nicht nur wie in obigem Beispiel auf der Analyse
¹von unten nach obenª (Bottom-up), die von den einzelnen
Wörtern ausgeht. Wissen über Sprache, über die Welt und
über das Gesprächsthema bedingt, dass Erwartungen entstehen, die das Sprachverständnis beeinflussen.
Beispielsweise löst der folgende Satz eindeutige Erwartungen
über das fehlende Wort aus: ¹Der Elfmeterschütze nahm Anlauf
und schoss ins ¼ .ª Wenn Versuchsprobanden nach diesem unvollständigen Satz das Wort ¹Torª dargeboten wird, so können
sie dieses schneller lesen als das Wort ¹Hof ª. Top-down-Prozesse
beeinflussen die Wortverarbeitung (Priming; s. o., Abschn. D3.1, Abb. 3-22).
Die Interaktion von Top-down- und Bottom-up-Verarbeitungsprozessen ermöglicht ein schnelles und effektives
Sprachverständnis.
é
3.5
Mentale Repräsentationen von Reizen sind
in assoziativen Netzwerken als Propositionen gespeichert. Propositionen (z. B. Bild einer Angstsituation) können zu Konzepten
(¹die Angstª) erweitert werden. Problemlösen erfolgt auf unterschiedlichem Wege, logisch-geplant oder intuitiv. Mentale Einstellungen können die Suche nach Lösungen erschweren oder erleichtern. Sprache und
Denken sind zwar nicht identisch, aber die
Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses (Wissen
und Episoden) sind meist als sprachliche Propositionen codiert. Diese sprachlich codierten Propositionen sind auch wieder assoziativ verbundene Netzwerke von Repräsentationen.
Emotionen
PH
PS
l l l Emotionen sind psychische Kräfte, die
unser Verhalten in Richtung Annäherung
oder Vermeidung steuern
Klassifikation. Emotionen erklären ± ebenso wie Triebe und
Motivationen ± die Variabilität von Verhalten, also warum
verschiedene Personen in derselben Situation unterschiedlich
reagieren (interindividuelle Variabilität) und warum sich
dieselbe Person in vergleichbaren Situationen unterschiedlich verhält (intraindividuelle Variabilität). Emotionen sind
aber weniger triebnah, d. h. es fehlen ihnen die homöostatischen Eigenschaften von Trieben mit ihrer stereotypen Abfolge von Anreiz-Verlangen-Befriedigung.
Emotionen werden stets auf den Dimensionen angenehm
± unangenehm (Valenzdimension) und erregend ± desaktivierend (Aktivierungsdimension) erlebt. Entsprechend lassen
sich Emotionen auch auf diesen Dimensionen klassifizieren
(Abb. 3-29).
Die Valenzdimension bestimmt die Richtung des Verhaltens. Positiv-valente Reize lösen angenehme Gefühle und
Annäherungsverhalten aus (z. B. lächelnde, vertraute Person).
Negativ-valente, unangenehme Reize dagegen bedingen Vermeidungsverhalten (z. B. Angreifer mit wütendem Gesichtsausdruck). Die Erregungsdimension determiniert die Stärke
der Emotion.
Die emotionale Valenz eines Reizes wird meist durch assoziative Lernprozesse (klassische Konditionierung) erworben.
Reize, die mit unangenehmen Konsequenzen assoziiert wurden, lösen später unangenehme Gefühle und Vermeidungsverhalten aus (z. B. fühlt sich eine Person, die vor dem Bahnhof belästigt wurde, in der Bahnhofsgegend nicht mehr wohl
und vermeidet sie). Reize, die mit angenehmen Konsequenzen assoziiert wurden, bedingen später angenehme Gefühle
und Annäherungsverhalten (z. B. wird sich ein Kind, das von
einem Verwandten bei Besuchen Geschenke bekommt, auf
diese Besuche freuen und versuchen, sie nicht zu verpassen).
Reize, die in der Evolutionsgeschichte einer Spezies eine
bedeutsame Rolle gespielt haben, lösen eine angeborene Be3.5 Emotionen
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63
Abb. 3-29. Klassifikation von Emotionen
auf den Dimensionen ¹Valenzª und ¹Aktivierungª. Nach Lang PS (1995) The emotion probe. Am. Psychologist 50:372±385
reitschaft (Preparedness) zu negativen oder positiven Gefühlen und den entsprechenden Verhaltensweisen aus.
Auch in unserer modernen Gesellschaft werden beispielsweise
häufig phobische ¾ngste vor Schlangen und Spinnen beobachtet, obwohl diese keine ernst zu nehmende Bedrohung darstellen. Schlangen und Spinnen waren aber in der evolutionären
Entwicklung des Menschen tödliche Gefahrenquellen. Vermutlich haben Menschen daher eine angeborene Bereitschaft,
Schlangen und Spinnen mit Angst und Gefahr zu assoziieren.
l l l Emotionen laufen auf drei
Reaktionsebenen ab:
der subjektiv-psychologischen,
der motorisch-verhaltensmäûigen
und der physiologisch-humoralen Ebene
Reaktionsebenen von Emotionen. Emotionen laufen immer
auf drei Reaktionsebenen ab: der motorisch-verhaltensmäûigen, der physiologisch-humoralen und der subjektiv-psychologischen Ebene. Beispielsweise bedingt Angst:
· Herzklopfen, Schweiûausbruch, Adrenalinausschüttung
und verstärkte Gehirnaktivität (physiologisch-humorale
Reaktionen),
· Gedanken an Angst, Gefahr und Bewältigungsmöglichkeiten (subjektiv-psychologische Reaktionen) sowie
· einen ängstlichen Gesichtsausdruck und Fluchtverhalten
(motorisch-verhaltensmäûige Reaktionen).
Der Zusammenhang zwischen diesen Reaktionsebenen ist normalerweise eher gering, nimmt aber mit der Stärke der emotio64
Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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nalen Reaktion zu (Abschn. D-2.2). Emotionen, die wir im Alltag
erleben, laufen häufig nur auf der subjektiv-psychologischen
Ebene ab. Starke emotionale Reaktionen dagegen (z. B. Angst bei
Lebensgefahr) laufen meistens auf allen drei Reaktionsebenen ab
(z. B. Weglaufen, Herzklopfen, Gedanke an Gefahr).
Primäre Emotionen. Die Vermutung, dass es angeborene primäre Emotionen (man spricht auch von Basisemotionen) mit
einer besonderen biologisch-evolutionären Bedeutung gibt,
geht auf Charles Darwin zurück. Kulturvergleichende Studien haben Glück-Freude, Trauer, Furcht, Wut, Überraschung und Ekel als primäre Emotionen identifiziert. Menschen aller Kulturen, einschlieûlich so genannter Primitivkulturen, können diese Emotionen anhand des Gesichtsausdrucks identifizieren. Auch blind und taub geborene Kinder
zeigen diese Emotionen, so dass angeborene Reaktionsmuster wahrscheinlich sind. Vermutlich unterscheiden sich
die primären Emotionen auch in den peripher-physiologischen Reaktionen (s. u.). In zivilisierten Kulturen treten Gefühle meist als Gemisch aus primären Emotionen auf, wobei
Lern- sowie soziale Faktoren eine wichtige Rolle spielen.
Bedeutung von Emotionen. Emotionen haben eine vorbereitende und eine kommunikative Funktion. Die physiologischhumoralen Reaktionen bereiten den Organismus darauf vor,
den Reiz, der die Emotion ausgelöst hat, zu bewältigen. Beispielsweise löst ein bedrohlicher Reiz eine Angstreaktion mit
Herzschlagsteigerung und Schweiûausbruch aus. Beide Reaktionen leiten die Bewältigung der Gefahr ein, indem der
Organismus auf muskuläre Arbeit (z. B. Weglaufen) vorbereitet wird.
In industrialisierten Ländern haben Emotionen aber vorwiegend kommunikative Bedeutung. Der Emotionsausdruck
informiert über ablaufende motivationale Prozesse und hat
somit eine adaptive Bedeutung im sozialen Gefüge. Beim
Menschen wird die emotionale Reaktion vor allem durch den
Gesichtsausdruck, die Mimik, kommuniziert. Primäre Emotionen lassen sich eindeutig am Gesichtsausdruck unterscheiden.
Furchtausdruck und Weglaufen signalisieren Gefahr, Trauer
nach Verlust teilt Isolation und Hilfsbedürfnis mit, Freude signalisiert Besitz und Erwerb eines Gefährten, Ekel ist Ausdruck von
Zurückweisung, und Überraschung weist auf Orientierung hin.
Abgrenzung zwischen Gefühlen und Stimmungen. Emotionen treten normalerweise nur kurz auf. Ihre Dauer überschreitet selten Sekunden. Vom Auftreten eines emotionalen
Reizes bis zur ersten gefühlsspezifischen Reaktion im Gehirn
dauert es im Extremfall nur einige Millisekunden. Bis eine
voll ausgebildete primäre Emotion mit entsprechenden Reaktionen entsteht, vergehen aber mindestens 70±100 ms. Stimmungen dagegen sind länger (Stunden, Tage) anhaltende
emotionale Reaktionstendenzen, die das Auftreten einer bestimmten Emotion wahrscheinlicher machen (z. B. macht
freudige Stimmung Freude wahrscheinlicher). Sie treten
meistens ohne externe Reize auf und beeinflussen Vorstellungen und Gedanken (kognitive Prozesse). Stimmungen
sind keine Emotionen, da sie zu lange andauern und nicht
von einem entsprechenden Gesichts- und Körperausdruck
begleitet werden.
Zu unterscheiden sind auch State- oder Zustandsemotionen, die zeitlich begrenzt und im Kontext einer bestimmten
Situation auftreten, von Trait- oder Eigenschaftsemotionen,
die zeitlich überdauernde Persönlichkeitseigenschaften widerspiegeln.
l l l Emotionen werden durch Messung von
physiologischen Reaktionen, motorischen
Reflexen und Ausdrucksverhalten sowie
durch psychologische Messmethoden
erfasst
Erfassung von Emotionen. Bei der Erfassung emotionaler
Reaktionen müssen alle drei Reaktionsebenen berücksichtigt
werden. Zur Erfassung der subjektiv-psychologischen Reaktionsebene werden meistens psychometrische Erhebungsinstrumente (Fragebögen, Rating-Skalen etc.) eingesetzt. Hier
lässt sich sowohl die Valenz- als auch die Aktiviertheitsdimension erfassen.
Mittels Verhaltensbeobachtung kann die motorisch-verhaltensmäûige Reaktionsebene erfasst werden. Annäherungs- oder Vermeidungsverhalten lässt Rückschlüsse auf
die Valenz der Emotion zu. Die meisten physiologisch-humoralen Reaktionen (elektrodermale Aktivität, Blutdruck,
Herzfrequenz, EEG etc.) spiegeln die Aktiviertheitsdimension
wider (Abschn. D-1.3, D-5.4). Positive und negative emotionale Reaktionen bedingen vergleichbare Aktivierungen.
Modulation des Schreckreflexes. Die Messung des Schreckreflexes erlaubt die Beurteilung der Valenz (Richtung) von
Emotionen aufgrund einer physiologischen Reaktion. Der
Schreckreflex ist eine rasche, protektive Reflexantwort der
Abb. 3-30. Im Humanexperiment kann die emotionale Valenz
der Situation durch Bildreize moduliert werden. Die Schreckreaktion, erfasst durch die EMG-Aktivität des M. orbicularis oculi
(s. Abb. D-1-2), ist beim Betrachten aversiver emotionaler Bilder
potenziert und beim Betrachten positiv emotionaler Bilder reduziert, jeweils im Vergleich zu neutralen Bildreizen. Nach Lang PS
(1995) The emotion probe. Am. Psychologist 50:372±385
Muskulatur auf überraschende Reize (z. B. ein plötzlich einsetzender lauter Ton). Der Lidschluss ist Teil dieser Reaktion
und tritt beim Menschen 30±50 ms nach dem Schreckreiz
auf. Die Registrierung erfolgt mittels EMG am M. orbicularis
oculi. Die Stärke der Reflexantwort wird durch den emotionalen Zustand des Organismus moduliert (Abb. 3-30).
Negative Emotionen gehen mit einer erhöhten Fluchtbereitschaft einher. Diese Reaktionsdisposition passt zur aversiven Natur des Schreckreizes (Reaktionsdisposition und ausgelöster Reflex sind kompatibel), und es kommt zu einer verstärkten Schreckreaktion. Positive emotionale Zustände dagegen werden von einer Bereitschaft zu Annäherungsverhalten begleitet und passen daher nicht zur aversiven Natur des
Schreckreizes (Reaktionsdisposition und Schreckreaktion
sind inkompatibel), es kommt zu einer verminderten
Schreckreaktion. Diese Modulation der Schreckreflexantwort
ist unabhängig von Aufmerksamkeit und Aktiviertheit.
Reize, die durch klassische Konditionierung eine emotionale Valenz erhalten, bedingen ebenfalls eine Modulation des Schreckreflexes. Wird beispielsweise ein Lichtsignal (CS) mit einem unangenehmen elektrischen Reiz (US) gepaart, so erwirbt der CS
durch diese Konditionierung eine negative Valenz. Wird der CS
dargeboten und danach ein Schreckreflex ausgelöst, so ist die
Schreckreaktion im Vergleich zu einer Bedingung ohne CS verstärkt.
Psychopathologie und Schreckreflex. Die Messung des
Schreckreflexes wurde zu einer der wichtigsten Methoden
zur Prüfung der emotionalen Valenz von Gefühlszuständen
bei Gesunden und Kranken. Psychopathologische Zustände,
die mit verstärkten oder reduzierten emotionalen Reaktionen
einhergehen, lassen sich aufgrund der Schreckreaktion identifizieren. Angstpatienten (z. B. Spinnenphobiker), die mit einem angstrelevanten Reiz (z. B. dem Bild einer Spinne) konfrontiert werden, reagieren auf einen Schreckreiz mit einer
deutlich verstärkten Schreckreaktion (Abschn. B-7.3). Nach
einer erfolgreichen Therapie (Abschn. D-8.3) ist diese verstärkte Schreckreaktion verschwunden. Dagegen ist die Soziopathie (auch Psychopathie oder antisoziale Persönlich3.5 Emotionen
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65
keitsstörung genannt) durch einen Mangel an Furcht- und
Schuldgefühl charakterisiert. Während Gesunde bei der Betrachtung negativ-valenter Bilder verstärkte Schreckreaktionen zeigen, ist die Schreckreaktion der Soziopathen in dieser
Situation nicht erhöht, eher sogar verringert. Dieser Mangel
an emotionalen Reaktionen auf negativ-valente Reize kann
auch erklären, warum diese Patienten keine Schuldgefühle
haben, soziale Normen und Regeln häufig missachten und
daher straffällig werden.
l l l Emotionstheorien sprechen entweder
peripher-physiologischen Reaktionen oder
kognitiven Verarbeitungsprozessen eine
besondere Bedeutung für die Entstehung
von Emotionen zu
Emotionstheorie nach James und Lange. Diese Theorie geht
davon aus, dass voll ausgebildete Gefühle einer Rückmeldung der peripheren Gefühlsreaktionen in das ZNS bedürfen
(daher peripheralistische Theorie). Danach bedingen emotionale Reize ± ohne Beteiligung kortikaler und bewusster Verarbeitungsprozesse ± über limbische und subkortikale Informationsverarbeitungen periphere physiologische Veränderungen. Erst die Rückmeldung dieser peripheren Veränderungen an höhere kortikale Zentren führt dann zur emotionalen
Empfindung. Die Emotion entsteht also nach der peripheren
physiologischen Reaktion und wird von ihr determiniert
(¹Wir sind traurig, weil wir weinenª) (Abb. 3-31).
Aus dieser Theorie lassen sich zwei empirisch prüfbare Grundannahmen ableiten: (1) Unterschiedliche Emotionen müssen durch
unterschiedliche peripher-physiologische Reaktionen differenzierbar sein. Für die primären Emotionen konnte dies mittlerweile nachgewiesen werden (Abb. 3-32). (2) Reduzierte oder
fehlende Rückmeldung peripherer Reaktionen bedingt reduzier-
tes oder fehlendes emotionales Empfinden. Befunde an querschnittsgelähmten Patienten oder an Locked-in-Patienten zeigten aber, dass diese Patienten Emotionen wie Gesunde erleben.
Emotionstheorie nach Cannon und Bard. Nach dieser Theorie führen emotionale Reize zu einer Aktivierung thalamischer und limbischer Gehirnregionen, die dann gleichzeitig
das Gefühlserleben und die peripher-physiologischen Reaktionen von Emotionen bedingen (daher zentralistische Theorie). Für diese Theorie spricht, dass lokale Gehirnstimulationen in limbischen und einigen kortikalen Gehirnregionen
unmittelbar spezifische Gefühle auslösen können. Voraussetzung ist aber, dass peripher-physiologische emotionale Reaktionen zumindest in der Vergangenheit mit dem zentralnervösen Anteil des Gefühls assoziiert wurden und so ein
Gedächtnisabbild der peripheren emotionalen Reaktion vorliegt.
Emotionstheorie nach Schachter und Singer. Diese Theorie
geht davon aus, dass eine unspezifische physiologische Erregung und eine kognitive Bewertung dieser Erregung essentielle Komponenten einer Emotion sind (daher kognitive
Theorie). Die Stärke der physiologischen Erregung bestimmt
die Intensität der Emotion (Erregungsdimension; s. o.), der
kognitive Bewertungsprozess (Attributionstheorie) determiniert Art und Qualität der Emotion (Valenzdimension; s. o.).
Schachter und Singer (1962) untersuchten ihre Theorie,
indem sie die physiologische Erregung der Probanden, deren
Bewertungsbedürfnis und die Emotionalität der Situation experimentell variierten (Abb. 3-33). Allen Versuchsteilnehmern wurde erklärt, dass die Wirkung eines Vitaminpräparats auf das visuelle System untersucht werden soll. Die physiologische Erregung wurde variiert, indem den Probanden
entweder Adrenalin, das eine physiologische Erregung auslöst, oder aber eine wirkungslose Kochsalzlösung (Placebo)
injiziert wurde. Das Bewertungsbedürfnis wurde manipuliert,
Abb. 3-31. Die Emotionstheorien von
(a) James und Lange,
(b) Cannon und Bard sowie
(c) Schachter und Singer.
Nach Bourne LE, Russo RF.
Psychology. W. Norton, New York (1998)
66
Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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Abb. 3-32. Peripher-physiologische Reaktionen während unterschiedlicher Emotionen. Nach Ekman, P, Levenson, RW, Friesen, WV (1983) Autonomic nervous system activity distinguishes among emotions. Science, 221, 1208±1210
indem den Probanden der ¹Adrenalingruppeª verschiedene
Erklärungen über die Wirkung der Injektion gegeben wurden. Die Probanden erhielten entweder korrekte (¹Das Vitaminpräparat hat Nebenwirkungen und kann erregend wirkenª), falsche (¹Das Vitaminpräparat hat Nebenwirkungen
und kann zu Juckreiz führenª) oder keine Information (¹Das
Vitaminpräparat hat keine Nebenwirkungenª). Während die
Probanden auf die Wirkung der Injektion warteten, wurde
die Emotionalität der Situation variiert, indem eine zweite
Person im Warteraum (augenscheinlich ein weiterer Proband,
tatsächlich aber ein Schauspieler) sich entweder fröhlich
(machte Späûe, lieû z. B. Papierflieger fliegen) oder wütend
(schimpfte auf einen Fragebogen, der ausgefüllt werden
sollte) verhielt. Entsprechend der Theorie von Schachter und
Singer zeigten nur die Personen, die eine falsche oder keine
Erklärung für die Adrenalininjektion bekamen, eine emotionale Reaktion ähnlich der des ¹Schauspielersª. Es lag eine
unspezifische physiologische Erregung vor, für die es keine
Erklärung gab. Das Verhalten des Schauspielers legte eine
emotionale Bewertung der Erregung nahe, und diese Bewertung determinierte, welche Emotion entstand. Einschränkend
ist aber anzumerken, dass die von Schachter und Singer beobachteten emotionalen Reaktionen relativ schwach waren
und spätere Replikationsversuche keine eindeutigen Ergebnisse erbrachten.
Heute geht man davon aus, dass die Entstehung von Emotionen im Alltag entscheidend von kognitiven Bewertungsprozessen beeinflusst wird. Gleichzeitig ist aber klar, dass
Emotionen auch ohne beteiligte ¹bewussteª kognitive Prozesse und sogar oft gegen eine bewusste Erklärung und Ursache entstehen. Beispielsweise können Reizungen bestimmter
Gehirnregionen (z. B. während einer Operation am Gehirn,
die bei Bewusstheit durchgeführt werden muss) intensive Gefühle auslösen (z. B. Freude), die nicht zu der Situation (Operation) passen. Auûerdem lieû sich nachweisen, dass subliminal dargebotene Reize, die also nicht bewusst wahrgenommen werden, Emotionen auslösen können.
Peripher-physiologische Reaktionen sind ebenfalls ein
wichtiger Bestandteil emotionaler Reaktion. Neben autonomen Reaktionen beeinflusst vor allem der Gesichtsausdruck
das emotionale Empfinden. Emotionen können aber auch
ohne periphere Begleitreaktionen entstehen.
Wie der Gesichtsausdruck emotionale Empfindungen beeinflussen kann, wurde anschaulich in einem Experiment von Strack
und Mitarbeitern demonstriert. Alle Versuchsteilnehmer betrachteten Cartoongeschichten und hielten unter beiden Versuchsbedingungen einen Bleistift im Mund. Einmal mit den Zähnen, ohne dass die Lippen den Bleistift berühren durften, und
einmal nur mit den Lippen ohne Zuhilfenahme der Zähne. Im ersten Fall entsteht automatisch ein lächelnder Gesichtsausdruck,
im zweiten Fall ein neutraler bis wütender, und in Abhängigkeit
davon wurde die Cartoongeschichte entweder lustiger oder weniger lustig empfunden.
Abb. 3-33. Schematische Darstellung des
Versuchsplans von Schachter und Singer
(1962), die ihre Emotionstheorie untersuchten, indem sie die physiologische
Erregung der Probanden, deren Bewertungsbedürfnis und die Emotionalität der
Situation experimentell variierten
3.5 Emotionen
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67
l l l Die Erfahrung von Unkontrollierbarkeit
wird auf neue Lernsituationen
übertragen. Dadurch entsteht erlernte
Hilflosigkeit mit den Symptomen einer
¹deprimiertenª Emotionalität, reduzierten
Motivation und beeinträchtigten
Lernfähigkeit
Erlernte Hilflosigkeit. Das Erleben von Unkontrollierbarkeit,
d. h. das eigene Verhalten hat keinen Einfluss auf Konsequenzen, führt zur erlernten Hilflosigkeit (Abschn. D-6.5).
Diese geht mit emotionalen, motivationalen und kognitiven
Defiziten einher.
Eine ¹shuttle boxª besteht aus zwei getrennten Abteilen. Hunde,
die nach einem Warnsignal eine aversive Konsequenz (z. B. einen
elektrischen Reiz) in einem Abteil erfahren, lernen normalerweise sehr schnell, diese Bestrafung durch Flucht in das andere Abteil zu vermeiden. Seligman (1986) und Mitarbeiter haben nun
beobachtet, dass Hunde, die zuvor aversiven Konsequenzen
ohne Möglichkeit zur Vermeidung ausgesetzt waren, anschlieûend in der ¹shuttle boxª nicht mehr lernten, der Bestrafung zu
entfliehen. Sie waren passiv, legten sich hin, winselten und ertrugen die Bestrafungen, obwohl sie sie hätten vermeiden können.
Um den Einfluss der Vorerfahrung mit Bestrafung zu kontrollieren, wurden in Folgestudien immer drei Versuchsgruppen untersucht. Zwei davon waren unter ein Joch gespannt (¹yokedª)
und erlebten im Vortraining vergleichbare aversive Konsequenzen, wobei eine Gruppe diese nicht kontrollieren konnte (Experimentalgruppe), die andere Gruppe schon (Kontrollgruppe I). Beide Gruppen und eine dritte Versuchsgruppe (Kontrollgruppe II)
ohne Vortraining wurden anschlieûend in einem neuen Experiment untersucht. Hier lernten nur die beiden Kontrollgruppen,
die unangenehmen Konsequenzen zu vermeiden. In der Experimentalgruppe führte die Erfahrung der Unkontrollierbarkeit zur
erlernten Hilflosigkeit.
Erlernte Hilflosigkeit als Folge von Unkontrollierbarkeit
konnte auch in Untersuchungen an Menschen beobachtet
werden. Beim Menschen führen Erfahrungen der Unkontrollierbarkeit aber nicht immer zu erlernter Hilflosigkeit. Daher
wurde das Modell erweitert und kognitive Prozesse der Kausalattribution (Ursachenzuschreibung) integriert. Ob Unkontrollierbarkeit zur erlernten Hilflosigkeit führt, hängt demnach auch davon ab, welche Ursachen für die Unkontrollierbarkeit vermutet werden.
· Intern ± extern. Liegt die Ursache für die Unkontrollierbarkeit
in einem selbst oder an anderen?
· Global ± spezifisch. Ist die Unkontrollierbarkeit global für eine
Vielzahl von Situationen oder spezifisch für eine Situation?
· Stabil ± variabel. Wird die Unkontrollierbarkeit bestehen bleiben oder ist die Ursache variabel?
Am wahrscheinlichsten ist erlernte Hilflosigkeit, wenn die
Unkontrollierbarkeit internen, globalen und stabilen Ursachen zugeschrieben wird.
Schwere Erkrankungen führen häufig zu erlernter Hilflosigkeit bei Patienten und medizinischem Personal. Als Ausdruck einer erlernten Hilflosigkeit treten negative emotionale, motivationale, physiologische und kognitive Auswirkungen (Burnout-Symptome; Abschn. D-5.3) auf.
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Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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Die Symptome der erlernten Hilflosigkeit ähneln den
Symptomen der Depression. Daher wurde diese Theorie auch
zur Erklärung der Depression herangezogen. Depression infolge des Verlusts von Bindungen (z. B. Tod des Lebenspartners) kann durch Unkontrollierbarkeit und erlernte Hilflosigkeit erklärt werden.
é
3.6
Emotionen lassen sich auf den Dimensionen
der Valenz (positiv ± negativ) und der Aktivierung (erregend ± beruhigend) klassifizieren. Sie laufen als Reaktionen auf drei Verhaltensebenen (subjektiv, motorisch, physiologisch) ab, die nur schlecht miteinander
korrelieren. Deshalb müssen sie getrennt
auf jeder der drei Ebenen gemessen werden.
Alle Theorien der Emotion schreiben den
peripher-physiologischen und muskulären
Ausdrucksreaktionen eine determinierende
Rolle bei der Entstehung und Zuschreibung
(Attribution) von Gefühlen zu.
Motivation und Sucht
p
p
PH
PS
l l l Die Motivationspsychologie beschäftigt
sich mit den Gründen, die Menschen dazu
bewegen, sich in einer bestimmten Art
und Weise zu verhalten. Es geht um
Zustände innerhalb des Organismus,
die Verhalten auslösen, steuern und
aufrechterhalten
Trieb. Unter einem Trieb verstehen wir jene psychobiologischen Prozesse, die zur bevorzugten Auswahl eines bestimmten Verhaltens (z. B. Essen) bei Ausgrenzung anderer Verhaltensweisen (z. B. Schlafen) führen. Die Stärke des Triebes
hängt normalerweise von der Zeitdauer ab, über die ein Zielgegenstand oder -zustand entbehrt werden musste (Deprivationszeit).
Homöostatische Triebe sind direkt von Abweichungen
von einem körperlichen homöostatischen Gleichgewicht abhängig. Die Stärke dieser Abweichung bestimmt die Stärke
des Triebes, Lern- und Umweltfaktoren spielen eine untergeordnete Rolle. Temperaturerhaltung, Hunger, Durst und circadiane Periodik (Schlaf) sind homöostatische Triebe.
Nicht-homöostatische Triebe weisen variable Sollwerte
und variable Deprivationszeiten auf, die stark von Lernprozessen und sozialen Faktoren mitbestimmt werden. Sexualität, Exploration und Bindungsbedürfnis gehören hierzu
(Abschn. B-7.2).
Trieb und Verstärkung. Triebe motivieren zuerst ungerichtetes Such- oder Abwehrverhalten. Die mit der konsumatorischen Reaktion einhergehende Triebreduktion wirkt als ein
Verstärker, der die Triebreize auf die zielführenden Verhaltensmuster lenkt (Abschn. D-3.3). Aber auch Reize, die mit
Motivationale Konflikte. Unser alltägliches Verhalten ist
meistens nicht nur durch eine, sondern durch mehrere Motivationen bestimmt. Von einem motivationalen Konflikt
spricht man, wenn zwei oder mehr Motivationen aktiv sind,
deren Befriedigung sich ausschlieût.
Abb. 3-34. Ein Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt am Beispiel von Flugangst. Ein Patient hat Angst vor dem Fliegen,
gleichzeitig möchte er gerne den Sommerurlaub auf einer Insel
verbringen. Ein positiver (schöner Urlaub) und ein negativer Anreiz (Fliegen) sind unvereinbar. Solange der Sommer noch weit
weg ist, fällt der negative Anreiz weniger ins Gewicht, und der
Patient bucht den Urlaub. Kurz vor dem Abflug dagegen wird
der negative Anreiz stärker, die Vermeidungstendenzen nehmen
zu, und der Patient sagt den Urlaub ab. Dieses Verhaltensmuster
ist typisch für Angstpatienten
Triebinduktion assoziiert wurden, können verstärkend wirken (z. B. eine neue Umgebung).
Wenn ich lange nicht gegessen habe, so nimmt mein Hunger
langsam zu. Wenn ich nun in einer fremden Stadt bin, so motiviert der Trieb zuerst ungerichtetes appetitives Suchverhalten,
die Suche nach etwas Essbarem. Entdecke ich nun zufällig eine
Bäckerei und kaufe dort einen Kuchen, so bedingt dessen Verzehr eine Triebreduktion. Die Triebreduktion wirkt als Verstärker, und der Gang zu diesem Bäcker wird, wenn ich wieder Hunger in dieser Stadt habe, wahrscheinlicher. Gleichzeitig werden
die Signale, die mit der Triebreduktion einhergingen, zukünftig
verstärkend wirken. Der Anblick der Bäckerei, der Geruch von
Kuchen, löst positive Gefühle aus, auch wenn ich keinen Hunger
habe.
l l l Motivation ist die Wirksamkeit von
Trieben (¹Druck von innenª) und Anreizen
(¹Anziehung von auûenª)
Der Begriff Anreize (Incentives) bezeichnet die Wirkungen,
die Ziele selbst auf das Verhalten haben. Reize, die Menschen
motivieren, sie anzustreben, sind positive Anreize. Dinge, die
motivieren, sie zu vermeiden, sind negative Anreize. Dinge
können Anreizwert erhalten, indem sie mit Belohnung oder
Bestrafung assoziiert werden. Reize, die mit Triebreduktion
assoziiert werden, haben positive Anreizwerte. Reize, die positive Anreizwerte aufgrund einer Assoziation mit Triebreduktion haben, sind beispielsweise der Geruch von Essen,
das Parfüm der Freundin, der Gedanke an einen Urlaubsort,
an dem Positives erlebt wurde. Künstliche Anreize sind Drogen oder intrakranielle Selbstreizung, die direkt auf kortikale
Anreizsysteme (Dopaminsystem) wirken (Abschn. B-7.3).
· Appetenz-Appetenz-Konflikt. Es gibt zwei positive Anreize,
die aber nicht beide erreicht werden können.
· Aversions-Aversions-Konflikt. Zwischen zwei negativen Anreizen muss eine Wahl getroffen werden.
Ein Patient kommt mit starken Zahnschmerzen zum Zahnarzt.
Der rät ihm zu einer Zahnwurzelbehandlung, die sehr
schmerzhaft ist. Der Patient muss sich nun zwischen diesen
beiden aversiven Alternativen ± den bestehenden Zahnschmerzen oder der schmerzhaften Zahnwurzelbehandlung ±
entscheiden.
· Appetenz-Aversions-Konflikt (Ambivalenz). Ein Anreiz hat
negative und positive Folgen, und Annäherungs- und Vermeidungstendenzen werden aktiviert. Hier spielt die ¹Entfernungª
zum Anreiz eine wichtige Rolle. Je näher man dem angestrebten Ziel ist, desto stärker fallen die negativen Anreize ins Gewicht. Diese Konfliktart spielt bei Angststörungen eine wichtige Rolle und wird auch ¹neurotischer Konfliktª genannt (Abb.
3-34).
l l l Ein Instinkt ist ein stereotypes
Verhaltensmuster, das durch einen
angeborenen oder früh erworbenen
Auslösemechanismus aktiviert wird
Instinkt. Ein Teil der menschlichen Verhaltensweisen kann ±
vor allem in frühen Entwicklungsphasen ± durch Instinkte
erklärt werden. Instinkte und Motivationen müssen unterschieden werden, obwohl sie auch einige Gemeinsamkeiten
haben.
Instinkte und Motivationen
· sind abhängig von variablen inneren Zuständen (z. B. vom
Hormonspiegel in einem bestimmten Alter),
· haben appetitive und konsumatorische Phasen und
· sind von einfachen Reflexkreisen zu komplexen Verhaltenssequenzen hierarchisch organisiert.
Im Unterschied zu Motivationen sind Instinkte aber
· abhängig vom Vorhandensein angeborener oder früh erworbener Schlüsselreize,
· blind gegenüber den Konsequenzen (z. B. bebrütet ein Vogel
seine eigenen Eier nicht, wenn ein groûes Pseudoei vorhanden
ist, das die wesentlichen Schlüsselreize aufweist),
· einfacher organisiert, sowohl physiologisch als auch im Verhalten,
· artspezifisch,
· wenig veränderbar oder an andere Situationen anpassbar und
· weniger durch Antizipation oder Erwartung eines Ziels gekennzeichnet.
Im Folgenden sollen die wichtigsten Begriffe der Instinktlehre schlagwortartig an einem Beispiel erklärt werden (nach
Rau und Pauli, 1995).
3.6 Motivation und Sucht
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69
Ein hungriger Säugling wacht auf und sucht durch Pendelbewegungen mit dem Kopf nach der Brust der Mutter. Wenn er die
Brust spürt, dreht er den Kopf zur Brustwarze hin. Die Lippen
umschlieûen die Brustwarze und der Säugling beginnt mit Saugbewegungen zu trinken.
Ein Assistenzarzt erhält vom Chefarzt einen, nach seiner Meinung unberechtigten Verweis. In der Situation wirkt er gelangweilt, schaut aus dem Fenster und gähnt.
Appetenzverhalten ist Ausdruck der inneren Gestimmtheit
bzw. der Handlungsbereitschaft und zeigt sich in einem ungerichteten Suchverhalten. Das Suchverhalten erhöht die
Wahrscheinlichkeit, auf eine Reizbedingung zu treffen, die
eine konsumatorische Endhandlung ermöglicht.
l l l Prägung und angeborene
Verhaltensprogramme treten vor allem
in der frühen Entwicklung auf
Die Pendelbewegungen mit dem Kopf sind Ausdruck des Appetenzverhaltens des Säuglings.
Der Schlüsselreiz setzt einen bestimmten angeborenen Auslösemechanismus in Gang.
Die Brust der Mutter ist ein Schlüsselreiz für den Säugling.
Der angeborene Auslösemechanismus (AAM) ist eine Art Filtersystem, das auf spezifische Reize hin selektiv ein bestimmtes Verhalten aktiviert. Der Schlüsselreiz wirkt über den
AAM und löst so die Instinkthandlung aus.
Der Säugling spürt die Brust der Mutter, und dadurch wird der
angeborene Auslösemechanismus aktiviert.
Die Instinkthandlung hat eine Taxiskomponente (Orientierungsbewegung) und eine Erbkoordination (Instinktbewegung). Die Erbkoordination ist vorprogrammiert, die Taxiskomponente dagegen ist relativ variabel.
Prägung ist eine spezielle Form von assoziativem Lernen auf
der Grundlage einer angeborenen Sensibilitätserhöhung für
spezifische Reiz-Reaktions-Verkettungen in einem bestimmten Abschnitt (sensible Phase) der Entwicklung eines Lebewesens.
Konrad Lorenz hat die Objektprägung bei Graugänsen untersucht. Während der sensiblen Phase findet die Objektprägung
auf einen bewegten und Töne erzeugenden ¹Gegenstandª ± normalerweise die Muttergans ± statt, und die jungen Gänse folgen
dann diesem Objekt. Da es sich um ein objektlos angeborenes
Verhalten handelt, war es möglich, die jungen Graugänse auch
auf andere Objekte zu prägen. Beispielsweise auf K. Lorenz selber, wenn er statt der Muttergans in der sensiblen Phase präsent
war. Die Junggänse liefen ihm und nicht der Muttergans nach.
Angeborene Verhaltensprogramme. Ein wichtiges angeborenes Verhaltensprogramm betrifft die Kommunikation zwischen Säugling und Mutter. Das Gesicht eines Menschen wird
von Säuglingen gegenüber anderen Reizmustern bevorzugt.
Diese angeborene Verhaltensweise (Bindungsbereitschaft) erfolgt bis zum dritten Monat undifferenziert. Ab dem dritten
Die Instinkthandlung besteht darin, dass der Säugling an der
Brust saugt. Das Drehen des Kopfes zur Brustwarze entspricht
der Taxiskomponente, die Saugbewegungen der Erbkoordination.
Die konsumatorische Endhandlung ist die Erbkoordination,
die dem Appetenzverhalten folgt und die Reduktion der
Handlungsbereitschaft ermöglicht.
Das Saugen des Säuglings führt dazu, dass der Hunger gestillt
wird. Wenn der Säugling satt ist, zeigt er kein Appetenzverhalten mehr; das Saugen ist also die konsumatorische Endhandlung.
Von einer Instinktkette spricht man, wenn mehrere Instinkthandlungen aufeinander folgen.
Leerlaufhandlungen sind quasi Endhandlungen, die ohne
Schlüsselreiz ablaufen. Sie treten vor allem bei lange verzögerter Endhandlung auf.
Ein sehr hungriges Baby saugt an seiner Bettdecke.
Übersprungshandlungen sind angeborene Verhaltensweisen,
die vor allem in Konfliktsituationen auftreten, wenn einander widerstrebende Verhaltenstendenzen aktiviert werden.
Eine dritte, nicht zur Situation passende Handlung, wird
dann aktiviert. Verlegenheitsgesten (z. B. Kratzen, Nägelkauen, Gähnen) können als Übersprungshandlungen bezeichnet
werden.
70
Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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Abb. 3-35. Die Hierarchie der Bedürfnisse nach Maslow
Monat lächeln Säuglinge menschliche Gesichter und auch Gesichtsattrappen an (Drei-Monats-Lächeln). Dies ist ein AAM.
Durch dieses Lächeln wird die Bereitschaft der Betreuungsperson erhöht, dem Säugling Zuwendung zu schenken. Das dem
Kind zugewandte Gesicht ist ein Schlüsselreiz für das Lächeln
des Kindes. Das Lächeln des Kindes ist Teil des Kindchenschemas und Schlüsselreiz für (Brut-)Pflegeverhalten. Charakteristika des Kindchenschemas sind Stupsnase, groûe Augen und
rundes Gesicht. Später lernt das Baby, zwischen dem Gesicht
der Mutter und dem eines Fremden zu unterscheiden. Hier
handelt es sich um einen durch Erfahrung abgeänderten Auslösemechanismus (EAAM). Der ursprüngliche AAM wird durch
Lernen ergänzt bzw. modifiziert.
Die Hierarchie der Bedürfnisse. Abraham Maslow, ein Vertreter der humanistischen Psychologie, hat eine Hierarchie
der menschlichen Bedürfnisse aufgestellt. Die biologischen
Bedürfnisse bilden hier die unterste Hierarchiestufe. Sie beherrschen einen Menschen so lange, bis diese erfüllt werden.
Erst dann werden die Bedürfnisse der nächsten Hierarchiestufe aktiviert usw. (Abb. 3-35).
l l l Menschliche Motivation wird nicht nur
durch äuûere Reize, sondern auch durch
die subjektive Interpretation und
Bewertung dieser Reize bestimmt
Handlungstheoretische und kognitive Motivationstheorien.
Der Mensch wird im Kontext dieser Theorien als rational
denkend und aktiv planend betrachtet (Abschn. D-3.4).
Handlungssteuernd sind seine Erwartungen, seine Kognitionen und seine Bewertungen. Der Wille ist entscheidend dafür,
ob eine Handlung ausgeführt wird oder nicht.
Kybernetische Regelkreismodelle. Nach dem TOTE-Modell
(Test-Operate-Test-Exit) wird eine Handlung durch die Divergenz zwischen einem Soll- und einem Ist-Zustand motiviert
(Abb. 3-36). Der Soll-Zustand definiert das Ziel der Handlung, der Ist-Zustand das Handlungsergebnis. Während der
Testphase werden beide verglichen. Die Handlung (Operate)
wird beendet (Exit), wenn eine hinreichende Übereinstimmung zwischen Ist- und Soll-Zustand festgestellt wird.
Ein Arzt will Blut abnehmen (Soll-Zustand). Er sticht die Nadel
in die Vene (Operate) und schaut, ob Blut kommt (Test). Wenn
Abb. 3-36. Schematische Darstellung des TOTE-Modells als
Beispiel für ein kybernetisches Regelkreismodell einfacher
Handlungen
kein Blut flieût, schiebt er die Nadel tiefer (Operate). Die Handlung ist beendet (Exit), wenn die Nadel richtig sitzt und Blut abgenommen werden kann.
Subjektive Nützlichkeitsmodelle (Erwartungswertmodelle).
Nach diesen Modellen ist ein Zielobjekt erstrebenswert, wenn
es nützlich ist. Nützlichkeit beinhaltet Anreiz und Trieb, denn
ein Objekt ist nur nützlich, wenn es einen positiven Anreizwert hat und zu den aktuellen Bedürfnissen passt.
Entscheidend dafür, ob eine Handlung ausgeführt wird, ist
die erwartete Nützlichkeit der Handlung. Diese wiederum
hängt von der subjektiven Nützlichkeit des Zielobjekts und
von der subjektiven Wahrscheinlichkeit ab, dass ein bestimmtes Verhalten zum Zielobjekt führt. Subjektive Nützlichkeit und subjektive Wahrscheinlichkeit ergeben multiplikativ die erwartete Nützlichkeit.
Ein Patient steht vor der Entscheidung, ob er sein Magengeschwür medikamentös oder mit Naturheilverfahren behandeln
lassen soll. Seine Entscheidung wird davon abhängen, wie effektiv er die beiden Behandlungen einschätzt (subjektive Nützlichkeit) und mit welcher Wahrscheinlichkeit er eine positive Wirkung für sich erwartet (subjektive Wahrscheinlichkeit). Schlieûlich entscheidet er sich für das Naturheilverfahren, obwohl er
die Wahrscheinlichkeit, dass seine Beschwerden damit verschwinden, als etwas geringer im Vergleich zur medikamentösen
Therapie einschätzt. Ausschlaggebend könnte sein, dass er die
Nützlichkeit des Naturheilverfahrens als sehr hoch einschätzt,
z. B. weil es ohne Nebenwirkungen ist.
l l l Die Bewertung der Ursachen für eine
Handlung entscheidet mit über die
Motivation für zukünftige Handlungen
Attributionsmodelle. Die Motivation für Handlungen hängt
auch von der Bewertung der Ursachen einer Handlung ab.
Beispielsweise macht es einen deutlichen Unterschied in Bezug auf die Therapiemotivation eines Patienten, welche Ursache er für seine Erkrankung annimmt (welche Ursache er attribuiert; Abschn. D-3.5).
Ein Patient wird nach einem Herzinfarkt für eine Rehabilitationsbehandlung unterschiedlich motiviert sein, je nachdem
welche Ursache er für die Erkrankung annimmt. Die Motivation
wird gröûer sein, wenn er glaubt, dass die Ursache veränderbar
ist (instabil), dass es eine spezifische Ursache gibt (spezifisch)
und dass er die Möglichkeiten hat, die Ursache zu verändern
(intern), z. B. ¹Ich habe zu wenig Sport getrieben, und das kann
ich ändern.ª Externe, stabile und globale Ursachenattribution
würde dagegen eine geringere Therapiemotivation bedingen,
z. B. ¹Bei dem heutigen Stress, der Umweltverschmutzung und
der Überbevölkerung muss man ja einen Herzinfarkt bekommen. Ich kann nichts machen, es kommt wie es kommtª (Tab.
3-4).
Attributionsstile. Ein optimistischer Attributionsstil bedeutet, dass Erfolg internen, stabilen und globalen Ursachen zugeschrieben wird, Misserfolg dagegen externen, variablen
und spezifischen Ursachen. Beim pessimistischen Attributionsstil ist das Gegenteil der Fall, einem Misserfolg werden
interne, stabile und globale Ursachen zugeschrieben, einem
Erfolg externe, variable und spezifische Ursachen.
3.6 Motivation und Sucht
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Tabelle 3-4. Mögliche Ursachenattributionen eines Arztes, bei dem ein Patient auf Station an Krebs gestorben ist
Theorie der erlernten Hilflosigkeit: Attributionsdimensionen
Attributionsdimension
intern
extern
stabil
variabel
stabil
variabel
global
¹Ich bin als Arzt
einfach unfähig.ª
¹Ich habe mich zu
wenig um die Patienten
gekümmert.ª
¹Die Medizin ist
ohnmächtig.ª
¹Die Patienten
kooperieren zu wenig.ª
spezifisch
¹Bei malignen
Erkrankungen
versage ich
als Arzt.ª
¹Ich habe den Patienten
nicht genug in seinem
Lebenswillen bestärkt.ª
¹Magenkrebs ist in
diesem Stadium
unheilbar.ª
¹Der Patient hätte mit der
Chemotherapie,
die er aber verweigerte,
bessere Chancen gehabt.ª
Ein Patient in der Rehabilitation nach einem Schlaganfall wird
einen kleinen Therapieforschritt in Abhängigkeit vom Attributionsstil bewerten. Ein optimistischer Attributionsstil geht einher
mit Bewertungen wie ¹Das habe ich gut gemachtª (intern), ¹Dieser Fortschritt wird anhaltenª (stabil) und ¹Wenn ich dies geschafft habe, werde ich auch noch andere Probleme in den Griff
bekommenª (global). Einem pessimistischen Attributionsstil entsprechen Bewertungen wie ¹Der Fortschritt war nur auf die Hilfe
der Krankenschwester zurückzuführenª (extern), ¹Ich war kurzzeitig gut drauf, deshalb konnte ich das erreichenª (variabel)
und ¹Dass ich das erreicht habe, bedeutet nicht, dass ich auch
andere Probleme bewältigen kannª (spezifisch).
Leistungsmotivation. Eine hohe Leitungsmotivation geht ±
bei vergleichbarer Intelligenz und vergleichbarer sozialer
Herkunft ± mit durchschnittlich besseren Leistungen in Testaufgaben, besseren Schulnoten und beruflichem Erfolg einher. Leistungsmotivation im Erwachsenenalter ist vor allem
dann zu beobachten, wenn die Erziehung während der Kindheit groûen Wert auf Selbständigkeit gelegt hat.
Die Leistungsmotivation wird auch durch Attributionsstile beeinflusst. Ein pessimistischer Attributionsstil wird
eher dazu führen, seine Ziele bescheiden zu setzen und sich
schwierigeren Aufgaben nicht zu stellen. Personen mit optimistischem Attributionsstil dagegen werden bei Misserfolg
nicht so schnell aufgeben und weiter motiviert sein, die Aufgabe anzugehen.
Leistungsmotivation wird auûerdem durch Angst vor
Misserfolg beeinflusst. Bei gleichem Erfolgsbedürfnis werden
Personen, deren Persönlichkeit durch Angst vor Misserfolg
charakterisiert ist, sich weniger anspruchsvolle Ziele setzen.
In einer Studie an Studenten konnte gezeigt werden, dass die
Studenten, die ihre anfänglich schlechte Studienleistung optimistisch attribuierten, in späteren Tests besser abschnitten als
Studenten, die ihre anfänglichen Misserfolge pessimistisch bewerteten.
l l l Die Bewertung der Situation
und die Bewertung der eigenen
Handlungsmöglichkeiten entscheidet
darüber, wie man handelt
Bewältigungsprozesse (Coping). Vor allem bei einer Bedrohung durch äuûere Reize hängt die Handlungsmotivation einer Person davon ab, welche Möglichkeiten sie zur Bewältigung der Bedrohung hat (Coping-Ressourcen).
72
Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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Nach dem Coping-Modell von Lazarus sind die Interpretationen der aktuellen Belastung und verfügbaren Bewältigungsstrategien von entscheidender Bedeutung. Folgende
Schritte werden bei der Bewertung einer gegebenen Bedingung und der Auswahl einer geeigneten Bewältigungsstrategie durchlaufen:
· Primäre Bewertung. Zuerst wird die subjektive Bedeutung
des Reizes bzw. der Situation eingeschätzt (ist der Reiz irrelevant, positiv oder negativ bzw. stressreich). Die primäre Bewertung bestimmt die Intensität und Qualität der emotionalen
Reaktion bzw. der empfundenen Belastung.
· Sekundäre Bewertung. Die zur Verfügung stehenden Reaktionsmöglichkeiten werden eingeschätzt. Welche Möglichkeiten und Fähigkeiten bieten sich zur Bewältigung des Stressors
an? Welche Kosten und welcher Nutzen sind mit den verschiedenen Bewältigungsmöglichkeiten verbunden? Sekundäre
und primäre Bewertung stehen in ständiger Wechselwirkung.
· Einsatz der Bewältigungsstrategie. Durch problemorientiertes Coping versucht die betroffene Person, ihre Beziehung zu
dem bedrohlichen Reiz zu verändern, während emotionsregulierendes Coping darauf abzielt, die entstehenden Gefühle zu
verändern. Die vier wichtigsten Bewältigungsstrategien sind
(1) direkte Aktionen (Flucht, Kampf etc.), (2) Aktionshemmung (Unterdrückung eines Handlungsimpulses), (3) Informationssuche (nach möglichen z. T. auch unrealistischen Auswegen) und (4) intrapsychische, kognitive Prozesse (Verleugnung, Umdeutung etc.).
· Neubewertung. Der Erfolg und die Effizienz der eingesetzten
Strategie werden bewertet. Wenn die Bedrohung nicht bewältigt werden konnte, beginnt der Prozess wieder mit der primären Bewertung.
Bei einem Patienten besteht Verdacht auf Krebs, und die nächste
Untersuchung dient der Abklärung dieser Verdachtsdiagnose.
Primäre Bewertung: Der Verdacht auf Krebs stellt eine Bedrohung dar und löst emotionale Reaktionen aus (Angst und Unsicherheit). Sekundäre Bewertung: ¹Was kann ich tun? Nicht zur
Untersuchung gehen, einen anderen Arzt konsultieren, mich selber über Krebs informieren, aufhören zu rauchen? Am besten ist
wohl, ich versuche so wenig wie möglich daran zu denken.ª Bewältigungsstrategie: ¹Allen Informationen über Krebs aus dem
Weg gehen, nicht mit anderen Personen über die Verdachtsdiagnose reden.ª Neubewertung: ¹Ist die Bedrohung noch vorhanden? Ich kann den Gedanken an Krebs nicht ausblenden.
Irgendwie muss ich immer daran denken. Ich werde den Stress
so nicht los.ª Sekundäre Bewertung: ¹Vielleicht sollte ich mit
meinem Hausarzt darüber reden. Er hat bestimmt weitere Informationen über Krebs.ª
Bewältigungsstile. Wenn eine Person ein bestimmtes Bewältigungsverhalten anhaltend und über verschiedene Situationen hinweg anwendet, spricht man von einem Bewältigungsstil. Wichtig sind die Bewältigungsstile der ¹Verdrängerª (Repressors) und der ¹Sensibilisiererª (Sensitizers).
Repressors vermeiden emotionale und Angst auslösende Reize, d. h. sie lehnen bedrohliche Informationen ab und verleugnen drohende Gefahren. Sensitizers dagegen suchen aktiv nach Informationen über Angst auslösende, bedrohliche
Ereignisse. Ein Repressor würde im obigen Beispiel auf die
Verdachtsdiagnose Krebs nicht mit einer Informationssuche
zu diesem Thema reagieren. Zu viele Informationen von Seiten des Arztes würden seine emotionale Reaktion wohl eher
verstärken als reduzieren. Dagegen sollte einem Sensitizer
keine Information über die anstehende Untersuchung vorenthalten werden. Beim Umgang mit Patienten ist es wichtig,
den individuellen Bewältigungsstil der Person zu berücksichtigen.
l l l Dissonanz (Unvereinbarkeit) zwischen
Kognitionen (Gedanken) motiviert dazu,
diese zu beseitigen. Besteht Dissonanz
zwischen einer Kognition und einer
Verhaltensangewohnheit, so wird eher
die Kognition geändert
Theorie der kognitiven Dissonanz. Jedes Individuum strebt
danach, zwischen seinen Kognitionen (Wissen, Einstellungen, Gedanken) Übereinstimmung oder Konsonanz herzustellen. Dissonanz ± d. h. Widerspruch zwischen Kognitionen
±, die nach einer Entscheidung, einer Handlung oder einer
neuen Information entsteht, wird negativ erlebt. Dissonanz
motiviert dazu, Konsonanz herzustellen. Die Stärke der Motivation ist umso gröûer, je bedeutsamer die dissonanten Kognitionen sind. Ob Dissonanz besteht, richtet sich nicht nur
nach den Kriterien der Logik, sondern vor allem nach kognitiven Bewertungsprozessen. Was zum Abbau von Dissonanz
unternommen wird, hängt vom ¾nderungswiderstand der
Kognitionen ab. Der Widerstand einer Kognition ist umso
gröûer, je mehr andere Kognitionen in konsonanter Weise
mit ihr verbunden sind, also je stärker die Kognition in das
¹Weltbildª der Person eingebunden ist. Wenn Konsonanz
nicht hergestellt werden kann, so kommt es zur Verleugnung.
Besteht zwischen einer Kognition und einer Verhaltensangewohnheit Dissonanz, so wird eher die Kognition geändert.
Für einen übergewichtigen Patienten gehört gutes und reichliches Essen zu seiner Lebensfreude. Der Arzt rät ihm aber aus gesundheitlichen Gründen, sein Essverhalten zu ändern. Diese
neue Information ist dissonant zu seiner bestehenden Überzeugung, dass Essen zur Lebensfreude beiträgt. Zur Reduktion der
Dissonanz könnte er beispielsweise denken, ¾rzte verstehen
nichts von Lebensfreude. Oder er könnte das Essverhalten ändern und zum Schluss kommen, dass er seine Lebensfreude auch
auf andere Weise erhalten kann. Wie von der Theorie der kognitiven Dissonanz vorhergesagt, neigen die meisten Patienten dazu, Konsonanz durch Veränderung einer Kognition (¾rzte verstehen nichts von Lebensfreude) und nicht durch Verhaltensänderung (Essverhalten umstellen) herbeizuführen.
l l l Sucht ist eine erlernte Motivation, deren
Entstehung von sozialen Bedingungen
abhängt
Erlernte Motivation und Sucht. Süchtiges Verhalten kann als
eine erworbene Motivation verstanden werden. Die Entstehung der Sucht wird stark von soziopsychologischen Faktoren beeinflusst. Die Aufrechterhaltung der meisten Süchte
und die Rückfallwahrscheinlichkeit ist aber auch von zentralnervösen Prozessen abhängig. Sucht ist charakterisiert
durch:
· Abhängigkeit. Abhängigkeit besteht aus einem Verhaltensmuster, bei dem die Aufnahme der Droge Priorität gegenüber anderen Verhaltensweisen erlangt, die früher einen höheren Stellenwert hatten.
· Entzugssymptome. Ein Absetzen der Drogeneinnahme
hat negative körperliche und psychische Wirkungen, die
durch Drogeneinnahme beendet werden.
· Toleranz. Die wiederholte Einnahme der Droge geht mit
einer Abnahme der ursprünglichen Drogenwirkung einher. Um dieselbe Drogenwirkung zu erreichen, muss die
Dosis erhöht werden.
Die Gegensatz-Prozess-Theorie erworbener Motivation eignet sich zur Erklärung süchtigen Verhaltens, aber auch zum
Verständnis der Dynamik von Motivationen und Emotionen.
Ausgangspunkt dieser Theorie ist die Beobachtung, dass die
häufige Wiederholung eines Verstärkers suchtartiges Verhalten mit Toleranz- und Entzugssymptomen bedingt. Dies ist
vermutlich darauf zurückzuführen, dass ein positiver oder
negativer Reiz immer zwei gegensätzliche hedonische Prozesse (emotionale Qualitäten) anstöût, deren Summation die
Stärke des Affekts oder der Motivation bedingt. Der Sinn die-
Abb. 3-37. Schematische Darstellung
der Gegensatz-Prozess-Theorie.
Nach Birbaumer N, Schmidt RF (1999)
Biologische Psychologie,
4. Aufl. Springer Heidelberg
3.6 Motivation und Sucht
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ser gegensätzlichen hedonischen Prozesse (einer geht in
Richtung lustvoll, einer in Richtung Unlust) besteht darin,
die Intensität affektiver Reaktionen innerhalb tolerabler
Grenzen zu halten. Abb. 3-37 beschreibt diesen Vorgang
(Abschn. B-7.3).
Die Darbietung eines emotionalen Reizes stöût zuerst den so genannten a-Prozess an, auf den der entgegengesetzte (antagonistische) b-Prozess folgt. Die erlebte Emotion oder Motivation ist
das Nettoergebnis beider Prozesse. Der b-Prozess beginnt etwas
zeitverzögert nach dem a-Prozess und hat eine langsamere
Rückkehr- oder Refraktärzeit. Besonders wichtig ist, wie sich
beide Prozesse bei wiederholter Aktivierung durch denselben
Reiz verhalten. Der a-Prozess verändert sich nicht. Der b-Prozess
dagegen ist bei den ersten Stimulationen kleiner als der a-Prozess, nimmt aber bei wiederholten Stimulationen an Stärke zu.
Der obere Teil von Abb. 3-37 zeigt das Nettoergebnis beider Prozesse, also die manifeste emotionale Reaktion nach wenigen
oder nach vielen Stimulierungen. Der untere Teil der Abbildung
zeigt die zugrunde liegenden antagonistischen Prozesse.
l l l Die Vermeidung von Entzugssymptomen
ist einer, aber nicht der wichtigste
Mechanismus, der zur wiederholten
Drogeneinnahme und Sucht führt
Bei Drogen entspricht der a-Prozess den anfänglichen positiven
Emotionen, der b-Prozess reflektiert die Gegenreaktion. Gerade
bei Drogen mit extrem positiver Wirkung (z. B. Crack, Kokain)
treten starke negative und teilweise lang anhaltende (bei Morphium zwischen 8 und 120 Stunden) Nachschwankungen auf,
die durch neuerliche Drogeneinnahme reduziert werden können.
Die wiederholte Drogeneinnahme bedingt aber eine Zunahme
des b-Prozesses, wodurch die negativen Nachschwankungen
stärker und länger werden, was wiederum die nächste Drogeneinnahme mit eventuell stärkerer Dosierung wahrscheinlicher
macht. Der Circulus vitiosus aus Toleranz und Entzugssymptomen ist geschlossen (Abschn. B-7.3).
Die Motivation, anfänglich unangenehme Verhaltensweisen
zu wiederholen, lässt sich ebenfalls durch die Gegensatz-Prozess-Theorie erklären. Beim Joggen beispielsweise ist das anfängliche Training unangenehm, schmerzhaft und oft eine Qual.
Dies entspricht dem a-Prozess. Die Gegenreaktion des Körpers,
der b-Prozess, entspricht einem angenehmen Gefühl, das nach
dem Training entsteht. Wiederholtes Training bedingt nun, dass
der b-Prozess immer stärker wird, das positive Gefühl also an
Stärke und Dauer zunimmt. Auch Joggen kann so zu suchtartigem Verhalten führen. Voraussetzung ist allerdings, dass es noch
während der positiven Nachschwankung wiederholt wird.
l l l Drogen werden vorwiegend wegen
der erwarteten positiven Effekte
eingenommen. Diese Erwartungen
entstehen durch klassische
Konditionierung
Süchtiges Verhalten entsteht nicht nur, um negative Nachwirkungen des Drogenkonsums (Entzugserscheinungen) auszugleichen. Viele süchtig machenden Substanzen (z. B. Nicotin) produzieren keine Entzugseffekte, und zwischen dem
Verlangen nach einer Droge (Craving) und der Stärke der
Entzugserscheinungen besteht normalerweise kein enger Zu74
Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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sammenhang. Besonders wichtig ist die Beobachtung, dass
Rückfälle nach Entzugsbehandlungen meistens lange nach
dem Abklingen physischer und psychologischer Entzugserscheinungen auftreten (Abschn. B-7.3).
Klassische Konditionierungen von a-Prozess oder b-Prozess
(Gegensatz-Prozess-Theorie; s. o.) bedingen, dass diese Prozesse von spezifischen Reizbedingungen angestoûen werden
können. Die überwiegende Anzahl der Rückfälle wird durch
konditionierte Reize für die positiven Effekte der Drogensubstanz (a-Prozess) ausgelöst.
Ein alkoholabhängiger Patient hat in bestimmten Lokalen viel
getrunken. Während der stationären Behandlung konnte er seine
physische und psychische Abhängigkeit überwinden und hat
nun, vier Monate nach Entzugsbeginn, keine Entzugserscheinungen mehr. Nach Behandlungsende geht er mit seiner Frau in
ein Restaurant zum Essen. In dieser Situation verspürt er ein so
starkes Verlangen nach Alkohol, dass er rückfällig wird. Das Lokal fungiert als ein CS, der mit der Drogenwirkung assoziiert ist.
Dieser CS hat, auch nach der Entzugsphase, den a-Prozess und
damit das Verlangen nach Alkohol angestoûen. Die starke Wirkung der konditionierten Reize wird dadurch verdeutlicht, dass
fast 80 % der abhängigen Patienten nach Behandlungen rückfällig werden.
Ein anschauliches Beispiel für die Bedeutung klassisch
konditionierter Reize für Rückfall und Drogenkonsum sind
Studien an Vietnam-Soldaten. Viele amerikanische Soldaten
nahmen in Vietnam Drogen (v. a. Heroin). Nur eine Minderheit hat aber nach Rückkehr in die USA ± trotz Verfügbarkeit
der Drogen ± weiter Drogen genommen. Die mit dem
Drogenkonsum assoziierten Reize, die das Verlangen nach
der Droge anstoûen, waren in Vietnam, aber nicht in den
USA vorhanden. Süchtige, die im selben Zeitraum in den
USA behandelt wurden, waren viel häufiger rückfällig (Abb.
3-38).
Abb. 3-38. Prozentsatz der Vietnam-Veteranen, die in Vietnam
heroinabhängig waren, aber die Drogen nach Heimkehr in die
USA nicht mehr einnahmen im Vergleich zu ¹zivilenª Abhängigen, die im selben Zeitraum behandelt wurden. Nach Robins,
LN, Davis, DM, Goodwin, DW (1974). Drug use by US Army enlisted men in Vietnam: a follow-up on their return home. Am J
Epidem, 99, 235±249
é
p
p
PS
S
3.7
Triebe motivieren unser Verhalten aus dem
Innern des Organismus, Anreize (Incentives)
von auûen entweder als Annäherungsmotiv
oder als Vermeidungsmotiv. Zwischen Annäherung und Vermeidung können motivationale Konflikte entstehen, wenn beide Motivrichtungen gleich stark sind. Instinkthandlungen sind eine spezielle Form von
Verhaltensweisen, die in ihrer Entstehung
und Ausprägung auf angeborenen, relativ
starren Verhaltensprogrammen beruhen.
Kognitive Bewertungen (Attributionen) sind
zwar für Trieb- und Instinkthandlungen
nicht essentiell notwendig, können diese
aber erheblich modulieren. Von diesen Bewertungsprozessen hängen die Bewältigung (Coping) von Motivkonflikten und von
starken Emotionen und damit die physiologische und psychologische Befindlichkeit ab.
Süchte sind erlernte Motivationen, die vor
allem auf der konditionierten positiven Erwartung der Substanzeffekte beruhen.
Persönlichkeit und
Verhaltensgenetik
l l l Persönlichkeitseigenschaften sind nur
dann stabil, wenn man aus vielen
Verhaltensproben einen Summenwert
bildet (aggregated score). Die Stabilität
von Persönlichkeitseigenschaften
wird nicht nur durch GenomUmwelt-(Nature-Nurture-)Interaktionen,
sondern auch durch PersönlichkeitsUmwelt-Interaktionen bestimmt
Definition. Unter Persönlichkeit versteht man die Existenz
überdauernder (Jahre) Verhaltensdispositionen. Eine Verhaltensdisposition ist eine dauerhaft erhöhte Tendenz, in unterschiedlichen Situationen ähnliche oder identische Verhaltens- und Reaktionsmuster zu zeigen. Verhaltensdispositionen können genetisch bedingt sein, durch die intrauterine
oder postnatale Umgebung oder durch Lernen ± vor allem im
Laufe der Entwicklung bis zur Pubertät, aber auch danach ±
entstehen. In den meisten Fällen handelt es sich um durch
multiple Genkonfigurationen bedingte Eigenschaften, die in
allen Phasen ihrer Entwicklung und Ausprägung mit den
Lern- und Umgebungsfaktoren interagieren, aber stabile
Muster von bevorzugten Reaktionswahrscheinlichkeiten über
Situationen hinweg bewirken.
Längsschnittstudien. Beobachtet man menschliches Verhalten von der Geburt bis zum Tod in Längsschnittuntersuchungen, so zeigt sich folgende Rangreihe von stabilen Eigenschaften:
Tabelle 3-5. Drei Typen von Genom-Umwelt-Korrelationen
Typus
Beschreibung
Ursachen des
Umgebungseinflusses
Passiv
Kinder haben Genotypen, die mit ihrer
Familienumgebung
korreliert sind.
Eltern und Geschwister
Evokativ
Ein Individuum löst in
seiner Umwelt bei anderen Reaktionen aufgrund seiner genetischen Ausstattung aus.
Jeder
Aktiv
Das Individuum sucht
und rekonstruiert aktiv
seine Umgebung und
Erfahrungen entsprechend seiner genetischen Ausstattung.
Jeder und Alles
1. Intellektuelle und kognitive Leistungsfähigkeit (z. B. IQ)
sind am stabilsten (Abschn. D-6.6). Die Korrelationen über
die Zeit (Jahre und Jahrzehnte) betragen im Durchschnitt
mehr als 0,7.
2. Es folgen Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Extraversion
(soziabel) s. u.) mit Korrelationen von 0,5 bis 0,7 und
3. politische Einstellungen, Meinungen und Selbstbeurteilung wie Selbstwert und Zufriedenheit mit Korrelationen
von 0,2 bis 0,5.
Betrachtet man das Verhalten in einzelnen, spezifischen Situationen (z. B. ein Kind, das die Mutter über eine Schulnote
belügt), so ist die Kontinuität Null, summiert man aber über
viele Situationen oder Fragen, so ergibt sich eine hohe Stabilität (Aggregation).
Nachdem wir geboren und unsere genetisch determinierten Eigenschaften (zu unterschiedlichen Zeitpunkten der
Entwicklung; Abschn. D-4.1) sichtbar werden, produzieren
unser Verhalten und unsere Persönlichkeit selbst neue Interaktionen mit der Umgebung, die ihrerseits die Stabilität des
Verhaltens beeinflussen. Dabei existieren drei Arten der Persönlichkeits-Umgebungs-Interaktion (Tab. 3-5):
· Reaktive Interaktion. Die Konsistenz über Situationen
wird gröûer, wenn die Person diese Situationen als ähnlich ansieht (dann verhält sie sich ähnlicher, als in Situationen, die sie als verschieden betrachtet). Person A macht
z. B. ihre Hausaufgaben pünktlich und trägt die entliehenen Bücher pünktlich in die Bibliothek zurück, weil sie
beide Situationen als ähnlich ansieht. Person B hingegen
sieht die Hausaufgaben als wichtig und die Bibliothek als
unwichtig an und zeigt daher inkonsistentes, instabiles
Verhalten.
· Evokative Interaktion. Jeder Mensch ruft durch ein bestimmtes Verhalten, wenn er es wiederholt, ähnliche Reaktionen von anderen hervor, z. B. bewirkt freundliches
Verhalten in der Regel ebenfalls freundliches Verhalten,
aggressives Verhalten feindseliges usw. Die gegenseitige
Verstärkung erhöht die Konsistenz und macht z. B. ¹Feindseligkeitª zu einer Persönlichkeitseigenschaft.
3.7 Persönlichkeit und Verhaltensgenetik
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· Proaktive Interaktion. Je nach Persönlichkeit ¹suchtª die
Person ganz spezifische Situationen. Eine eher schüchterne, unterwürfige Person vermeidet Situationen, in denen andere dominieren und sucht eher informelle Situationen auf. In der Partnerwahl ist dies wichtig: Je ähnlicher, umso stabiler und zufriedener die Partnerschaft und
umso stärker nähern sich die Persönlichkeitseigenschaften
der Partner an.
l l l Die primären Dimensionen
der Persönlichkeit wurden mit
Selbstbeurteilungsbögen und durch
Einsatz der Faktorenanalyse gewonnen
Fragebögen (Persönlichkeitsskalen). Während die alten Griechen und Römer und ihre Nachfolger bis ins 20. Jahrhundert
hinein Typenbildung aufgrund körperlicher Charakteristiken
betrieben, hat die psychologische Persönlichkeitsforschung
einen linguistisch-statistischen Zugang zur Definition der
grundlegenden Dimensionen der menschlichen Persönlichkeit gefunden.
Die Einteilung von Hippokrates (ca. 400 v. Chr.) erwies
sich als die stabilste und findet sich auch in der modernen
Persönlichkeitstheorie von H. J. Eysenck wieder (Abb. 3-39),
obwohl sie auf die obskure Annahme von vier Körperflüssigkeiten gegründet war. Zu viel schwarze Galle erzeugt den
melancholischen (depressiven), zu viel gelbe Galle den cholerischen (reizbaren), zu viel Blut den sanguinischen (optimistischen) und Phlegma den phlegmatischen (ruhig-entspannten) Typus. Die späteren Somatotypisierungen (z. B. nach
Körperbau) erwiesen sich als nicht ausreichend reliabel und
valide (Abschn. D-2.1, D-2.2), so dass man den objektiveren
linguistisch-statistischen Weg beschritt.
Tabelle 3-6. Erblichkeit von Extraversion und Neurotizismus
Grad der Verwandtschaft
Korrelation
Extraversion
Neurotizismus
Eineiige Zwillinge,
gemeinsam aufgewachsen
0,51
0,46
Zweieiige Zwillinge,
gemeinsam aufgewachsen
0,18
0,20
Eineiige Zwillinge, getrennt
aufgewachsen
0,38
0,38
Zweieiige Zwillinge,
getrennt aufgewachsen
0,05
0,23
Nicht-Adoptiveltern und
Kinder
0,16
0,13
Adoptiveltern und Kinder
0,01
0,05
Geschwister
0,20
0,09
Adoptivgeschwister (nichtbiologische Geschwister)
0,07
0,11
Die Korrelationen wurden anhand von Zwillingsfamilien und
Adoptionsstudien mit mehr als 24 000 Personen berechnet
Tabelle 3-7. Persönlichkeitsfaktoren (Traits)
Trait-Faktor
Repräsentative
Persönlichkeitsskala
Neurotizismus
(Emotionalität,
emotionale Stabilität)
ruhig ± sorgenvoll
unempfindlich ± verletzlich
sicher ± unsicher
Extraversion
(Soziabilität, Impulsivität)
zurückgezogen ± soziabel
ruhig ± gesprächig
gehemmt ± spontan
Offenheit
(in Bezug auf reale oder
intellektuelle Erfahrungen)
konventionell ± originell
nicht wagemutig ± wagemutig
konservativ ± liberalprogressiv
Freundlichkeit
(Agreeableness, Beliebtheit)
reizbar ± ausgeglichen
rücksichtslos ± warmherzig,
gutmütig
selbstsüchtig ± selbstlos
Gewissenhaftigkeit
(Conscientiousness,
Konformität)
sorglos ± sorgfältig
unzuverlässig ± verlässlich
gewissenlos ± gewissenhaft
Die hier aufgeführten ¹Big-Five-Dimensionenª weisen
30±50 % genetische Varianz auf
Die in den jeweiligen Sprachen (meist Englisch) vorhandenen Bezeichnungen für die Benennung psychischer Eigenschaften wurden von vielen Personen und repräsentativen
Stichproben nach ¾hnlichkeit und Synonymen sortiert (QSort) oder als Selbstbeurteilungen formuliert (s. Box 3-2).
Abb. 3-39. Gegenüberstellung der hippokratischen Temperamentsfaktoren (innen) und der modernen, faktorenanalytisch
gewonnenen Grunddimensionen der Persönlichkeit
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Kapitel D-3 Allgemeine Psychologie in Klinik und Forschung
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Selbsteinstufung in Fragebögen. Standardisierte Fragebögen
(Abschn. D-2.2) sind die häufigsten Messinstrumente der
Persönlichkeitsbeurteilung. Die Antworten auf die einzelnen
Fragen wurden über die Personen interkorreliert (Abschn. D2.2). Dabei zeigte sich, dass z. B. Fragen nach ¾ngstlichkeit,
Ruhelosigkeit etc. miteinander hoch korrelieren, aber nicht
mit Fragen nach Sozialverhalten wie Offenheit und Freude
an anderen. Mit einer mathematischen Methode, der Faktorenanalyse, werden die miteinander positiv oder negativ korrelierenden Fragen gruppiert. Je nach deren Inhalt gibt man
solchen Gruppen von Fragen eine charakteristische Bezeichnung, wie Neurotizismus (¾ngstlichkeit) oder Extraversion
(Abb. 3-39, Tab. 3-6). Dahinter steckt die plausible Annahme,
dass sich solche sprachlichen Bezeichnungen im Laufe der
Sprachevolution entwickelten, weil sie sich eben zur Kommunikation über Charaktereigenschaften eignen.
Die in den meisten Untersuchungen wiederkehrenden Persönlichkeitsdimensionen sind in Tabelle 3-7 beschrieben.
Box 3-2.
Auszug aus einem Fragebogen zur Messung
der Dimensionen Extraversion-Introversion
(E-I) und Neurotizismus (N)
Ich erröte leicht. (N)
Manchmal habe ich ohne eigentlichen Grund ein Gefühl unbestimmter Gefahr oder Angst. (N)
Mit anderen zu wetteifern, macht mir Spaû. (E)
Es fällt mir schwer, vor einer groûen Gruppe von Menschen
zu sprechen oder vorzutragen. (N)
Ich kann in eine ziemlich langweilige Gesellschaft schnell
Leben bringen. (E)
Ich gehe abends gerne aus. (E)
Ich habe fast immer eine schlagfertige Antwort bereit. (E)
Ich scheue mich, allein in einen Raum zu gehen, in dem andere Leute bereits zusammensitzen und sich unterhalten. (N)
l l l Die moderne Verhaltensgenetik hat die
populäre Erbe-Umwelt-(Nature-Nurture-)
Diskussion beendet: Mit der empirischen
Bestimmbarkeit von genetischen und
umgebungsbedingten Einflüssen zeigte
sich, dass individuelle Unterschiede in
komplexen psychologischen Eigenschaften
immer eine Kombination aus beiden
Einflussfaktoren sind
Vererbung der Umwelt. Eine Reihe von sozialen Verhaltensweisen, die wie Persönlichkeitsvariablen sehr stabil sind
(Trait-Variablen) und die man üblicherweise für vollständig
umgebungsbedingt hält, weisen auch ganz erhebliche genetische Varianz auf. Dies vor allem deshalb, weil die genetisch
bedingten Verhaltensweisen natürlich wieder zurück auf ihre
Umgebung wirken. So werden Eltern ihren Kindern und Geschwister ihren Freunden ähnlicher. Dies gilt besonders für
d
BL
AUS
ICK
die Wärme und Freundlichkeit, die Eltern ihren Kindern sowie eineiige Zwillinge einander entgegenbringen. Für Empathie und Bindungsverhalten wurden Erblichkeitsindizes von
bis zu 50 % gefunden, nicht aber für Liebesbeziehungen. Romantische Liebe ist offensichtlich genetisch blind. Auch
Selbstwertgefühl hat kaum genetische Varianz.
Eine starke genetische Ausprägung wurde auch für die
Faktoren Sensationshunger (sensation-seeking) und Soziopathie (Rücksichtslosigkeit, soziale Kälte, Mangel an antizipatorischer Angst, antisoziale Akte) gefunden. Beide Faktoren korrelieren mit den in Tabelle 3-7 angeführten Faktoren,
sind aber wichtig für die Bestimmung der biologischen
Grundlage von Kriminalität und Gewalt.
Einstellungen und Interessen. Politische, religiöse und soziale Einstellungen betrachten wir als erlernt. Überrascht war
man aber, als man in der so genannten Minnesota-Zwillingsstudie und in einer schwedischen Studie, in denen mehr als
200 getrennt aufgewachsene ein- und zweieiige Zwillinge
als Erwachsene wieder zusammengeführt wurden, feststellte,
dass auch Einstellungen, Interessen und Teile der physischen
Umgebung bei eineiigen Zwillingen ähnlich oder identisch
waren: konservative oder progressive politische Einstellung,
autoritär versus demokratisch, handwerkliche, theoretische,
künstlerische und musikalische Interessen, bis hin zu Inneneinrichtung und Kleiderordnung.
é
Stabile Persönlichkeitseigenschaften können
nur aus der Aggregation von vielen Verhaltensproben oder Fragen in Fragebögen errechnet werden. Der genetische Anteil an
Extraversion und Neurotizismus ist höher als
der genetische Anteil von Offenheit,
Freundlichkeit und Gewissenhaftigkeit. Antisoziale Persönlichkeit und Sensationssuche
weisen ebenso hohe Erblichkeitsanteile auf
wie manche psychopathologische Merkmale, z. B. Drogen- und Alkoholsucht. Aber
auch interpersonelle Beziehungen, Einstellungen und Interessen haben substantielle
genetische Anteile, zum Teil über die Wirkung genetisch bedingter Reaktionen auf
die Umwelt (und zurück). Trotzdem bleiben
für die meisten Persönlichkeitseigenschaften noch mehr als 50 % Umgebungsvarianz.
Die ¾nderbarkeit von Verhalten korreliert
zwar negativ mit dem Vererbungsanteil,
aber auch genetisch determiniertes Verhalten ist durch Lernen modifizierbar.
c
Ohne Kenntnis der psychologischen Determinanten (Kräfte) und Funktionen menschlichen Verhaltens ist die Beurteilung pathologischer Veränderungen unpräzise oder mit Fehlurteilen behaftet. In
allen ärztlichen Situationen wirken diese psychischen Kräfte (Persönlichkeit, Motivation, Emotion) auf
psychische Funktionen (Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken) und auch auf körperliche ¾nderungen
und Krankheiten ein. Je mehr medizinische Probleme in Subdisziplinen und molekulare Prozesse differenziert werden, umso wichtiger wird die psychologische Analyse der Auslöser einer Erkrankung,
da hiervon in der Regel alle Zwischenstufen pathophysiologischer Prozesse beeinflusst werden.
3.7 Persönlichkeit und Verhaltensgenetik
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