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Atkinsons und Hilgards Einführung in die Psychologie
von
Edward E Smith, Susan Nolen-Hoeksema, Barbara L Fredrickson, Geoffrey R Loftus, D.J Bem, S Maren, Joachim
Grabowski, J Grabowski
Neuausgabe
Spektrum Akademischer Verlag 2007
Verlag C.H. Beck im Internet:
www.beck.de
ISBN 978 3 8274 1405 2
schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG
Psychis 15
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Motivation
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1
Das Wesen
der Psychologie
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1
Der Themenbereich der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
Die historischen Wurzeln der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
Die heutigen psychologischen Anstze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Prinzipien psychologischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
¤ berblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
im U
38
Das Wesen der Psychologie
1
1 Das Wesen der Psychologie
Lesen eröffnet den Zugang zu Bildung und persönlichem Fortschritt. Wie kann man Kinder am
besten zum Lesen anhalten? Eine amerikanische
Pizzakette glaubt die Antwort zu kennen: Belohne
Kinder fürs Lesen! Die Lehrer dieser Kinder setzen monatliche Leseziele fest – in Form von gelesenen Seiten oder Büchern – und geben ihnen
Pizza-Gewinn-Coupons, wenn sie diese Ziele erreichen. Ein Kind, das einen solchen Coupon in
einem teilnehmenden Restaurant vorzeigt, bekommt eine Pizza umsonst. Eltern und Lehrer geben an, dass dieses Programm funktioniert – es
bringt ihre Kinder dazu, mehr zu lesen. Mit Hilfe
dieses Programms haben sich Kinder in allen Teilen der USA seit fast 20 Jahren mit ihren Leseaktivitäten Pizzen verdient.
Trotz der weiten Verbreitung stellt sich grundsätzlich die Frage, ob dieses Programm auch mit
psychologischen Prinzipien vereinbar ist. Was hat
die Forschung dazu zu sagen? Auf einen der fundamentalen Lehrsätze der Lerntheorie ist sicherlich jeder schon einmal aufmerksam geworden:
Wenn auf ein Verhalten eine Belohnung folgt,
verstärkt sich dieses Verhalten. In Kapitel 7
wird sich zeigen, dass
Das Gesetz des Effekts dieser mächtige Einfluss
besagt, dass sich ein
von Belohnungen als GeVerhalten versta¤rkt,
setz des Effekts bezeichnet
wenn ihm eine Belohwird.1 Wenn man Kinder
nung folgt.
fürs Lesen mit Pizza belohnt, dann lesen sie mehr. Das klingt doch
wie ein großer Erfolg, oder?
Betrachten wir andere mögliche Resultate –
etwa wie sich Kinder beim Lesen fühlen und
ob sie auch dann weiterlesen, wenn das Pizzaprogramm ausläuft. Dutzende von psychologischen
Experimenten, von denen viele in Schulklassen
durchgeführt wurden, waren auf derartige Fragen
gerichtet. In einem klassischen Experiment
(Greene, Sternberg & Lepper, 1976)2 sorgten Psychologen dafür, dass die Lehrer den Schülern
mehrere neue Rechenspiele beibrachten und
dann zwei Wochen lang einfach nur beobachteten, wie viel Zeit die Kinder mit diesen Spielen
verbrachten. In der dritten Woche wurden manche Klassen dafür belohnt, dass sie diese MatheSpiele spielten, andere Klassen erhielten keine Belohnung. Erwartungsgemäß erhöhten die Belohnungen die Menge an Zeit, welche die Kinder mit
den Spielen verbrachten; das Gesetz des Effekts
behielt seine Gültigkeit. Doch was geschah mehrere Wochen später, als die Belohnungen ausgesetzt wurden? Diejenigen Kinder, die Belohnungen erhalten hatten, verloren plötzlich jegliches
Interesse an den Rechenspielen und widmeten ihnen praktisch überhaupt keine Zeit mehr. Im Gegensatz dazu spielten diejenigen Kinder, die niemals dafür belohnt worden waren, die Rechenspiele auch dann noch regelmäßig weiter.
Dieses Experiment zeigt, wie Belohnungen
manchmal nach hinten losgehen und das intrinsische Interesse von Kindern an Tätigkeiten wie
Lesen und Rechnen unterminieren. Wenn Menschen merken, dass ihr Verhalten von einem
äußeren, in der Situation liegenden Faktor –
wie einer Gratispizza – verursacht wird, dann
berücksichtigen sie nicht mehr mögliche innere,
in ihrer Person liegende Faktoren – wie ihr Ver-
1
2
Im Verlauf dieses Buches werden zentrale Begriffe fett hervorgehoben, und sie werden am Rand definiert.
An vielen Stellen im Buch finden sich Literaturangaben,
welche durch die Namen der Autoren und die Jahreszahl
des Erscheinens der Publikation zitiert werden; sie belegen
oder erweitern die dargelegten Aussagen und Behauptungen.
Detaillierte Informationen u¤ber die Publikationen dieser
Untersuchungen finden sich im Literaturverzeichnis am
Ende des Buches.
2
gnügen an dieser Tätigkeit. Wenn sich Kinder
also die Frage stellen, warum sie lesen, werden
sie sagen, dass sie es um der Pizza willen tun.
Und wenn es keine Pizza mehr zu gewinnen
gibt, sehen sie keinen besonderen Grund mehr
dafür, warum sie jetzt noch lesen sollten. Selbst
wenn ihnen das Lesen Spaß
Der Effekt der u
¤ bermachte, spielten die Belohma¤igen Rechtfertinungen eine größere Rolle.
gung besteht darin,
Dieser korrumpierende Eindass man nach einer
fluss von Belohnungen ist
Belohnung sein Verhalder Effekt der übermäßigen
ten mit situationalen
Rechtfertigung – man legt
Ursachen erkla¤rt und
bei der Erklärung des eigedie perso¤nlichen Gru¤nde unterscha¤tzt.
nen Verhaltens zu viel Betonung auf offensichtliche situationale Ursachen und misst den persönlichen
Gründen zu wenig Bedeutung bei.
Man könnte jetzt annehmen, dass die Noten in
der Schule ebenfalls Belohnungen für das Lernen
darstellen. Führen Noten genauso zu gegenteiligen Effekten wie Pizza-Belohnungen fürs Lesen?
Nicht in derselben Weise. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass die Note, die man in
einem Fach bekommt, von der eigenen Leistung
abhängt. Forschungsergebnisse zeigen, dass leistungsabhängige Belohnungen mit geringerer
Wahrscheinlichkeit das Interesse unterwandern,
manchmal sogar interessenssteigernd wirken,
weil sie einem die Rückmeldung geben, dass
man eine Tätigkeit gut beherrscht (Tang &
Hall, 1995). Aber dennoch kann die Konzentration auf Noten das eigentliche Interesse überschatten, das man für einen Gegenstand aufbringt. Es hilft, sich immer wieder daran zu erinnern, dass die beiden Gründe, warum man sich
mit seinem Lernstoff befasst, nebeneinander bestehen können: Man will eine gute Note bekommen, und man findet den Lernstoff interessant.
Hier kann ein „Sowohl-als-auch“ vorliegen, nicht
nur ein „Entweder-oder“.
Zum Glück finden die meisten Studenten
Psychologie ganz spannend. Das gilt auch für
uns, die Autoren, und wir wollen unser Bestes
tun, um diese Faszination durch unser Buch zu
vermitteln. Die Psychologie interessiert die Menschen, weil sie Fragen stellt, die praktisch jede
Facette unseres Lebens berühren: Wie beeinflusst
der Erziehungsstil unserer Eltern unseren Umgang mit den eigenen Kindern? Wie kann man
Drogenabhängigkeit am besten behandeln?
1 Das Wesen der Psychologie
Kann ein Mann genauso gut für einen Säugling
sorgen wie eine Frau? Kann man sich unter Hypnose genauer an ein traumatisches Ereignis erinnern? Wie müsste man ein Atomkraftwerk konstruieren, um das Risiko menschlichen Versagens
möglichst gering zu halten? Welche Auswirkungen hat andauernder Stress auf das Immunsystem? Ist eine Psychotherapie bei der Behandlung
von Depressionen wirksamer als Medikamente?
Psychologen forschen, um auf diese und viele
weitere Fragen Antworten zu finden.
Die Psychologie wirkt sich auf unser Leben
auch durch ihren Einfluss auf die Gesetzgebung
und die politischen Diskussionen aus. Psychologische Theorien und Forschungsarbeiten haben
sich auf Gesetze ausgewirkt, die mit Fragen der
Diskriminierung, der Art des Strafvollzugs, der
Zeugenvernehmung vor Gericht, der Pornographie, des sexuellen Verhaltens oder der persönlichen Verantwortung für menschliches Handeln
befasst sind. Zum Beispiel sind Tests mit dem
sogenannten Lügen-Detektor vor Gericht nicht
beweisfähig, weil die psychologische Forschung
ihre nicht akzeptable Ungenauigkeit nachgewiesen hat.
Weil die Psychologie so viele Bereiche unseres
Lebens betrifft, müssen viele Berufsgruppen auch
dann Kenntnisse über dieses dynamische Gebiet
besitzen, wenn sie sich nicht darauf spezialisieren
wollen. Ein Einführungsbuch in den Gegenstandsbereich der Psychologie sollte ein besseres
Verständnis dafür vermitteln, warum jemand so
denkt wie er denkt und so handelt wie er handelt.
Es sollte auch Einblicke in die eigenen Einstellungen und Reaktionen ermöglichen.
Das vorliegende Lehrbuch will auch dazu beitragen, die vielen Behauptungen, die im Namen
der Psychologie aufgestellt werden, sachkundig
bewerten zu können. Jeder kennt Schlagzeilen
wie diese:
Neue Psychotherapieform erleichtert Zugang
zu verdrängten Erinnerungen
Angst lässt sich durch Selbstregulation von Gehirnströmen steuern
Beweis für geistige Telepathie gefunden
Babys lernen sprachliche Laute im Schlaf
Emotionale Stabilität hängt von Familiengröße
ab
Süße Getränke steigern die Prüfungsleistung
Transzendentale Meditation erhöht die Lebenserwartung
3
Der Themenbereich der Psychologie
Sorgen um das eigene Aussehen fordern geistigen Tribut
Wie können wir entscheiden, ob solchen Behauptungen zu glauben ist? Um ihre Gültigkeit beurteilen zu können, muss man mindestens zwei
Dinge wissen. Erstens muss man wissen, welche
psychologischen Sachverhalte schon empirisch
gesichert sind. Stimmt eine neue Behauptung
mit solchen Fakten nicht überein, besteht Grund
zur Vorsicht. Zweitens muss man über das Wissen verfügen, mit dem sich bestimmen lässt, ob
die Argumente, die für die neue Behauptung
sprechen, den Standards wissenschaftlicher
Nachweise entsprechen. Ist dies nicht der Fall,
ist wiederum Skepsis geboten. Das vorliegende
Buch zielt darauf ab, beiden Anforderungen gerecht zu werden. Erstens vermittelt es einen
Überblick über den aktuellen Wissensstand der
Psychologie: Es stellt die wichtigsten psychologischen Erkenntnisse, das heißt die gesicherten
Fakten dar. Zweitens werden die Grundprinzipien wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns erläutert. Das betrifft zum Beispiel die Frage, wie
man in der Psychologie ein Forschungsprogramm entwirft, das starke Belege für oder gegen
eine Hypothese liefert. Damit weiß man schon
vor der eigentlichen Untersuchung, welche Art
von Befunden eine neue Behauptung überhaupt
stützen können.
Das erste Kapitel des Buches beginnt mit der
Betrachtung der Fragestellungen, die in der Psychologie untersucht werden. Nach einem kurzen
Überblick über die historischen Wurzeln der Psychologie werden die Ansätze und Perspektiven erläutert, unter denen Psychologen ihre Fragestellungen verfolgen. Danach werden die Forschungsmethoden beschrieben, die bei psychologischen Untersuchungen zum Einsatz kommen,
einschließlich der dafür vorgeschlagenen ethischen Richtlinien.
Der Themenbereich der
Psychologie
Psychologie ist die Wissenschaft, die sich mit der
Beschreibung und Analyse des Verhaltens und
der geistigen Prozesse bePsychologie ist die
fasst. Unter diese Definition Wissenschaft vom Verfällt eine erstaunliche Vielfalt halten und den geistivon Themen, wie sich an den gen Prozessen.
folgenden Kurzbeispielen erkennen lässt. (Alle diese Themen werden an verschiedenen Stellen im Buch ausführlicher behandelt.)
Hirnscha¤den und das Erkennen von Gesichtern. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass es
sich auf das Verhalten auswirkt, wenn jemand
eine Hirnschädigung erleidet. Was dabei überrascht, ist jedoch, dass sich die Schädigung eines
bestimmten Teils des Gehirns nur auf einen bestimmten Aspekt des Verhaltens auswirken kann
und auf andere Verhaltensbereiche nicht. Beispielsweise gibt es Fälle, in denen jemand als
Folge der Schädigung einer bestimmten Region
der rechten Hirnhemisphäre vertraute Gesichter
nicht mehr erkennen kann – wobei praktisch alle
anderen Leistungen weiterhin normal funktionieren. Dieses Störungsbild
heißt Prosopagnosie. Ein be- Prosopagnosie bekannt gewordenes Beispiel zeichnet die Unfa¤higkeit, bekannte Gesichhat der Psychiater Oliver
ter zu erkennen, infolge
Sacks (1990) in seinem einer Scha¤digung der
Buch Der Mann, der seine rechten Hemispha¤re.
Frau mit einem Hut verwechselte beschrieben. In einem anderen Fall beschwerte sich ein Mann, der unter Prosopagnosie
litt, bei einem Kellner, dass ihn jemand dauernd
anstarren würde, um dann zu erfahren, dass er in
einen Spiegel blickt! Derartige Fälle geben uns
Aufschlüsse darüber, wie das Gehirn im Normalfall funktioniert. Sie lassen erkennen, dass psychische Funktionen – wie das Erkennen von Gesichtern – in bestimmten Teilen des Gehirns lokalisiert sind.
Die Zuschreibung von Perso
¤nlichkeitsmerkmalen. Angenommen, in einem überfüllten
Kaufhaus nähert sich eine Person, die für eine
wohltätige Organisation sammelt, einer Kundin
1
4
(z. B. Druck vom
Spendensammler oder
durch Zuschauer)
Spende 50 €
Abb. 1.1 Die Zuschreibung von Traits. Wenn wir
entscheiden sollen, ob die Ursache fu¤r eine betra¤chtliche wohlta¤tige Spende einer anderen Person in deren
Perso¤nlichkeitsmerkmalen (Traits) oder in den Umsta¤nden der Situation liegt, neigen wir eher zu der Annahme,
dass das Perso
¤nlichkeitsmerkmal der ausschlaggebende Faktor war. Dies illustriert den fundamentalen Attributionsfehler.
15
10
5
0
1–3
Fru
¤hkindliche Amnesie. Die meisten Erwachsenen können sich noch an Begebenheiten aus ihrer
Kindheit erinnern, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Fast niemand kann sich zuverlässig an Ereignisse aus den ersten drei Lebensjahren erinnern. Dieses Phänomen wird als frühkindliche (oder infantile)
Amnesie
bezeichnet. BetrachFru
¤ hkindliche Amten wir ein bedeutsames Ernesie (auch: infantile
Amnesie) bezeichnet
eignis wie die Geburt eines
das fehlende ErinneBruders oder einer Schwesrungsvermo¤gen an
ter. Wenn wir bei der Geburt
Ereignisse der ersten
schon drei Jahre oder älter
drei Lebensjahre.
waren, verfügen wir viel-
Situationsdruck
Traits
(z. B. großzügig,
mitfühlend)
Mittlere Anzahl
beantworteter Fragen
und bittet sie um eine Spende; diese gibt ohne
große Umschweife 50 Euro für die gute Sache.
Würde man deshalb vermuten, dass es sich um
eine großzügige Frau handelt? Oder denkt man
eher, dass sich die Kundin zu der Spende gedrängt fühlte, weil ihr so viele Menschen zusahen? Experimente, in denen derartige Situationen
untersucht wurden, haben gezeigt, dass die meisten Menschen dazu neigen, diese Frau als großzügig einzuschätzen, auch wenn der Situationsdruck so groß war, dass sich jeder andere wohl
genauso verhalten hätte. Bei der Erklärung des
Verhaltens anderer Menschen neigen wir dazu,
den ursächlichen Effekt der Persönlichkeitsmerkmale zu überschätzen und den der Situationsfaktoren zu unterschätzen. Diese Urteilsverzerrung
nennen Sozialpsychologen den fundamentalen
Attributionsfehler (siehe Abbildung 1.1). Wenn
wir diesen Effekt dem Effekt
Der fundamentale
der übermäßigen RechtfertiAttributionsfehler begung gegenüberstellen (der
steht darin, dass wir
im Zusammenhang mit BePerso¤nlichkeitsfaktoren
lohnungen für Leseleistung
u¤ber- und Situationsfaktoren unterscha¤tzen, besprochen wurde), erkennen wir die ersten wichtigen
um die Ursachen des
Verhaltens anderer
Unterschiede zwischen der
Menschen zu erkla¤ren.
Beurteilung des eigenen Verhaltens und der Beurteilung
des Verhaltens anderer. Wenn wir unser eigenes
Verhalten rechtfertigen wollen, werden situative
Ursachen häufig überschätzt und nicht unterschätzt wie beim fundamentalen Attributionsfehler. – Zeitlich überdauTraits sind zeitlich
ernde Persönlichkeitsmerku¤berdauernde Perso¤nmale werden in der Psycholichkeitseigenschaften.
logie als Traits bezeichnet.
1 Das Wesen der Psychologie
3–5
5–7
7–9
9+
Alter bei Geburt
des Geschwisters
Abb. 1.2 Fru
¤he Erinnerungen. In einem Experiment
zur fru¤hkindlichen Amnesie wurden studentischen Teilnehmern 20 Fragen ¤uber die Ereignisse im Umfeld der
Geburt eines ju¤ngeren Geschwisters gestellt. Die durchschnittliche Anzahl beantworteter Fragen ist als Funktion des eigenen Alters bei der Geburt des Geschwisters
abgetragen. Erfolgte die Geburt des Geschwisters vor
dem vierten Lebensjahr, konnte kein Teilnehmer irgendetwas davon erinnern; erfolgte die Geburt spa¤ter, stieg
das Erinnerungsvermo¤gen mit dem Alter der Teilnehmer
zum Zeitpunkt des Ereignisses an. (Nach Sheingold &
Tenney, 1982.)
5
Der Themenbereich der Psychologie
¤ bergewicht und Adipositas. 37 Prozent der
U
deutschen Männer und 26 Prozent der deutschen
Frauen waren zu Beginn dieses Jahrtausends
übergewichtig; die Tendenz ist steigend. In den
USA gelten etwa 35 Millionen Amerikaner als
fettleibig (adipös) – das heißt, dass ihr Körpergewicht 30 Prozent oder mehr über dem liegt,
was für ihre Statur und KörAdipositas (Fettleibigpergröße angemessen wäre.
keit) wird bei einem
Übergewicht und Adipositas
extrem u¤berho¤hten
sind gefährlich – sie erKo¤rpergewicht diagnoshöhen die Anfälligkeit für
tiziert.
Diabetes, hohen Blutdruck
und Herzkrankheiten. Psychologen interessieren
sich für die Faktoren, die Menschen dazu veranlassen, zu viel zu essen. Ein Faktor scheint vorangegangener Nahrungsentzug zu sein. Wenn
Ratten zunächst Nahrung vorenthalten wird,
sie also hungern müssen, und sie danach wieder
fressen dürfen, bis sie ihr normales Gewicht erreicht haben, und am Ende so viel fressen dürfen,
wie sie wollen, dann fressen sie mehr als Ratten,
die zuvor nicht hungern mussten. Das Vorenthalten von BedürfnisbefrieDeprivation bedeutet
digungen – in diesem Beidas la¤ngere Vorenthalspiel der Nahrung – nennt
ten von Bedu¤rfnisbeman in der Psychologie
friedigungen.
auch Deprivation.
Die Auswirkungen von Gewalt in den Medien
auf die Aggressivita¤t von Kindern. Es war lange Zeit eine kontrovers diskutierte Frage, ob das
wiederholte Anschauen von Gewaltdarstellungen
im Fernsehen Kinder aggressiver macht. Zwar
glauben viele Beobachter, dass Fernsehgewalt
das Verhalten von Kindern negativ beeinflusst,
doch schreiben andere dem Zusehen bei Gewalt-
darstellungen auch eine mögliche Katharsis-Wirkung zu. Katharsis heißt, dass sich die aggressiven
Verhaltenstendenzen verringern, weil die Kinder ihre Katharsis ist die Abfuhr
Aggression beim Fernsehen (ÐReinigung) aggressiver Triebspannung
indirekt, also ersatzweise
durch Ersatzhandlungen
zum Ausdruck bringen und (beispielsweise Zusich dadurch ,von der Seele schauen beim Sport
schaffen‘ können. Aus der oder bei Krimis).
Forschung ergeben sich jedoch keine Anhaltspunkte für kathartische Wirkungen. In einem Experiment sah eine Gruppe
von Kindern gewalttätige Zeichentrickfilme und
eine andere im gleichen zeitlichen Umfang gewaltfreie Cartoons. Die Kinder der ersten Gruppe
wurden bei ihren Interaktionen mit Gleichaltrigen aggressiver, während sich bei den Kindern,
die die gewaltfreien Filme gesehen hatten, keine
Verhaltensveränderungen zeigten. Diese Effekte
können über längere Zeit anhalten: Je mehr
Sendungen mit Gewaltszenen ein Junge im Alter
von neun Jahren sieht, desto aggressiver wird
er wahrscheinlich mit 19 Jahren sein (siehe Abbildung 1.3).
200
Aggression im Urteil
Gleichaltriger
(nach 10 Jahren)
leicht über ein paar Erinnerungen. Wurde unser
Geschwister jedoch geboren, bevor wir drei Jahre
alt waren, können wir uns wahrscheinlich gar
nicht – oder allenfalls bruchstückhaft – erinnern
(siehe Abbildung 1.2). Die frühkindliche Amnesie ist vor allem deshalb so erstaunlich, weil
unsere ersten drei Lebensjahre überaus reich an
Erfahrungen sind: Wir entwickeln uns von hilflosen Neugeborenen zu krabbelnden und brabbelnden Kleinkindern und weiter zu gehenden
und sprechenden Kindern. Diese bemerkenswerten Übergänge hinterlassen in unserem Gedächtnis jedoch nur wenige Spuren.
150
100
50
0
Wenig
Mittel
Viel
Gewaltkonsum
in der Kindheit
Abb. 1.3 Die Beziehung zwischen Gewaltkonsum
im Fernsehen im Kindesalter und Aggression im
Erwachsenenalter. Eine klassische Untersuchung
zeigt, dass die Vorliebe neunja¤hriger Jungen fu¤r Fernsehsendungen, die Gewaltdarstellungen enthalten,
mit ihrem aggressiven Verhalten als 19-Ja¤hrige (in
der Einscha¤tzung durch Gleichaltrige) zusammenha¤ngt.
(Nach Eron, Huesman, Lefkowitz & Walder, 1972.)
1
6
1 Das Wesen der Psychologie
zusammengefasst
Psychologie betrifft viele Bereiche unseres Lebens und beeinflusst Gesetze und Politik.
Um neue psychologische Behauptungen beurteilen zu ko¤nnen, muss man wissen, (1) welche
psychologischen Fakten bereits gut gesichert
sind und (2) nach welchen Standards wissenschaftliche Nachweise gefu¤hrt werden.
Psychologie ist die Wissenschaft vom Verhalten
und den geistigen Prozessen.
Der Einzugsbereich der Psychologie ist gro
und umfasst Themen wie das Erkennen von Gesichtern, soziale Urteile, Geda¤chtnisleistungen,
¤ bergewicht, Gewalt und viele andere.
U
nachgefragt
1. Im Text stehen Beispiele fu¤r psychologische
Meldungen in der Presse. Suchen Sie im Internet
oder in Zeitungen eine Nachricht, die psychologische Themen behandelt. Glauben Sie den
dort dargestellten Behauptungen? Warum beziehungsweise warum nicht?
2. Wann ko
¤nnen Sie einer Nachrichtenmeldung
vertrauen? Was mu¤ssten Sie daru¤ber hinaus
noch wissen, um die psychologische Behauptung, die Sie in Frage 1 herausgesucht haben,
als Tatsache zu akzeptieren?
Die historischen Wurzeln
der Psychologie
Die Wurzeln der Psychologie lassen sich bis zu
den großen Philosophen der Antike zurückverfolgen, deren berühmteste Vertreter – Sokrates
(469 – 399 v. Chr.), Platon (um 428 – 347 v. Chr.)
und Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) – grundlegende
Fragen über das geistige Leben aufwarfen: Was
ist Bewusstsein? Sind Menschen von Natur aus
vernünftig oder nicht? Gibt es wirklich so etwas
wie Willensfreiheit? Diese und viele ähnliche
Fragen sind heute noch so entscheidend wie
vor Jahrtausenden. Sie haben mit dem Wesen
des Verstandes und der geistigen Prozesse zu
tun, und diese sind die wesentlichen Elemente
des kognitiven Ansatzes in der Psychologie.
Andere psychologische Fragen betreffen den
Zusammenhang zwischen Körper und Verhalten
beim Menschen, und ihre Geschichte ist nicht
minder lang. Hippokrates, der oft als „Vater
der Medizin“ bezeichnet
Die Physiologie bewird, lebte etwa zur selben
fasst sich mit der UnZeit wie Sokrates. Sein star- tersuchung der Funkkes Interesse galt der Physio- tionen des lebenden
logie, der Untersuchung der Organismus und seiner
Funktionen des lebenden Bestandteile.
Organismus und seiner Bestandteile. Er machte viele Der biologische Anbedeutsame Beobachtungen satz zielt darauf ab,
darüber, wie das Gehirn die diejenigen neurobioloverschiedenen Organe des gischen Prozesse zu
Körpers steuert. Diese Be- bestimmen, die dem
obachtungen bereiteten den Verhalten und den
Weg für den biologischen geistigen Prozessen zu
Grunde liegen.
Ansatz in der Psychologie.
Die Anlage-UmweltDiskussion
Eine der ältesten Debatten Die Anlage-Umweltüber die menschliche Psyche Debatte dreht sich um
wird bis heute mit unver- die Frage, ob die
minderter Heftigkeit geführt: menschlichen Fa¤higkeiDie Anlage-Umwelt-Debatte ten angeboren oder erdreht sich um die Frage, ob worben sind.
die menschlichen Fähigkeiten angeboren oder durch Der Nativismus geht
Erfahrung erworben sind. davon aus, dass der
Aus der Sicht des Nativismus Mensch mit einem antritt das menschliche Wesen geborenen Wissensvorrat und mit einem Vermit einem angeborenen Wis- sta¤ndnis der Wirklichsensvorrat und einem ange- keit zur Welt kommt.
borenen Verständnis der
Wirklichkeit in die Welt. Die frühen Philosophen
glaubten, dass man durch sorgfältiges logisches
Nachdenken und In-sich-Hineinhören Zugang
zu diesem Wissen und Verständnis bekommen
könnte. Im 17. Jahrhundert griff Descartes die
nativistische Sichtweise auf, indem er behauptete,
bestimmte Vorstellungen und Ideen (wie Gott,
das Selbst, geometrische Axiome, Vollkommenheit und Unendlichkeit) seien angeboren. Descartes ist außerdem deshalb erwähnenswert,
weil er sich den Körper als eine Art Maschine vor-
7
Die historischen Wurzeln der Psychologie
stellte, die sich so untersuchen lässt wie andere
Maschinen auch. Hier liegt die Quelle für den
heutigen Informationsverarbeitungsansatz des
menschlichen Geistes. Dieser Ansatz wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch besprochen.
Aus der Sicht des Empirismus wird Wissen
durch Erfahrungen und den Umgang mit der
Welt erworben. Obwohl
Aus Sicht des Empirisschon einige Philosophen
mus wird alles Wissen
der Antike diese Ansicht teildurch Erfahrungen und
ten, wird sie vor allem mit
den Umgang mit der
Welt erworben, das
einem englischen Philosoheit, in die anfa¤nglich
phen des 17. Jahrhunderts
unbeschriebene tabula
verknüpft: mit John Locke.
rasa des menschlichen
Locke verglich den AusGeistes eingraviert.
gangszustand des menschlichen Geistes zum Zeitpunkt der Geburt mit einer
tabula rasa, einer unbeschriebenen Wachstafel, in
welche die Erfahrung im Laufe der Entwicklung
und Reifung Wissen und Verständnis
,eingraviert‘. Aus dieser Sichtweise – und im Rekurs auf die schon bei Aristoteles formulierten
Assoziationsgesetze – entstand die Assoziationspsychologie. Die Assoziationisten bestritten die
Existenz angeborener Ideen
Die Assoziationsoder Fähigkeiten. Stattdessen
psychologie vertritt die
behaupteten sie, dass Ideen
Annahme, dass Ideen
und Vorstellungen nur auf
durch die Sinne in den
Geist gelangen und dort dem Weg über die Sinne in
den Verstand gelangen und
nach Prinzipien wie
¤ hnlichkeit und KonA
dann nach Prinzipien wie
trast assoziiert werden.
Ähnlichkeit und Kontrast
miteinander assoziiert werden. Die aktuelle Lern- und Gedächtnisforschung
hat zahlreiche Annahmen der frühen Assoziationstheorie aufgegriffen.
In den vergangenen Jahrzehnten wurde die
klassische Debatte zwischen Anlage und Umwelt
viel nuancierter. Auch wenn einige Psychologen
immer noch behaupten, dass das menschliche
Denken und Verhalten entweder hauptsächlich
biologisch oder hauptsächlich durch Erfahrung
determiniert ist, vertreten die meisten Psychologen einen integrierten Ansatz. Sie erkennen an,
dass biologische Prozesse (wie Vererbung oder
Prozesse im Gehirn) das Denken, Fühlen und
Verhalten beeinflussen, aber sehen auch die
Spuren der Erfahrung. So lautet die Frage heute
nicht, ob Anlage oder Umwelt die Psyche des
Menschen formt, sondern vielmehr, wie Anlage
und Umwelt dabei zusammenwirken. Wir wer-
1
> Wilhelm Wundt (1832 -- 1920) gru¤ndete im Jahre
1879 das erste psychologische Labor an der Universita¤t
Leipzig, wo man ihn hier im Kreise seiner Mitarbeiter
sieht.
den der Frage nach Anlage- und Umwelteinflüssen in den weiteren Kapiteln noch mehrfach
wiederbegegnen.
Die Anfa¤nge der wissenschaftlichen Psychologie
Obwohl sich Philosophen und Gelehrte seit dem
17. Jahrhundert intensiv mit den Funktionen von
Geist, Seele und Körper beschäftigten, wird der
Beginn der wissenschaftlichen Psychologie in
der Regel erst auf das Ende des 19. Jahrhunderts
datiert. Im Jahre 1879 richtete Wilhelm Wundt
an der Universität Leipzig das erste psychologische Labor ein. Wundts labor-experimenteller
Ansatz wurzelte in der Überzeugung, dass Geist
und Verhalten genauso Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung sein können wie Planeten,
Chemikalien oder die Organe des Menschen.
Wundts eigene Forschungen betrafen vorrangig
die Sinne und hier vor allem das Sehen. Er
und seine Mitarbeiter untersuchten aber auch
Aufmerksamkeit, Gefühle und Gedächtnisleistungen.
Wundt nutzte die Intro- Introspektion ist die
spektion als Methode zur Beobachtung und ReUntersuchung geistiger Pro- gistrierung der eigenen
zesse. Introspektion bezieht Wahrnehmungen, Gesich auf die Beobachtung danken und Gefu¤hle.
8
1 Das Wesen der Psychologie
und Beschreibung der Beschaffenheit der eigenen
Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle. Beispielsweise berichten Menschen darüber, wie
schwer sie ein Objekt empfinden oder wie hell
ihnen ein Lichtblitz erscheint. Die Introspektionsmethode stammte aus der Philosophie,
doch Wundt erweiterte sie um eine neue Dimension. Reine Selbstbeobachtung reichte nicht aus;
sie musste um Experimente ergänzt werden. In
Wundts Experimenten wurde eine physikalische
Dimension eines Reizes, beispielsweise seine Intensität, systematisch variiert. Die Introspektion
wurde dann zielgerichtet eingesetzt, um zu bestimmen, wie diese physikalischen Veränderungen das bewusste Reizerleben der Versuchsteilnehmer modifizierten.
Die wissenschaftliche Aussagekraft der Introspektion erwies sich jedoch insbesondere bei
sehr schnell ablaufenden geistigen Prozessen
und Ereignissen als äußerst begrenzt. Selbst
nach ausgiebigem Introspektionstraining lieferten verschiedene Personen ganz unterschiedliche
Introspektionsberichte über einfachste sensorische Erfahrungen; aus diesen Unterschieden ließen sich nur wenige gesicherte Schlüsse ziehen.
Deshalb ist die Introspektion für den derzeitigen
kognitiven Ansatz in der Psychologie von untergeordneter Bedeutung. Wir werden allerdings
noch sehen, dass sich die Entwicklung anderer,
neuerer Ansätze zum Teil als Reaktion auf die Introspektion begründen lässt.
Strukturalismus und
Funktionalismus
Im 19. Jahrhundert wurden auf den Gebieten der
Chemie und der Physik große Fortschritte erzielt,
indem es gelang, komplexe Verbindungen (Moleküle) in ihre elementaren Bestandteile (Atome)
zu zerlegen. Diese Erfolge ermutigten die Psychologen, gleichfalls nach elementaren geistigen Einheiten zu suchen, die sich miteinander verbinden
und auf diese Weise komplexere Erfahrungen
hervorrufen können. So wie Chemiker Wasser
in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegen, so könnten Psychologen vielleicht auch den Geschmack
von Limonade (Wahrnehmung) in Elemente
wie süß, bitter und kalt (Empfindungen) zerlegen. Als führender Vertreter dieses Ansatzes in
den USA gilt E. B. Titchener, der nach einer Ausbildung bei Wilhelm Wundt an der Universität
von Cornell tätig war. Zur
Im Strukturalismus
Beschreibung dieser Heran- werden die geistigen
gehensweise an psychische Strukturen zergliedert
Phänomene führte Titchener und analysiert.
den Begriff des Strukturalismus ein – der die Zergliederung oder Analyse
geistiger Strukturen bedeutet.
Andere Psychologen lehnten die rein analytische Natur des Strukturalismus jedoch ab.
William James, ein berühmter Psychologe an
der Harvard-Universität, glaubte, man solle
weniger Gewicht auf die Analyse der (statischen)
Elemente des Bewusstseins und mehr auf das
Verstehen seiner dynamischen und persönlichen
Beschaffenheit legen. Sein Der Funktionalismus
Ansatz, der Funktionalismus, betont die Frage, wie
stellt die Frage in den Mittel- sich der menschliche
punkt, wie der Verstand ar- Organismus kraft seibeitet, damit sich ein Orga- nes Geistes an seine
nismus an seine Umwelt an- Umwelt anpassen und
passen und in ihr funktionie- in ihr funktionieren
kann.
ren kann.
Das Interesse der Psychologen des 19. Jahrhunderts an Fragen der funktionellen Anpassung hing mit Charles Darwins Evolutionstheorie zusammen. Es wurde angenommen, dass sich das Bewusstsein nur deshalb herausgebildet hat, weil es für die Lenkung der Aktivitäten eines Individuums irgendeinen Zweck
besitzt. Um herauszufinden, wie sich ein Organismus an seine Umgebung anpasst, müssen Psychologen – so sehen es die Funktionalisten –
konkretes Verhalten beobachten. Allerdings betrachteten Strukturalisten wie Funktionalisten
die Psychologie weiterhin primär als die Wissenschaft vom bewussten Erleben.
Behaviorismus
In der Entwicklung der Psychologie des 20. Jahrhunderts spielten Strukturalismus und Funktionalismus wichtige Rollen. Beide Standpunkte waren mit einem systematischen Ansatz und mit jeweils einheitlichen Grundprinzipien bei der Erklärung psychischer Phänomene verbunden
und wurden deshalb als konkurrierende psychologische Schulen angesehen. Bis 1920 wurden sie
Die historischen Wurzeln der Psychologie
jedoch von drei neueren Schulen abgelöst: dem
Behaviorismus, der Gestaltpsychologie und der
Psychoanalyse.
Der Behaviorismus hatte den größten Einfluss
auf die nordamerikanische Psychologie. Sein Begründer John B. Watson wandte sich gegen die
Auffassung, dass das bewusste Erleben der Zuständigkeitsbereich der Psychologie sei. Bei seinen Untersuchungen zum Verhalten von Tieren
und Kleinkindern kam Watson ohne jegliche
9
Annahmen über das Bewusstsein aus. Er betrachtete die Tierpsychologie und die Psychologie des
Kindes nicht nur als eigenständige empirische
Wissenschaften, sondern sah darin auch einen
beispielhaften Ansatz für die Psychologie des
Erwachsenen.
Watson forderte, dass psychologische Daten
einer externen, objektiven Einsichtnahme und
Kontrolle ebenso zugänglich gemacht werden
müssten wie die Daten jeder anderen Wissen-
> John B. Watson, William James und
Sigmund Freud waren die Schlu¤sselfiguren
in den Anfa¤ngen der Psychologie. James
entwickelte den sogenannten funktionalistischen Ansatz, Watson begru¤ndete den
Behaviorismus, und von Freud stammen
Theorie und Methode der Psychoanalyse.
1
10
schaft, um der Psychologie den Rang einer Wissenschaft zu verleihen. Verhalten ist direkt beobachtbar und objektiv beschreibbar (und damit
öffentlich), Bewusstsein ist jedoch subjektiv, nur
dem Individuum unmittelbar zugänglich (und
damit privat). Wissenschaften sollten nur öffentliche Fakten behandeln. Da die Psychologen der
Introspektion zunehmend ablehnend gegenüberstanden, setzte sich der Behaviorismus als neue
Alternative schnell durch. Viele jüngere Psychologen in den USA bezeichneten sich als Behavioristen. (Die Forschungen des russischen Physiologen Iwan Pawlow über konditionierte Reaktionen bei Hunden galten zwar auch als wichtiger
Beitrag der Verhaltensforschung, doch der weit
reichende Einfluss des Behaviorismus geht letztlich vor allem auf Watson zurück.)
Nach Watson und anderen, die sich dem
Behaviorismus zurechneten, resultiert fast jegliches Verhalten aus KondiIm Behaviorismus wird
tionierungsprozessen. Dajegliches Verhalten als
bei formt die Umwelt das
Ergebnis von KonditioVerhalten durch die Vernierungsprozessen gesestärkung bestimmter Verhen; die Umwelt formt
haltensgewohnheiten. Gibt
das Verhalten durch
man einem Kind beispielsVersta¤rkung.
weise einen Keks, damit es
aufhört zu quengeln, wird dies die Angewohnheit, auch in Zukunft wieder zu quengeln, verstärken (belohnen). Die konditionierte Reaktion
wurde als kleinste Verhaltenseinheit angesehen,
aus der komplexere Verhaltensweisen aufgebaut
werden können. Alle Arten komplexer Verhaltensmuster, die sich durch Erziehung oder spezielles Training ergeben, wurden als nichts anderes als ein miteinander verknüpftes Gefüge konditionierter Reaktionen angesehen.
Behavioristen beschreiben psychische Phänomene gewöhnlich in Form von Reiz-ReaktionsZusammenhängen; abgeleitet von den englischen
Begriffen „stimulus“ für Reiz und „response“ für
Reaktion entstand so der Begriff S-R-Psychologie.
Es ist jedoch zu beachten, dass die S-R-Psychologie an sich zunächst weder eine Theorie noch
einen Ansatz darstellt, sondern eine Menge von
theoretischen Begriffen umfasst, mit denen
man bestimmte psychologische Inhalte präzise
vermitteln kann. Die S-R-Terminologie wird
auch in der heutigen Psychologie bisweilen
noch verwendet.
1 Das Wesen der Psychologie
Gestaltpsychologie
Um das Jahr 1912, etwa zur gleichen Zeit, als sich
der Behaviorismus in den USA durchsetzte, kam
in Deutschland die Gestaltpsychologie auf. Der Begriff Die Gestaltpsychoder Gestalt – die Betonung logie konzentriert sich
auf die Organisation der
der Form und Konfiguration
menschlichen Erfahvon Reizen – bezieht sich auf rung und die zu Grunde
den Ansatz von Max Wert- liegenden Reizmuster:
heimer und seinen Kollegen Das Ganze ist mehr als
Kurt Koffka und Wolfgang die Summe seiner Teile.
Köhler, die alle drei anfangs
an der Berliner Universität arbeiteten und ihrer
persönlichen und beruflichen Sicherheit wegen
später in die USA emigrierten.
Die Gestaltpsychologen interessierten sich zunächst primär für die Wahrnehmung. Ihrer Ansicht nach wird das Wahrnehmungserleben von
den Mustern, die durch Reize gebildet werden,
und von der Organisation der Wahrnehmung bestimmt. Das, was wir tatsächlich sehen, hängt mit
dem Hintergrund zusammen, vor dem ein Objekt
erscheint, und auch mit anderen Aspekten des
Gesamtmusters der Reizkonfiguration, den sogenannten Gestaltfaktoren (siehe Kapitel 5). Dabei
ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile, da
das Ganze auch von den Beziehungen zwischen
den Teilen abhängt. Betrachten wir zum Beispiel
Abbildung 1.4, so erkennen wir ein großes Dreieck – als eine einheitliche Form oder Gestalt –
und nicht drei kleinere Winkel.
Abb. 1.4 Eine Gestaltfigur. Wenn wir nur die drei
Ecken eines gleichseitigen Dreiecks sehen, nehmen wir
ein groes Dreieck und nicht drei einzelne Winkel wahr.
11
Die historischen Wurzeln der Psychologie
Zu den zentralen Interessen der Gestaltpsychologen gehörten die Bewegungswahrnehmung, die
Einschätzung von Größen und das Erscheinungsbild von Farben bei variierender Beleuchtung.
Diese Interessen führten sie zu einer Reihe von
wahrnehmungszentrierten Erklärungen für Lernen, Gedächtnis und Problemlösen, die auch in
der aktuellen kognitionspsychologischen Forschung Beachtung finden.
Die Gestaltpsychologen beeinflussten auch
wichtige Begründer der modernen Sozialpsychologie – zum Beispiel Kurt Lewin, Solomon Asch
und Fritz Heider. Diese erweiterten die Gestaltprinzipien mit Blick auf das Verständnis interpersonaler Phänomene (Jones, 1990). Asch (1946)
beispielsweise überführte das Gestaltprinzip,
nach dem Menschen jeweils das Ganze und nicht
dessen isolierte Teile wahrnehmen, vom einfachen Fall der Objektwahrnehmung in den komplexeren Fall der Personenwahrnehmung (Taylor, 1998). Außerdem betrachteten sie den Prozess, durch den einströmende Reize hinsichtlich
ihrer Bedeutung und Struktur interpretiert werden, als außerhalb der bewussten Wahrnehmung
liegend. Diese Ansicht der Gestaltpsychologie
wirkt sich auch heute noch auf die Erforschung
der sozialen Kognition aus (siehe Kapitel 18;
Moskowitz, Skurnik & Galinsky, 1999).
und Handeln jedoch weiterhin beeinflussen. Unbewusste Gedanken kommen auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck, in Träumen, Versprechern und körperlichen Eigenheiten (zum Beispiel Ticks). Bei der Therapie
Bei der freien Assovon Patienten setzte Freud
ziation sagt man alles,
die freie Assoziation ein, bei was einem in den Sinn
welcher der Patient alles sa- kommt, wodurch ungen soll, was ihm in den bewusste Wu¤nsche ins
Sinn kommt, wodurch unbe- Bewusstsein gelangen
wusste Wünsche ins Be- ko¤nnen.
wusstsein rücken können.
Die Analyse von Träumen diente bei Freud demselben Zweck.
In der klassischen Freud’schen Theorie steht
hinter unbewussten Wünschen fast immer ein sexuelles oder aggressives Motiv. Deshalb stieß
Freuds Theorie in ihrer Zeit nicht auf allgemeine
Zustimmung. In der heutigen Psychologie wird
Freuds Theorie nicht in vollem Umfang akzeptiert, aber viele Psychologen würden die Ansicht
teilen, dass die Vorstellungen, Ziele und Motive
von Menschen zuweilen außerhalb ihres reflektierten Bewusstseins wirksam sein können.
Neuere Entwicklungen
in der Psychologie
des 20. Jahrhunderts
Psychoanalyse
Die Psychoanalyse wurde von Sigmund Freud
Anfang des 20. Jahrhunderts begründet; sie ist
sowohl eine PersönlichkeitsSigmund Freud begru¤ntheorie
als auch eine psychodete die Psychoanatherapeutische Methode. Im
lyse, die zugleich
Zentrum der Freud’schen
Perso¤nlichkeitstheorie
Theorie steht das Konzept
und Therapiemethode
ist.
des Unbewussten – also der
Gedanken,
Einstellungen,
Die Gedanken, EinstelImpulse, Wünsche, Beweglungen, Impulse, Wu¤ngründe und Gefühle, derer
sche, Beweggru¤nde und
wir uns nicht bewusst sind.
Gefu¤hle, zu denen wir
Freud nahm an, dass die
keinen unmittelbaren
inakzeptablen (verbotenen
Zugang haben, bilden
oder unter Strafe stehenden)
das Unbewusste.
Wünsche der Kindheit aus
dem Bewusstsein verdrängt und Teil des Unbewussten werden, wo sie unser Denken, Fühlen
Ungeachtet der wichtigen Beiträge, die die
Gestaltpsychologie und die Psychoanalyse zum
psychologischen Erkenntnisgewinn beisteuerten,
dominierte – insbesondere in der amerikanischen Psychologie – bis zum Zweiten Weltkrieg
der Behaviorismus. Nach dem Krieg wuchs das
allgemeine Interesse an der Psychologie. Hoch
entwickelte Geräte und elektronische Ausrüstungen wurden verfügbar, so dass ein breiterer Bereich an Problemstellungen untersucht werden
konnte. Dabei wurden die Grenzen der früheren
theoretischen Ansätze offensichtlich.
Dieser Eindruck verstärkte sich in den 1950er
Jahren durch die Entwicklung von Computern.
Computer konnten nun Leistungen realisieren,
die zuvor nur Menschen vorbehalten waren –
beispielsweise Schach spielen oder mathematische Beweise führen. Für Psychologen erwies
sich der Computer als mächtiges Werkzeug zur
1
12
Entwicklung von Theorien über psychische Prozesse. In einer Reihe von Aufsätzen, die Ende der
1950er Jahre erschienen, beschrieben Herbert
Simon (der spätere Nobelpreisträger) und seine
Mitarbeiter, wie sich psychische Phänomene
mit Hilfe des Computers simulieren lassen. Viele
psychologische Fragestellungen wurden im Rahmen von Informationsverarbeitungsmodellen neu
formuliert. Die Vorstellung,
In Modellen der Infordass der Mensch im Wesentmationsverarbeitung
lichen Informationen verarwird der Mensch wie ein
beitet, erlaubte einen dynaInformation verarbeimischeren Beschreibungsantender Computer konsatz als der Behaviorismus.
zipiert.
Der Informationsverarbeitungsansatz ermöglichte auch, einige Ideen der
Gestaltpsychologie und der Psychoanalyse präziser zu formulieren. Auf diese Weise konnten frühere Vorstellungen über die Natur des Geistes in
konkreten Modellen beschrieben und mit empirischen Daten verglichen werden. Zum Beispiel
kann man sich vorstellen, dass unser Gedächtnis
ähnlich funktioniert wie ein Computer, der Informationen speichert und wieder abruft. So
wie ein Computer Information aus dem internen
Arbeitsspeicher (RAM) in die dauerhaftere Speicherung auf der Festplatte überführen kann, so
kann auch unser Arbeitsgedächtnis als Zwischenstation auf dem Weg zum Langzeitgedächtnis
fungieren (Atkinson & Shiffrin, 1971a; Raaijmakers & Shiffrin, 1992).
Auch die Entwicklung der neueren Linguistik
in den 1950er Jahren beeinflusste die Psychologie
entscheidend. Linguisten fingen an, die geistigen
Strukturen, die das Sprechen und Verstehen einer
Sprache ermöglichen, in ihre Theorien einzubeziehen. Als Pionier auf diesem Gebiet gilt Noam
Chomsky, dessen Buch Syntactic Structures 1957
erschien (deutsch 1973 als Strukturen der Syntax).
Mit der Konzeption der Generativen Transformationsgrammatik stimulierte er die ersten bedeutsamen psychologischen Analysen der Sprache und beförderte maßgeblich die Entwicklung
der Psycholinguistik.
Zur gleichen Zeit wurden auf dem Gebiet der
Neuropsychologie wesentliche neue Erkenntnisse
gewonnen, welche die Beziehungen zwischen
neurologischen Vorgängen in Gehirn und
Nervensystem und geistigen Prozessen verdeutlichten. In den vergangenen Jahrzehnten haben
die Weiterentwicklungen der biomedizinischen
1 Das Wesen der Psychologie
Technologie rapide Fortschritte bei der Erforschung dieser Zusammenhänge ermöglicht. Roger Sperry erhielt 1981 den Nobelpreis für seinen
Nachweis, dass bestimmte Gehirnregionen mit
bestimmten Denk- und Verhaltensprozessen zusammenhängen. (Dies wird in Kapitel 2 behandelt.)
Mit der Entwicklung des Informationsverarbeitungsmodells, der Psycholinguistik und der
Neuropsychologie entstand ein psychologischer
Beschreibungs- und Erklärungsansatz, der sehr
stark kognitiv orientiert ist. Das Hauptanliegen
dieser Kognitiven Psychologie ist zwar die wissenschaftliche Analyse geistiger Prozesse und Strukturen, doch sie behandelt nicht ausschließlich
Denken und Wissen. Vielmehr wurde der Ansatz
auf viele andere Bereiche der Psychologie ausgedehnt, darunter Wahrnehmung, Motivation,
Emotion, Klinische Psychologie, Persönlichkeit
und Sozialpsychologie. Dies wird in diesem
Buch an vielen Stellen erkennbar werden.
Insgesamt ist der Brennpunkt der Psychologie
im Verlauf des 20. Jahrhunderts wieder zum Ausgangspunkt zurückgekehrt. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass das bewusste Erleben
mit den damals verfügbaren wissenschaftlichen
Untersuchungsmethoden nicht zuverlässig erfasst
werden konnte, wandte man sich dem offenen,
beobachtbaren Verhalten zu. Heute ist eine erneute theoretische wie empirische Hinwendung
zu bislang unbeobachtbaren Aspekten des Geistes
zu verzeichnen – jedoch mit neuen und mächtigeren Instrumenten.
zusammengefasst
Die Wurzeln der Psychologie lassen sich bis ins
vierte und fu¤nfte vorchristliche Jahrhundert zuru¤ckverfolgen. Eine der fru¤hesten Debatten
u¤ber die menschliche Psyche war auf die Frage
gerichtet, ob die menschlichen Fa¤higkeiten angeboren sind oder durch Erfahrung erworben
werden (die Anlage-Umwelt-Debatte).
Die wissenschaftliche Psychologie entstand im
ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Vorstellung, dass Geist und Verhalten zum Gegenstand
wissenschaftlicher Analyse werden ko
¤nnen. Das
erste psychologische Labor wurde von Wilhelm
Wundt 1879 an der Universita¤t Leipzig begru¤ndet.
13
Die heutigen psychologischen Ansa¤tze
Zu den fru¤hen psychologischen ,Schulen des
20. Jahrhunderts geho
¤ren der Strukturalismus,
der Funktionalismus, der Behaviorismus, die Gestaltpsychologie und die Psychoanalyse.
Spa¤tere Entwicklungen im 20. Jahrhundert betreffen die Theorie der Informationsverarbeitung, die Psycholinguistik und die Neuropsychologie.
nachgefragt
1. Welche Annahmen ¤uber das Wesen des Menschen liegen den verschiedenen historischen
Ansa¤tzen der Psychologie zu Grunde?
2. Betrachtet man diese zu Grunde liegenden Annahmen: Welche der historischen Ansa¤tze sind
miteinander vereinbar? Welche lassen sich nicht
¤ bereinstimmung bringen?
in U
Die heutigen
psychologischen Ansa¤tze
Was ist ein psychologischer Ansatz? Im Wesentlichen handelt es sich um eine Perspektive,
unter der psychologische
Psychologische AnThemen betrachtet werden.
sa¤tze unterscheiden
Jedem psychologischen Thedanach, wie sie psyma kann man sich aus ganz
chologische Themen
unterschiedlichen Blickwinbetrachten.
keln nähern. Das gilt beispielsweise für jede beliebige Handlung einer
Person. Angenommen, Sie schlagen jemandem,
der Sie beleidigt hat, ins Gesicht. Aus biologischer
Sicht können wir diese Handlung so beschreiben,
dass daran verschiedene Bereiche des Gehirns beteiligt sind und dass Nervenzellen feuern, wodurch die Muskeln aktiviert werden, welche die
Armbewegung veranlassen. Aus verhaltenspsychologischer Perspektive kann die Handlung
ohne Bezug zu irgendwelchen Vorgängen innerhalb des Körpers beschrieben werden. Hier ist die
Beleidigung ein Reiz, auf den man mit einem
Faustschlag reagiert. Dabei handelt es sich um
eine gelernte Reaktion, die in der Vergangenheit
belohnt wurde. Man kann die Handlung auch aus
einer kognitiven Perspektive analysieren, wobei
man sich auf die geistigen Prozesse bei der Entstehung des Verhaltens konzentriert. Aus kognitiver Sicht könnte man den Faustschlag anhand
von Zielen und Plänen erklären: Ihr Ziel besteht
vielleicht darin, Ihre Ehre zu verteidigen, und aggressives Verhalten ist ein Teil des Plans, um dieses Ziel zu erreichen. Aus psychoanalytischer
Sicht würde man die Handlung vielleicht als Ausdruck eines unbewussten Aggressionstriebs beschreiben. Aus konstruktivistischer Perspektive
schließlich lässt sich die aggressive Handlung
als eine Reaktion verstehen, mit der die Äußerung
des Gegenübers als persönliche Beleidigung interpretiert wird.
Jeder psychische Vorgang lässt sich auf vielerlei Art charakterisieren. Die fünf in diesem Abschnitt dargestellten psychologischen Ansätze
können jedoch als repräsentativ für die heutige
Psychologie gelten (siehe Abbildung 1.5). Da
sie im Buch immer wieder angesprochen werden,
soll hier jeder Ansatz nur kurz gekennzeichnet
werden. Dabei ist zu beachten, dass sich die An-
Kognitiver
Ansatz
Verhaltenspsychologischer Ansatz
Psychologie
Biologischer
Ansatz
Konstruktivistischer
Ansatz
Psychoanalytischer
Ansatz
Abb. 1.5 Ansa¤tze in der
Psychologie. Die Analyse psychologischer Pha¤nomene kann
aus mehreren Perspektiven erfolgen. Jeder Ansatz bietet eine
etwas andere Erkla¤rung dafu¤r,
warum sich ein Mensch so und
nicht anders verha¤lt, und jeder
Ansatz kann einen Beitrag zu
unserer Vorstellung von der
Gesamtperso¤nlichkeit leisten.
Der griechische Buchstabe Psi
() wird oft als Abku¤rzung fu¤r
ÐPsychologie verwendet.
1
14
1 Das Wesen der Psychologie
sätze nicht wechselseitig ausschließen müssen,
sondern unterschiedliche Aspekte ein und desselben komplexen PhänoEklektische Ansa¤tze
mens im Blick haben könbedienen sich mehrerer
nen. Tatsächlich erfordert
theoretischer Perspekdas Verständnis vieler psytiven.
chologischer Fragen einen
eklektischen Ansatz, der mehrere Theorieperspektiven umfasst.
Die neuronale Grundlage des
Verhaltens
Der biologische Ansatz
Das Gehirn des Menschen enthält mehr als zehn
Milliarden Nervenzellen und eine unvorstellbar
große Zahl an Verbindungen zwischen ihnen.
Es könnte sich um die komplexeste Struktur
im ganzen Universum handeln. Im Prinzip können alle psychischen Vorgänge mit der Aktivität
des Gehirns und des Nervensystems in Verbindung gebracht werden. Im Rahmen des biologischen Untersuchungsansatzes wird das äußere
Verhalten des Menschen und anderer Spezies
mit elektrochemischen und biochemischen Prozessen innerhalb des Organismus in Beziehung
gebracht. Unter dem biologischen Ansatz zielt
die Forschung primär darauf,
Der biologische Andie neurobiologischen Prosatz zielt darauf ab,
zesse näher zu bestimmen,
diejenigen neurobiolodie dem Verhalten und den
gischen Prozesse zu
geistigen Prozessen zu Grunbestimmen, die dem
de liegen. Bei der ErforVerhalten und den
schung der Depression vergeistigen Prozessen zu
Grunde liegen.
sucht man aus biologischer
Sicht beispielsweise, diese
Störung auf pathologische Veränderungen im
Konzentrationsspiegel von Neurotransmittern zurückzuführen. Neurotransmitter sind chemische
Stoffe, die das Gehirn für die Signalübertragung
zwischen Nervenzellen produziert und nutzt
(siehe Kapitel 2).
Der biologische Ansatz kann am Beispiel eines
der bereits beschriebenen Probleme illustriert
werden. Defizite beim Gesichtererkennen, die
bei Patienten mit Hirnschädigungen beobachtet
wurden, ermöglichen Rückschlüsse auf die Re-
gionen des Gehirns, die auf das Erkennen von Gesichtern spezialisiert sind. Das Gehirn des Menschen ist in die rechte und linke Hemisphäre unterteilt, wobei die für die Gesichtererkennung
relevanten Regionen hauptsächlich in der rechten
Hemisphäre zu liegen scheinen. Beim Menschen
findet man eine ausgeprägte Spezialisierung der
Hemisphären. Beispielsweise ist bei den meisten
Rechtshändern die linke Hemisphäre auf das
Sprachverstehen und die rechte Hemisphäre
auf die Interpretation räumlicher Relationen spezialisiert.
Der biologische Ansatz hat auch die Gedächtnisforschung befruchtet. Zahlreiche Untersuchungsbefunde weisen auf die Bedeutung bestimmter Gehirnstrukturen, insbesondere des
Hippocampus, für die dauerhafte Speicherung
von Gedächtnisinhalten hin. Die frühkindliche
Amnesie könnte zumindest teilweise auf einen
unreifen Hippocampus zurückzuführen sein;
diese Gehirnstruktur ist erst ein bis zwei Jahre
nach der Geburt voll entwickelt.
3
Der verhaltenspsychologische
Ansatz
Wie im historischen Überblick bereits erwähnt,
konzentriert sich der verhaltenspsychologische
Ansatz auf beobachtbare
Reize und Reaktionen und Der verhaltensbetrachtet die meisten Ver- psychologische Ansatz konzentriert sich
haltensweisen als Ergebnis
auf beobachtbare Reize
von Konditionierung und und Reaktionen und
Verstärkung. So könnte sich betrachtet die meisten
eine Verhaltensanalyse unse- Verhaltensweisen als
res Soziallebens beispielswei- Resultat von Konditiose darauf konzentrieren, mit nierung und Versta¤rwelchen Menschen wir um- kung.
gehen (die sozialen Reize),
welche Arten von Reaktionen wir diesen Menschen gegenüber ausführen (ob wir uns belohnend, bestrafend oder neutral verhalten), welche
Reaktionen diese Menschen daraufhin uns gegenüber zeigen (positiv, negativ oder neutral) und
wie diese Reaktionen die Interaktion aufrechterhalten oder unterbrechen.
15
Die heutigen psychologischen Ansa¤tze
Der Verhaltensansatz lässt sich anhand unserer
Problembeispiele weiter illustrieren. Beim Übergewicht könnte es etwa so sein, dass manche
Menschen nur in Gegenwart bestimmter Reize
(etwa beim Fernsehen) zu viel essen (also die spezifische Reaktion ausführen). Viele Programme
zur Gewichtskontrolle zielen darauf, diese Reize
vermeiden zu lernen. Aggressive Verhaltenstendenzen – zum Beispiel ein anderes Kind zu
schlagen – werden Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit zeigen, wenn ihre aggressiven (Re-)
Aktionen belohnt werden (das andere Kind gibt
klein bei), als wenn sie eine Bestrafung nach sich
ziehen (das andere Kind schlägt zurück).
Im strikten Verhaltensansatz des klassischen
Behaviorismus fanden die geistigen Prozesse
des Menschen keine Berücksichtigung. Auch
die heutigen Behavioristen stellen im Allgemeinen keine Mutmaßungen über geistige Prozesse
an, die zwischen Reiz und Reaktion vermitteln.
Abgesehen von den strengen Behavioristen werden Psychologen aber meistens (in Form eines
verbalen Berichts) aufzeichnen, was eine Person
über ihr bewusstes Erleben sagt, und aus diesen
subjektiven Daten Rückschlüsse auf ihre geistigen
Aktivitäten ziehen. Viele neuere Entwicklungen
in der Psychologie gehen auf Arbeiten der frühen
Behavioristen zurück (Skinner, 1981). Dennoch
würden sich heute nur wenige Psychologen als
strenge Behavioristen bezeichnen.
Der kognitive Ansatz
Der moderne kognitive Ansatz ist einerseits
durch eine Rückwendung zu den kognitiven
Wurzeln der Psychologie gekennzeichnet und
stellt andererseits eine Reaktion auf die Begrenztheit des Behaviorismus dar, der komplexe
menschliche Aktivitäten wie logisches Denken,
Planen, Entscheiden und Kommunizieren in
der Regel vernachlässigte. Wie schon im 19. Jahrhundert beschäftigt sich der heutige kognitive Ansatz mit geistigen Prozessen
Der kognitive Ansatz
wie dem Wahrnehmen, Erinbefasst sich mit geistinern, logischen Denken, Entgen Prozessen wie dem
scheiden und Problemlösen.
Wahrnehmen, Erinnern,
Anders als im 19. Jahrhunlogischen Denken, Entdert beruht der aktuelle Koscheiden und Problemgnitivismus allerdings nicht
lo
¤sen.
mehr auf Introspektion. Stattdessen wird angenommen, dass (1) nur durch die Untersuchung
geistiger Prozesse wirklich verstanden werden
kann, was Organismen tun, und dass sich (2)
geistige Prozesse auf objektive Weise untersuchen
lassen, indem man (wie Behavioristen) spezifische Verhaltensweisen betrachtet, diese dann jedoch mit Bezug auf die zu Grunde liegenden geistigen Prozesse interpretiert. Bei derartigen Interpretationen haben sich kognitive Psychologen oft
auf eine Analogie zwischen Geist und Computer
gestützt. Die einströmende Information wird
vom Organismus auf verschiedene Weise verarbeitet: Aus der Menge der insgesamt verfügbaren
Informationen wird Information ausgewählt, mit
anderen – bereits im Gedächtnis gespeicherten –
Informationen verglichen und kombiniert, verändert, neu zusammengestellt und so weiter.
Nehmen wir das am Anfang des Kapitels angesprochene Phänomen der frühkindlichen Amnesie. Vielleicht können wir Ereignisse aus den ersten Lebensjahren deshalb nicht erinnern, weil sich
die Art und Weise, wie wir unsere Erfahrungen im
Gedächtnis organisieren, entwicklungsbedingt
verändert. Um das dritte Lebensjahr könnten solche Veränderungen besonders ausgeprägt sein,
wenn unsere sprachlichen Fähigkeiten sehr stark
anwachsen und die Sprache eine neue Möglichkeit bietet, Gedächtnisinhalte zu organisieren.
Der psychoanalytische
Ansatz
Sigmund Freud entwickelte in Wien die psychoanalytische Konzeption etwa zur selben Zeit, in
der auch der Behaviorismus entstand. In mancher Hinsicht handelt es sich bei der Psychoanalyse um eine Mischung aus (Kognitions-) Psychologie und Physiologie auf dem Stand des 19.
Jahrhunderts. Insbesondere kombinierte Freud
kognitive Vorstellungen von Bewusstsein, Wahrnehmung und Gedächtnis mit der Annahme
biologisch begründeter Triebe, um daraus eine
kühne neue Theorie des
menschlichen Verhaltens zu Nach dem psychoanalytischen Ansatz beentwickeln.
ruht das Verhalten auf
Die Grundannahme des unbewussten U¤berzeupsychoanalytischen Ansatzes gungen, A¤ngsten und
besteht darin, dass das Ver- Wu¤nschen.
1
16
1 Das Wesen der Psychologie
halten aus unbewussten Prozessen resultiert. Damit sind Überzeugungen, Ängste und Wünsche
gemeint, von denen ein Mensch eigentlich nichts
weiß und die sein Verhalten dennoch beeinflussen. Freud glaubte, dass sich viele Impulse, die im
Verlauf der Kindheit von den Eltern und der Gesellschaft verboten oder unter Strafe gestellt wurden, aus angeborenen Trieben ableiten. Da wir
alle mit diesen Verhaltensimpulsen geboren werden, üben sie einen weit reichenden Einfluss aus,
mit dem wir irgendwie zurechtkommen müssen.
Sie nur zu verbieten, verdrängt sie aus dem Bewusstsein ins Unbewusste. Dort verschwinden
sie jedoch nicht. Sie können als emotionale Probleme und Symptome von Geisteskrankheiten zu
Tage treten oder aber als sozial gebilligtes Verhalten, beispielsweise in Form von künstlerischen
oder literarischen Tätigkeiten. Wenn man sich
beispielsweise über seinen Vater sehr ärgert,
mit dem man sich ein Zerwürfnis aber nicht leisten kann, dann wird der Ärger vielleicht ins Unbewusste verdrängt und äußert sich möglicherweise in einem Traum, in dem der Vater bei
einem schlimmen Unfall zu Schaden kommt.
Freud nahm an, dass wir von denselben
Grundinstinkten getrieben sind wie Tiere (vorrangig Sexualität und Aggression) und dass wir
uns permanent mit einer Gesellschaft herumschlagen müssen, die großen Wert darauf legt,
dass diese Triebimpulse kontrolliert bleiben.
Der psychoanalytische Ansatz schlägt somit andere und neue Wege vor, wie man einige der zuvor
dargestellten Probleme erklären kann. So behauptete Freud etwa, dass aggressives Verhalten
einem angeborenen Trieb folgt. Diese Annahme
findet in der Humanpsychologie zwar keine breite Akzeptanz, stimmt aber mit der Sichtweise
einiger Biologen und Psychologen überein, die
Aggression bei Tieren untersuchen.
Der konstruktivistische
Ansatz
Im konstruktivistischen Ansatz ha¤ngt
das Verhalten nicht von
der objektiven Welt,
sondern von ihrer subjektiven Wahrnehmung
ab.
Der konstruktivistische Ansatz
behauptet, das menschliche
Verhalten sei eine Funktion
der Welt, so wie sie wahrgenommen wird, und nicht
eine Funktion der objektiven
Realität. Wie der kognitive Ansatz ging auch der
konstruktivistische Ansatz von der Gestaltpsychologie aus und reagierte auf die Einengung
des Behaviorismus. Trotz der Nähe zur kognitiven Psychologie war der Konstruktivismus vor allem in der Sozial- und Persönlichkeitspsychologie
sehr einflussreich. Um das Sozialverhalten von
Menschen zu verstehen, müssen wir dieser Sichtweise zufolge die einer Person eigene Situationsdefinition erfassen, welche in Abhängigkeit von
Kultur, persönlicher Biographie und dem aktuellen Motivationszustand unterschiedlich ausfallen
kann. Somit ist dieser Ansatz am stärksten für
kulturelle und individuelle Unterschiede offen,
wie auch für Wirkungen von Motivation und
Emotion.
In gewisser Weise spricht die Vorstellung, dass
Menschen aktiv ihre eigenen subjektiven Wirklichkeiten konstruieren, für introspektive Methoden. Dennoch stützen sich Konstruktivisten nicht
ausschließlich auf subjektive Selbstberichte, weil
sie weiterhin annehmen, dass es Menschen nicht
gelingt, ihre subjektiven Wirklichkeiten als persönliche Konstruktionen zu betrachten. Dieser
naive Realismus beschreibt
die Neigung von Menschen, Der naive Realismus
ihre konstruierten, subjekti- beschreibt die Tendenz,
ven Wirklichkeiten für ge- die konstruierte subjektive Wirklichkeit fu¤r
treue Wiedergabe einer ob- ein getreues Abbild
jektiven Welt zu halten. Des- einer objektiven Welt zu
halb umfasst ein konstrukti- halten.
vistischer Ansatz auch die
systematische Beobachtung von Urteilen und
Verhaltensweisen. Eine konstruktivistische Sichtweise lässt sich durch eine frühe klassische Untersuchung illustrieren, nach der die Teilnehmer die
physikalische Größe von Münzen stärker überschätzen, wenn sie einen höheren Nennwert besitzen. Diese Tendenz ist bei armen Kindern stärker ausgeprägt (Bruner & Goodman, 1947; man
beachte, dass Münzgeld in der 1940er Jahren vermutlich generell wertvoller erschien als heute).
Betrachten wir noch einmal das Problem der
Zuschreibung von Persönlichkeitsmerkmalen.
Die Untersuchung darüber, wie sich Menschen
die Handlungen anderer Menschen erklären
(im obigen Beispiel eine Spende von 50 Euro),
entstand aus der Betonung der Frage, wie eine
Situation von den Menschen definiert wird, die
sich in dieser Situation befinden (Heider, 1958)
– eine durchaus konstruktivistische Herange-
17
Die heutigen psychologischen Ansa¤tze
hensweise. Eine heutige Erklärung für die durchgehende Tendenz, die Handlungen anderer Menschen ihren Persönlichkeitseigenschaften zuzuschreiben, geht davon aus, dass es Angehörigen
des westlichen Kulturkreises oft nicht gelingt,
den Einfluss der Situation zu erkennen, weil in
diesen Kulturen seit Langem die persönliche
Handlungsveranlassung betont wurde (Nisbett,
Peng, Choi & Norenzayan, 2001; siehe Kapitel
18). In analoger Weise geht eine konstruktivistische Sicht auf die Verknüpfung zwischen Gewalt
in den Medien und Aggression davon aus, dass
der gewohnheitsmäßige Umgang mit gewalthaltigen Medien aggressive Schemata und Skripts aufbaut und verstärkt, anhand derer in der Folge
zwischenmenschliche Begegnungen definiert
werden (Anderson & Bushman, 2001).
¤ berblick
Konzepte im U
Fu
¤nf Ansa
¤tze der Psychologie.
Biologischer
Ansatz
Die Ausrichtung auf das
Versta¤ndnis der neurobiologischen Prozesse, welche dem
Verhalten und den geistigen
Prozessen zu Grunde liegen.
Verhaltenspsychologischer
Ansatz
Die Ausrichtung auf das
Versta¤ndnis beobachtbaren
Verhaltens anhand von Konditionierung und Versta¤rkung.
Kognitiver
Ansatz
Die Ausrichtung auf das
Versta¤ndnis geistiger Prozesse
wie Wahrnehmen, Erinnern,
logisches Denken, Entscheiden
und Problemlo¤sen sowie ihrer
Beziehungen zum Verhalten.
Psychoanalytischer
Ansatz
Die Ausrichtung auf das
Versta¤ndnis des Verhaltens
anhand unbewusster Motive,
die von sexuellen und aggressiven Triebimpulsen herru¤hren.
Konstruktivistischer Ansatz
Die Ausrichtung auf das
Versta¤ndnis des Verhaltens
und der geistigen Prozesse
anhand der subjektiven Wirklichkeiten, die sich Menschen
aktiv konstruieren.
Die neuronale Grundlage des
Verhaltens
Beziehungen zwischen
psychologischen und
biologischen Ansa¤tzen
Die behavioristischen, kognitiven, psychoanalytischen und konstruktivistischen Ansätze basieren
alle rein auf psychologischen Konzepten (wie
Wahrnehmung, Unbewusstes und Attributionen). Zwar bieten diese Ansätze manchmal unterschiedliche Erklärungen für dasselbe Phänomen
an, doch handelt es sich dem Wesen nach immer
um psychologische Erklärungen. Der biologische
Ansatz ist anders. „Neben psychologischen Konzepten baut er auch auf Konzepten aus der Physiologie und anderen Zweigen der Biologie auf
(wie Neurotransmitter und Hormone).
In gewisser Weise knüpft der biologische Ansatz jedoch direkt an die psychologischen Ansätze
an. Biologisch orientierte Forscher haben das
Ziel, psychologische Konzepte und Prinzipien anhand ihrer biologischen Pendants zu erklären. So
kann man beispielsweise versuchen, die normale
Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, ausschließlich
mit Neuronen und ihren Verschaltungen in einer
bestimmten Gehirnregion zu erklären. Solche
Versuche werden als Reduktionismus bezeichnet,
weil sie darauf abzielen, psychologische Phänomene auf die ihnen zu Grunde liegenden biologischen Reduktionismus ist
Strukturen und Prozesse zu- der Versuch, psychologische Pha¤nomene auf
rückzuführen. Immer wieder biologische Strukturen
werden sich in diesem Buch und Prozesse zuru¤ckBeispiele finden, bei denen zufu¤hren.
sich ein derartiger Reduktionismus als erfolgreich erweist: Was zunächst nur
auf psychologischer Ebene betrachtet wurde, lässt
sich – zumindest teilweise – auf biologischer
Ebene erklären.
Warum sollte man sich dann noch mit psychologischen Erklärungsversuchen herumschlagen, wenn der Reduktionismus zum Erfolg führen kann? Hat die Psychologie ihre Aufgabe und
Funktion nur so lange, bis die Biologen alles herausgefunden haben? Die Antwort ist ein eindeutiges „Nein“.
1
18
Erstens leiten psychologische Befunde, Konzepte
und Prinzipien die biologische Forschung. Das
Gehirn enthält ja Milliarden von Nervenzellen
und unzählige Verbindungen zwischen diesen
Zellen. Folglich kann ein Biologe kaum darauf
hoffen, irgendetwas Interessantes herauszufinden, wenn er willkürlich beliebige Gehirnzellen
auswählt und diese untersucht. Vielmehr muss
er seine Bemühungen auf relevante Gruppen
von Gehirnzellen richten. Hierfür können psychologische Befunde als Orientierungshilfe dienen. Beispielsweise deutet die psychologische
Forschung darauf hin, dass unsere Fähigkeit, gesprochene Wörter voneinander zu unterscheiden,
anderen Prinzipien gehorcht als unsere Fähigkeit,
verschiedene räumliche Positionen zu unterscheiden. Dementsprechend werden Biopsychologen wohl in verschiedenen Gehirnregionen
nach der neuronalen Grundlage dieser Diskriminationsfähigkeiten suchen (in diesem Fall in der
linken Hemisphäre für die Wortunterscheidung
und in der rechten Hemisphäre für die Diskrimination räumlicher Positionen). Ein anderes Beispiel: Wenn die psychologische Forschung herausfindet, dass das Erlernen einer motorischen
Fähigkeit ein langsamer Prozess ist, der sich
nur schwer rückgängig machen lässt, dann werden biologische Psychologen ihre Aufmerksamkeit auf solche Prozesse im Gehirn richten, die
relativ langsam verlaufen, die Verbindungen zwischen Nervenzellen jedoch dauerhaft verändern
(Churchland & Sejnowski, 1988).
Zweitens verlaufen unsere biologischen Prozesse nicht unabhängig von unseren vergangenen
und gegenwärtigen Umgebungsbedingungen.
Beispielsweise kann Fettleibigkeit (1) aus einer
genetischen Veranlagung zur Gewichtszunahme
(einem biologischen Faktor) oder (2) aus der Aneignung schlechter Essgewohnheiten (einem psychologischen Faktor) resultieren oder aber (3)
eine Reaktion auf kulturellen Druck in Richtung
extremer Schlankheit darstellen (ein sozio-kultureller Faktor). Der Biologe kann den erstgenannten Faktor zu erklären versuchen; es bleibt aber
immer noch Aufgabe des Psychologen, die vorausgehenden Erfahrungen und die aktuellen Begleitumstände zu erforschen, welche die Essgewohnheiten einer Person beeinflussen.
Trotz allem gewinnt die reduktionistische Forschungsstrategie zunehmend an Einfluss. Für
viele psychologische Fragestellungen liegen so-
1 Das Wesen der Psychologie
wohl psychologische Erklärungen vor als auch
Erkenntnisse darüber, wie die entsprechenden
psychologischen Konzepte im Gehirn verankert
sind und ausgeführt werden (zum Beispiel, welche spezifischen Teile des Gehirns beteiligt sind
und wie sie miteinander in Verbindung stehen).
Die verfügbaren biologischen Erkenntnisse reichen für einen vollständigen Reduktionismus
in der Regel nicht aus, dennoch sind sie außerordentlich bedeutsam. In der Gedächtnisforschung
wurden beispielsweise seit langem Arbeits- und
Langzeitgedächtnis unterschieden. Dabei handelt
es sich um psychologische Konzepte. Jetzt weiß
man aber auch etwas darüber, dass und in welcher Weise diese beiden Gedächtniskomponenten im Gehirn tatsächlich unterschiedlich repräsentiert sind. Für viele in diesem Buch behandelte
Themen werden deshalb Befunde und Erkenntnisse sowohl auf biologischer als auch auf psychologischer Ebene herangezogen.
So ist es ein zentraler Gegenstand dieses Buches (wie überhaupt der gesamten gegenwärtigen
Psychologie), dass man psychische Phänomene
sowohl auf psychologischer als auch auf biologischer Ebene beschreiben und erklären kann. Dabei gibt die biologische Analyse Hinweise darauf,
wie sich die psychologischen Annahmen auf der
Ebene des Gehirns darstellen lassen. Ganz eindeutig bedarf es beider Analyseebenen, wenngleich auch bei einigen Themen – vor allem
im Bereich sozialer Interaktionen – die biologischen Analysen erst ganz am Anfang stehen.
3
Wichtige Teilgebiete der
Psychologie
Bislang ging es darum, durch die Darstellung von
Themen und Ansätzen ein allgemeines Verständnis vom Wesen der Psychologie zu bekommen.
Dieses Verständnis wird vertieft, wenn man verschiedene psychologische Tätigkeitsfelder näher
betrachtet und auch darauf blickt, welche Gebiete
in der Psychologie des 21. Jahrhunderts zunehmende Bedeutung erlangen (siehe den Beitrag
„Forschung aktuell“).
Die heutigen psychologischen Ansa¤tze
Ein Teil der Absolventen eines Psychologiestudiums – und ein Großteil derjenigen mit weiteren
wissenschaftlichen Qualifikationen wie Promotion und Habilitation – arbeitet in Universitäten
und anderen Bildungseinrichtungen. Neben
den Lehraufgaben wenden sie zum Teil auch
viel Zeit für Forschung oder Beratung auf. Andere
Psychologen arbeiten in Schulen, Kliniken, Forschungsinstituten, Beratungsstellen oder Behörden, in der Industrie, beim TÜV oder bei der
Polizei. Andere wiederum haben Privatpraxen
und bieten ihre Dienstleistung öffentlich und gegen Bezahlung an. Hier folgt nun eine kurze Beschreibung einiger psychologischer Teilgebiete, in
der sich auch die kanonisierte Untergliederung
des Psychologiestudiums an deutschen Universitäten widerspiegelt.
Biologische Psychologie. Biologische Psychologen (auch: Physiologische Psychologen) suchen
nach Beziehungen zwischen
Biologische Psycholobiologischen Prozessen und
gen untersuchen die
dem Verhalten.
Beziehungen zwischen
biologischen Prozessen
und Verhalten.
Allgemeine Psychologen untersuchen mit
Hilfe von experimentellen Methoden, wie
Menschen und andere
Lebewesen auf sensorische Reize reagieren,
die Welt wahrnehmen,
lernen, erinnern, denken und fu¤hlen.
Entwicklungspsychologen befassen sich mit
der menschlichen Entwicklung und den Faktoren, die das Verhalten
von der Geburt bis ins
Alter formen.
Allgemeine Psychologie.
Allgemeine Psychologen forschen meist auf der Grundlage eines behavioristischen
oder kognitiven Beschreibungs- und Erklärungsansatzes. Sie verwenden vorrangig
experimentelle Methoden,
um zu untersuchen, wie
Menschen (und andere Spezies) auf sensorische Reize
reagieren, die Welt wahrnehmen, lernen und erinnern,
denken und emotional reagieren.
Entwicklungspsychologie.
Entwicklungspsychologen befassen sich mit der Entwicklung des Menschen und den
Faktoren, die das Verhalten von der Geburt bis
ins hohe Alter formen. Dabei untersuchen sie bestimmte Fähigkeiten, beispielsweise den Spracherwerb bei Kindern, oder bestimmte Lebensabschnitte, etwa die frühe Kindheit.
19
Sozial- und Perso
¤nlichkeitspsychologie. Sozialpsychologen sind daran interessiert, wie Menschen ihre soziale Umwelt
wahrnehmen und interpre- Sozialpsychologen
interessieren sich dafu¤r,
tieren und wie ihre Überzeuwie Menschen ihre sogungen, Gefühle und Verhal- ziale Umwelt wahrnehtensweisen durch die reale men und interpretieren
oder vorgestellte Gegenwart und wie die reale oder
anderer Menschen beein- imaginierte Gegenwart
flusst werden. Sie befassen anderer ihre U¤berzeusich auch mit dem Verhalten gungen, Gefu¤hle und
von Gruppen und mit sozia- Verhaltensweisen beeinflusst.
len Beziehungen zwischen
Menschen.
Persönlichkeitspsychologen Perso¤nlichkeitsuntersuchen die Gedanken, psychologen unterGefühle und Verhaltenswei- suchen die Gedanken,
sen, die den persönlichen Gefu¤hle und VerhalStil ausmachen, mit dem tensweisen, die den
ein Individuum mit der perso¤nlichen Stil im
Umgang mit der Welt
Welt interagiert. Dement- ausmachen.
sprechend interessieren sie
sich für Unterschiede zwischen Menschen, und
sie versuchen auch, alle psychischen Prozesse
zu einem integrierten Ansatz der gesamten Person – der Persönlichkeit – zusammenzufügen.
Klinische Psychologie. Die meisten Psychologen sind Klinische Psychologen; sie wenden psychologische Prinzipien bei
der Diagnose und Behand- Klinische Psycholung psychischer und ver- logen diagnostizieren
und behandeln psychihaltensbezogener Probleme sche und verhaltensbean – beispielsweise bei Geis- zogene Probleme nach
teskrankheiten, Drogenab- psychologischen Prinzihängigkeit und Konflikten pien.
in Ehe und Familie.
Während diese Tätigkeiten überwiegend in
Kliniken und psychotherapeutischen Einrichtungen und Praxen ausgeübt werden, nehmen Psychologen sehr ähnliche Funktionen auch in Beratungsstellen wahr, wobei sie jedoch mit weniger
schwerwiegenden oder anders gearteten Problemen konfrontiert sind, die sich auch außerhalb
einer klinischen Behandlung bearbeiten lassen.
Auch die psychologischen Beratungsstellen an
Universitäten und Hochschulen fallen in diesen
Bereich.
1
20
1 Das Wesen der Psychologie
Forschung aktuell
Psychologie im 21. Jahrhundert
In zunehmendem Ausma verknu¤pfen Psychologen
mehrere Teilgebiete in ihren Forschungen, gehen
auch u¤ber die Psychologie hinaus und arbeiten mit
Forschern anderer Disziplinen zusammen. Diese themenu¤bergreifenden und interdisziplina¤ren Ansa¤tze
haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts betra¤chtliche
Impulse erhalten und du¤rften sich in den kommenden
Jahrzehnten als wichtig erweisen. Besonderes Interesse gilt der kognitiven Neurowissenschaft, der Evolutionspsychologie, der kulturvergleichenden Psychologie und der Positiven Psychologie. Diese Ansa¤tze
werden hier in Ku¤rze beschrieben, und die jeweiligen
Forschungsstrategien werden an Beispielen illustriert.
Kognitive Neurowissenschaft
Die kognitive Neurowissenschaft konzentriert sich
auf kognitive Prozesse, wobei sie sich in starkem Ausma auf neurowissenschaftliche Methoden und Befunde stu¤tzt. (Neurowissenschaft ist der Zweig der
Biologie, der sich mit dem Gehirn und dem Nervensystem befasst.) Im WesentliDie kognitive Neurochen geht es der kognitiven Neuwissenschaft will verrowissenschaft darum herauszustehen, wie geistige
finden, wie geistige Aktivita¤ten
Aktivita¤ten im Gehirn
im Gehirn realisiert werden.
realisiert werden.
Die Grundidee besteht darin,
dass die kognitive Psychologie Hypothesen u¤ber spezifische kognitive Funktionen und Fa¤higkeiten liefert
-- wie etwa das Erkennen von Gesichtern -- und die
Neurowissenschaft Ideen beisteuert, wie diese spezifischen Funktionen im Gehirn implementiert sein
ko
¤nnten.
Ein besonderes Kennzeichen der kognitiven Neurowissenschaft besteht in der Nutzung neuer Techniken
zur Untersuchung des Gehirns von normalen Probanden (im Vergleich zu Hirngescha¤digten) wa¤hrend der
Ausfu¤hrung einer kognitiven Aufgabe. Dazu za¤hlen
bildgebende Verfahren (Neuro-Imaging, Brain-Scans).
Sie erzeugen visuelle Darstellungen des Gehirns in
Aktion und zeigen an, welche Hirnregionen bei einer
bestimmten Aufgabe am aktivsten sind. Als Beispiel
ko
¤nnen Untersuchungen daru¤ber dienen, wie sich
Menschen Information fu¤r entweder kurze oder lange
Zeitabschnitte merken. Wenn man sich etwas nur
fu¤r ein paar Sekunden merken soll, zeigt sich ein Anstieg der Nervenaktivita¤t in Regionen des Frontalhirns; soll Information fu¤r la¤ngere Zeit aufrechterhal-
ten werden, steigt die Aktivita¤t in einer ganz anderen
Hirnregion an, na¤her zur Gehirnmitte. Somit scheinen
bei der Kurzzeitspeicherung von Information andere
Mechanismen wirksam zu sein als bei der Langzeitspeicherung (Smith & Jonides, 1995; Squire, Knowlton & Musen, 1993).
Die Verbindung von Psycholo- Die affektive Neurogie und Neurowissenschaft ist wissenschaft unternicht auf die kognitive Psycho- sucht die Ausfu¤hrung
logie beschra¤nkt. Psychologen emotionaler Prozesse
im Gehirn.
haben auch eine affektive Neurowissenschaft ins Leben gerufen
(Panksepp, 1998), um die Aus- Die sozial-kognitive
fu¤hrung emotionaler Prozesse Neurowissenschaft
im Gehirn zu untersuchen, sowie versucht herauszufineine sozial-kognitive Neurowis- den, wie soziale Pha¤nosenschaft (Ochsner & Lieber- mene (Stereotypenbilman, 2001), die sich damit be- dung, Einstellungen,
fasst, wie Stereotype, Einstel- Personenwahrnehmung
lungen, Personenwahrnehmung oder Selbstrepra¤sentaoder das Wissen ¤uber sich selbst tion) im Gehirn realisiert
werden.
im Gehirn repra¤sentiert sind.
Evolutionspsychologie
Die Evolutionspsychologie befasst sich mit dem biologischen Ursprung kognitiver Mechanismen. Neben
der Psychologie und der Biologie sind an diesem Ansatz auch die Anthropologie und die Psychiatrie beteiligt. Der Grundgedanke der Evolutionspsychologie besteht darin, dass sich psychische Mechanismen genauso wie biologische Mechanismen im Verlauf von
Jahrmillionen durch einen Prozess der natu¤rlichen
Auslese entwickelt haben mu¤ssen. Somit geht die
Evolutionspsychologie davon aus, dass psychologische Mechanismen eine genetische Grundlage besit¤ berlebens- und Rezen und in der Vergangenheit die U
produktionschancen unserer Vorfahren erho¤ht haben. Zur Illustration betrachte man die Vorliebe fu¤r
Su¤es: Eine solche Vorliebe kann man sich als einen
psychologischen Mechanismus vorstellen, der eine
genetische Basis besitzt. Zudem haben wir die Pra¤fe¤ berlebenschancen unserenz fu¤r Su¤es, weil sie die U
rer Vorfahren erho¤ht hat: Die Fru¤chte, die am su¤esten schmeckten, hatten den ho¤chsten Na¤hrwert; a
man sie, erho¤hte dies die Chancen fu¤r das weitere
¤ berleben der eigenen Gene (Symons, 1992).
U
Die Einnahme einer evolutiona¤ren Perspektive
kann die Untersuchung psychologischer Fragen auf
vielfa¤ltige Weise beeinflussen. Zum einen erscheinen
21
Die heutigen psychologischen Ansa¤tze
1
bestimmte Themen aus evolutiona¤rer Sicht beson¤ berleben oder der erders wichtig, weil sie mit dem U
folgreichen Reproduktion zusammenha¤ngen. Darunter fa¤llt zum Beispiel, wie wir unsere Partner auswa¤hlen oder wie wir denken und uns verhalten, wenn wir
bestimmte Gefu¤hle erleben (Buss, 1991). Eine Evolutionsperspektive kann auch zu bereits bekannten
Themen neue Einsichten beisteuern; dies la¤sst sich
am Beispiel der Fettleibigkeit illustrieren. Wie schon
erwa¤hnt, kann zuru¤ckliegender Nahrungsentzug zu
u¤berma¤igem Essen in der Zukunft fu¤hren. Die Evolutionspsychologie ha¤lt fu¤r dieses Pha¤nomen eine Interpretation bereit: Bis vor Kurzem -- gemessen an der
Geschichte der Menschheit -- erlebten Menschen
einen Nahrungsmangel nur dann, wenn die Nahrung
knapp war. Ein Anpassungsmechanismus fu¤r den Umgang mit Nahrungsknappheit besteht darin, so viel
wie mo¤glich zu essen, wenn gerade einmal Nahrung
vorhanden ist. Somit ko
¤nnte die Evolution diejenigen
Individuen begu¤nstigt haben, die dazu neigen, nach
Nahrungsentzug ¤uberma¤ig viel zu essen.
Kulturvergleichende Psychologie
Die wissenschaftliche Psychologie des Westens hat
oft die Annahme vertreten, dass Menschen kulturu¤bergreifend identische psychische Prozesse aufweisen. Diese Annahme wird durch Vertreter der kulturvergleichenden Psychologie mehr und mehr in Frage
gestellt. Dabei handelt es sich um ein interdisziplina¤res Wissenschaftsgebiet, mit dem sich Psychologen,
Anthropologen, Soziologen und andere Sozialwissenschaftler bescha¤ftigen. Die kulDie kulturvergleiturvergleichende Psychologie bechende Psychologie
fasst sich damit, wie sich die
befasst sich mit den
Kultur, in der jemand lebt (TradiEinflu¤ssen der Traditiotionen, Sprache und Weltsicht),
nen, Sprache und Weltauf die mentalen Repra¤sentatiosicht in der Lebenswelt
nen und die psychischen Proeines Menschen auf die
zesse dieser Person auswirkt.
mentalen Repra¤sentaDas folgende Beispiel soll
tionen und psychischen
dies illustrieren: In der westliProzesse.
chen Welt -- in Nordamerika
und in den meisten Teilen Nord- und Westeuropas
-- sehen wir uns selbst als separat und autonom Handelnde mit eigenen Fa¤higkeiten und Perso
¤nlichkeitszu¤gen. Im Gegensatz dazu betonen viele o¤stliche Kulturen -- beispielsweise in Indien, China und Japan -die Beziehungen und Verflechtungen zwischen Menschen und nicht ihre Individualita¤t. Daru¤ber hinaus
neigt man in der o
¤stlichen Welt dazu, sozialen Situationen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als im
Westen. Diese Unterschiede fu¤hren dazu, dass man
das Verhalten einer anderen Person in der o¤stlichen
Welt anders interpretiert als im Westen. Anstatt eine
Verhaltensweise auf stabile Perso¤nlichkeitseigenschaften zuru¤ckzufu¤hren, erkla¤rt sie ein Angeho
¤riger
¤stlicher Kulturen auch anhand der sozialen Situation,
o
in der sie aufgetreten ist (Nisbett et al., 2001). Dies
wiederum hat weit reichende Implikationen fu¤r die Zuschreibung von Perso¤nlichkeitseigenschaften (die wir
als Problembeispiel am Anfang dieses Kapitels angesprochen haben). Solche Unterschiede zwischen Ost
und West bei der Verhaltenserkla¤rung schlagen sich
auch in Erziehung und Ausbildung nieder. Auf Grund
der Betonung des Kollektivismus gegenu¤ber dem Individualismus arbeiten asiatische Schu¤ler ha¤ufiger zusammen als amerikanische Schu¤ler. Das Arbeiten und
Lernen in Gruppen ist sicher eine sinnvolle und nu¤tzliche Methode und mo¤glicherweise eine der Ursachen, warum asiatische Schu¤ler amerikanischen
Schu¤lern in Mathematik leistungsma¤ig ¤uberlegen
sind. Es kommt hinzu, dass einem amerikanischen
Schu¤ler, der Schwierigkeiten in Mathematik hat, diese
Schwierigkeiten sowohl von ihm selbst als auch von
seinem Lehrer seiner individuellen (Un-) Fa¤higkeit zugeschrieben werden. Hingegen ist es bei einem vergleichbaren Fall in einer japanischen Schule viel wahrscheinlicher, dass sich sowohl Schu¤ler als auch Lehrer bei der Erkla¤rung der schlechten Leistungen auf
die Situation beziehen, das heit auf die Interaktion
zwischen Schu¤ler und Lehrer im Kontext des Unterrichts (Stevenson, Lee & Graham, 1993).
Positive Psychologie
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Psychologie
-- insbesondere die Klinische Psychologie -- eine Wissenschaft, die sich der Heilung widmete. Sie u¤bernahm ein Krankheitsmodell der menschlichen Funktionen von der Medizin und zielte darauf ab, Pathologien zu beheben. Auch wenn dieser Blickwinkel immense Fortschritte fu¤r das Verstehen und die Behandlung psychischer Krankheiten hervorbrachte (siehe
die Kapitel 15 und 16), trug er wenig zu der Frage
bei, was das Leben lebenswert
Die Positive Psychomacht. Die Positive Psychologie
logie stellt einer an
entstand, um dem differenzierKrankheit und Heilung
ten wissenschaftlichen Verorientierten Psycholosta¤ndnis psychischer Krankheigie eine Psychologie
ten ein genauso differenziertes
des Wohlergehens gewissenschaftliches Versta¤ndnis
genu¤ber.
des menschlichen Wohlerge"
hens gegenu¤berzustellen (Selig-
22
man, 2002). Die Positive Psychologie teilt mit der fru¤heren humanistischen Psychologie das Thema der
Entwicklung hin zur Entfaltung des vollen Potenzials
eines Menschen; doch sie unterscheidet sich durch
den starken Ru¤ckgriff auf empirische Forschungsmethoden.
Die Positive Psychologie zielt auf psychische Pha¤nomene auf unterschiedlicher Ebene -- von der Untersuchung positiver subjektiver Erfahrungen wie
Glu¤ck und Optimismus ¤uber die Untersuchung positiver Perso¤nlichkeitszu¤ge wie Courage und Weisheit bis
zur Untersuchung positiver Institutionen (sozialer
Strukturen, welche zur Kultivierung der Zivilisation
beitragen und verantwortungsvolle Staatsbu¤rger hervorbringen; Seligman & Csikszentmihalyi, 2000). Ein
Beispiel fu¤r die Kombination der beiden ersten genannten Analyseebenen stammt aus den aktuellen
Forschungen u¤ber positive Emotionen (Kapitel 11).
Wa¤hrend negative Emotionen die Einscha¤tzung der
eigenen Handlungsmo¤glichkeiten einengen (zum
Beispiel Kampf oder Flucht), erwiesen sich positive
Emotionen als Erweiterung der menschlichen Vor-
Pa¤dagogische Psychologie und Schulpsychologie. Während an deutschen Schulen immer
seltener speziell qualifizierte Schulpsychologen
zu finden sind, arbeiten in den USA Schulpsychologen schon an vielen Grundschulen, da ernste
emotionale Probleme oft schon in den ersten
Schuljahren zu Tage treten. Diese Psychologen
sind speziell in Fragen der Kindesentwicklung,
der Erziehung und der KliniSchulpsychologen
schen Psychologie ausgebilarbeiten mit den
det. Schulpsychologen arbeipsychischen Problemen
ten mit den Kindern, um deund Lernschwierigren psychische Probleme
keiten von Kindern.
und
Lernschwierigkeiten
einzuschätzen und nach
Pa¤dagogische PsyMöglichkeit durch geeignete
chologen sind SpeziaInterventionen zu überwinlisten fu¤r Prozesse des
den. Pädagogische PsycholoLernens und Lehrens.
gen sind hingegen Spezialisten für Lernen und Lehren. Sie arbeiten zwar
auch an Schulen, aber häufiger an Universitäten
und Pädagogischen Hochschulen, wo sie beispielsweise Lehrmethoden erforschen und an
der Lehrerausbildung beteiligt sind.
1 Das Wesen der Psychologie
stellungspalette; sie ermutigen zur Entdeckung neuer
Denk- oder Handlungsmo¤glichkeiten. Freude beispielsweise erzeugt das Bedu¤rfnis zu spielen, und
Interesse erzeugt einen Erkundungsdrang. Ein zentrales Resultat dieser erweiterten Vorstellungsmo
¤glichkeiten besteht in der Zunahme an perso¤nlichen Ressourcen: Wenn ein Individuum neue Ideen und Handlungen entdeckt, baut es physische, intellektuelle,
soziale und psychische Ressourcen auf. Empirische
Untersuchungen unterstu¤tzen diese neue Theorie,
dass positive Emotionen ressourcenerweiternd und
-aufbauend wirken, indem sie zeigen, dass positive
Emotionen durch ihre denkerweiternden Wirkungen
Perso¤nlichkeitseigenschaften anregen, die fu¤r Entwicklungs- und Wachstumsprozesse vorteilhaft sind,
beispielsweise Resilienz und Optimismus (Fredrickson, 2001). Die Positive Psychologie vermittelt uns
also die Botschaft, dass es sich lohnt, positive Gefu¤hle
zu kultivieren -- nicht nur als Zielzustand an und fu¤r
sich, sondern auch als Mittel, um Prozesse hin zu psychischem Wachstum und Gedeihen auszulo¤sen.
Arbeits- und Organisationspsychologie. Organisationspsychologen (manchmal auch: Industriepsychologen)
arbeiten
typischerweise für ein Unter- Organisationspsychonehmen. Sie sind beispiels- logen sind an der Perweise mit der Personalaus- sonalauswahl oder der
strukturellen Entwickwahl befasst oder gestalten lung einer Organisation
Strukturen, die für Zusam- beteiligt.
menarbeit und Teamwork
günstig
sind.
Arbeitspsychologen
(auch:
Ingenieurpsychologen) versuchen, die Beziehung
zwischen Mensch und Maschine zu verbessern. Zum Arbeitspsychologen
Beispiel verbessern sie die versuchen, die Beziehung zwischen MenMensch-Maschine-Interaktischen und Maschinen
on, indem sie Maschinen ge- zu verbessern.
stalten, bei denen die Bedienungsfelder und die Kontrollvorrichtungen so
angeordnet und platziert werden, dass sie die
Arbeitsleistung, die Betriebssicherheit und den
Bedienungskomfort erhöhen.
23
Prinzipien psychologischer Forschung
zusammengefasst
Psychologischen Fragen kann man sich aus
unterschiedlichen Perspektiven na¤hern. Fu¤nf
derzeit aktuelle Perspektiven sind der biologische Ansatz, der verhaltensbezogene Ansatz,
der kognitive Ansatz, der psychoanalytische Ansatz und der konstruktivistische Ansatz.
Der biologische Ansatz unterscheidet sich von
den anderen Ansa¤tzen dahingehend, dass seine
Prinzipien zum Teil aus der Biologie stammen.
Biologische Forscher versuchen ha¤ufig, psychologische Prinzipien anhand biologischer Prinzipien zu erkla¤ren; dies bezeichnet man als Reduktionismus.
Die wichtigsten Teilgebiete der Psychologie sind
die Biologische Psychologie, die Allgemeine
Psychologie, die Entwicklungspsychologie, die
Sozial- und Perso¤nlichkeitspsychologie, die Klinische Psychologie, die Schulpsychologie, die
Pa¤dagogische Psychologie und die Arbeitsund Organisationspsychologie.
Viele neue Forschungsgebiete wie die kognitive
Neurowissenschaft (auch mit ihren affektiven
und sozialen Aspekten), die Evolutionspsychologie, die kulturvergleichende Psychologie und
die Positive Psychologie umfassen mehrere
der traditionellen Teilgebiete und Fachdisziplinen.
nachgefragt
1. Betrachten Sie die Frage: ÐWas sind die Determinanten fu¤r die sexuelle Orientierung eines
Menschen? Wie wu¤rden die verschiedenen
Ansa¤tze, die in diesem Kapitel skizziert wurden,
an diese Frage herangehen?
2. Viele der neueren Ansa¤tze in der Psychologie
des 21. Jahrhunderts (beschrieben im Exkurs
ÐForschung aktuell) fu¤hren unterschiedliche
Ansa¤tze integrativ zusammen oder fu¤llen vormals bestehende Lu¤cken. Welche weiteren
Neuerungen zeichnen sich am Horizont der
modernen Psychologie ab? Welche weiteren
Mo
¤glichkeiten wu¤rden Sie erwarten, wo sich
Ansa¤tze integrieren und bestehende Lu¤cken
fu¤llen lassen?
Prinzipien psychologischer
Forschung
Wir besitzen jetzt eine gewisse Vorstellung
davon, mit welchen Themen sich Psychologen
befassen und aus welchen Blickwinkeln sie dies
tun. Nun können wir uns den Forschungsstrategien zuwenden, die dabei zum Einsatz kommen.
Auf allgemeinster Ebene umfasst das Forschen
zwei Schritte: (1) das Aufstellen einer wissenschaftlichen Hypothese und (2) das Prüfen dieser
Hypothese.
Hypothesenbildung
Bei jedem Forschungsvorhaben besteht der erste
Schritt darin, zu der interessierenden Fragestellung eine Hypothese – eine überprüfbare Behauptung – zu formulieren. Eine Hypothese ist eine
Wenn wir uns beispielsweise pru¤fbare Behauptung.
mit der frühkindlichen Amnesie befassen, könnten wir die Hypothese aufstellen, dass man sich an Ereignisse aus der Kindheit besser erinnern kann, wenn man an den ursprünglichen Ort des Geschehens zurückkehrt.
Wie kommt ein Forscher zu einer solchen Hypothese? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort.
Ein scharfsinniger Beobachter alltäglicher Situationen ist dabei vielleicht im Vorteil. So könnte
einem zum Beispiel auffallen, dass man sich an
seine Gymnasialzeit besser erinnert, wenn man
sich in der Stadt befindet, in der man zur Schule
ging. Diese Beobachtung mag dann zu der erwähnten Hypothese führen. Hilfreich ist auch,
wenn man sich in der relevanten Fachliteratur,
das heißt in den schon vorliegenden Büchern
und Aufsätzen über das jeweilige Interessengebiet, gut auskennt.
Die wichtigste Quelle für eine wissenschaftliche Hypothese ist jedoch nicht selten eine
wissenschaftliche Theorie. Eine Theorie ist eine
zusammenhängende Menge
von Aussagen über ein Eine Theorie ist eine
bestimmtes Phänomen. Bei- zusammenha¤ngende
spielsweise nimmt eine Menge von Aussagen
Theorie der sexuellen Orien- u¤ber ein bestimmtes
Pha¤nomen.
tierung (siehe Kapitel 10) an,
1
24
1 Das Wesen der Psychologie
dass es eine genetische Veranlagung für
Heterosexualität oder Homosexualität gibt.
Dies führt zu der prüfbaren wissenschaftlichen
Hypothese, dass eineiige Zwillinge – die identische Gene besitzen – mit höherer Wahrscheinlichkeit dieselbe sexuelle Orientierung aufweisen
sollten als zweieiige Zwillinge, bei denen nur etwa
die Hälfte ihrer Gene übereinstimmt. Eine konkurrierende Theorie hebt dagegen Erlebnisse in
der Kindheit als Quelle der sexuellen Orientierung hervor. Daraus resultieren alternative Hypothesen, die sich ebenfalls prüfen lassen. Es wird
sich im Verlauf des Buches zeigen, dass die Prüfung von Hypothesen, die aus konkurrierenden
Theorien abgeleitet wurden, zu den stärksten
Mitteln wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns
gehört.
Der Ausdruck „wissenschaftlich“ bedeutet in
diesem Zusammenhang, dass die Daten mit Forschungsmethoden erhoben
Wissenschaftliche
wurden, die (a) unvoreinForschungsmethoden
genommen sind, also nicht
sind unvoreingenomvon vornherein eine der Hymen und zuverla¤ssig.
pothesen bevorzugen, und
(b) zuverlässig (reliabel) sind, so dass die Beobachtungen zu einem anderen Zeitpunkt beziehungsweise von (qualifizierten) Dritten wiederholt werden können und zu denselben Ergebnissen führen. Die im Folgenden behandelten
Methoden besitzen diese beiden Kennzeichen.
Jede Methode lässt sich unter jedem der dargestellten psychologischen Beschreibungs- und
Erklärungsansätze verwenden, wobei allerdings
einige Methoden für bestimmte Ansätze besser
geeignet sind als andere.
Experimente
Die aussagekräftigste wissenschaftliche Methode
ist das Experiment. Experimente erlauben die
stärksten Prüfungen von Ursache-Wirkungs-HypotheExperimente erlauben
sen. Dabei werden die Rand-- unter sorgfa¤ltig konbedingungen – oft in einem
trollierten Untersuchungsbedingungen -Labor – sorgfältig kontroldie Pru¤fung von Hypoliert und Messungen vorgethesen u¤ber ursa¤chliche nommen, um die kausalen
Beziehungen zwischen
Beziehungen zwischen VaVariablen.
riablen aufzudecken. Eine
Variable ist eine Größe, die unterschiedliche
Werte annehmen kann (siehe Übersichtstabelle).
So mag in einem Experiment
Eine Variable ist eine
untersucht werden, ob die Gro¤e, die unterschiedSchlafdauer Gedächtnisver- liche Werte annehmen
änderungen verursacht (also kann.
beispielsweise, ob man Kindheitserlebnisse bei Schlafmangel schlechter erinnern kann). Falls das Experiment zeigt, dass sich
die Gedächtnisleistung systematisch mit der
Schlafdauer verändert, kann man von einer gesicherten kausalen Beziehung zwischen diesen beiden Variablen ausgehen.
Die Methode des Experiments unterscheidet
sich von anderen Methoden der wissenschaftlichen Beobachtung dadurch, dass man eine Variable präzise kontrollieren kann. Besteht die zu
prüfende Hypothese beispielsweise darin, dass
Personen bei einer Mathematikaufgabe bessere
Leistungen erbringen, wenn ihnen mehr Geld
für gute Leistungen geboten wird, kann der Experimentator die Teilnehmer nach Zufall einer
von drei Bedingungen zuweisen: Einer Gruppe
wird gesagt, dass jeder für gute Leistungen
zehn Euro bekommt; die zweite Gruppe bekommt für gute Leistungen fünf Euro; die dritte
Gruppe bekommt für ihre Leistungen kein Geld.
Dann werden die tatsächlichen Leistungen aller
drei Gruppen gemessen und miteinander verglichen. Auf diese Weise lässt sich erkennen, ob
mehr Geld ( = die Ursache gemäß der Hypothese)
tatsächlich zu besseren Leistungen ( = die Wirkung gemäß der Hypothese) führt.
Bei diesem Experiment ist das angebotene
Geld die unabhängige Variable, weil ihre Ausprägungen nicht davon abhängen, was die Versuchsteilnehmer tun. Tatsächlich wird die unabhängi- Die Auspra¤gungen der
unabha¤ngigen Variabge Variable vom Versuchs- len sind unabha¤ngig
leiter völlig kontrolliert, in- vom Verhalten der Verdem ihre Ausprägungen will- suchsteilnehmer; sie
kürlich hergestellt werden. In werden vom Versuchseinem Experiment stellt die leiter gesetzt.
unabhängige Variable gemäß
der überprüften Hypothese Die Auspra¤gungen der
die „Ursache“ dar. Die ge- abha¤ngigen Variablen
mäß der Hypothese erwar- sind die gemessenen
tete „Wirkung“ in einem Leistungen der TeilnehExperiment zeigt sich auf mer; sie ha¤ngen von den
der abhängigen Variable; von gesetzten Bedingungen
ihr wird angenommen, dass ab.
Prinzipien psychologischer Forschung
¤ berblick
Konzepte im U
Die Terminologie experimenteller Forschung.
Hypothese
Eine u¤berpru¤fbare Behauptung
u¤ber Ursache und Wirkung.
Experiment
Die Pru¤fung einer UrsacheWirkungs-Hypothese unter stark
kontrollierten Bedingungen.
Variable
Eine messbare Gro¤e, die verschiedene Werte (Auspra¤gungen)
annehmen kann.
Unabha¤ngige
Variable
Eine Variable, die fu¤r die angenommene Ursache steht; ihre
Auspra¤gungen werden vom Versuchsleiter exakt kontrolliert und
sind unabha¤ngig davon, was die
Versuchsteilnehmer tun.
Abha
¤ngige
Variable
Eine Variable, die fu¤r die angenommene Wirkung steht; ihre
Werte ha¤ngen letztlich von den
Auspra¤gungen der unabha¤ngigen
Variable ab.
Experimentalgruppe
Eine Untersuchungsgruppe, in
der die angenommene Ursache
vorliegt.
Kontrollgruppe
Eine Untersuchungsgruppe, in
der die angenommene Ursache
nicht vorliegt.
Randomisierung
Ein System fu¤r die Zuweisung
der Teilnehmer zu Experimentalund Kontrollgruppen, bei dem
jeder Proband dieselbe Chance
besitzt, jeder der Gruppen zugewiesen zu werden.
Messung
Ein System fu¤r die Zuordnung
von Zahlenwerten zu den
verschiedenen Auspra¤gungen
(Werten) von Variablen.
Statistik
Mathematische Verfahren fu¤r
die Bestimmung der Gewissheit
(oder Wahrscheinlichkeit), mit
der sich aus einer Datenstichprobe
Schlu¤sse oder Verallgemeinerungen ziehen lassen.
25
sie von der jeweiligen Ausprägung der unabhängigen Variable abhängt. Im vorliegenden Beispiel
ist die abhängige Variable die Leistung bei den
Mathematikaufgaben. Der Versuchsleiter manipuliert (setzt, verändert) die unabhängige Variable und beobachtet die abhängige Variable, um
den Ausgang des Experiments in Erfahrung zu
bringen. Die abhängige Variable ergibt sich fast
immer aus der Messung eines Verhaltensaspekts
der Teilnehmer. Man verwendet häufig den Ausdruck „ist eine Funktion von“, um die Abhängigkeit der einen Variable von der anderen zu kennzeichnen. Im Falle des Experimentalbeispiels
könnte man sagen, dass die Leistung der Teilnehmer bei den Mathematikaufgaben eine Funktion
der Geldsumme ist, die ihnen angeboten wurde.
Die beiden Gruppen, denen Geld angeboten
wurde, wären die Experimentalgruppen; in ihnen
liegt die angenommene Ursache vor. Die Gruppe ohne In der ExperimentalGeldangebot wäre die Kon- gruppe liegt die angenommene Ursache fu¤r
trollgruppe; hier ist die ange- das gemessene Verhalnommene Ursache nicht ge- ten vor.
geben. Im Allgemeinen dient
die Kontrollgruppe als StanIn der Kontrollgruppe
dardbedingung, mit der die
liegt die angenommene
Experimentalgruppen vergli- Ursache nicht vor; sie
chen werden können.
dient als VergleichsEin wichtiges Kennzei- oder Standardbedinchen des gerade beschriebe- gung.
nen Experiments besteht darin, dass die Teilnehmer den Bedingungen nach
Zufall zugewiesen werden. Dieses Verfahren
heißt Randomisierung ; es bedeutet, dass jeder Teilneh- Randomisierung bedeutet eine Zufallsvermer mit gleicher Wahrteilung der Teilnehmer
scheinlichkeit der einen auf die Versuchsbedinoder einer anderen Bedin- gungen.
gung zugewiesen werden
kann. Ohne die randomisierte Zuweisung der
Probanden zu den Bedingungen könnte der Experimentator nicht sicher sein, ob die Unterschiede zwischen den Bedingungen nicht auch durch
etwas anderes als die jeweilige Ausprägung der
unabhängigen Variable hervorgerufen wurden.
So sollte man die Teilnehmer niemals selbst wählen lassen, welcher Gruppe sie angehören wollen.
Die meisten Probanden würden wohl am liebsten
in der höchstbezahlten Gruppe sein. Es kann aber
auch Personen geben, die unter Druck nervös
werden und sich deshalb die ungezwungene, le-
1
26
gere Gruppe ohne Bezahlung aussuchen. So oder
so entsteht dann das Problem, dass die Gruppen
aus Personen mit systematisch unterschiedlichen
Eigenschaften zusammengesetzt sind, so dass für
mögliche Leistungsunterschiede zwischen den
Gruppen nicht mehr die Höhe der angebotenen
Geldsumme, sondern die Persönlichkeit der Probanden ursächlich sein könnte. Oder man nehme
an, dass der Experimentator zuerst die bezahlten
Gruppen testet und danach die Gruppe ohne Bezahlung. Daraus könnten vielfältige Probleme resultieren. Vielleicht variiert die Leistung als Funktion der Tageszeit (morgens, mittags, abends);
oder diejenigen Studenten, die erst gegen Ende
des Experiments teilnehmen, stehen – anders
als die Studenten zu Beginn des Experiments –
kurz vor einem Examenstermin. Über diese unkontrollierten Variablen hinaus können noch
viele weitere verzerrende Einflussgrößen auf
das Ergebnis bestehen, deren sich der Versuchsleiter nicht bewusst ist. Alle derartigen Probleme
lassen sich beheben, indem man die Teilnehmer
den Experimentalbedingungen per Zufall zuweist. Nur nach einer Randomisierung kann
man sicher sein, dass alle untersuchungsfremden
Variablen – die Persönlichkeit der Probanden,
die Tageszeit, der Zeitpunkt im laufenden Semester – in allen Bedingungen gleichermaßen ausgeprägt sind und deshalb wahrscheinlich keine
systematischen Ergebnisverzerrungen hervorrufen. Die zufällige Zuweisung von Probanden zu
Bedingungen ist der wichtigste Bestandteil eines
Experiments.
Die Methode des Experiments kann auch außerhalb des Labors zum Einsatz kommen. Bei der
Erforschung der Fettleibigkeit zum Beispiel lassen
sich die Effekte verschiedener Methoden zur Gewichtskontrolle untersuchen, indem man die
Methoden an getrennten, aber ähnlich zusammengesetzten Gruppen übergewichtiger Personen testet. Die Experimentalmethodik ist eine
Frage der Logik, nicht notwendigerweise der Laborumgebung. Gleichwohl finden die meisten
Experimente im Labor statt, vor allem weil es
in einer Laborumgebung möglich ist, Verhalten
präziser zu messen und die beteiligten Variablen
umfassender zu kontrollieren. Und wiederum
spielt oft die Randomisierung eine entscheidende
Rolle: Wenn in zwei Kliniken Übergewicht mit
unterschiedlichen Methoden behandelt wird
und damit unterschiedliche Ergebnisse erzielt
1 Das Wesen der Psychologie
werden, kann daraus nicht zuverlässig geschlossen werden, dass die verschiedenen Gewichtsreduktionsmethoden der maßgebliche Faktor
sind. Vielleicht sind die Kliniken mit ihren
spezifischen Angeboten und Gewichtsreduktionsprogrammen für jeweils verschiedene Personenkreise attraktiv oder haben unterschiedliche
Auswahlkriterien für ihre Mitarbeiter.
In den bislang skizzierten Experimenten
wurde der Effekt einer unabhängigen Variable
auf eine abhängige Variable untersucht. Manche
Fragestellungen würden jedoch zu sehr eingeschränkt, bliebe die Untersuchung auf eine
einzige unabhängige Variable begrenzt. Deshalb
kommen in der psychologischen Forschung
häufig multivariate Experimente zum Einsatz,
bei denen mehrere unabhängige Variablen
gleichzeitig manipuliert werden. So könnte in der fikti- In multivariaten Exven Untersuchung zum Ein- perimenten werden
mehrere unabha¤ngige
fluss von Geldsummen auf Variablen gleichzeitig
die Bearbeitung von Mathe- manipuliert.
matikaufgaben etwa auch
der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben variiert
werden. Damit ergäben sich sechs Teilnehmergruppen, bei denen jeweils eine der drei Geldbedingungen mit einem von zwei Schwierigkeitsgraden der zu bewältigenden Anforderung (leichte versus schwierige Mathematikaufgaben) kombiniert wäre.
Messung. Beim Experimentieren ist es oft notwendig, Aussagen über Ausmaße, Größen, Anteile oder Häufigkeiten zu treffen. Manchmal lassen
sich Variablen direkt in physikalischen Größen
messen – zum Beispiel die Anzahl der Stunden
mit Schlafentzug oder die Dosierung eines Medikaments. In anderen Fällen können Variablen
nur so skaliert werden, dass ihre Ausprägungen
eine Rangreihe bilden. Bei der Einschätzung
der aggressiven Gefühle eines Patienten könnte
ein Therapeut beispielsweise eine Fünf-PunkteSkala verwenden, die von „nie“ über „selten“,
„manchmal“ und „oft“ bis zu „immer“ reicht.
Zum Zweck der präzisen
Mitteilung von Ergebnissen Messung ist ein systeerfordern Experimente somit matisches Verfahren,
eine Form der Messung – ein mit dem den Auspra¤System, mit dem den Aus- gungen von Variablen
prägungen von Variablen Werte zugeordnet werden.
Werte zugeordnet werden.
27
Prinzipien psychologischer Forschung
In Experimenten werden meistens an mehreren
Personen Messungen durchgeführt und nicht
nur an einer. Deshalb bestehen die Ergebnisdaten aus einer Menge von Zahlenwerten, die
zusammengefasst und interpretiert werden
können. Für diese Aufgabe benötigt man die
Statistik – sie befasst sich damit, wie man aus
einer Population von IndiviDie Statistik erlaubt
duen Datenstichproben erRu¤ckschlu¤sse von Dahebt und daraus Rücktenstichproben auf die
schlüsse auf die gesamte PoGesamtpopulation.
pulation zieht. Statistik spielt
nicht nur bei der experimentellen Forschung,
sondern auch bei anderen Methoden eine
wichtige Rolle.3 Die geläufigste Statistik ist das
arithmetische Mittel – so lautet der Fachausdruck
für den Durchschnitt oder
Das arithmetische
Mittelwert, der als Summe
Mittel (der Durcheiner Menge von Messwerschnittswert) berechnet
ten, geteilt durch die Anzahl
sich als Summe einer
der Messwerte, berechnet
Messwertreihe, geteilt
wird. In Untersuchungen
durch die Anzahl der
mit einer ExperimentalMesswerte.
und einer Kontrollgruppe
müssen zwei Mittelwerte verglichen werden:
der Mittelwert der Messwerte bei den Teilnehmern der Experimentalgruppe und der entsprechende Mittelwert für die Kontrollgruppe.
Natürlich ist es der Unterschied zwischen diesen
beiden Mittelwerten, der den experimentellen
Forscher interessiert. Ist dieser Unterschied
groß, würde man ihn vielleicht ohne weitere
Prüfung gelten lassen. Aber was ist bei einem
kleinen Mittelwertsunterschied? Sind die verwendeten Maße vielleicht fehlerbehaftet? Sind vielleicht nur ein paar wenige Extremfälle (sogenannte Ausreißerwerte, die den Bereich, in
dem die meisten Messwerte liegen, auffällig
über- oder unterschreiten) für den Unterschied
verantwortlich? Solche Fragen beantwortet die
Statistik dadurch, dass sie Tests entwickelt hat,
mit denen sich die statistische Bedeutsamkeit –
die Signifikanz – eines Mittelwertunterschieds
bestimmen lässt. Wenn es heißt, der Unterschied
zwischen der Experimentalgruppe und der Kon-
3
Die Ero¤rterung an dieser Stelle soll in die experimentellen
Werkzeuge der Messung und Statistik lediglich einfu¤hren.
Eine eingehendere Darstellung findet sich im Anhang.
trollgruppe sei statistisch Statistische Signifisignifikant, so bedeutet dies, kanz nach Anwendung
dass ein statistischer Test eines statistischen
auf die Daten angewandt Tests bedeutet, dass ein
wurde, wonach es unwahr- beobachteter Unterscheinlich ist, dass der beob- schied nicht nur durch
achtete Unterschied nur Zufall zustande gekommen ist.
durch Zufall oder auf Grund
einiger weniger Extremfälle zustande kam.
Korrelation
Nicht alle Fragestellungen lassen sich ohne weiteres experimentell untersuchen. In vielen Situationen hat der Untersuchende keine Kontrolle darüber, welche Teilnehmer sich in der einen oder der
anderen Bedingung befinden. Wenn wir beispielsweise die Hypothese prüfen wollen, dass
Menschen, die an Magersucht leiden, Geschmacksveränderungen stärker empfinden als
Normalgewichtige, können wir nicht eine Gruppe Normalgewichtiger auswählen und von der
Hälfte verlangen, sie möge eine Essstörung ausbilden! Vielmehr wählen wir Probanden aus,
die bereits magersüchtig beziehungsweise normalgewichtig sind, und schauen, ob sie sich
auch in ihrer Geschmacksempfindlichkeit unterscheiden. In verallgemeinerter Form heißt das:
Man kann die Korrelationsmethode einsetzen,
um zu bestimmen, ob eine beliebige Variable,
die nicht unter unserer Kontrolle steht, mit einer
anderen interessierenden Variable korreliert, das
heißt in Beziehung steht.
In dem Gewichtsbeispiel hatte die Variable
nur zwei Ausprägungen: magersüchtig und normalgewichtig. Üblicherweise besitzt jede Variable
jedoch viele Ausprägungen, und man bestimmt
das Ausmaß, in dem die Werte der einen Variable
mit den Werten der anderen Variable zusammenhängen. Dies erreicht man mit dem Korrelationskoeffizienten, einem deskriptiven statistischen
Maß. Der Korrelationskoeffizient wird mit „r“ bezeich- Der Korrelationskoefnet; er schätzt das Ausmaß fizient scha¤tzt das
des Zusammenhangs zwi- Ausma des Zusammenhangs zwischen
schen zwei Variablen und zwei Variablen.
wird als Zahl zwischen – 1
und +1 angegeben. Im (eher seltenen) Falle eines
maximalen Zusammenhangs zwischen zwei Va-
1
28
riablen nimmt r den Wert j1j an (+1 bei einem
positiven und – 1 bei einem negativen Zusammenhang). Wenn zwischen zwei Variablen kein
Zusammenhang besteht, ergibt die Korrelation
den Wert 0. Von 0 bis 1 (beziehungsweise von
0 bis – 1) erhöht sich die Stärke des Zusammenhangs.
Wie schon angeführt, kann eine Korrelation
positiv oder negativ sein. Das Vorzeichen der
Korrelation (+ oder – ) gibt an, ob die Werte
der beiden Variablen gemeinsam größer oder
kleiner werden ( = positive Korrelation) oder ob
sich der Wert der einen Variable erhöht, wenn
sich der Wert der anderen
Bei positiver KorreVariable verringert ( = negalation zwischen zwei
tive Korrelation). Zum BeiVariablen werden ihre
spiel möge die Anzahl der
Werte gemeinsam
Fehlstunden eines Schülers
gro
¤er oder kleiner.
im Unterricht mit seiner AbBei negativer Korreschlussnote mit r = – .40 korlation erho¤ht sich der
relieren (je mehr AbwesenWert der einen Variable, heit,
desto
schlechtere
wenn sich der Wert der
Note). Umgekehrt betrage
anderen verringert.
die Korrelation zwischen
der Anzahl der besuchten
Stunden und der Endnote r = +.40. Die Stärke
des Zusammenhangs ist in beiden Fällen identisch; das Vorzeichen hängt davon ab, ob wir
die Fehlzeiten oder die Anwesenheitszeiten betrachten.4
Um sich ein klareres Bild von Korrelationskoeffizienten zu verschaffen, betrachte man die hypothetische Untersuchung in Abbildung 1.6. Abbildungsteil (a) zeigt die Ergebnisse einer Untersuchung an zehn Patienten mit einer spezifischen
Hirnschädigung, die das Gesichtererkennen beeinträchtigt (Prosopagnosie). Dabei interessiert,
ob das Ausmaß des Defizits beim Gesichtererkennen, also die Fehlerzahl, mit der Menge des zerstörten Hirngewebes anwächst. Jeder Punkt in
der Graphik steht für den prozentualen Fehleranteil eines Patienten bei einem Gesichtererkennungstest. Beispielsweise hatte ein Patient mit
zehn Prozent Schädigung der kritischen Hirnregionen in diesem Test eine Fehlerquote von 15
Prozent; ein anderer Patient mit 55 Prozent geschädigtem Gewebe zeigte eine Fehlerrate von
4
Die numerische Methode zur Berechnung des Korrelationskoeffizienten wird im Anhang beschrieben.
1 Das Wesen der Psychologie
75 Prozent. Falls die Fehleranzahl beim Gesichtererkennen immer mit zunehmendem Ausmaß
der Hirnschädigung ansteigt, müssten die
Punkte in der Graphik von links nach rechts
auf der Abszisse stetig höhere Ordinaten-Werte
annehmen. Würden alle Punkte auf der Diagonalen liegen, betrüge die Korrelation r = 1.0.
In diesem Fall läge ein maximaler positiver Zusammenhang zwischen beiden Variablen vor.
Aus der Abbildung ist jedoch ersichtlich, dass
einige Punkte von der Diagonalen abweichen.
Die Korrelation beträgt etwa .90. Eine so hohe
Korrelation zeigt an, dass zwischen dem Ausmaß
der Hirnschädigung und der Fehlerrate beim
Gesichtererkennen ein sehr starker Zusammenhang besteht. Die Korrelation in Abbildung 1.6
(a) ist positiv, das heißt, mit zunehmender Schädigung der kritischen Hirnregion gehen mehr
Fehler einher.
Wenn man sich nicht auf die Fehler konzentriert, sondern den Anteil korrekter Reaktionen
beim Gesichtererkennungstest abträgt, erhält
man das Diagramm in Abbildung 1.6 (b). Jetzt
ist die Korrelation negativ (etwa – .90), weil
weniger korrekte Antworten mit einem größeren
Ausmaß an Hirnschädigung einhergehen. Die
Diagonale in 1.6 (b) ist einfach die Umkehrung
der Diagonalen in 1.6 (a).
Zum Schluss betrachten wir noch Abbildung
1.6 (c). Hier sind die Fehler im Gesichtererkennungstest als Funktion der Körpergröße der
Patienten abgetragen. Natürlich gibt es keinen
Grund, warum zwischen Körpergröße und Gesichtererkennung ein Zusammenhang bestehen
sollte, und dies zeigt sich auch in der Graphik.
Steigenden Werten auf der Abszisse sind weder
kontinuierlich steigende noch kontinuierlich
fallende Ordinaten-Werte zugeordnet. Die Ordinaten-Werte oszillieren hingegen um eine waagerechte Gerade. Die Korrelation beträgt in diesem
Fall 0.
In der psychologischen Forschung wird ein
Korrelationskoeffizient von .60 oder größer als
recht hoher Zusammenhang angesehen. Korrelationen im Bereich von .20 bis .60 sind für Theorie
und Praxis bedeutsam und können für Vorhersagen genutzt werden. Korrelationen zwischen
0 und .20 müssen mit Vorsicht betrachtet werden; für Vorhersagen sind sie nur von minimalem Nutzen.
29
Prinzipien psychologischer Forschung
(b) Negative Korrelation
(a) Positive Korrelation
100
Korrekte Antworten beim Gesichtererkennen
(Prozent)
Fehler beim Gesichtererkennen (Prozent)
100
80
60
40
20
0
0
10
20
30
40
50
60
Anteil der Hirnschädigung
in kritischen Regionen (Prozent)
(c) Nullkorrelation
Fehler beim Gesichtererkennen (Prozent)
100
80
1
80
60
40
20
0
0
10
20
30
40
50
60
Anteil der Hirnschädigung
in kritischen Regionen (Prozent)
a) Die Patienten sind auf der Abszisse nach dem Ausma ihrer Hirnscha¤digung angeordnet, wobei der Patient, der durch den Punkt ganz links abgebildet ist,
den geringsten Anteil an gescha¤digtem Gewebe (10
Prozent) und der Patient, der durch den Punkt ganz
rechts abgebildet ist, den ho
¤chsten Anteil (55 Prozent)
aufweist. Der Ordinaten-Wert jedes Punktes steht fu¤r
den Testwert des jeweiligen Patienten in einem Test
zum Gesichtererkennen. Die Korrelation ist positiv
mit r = .90.
60
b) Dieselben Daten, aber jetzt als prozentualer Anteil
korrekter Antworten (und nicht, wie zuvor, als Fehlerrate). Nun ist die Korrelation negativ mit -- .90.
40
c) Die Leistung im Gesichtererkennungstest als Funktion der Ko
¤rpergro¤e der Patienten. Hier betra¤gt die Korrelation 0.
20
0
64
66
68
70
72
Größe des Patienten
(in Inches)
Abb. 1.6 Diagramme zur Illustration der Korrelation. Diese hypothetischen Daten beruhen auf zehn
Patienten mit Scha¤digungen in den Regionen des Gehirns, die am Erkennen von Gesichtern beteiligt sind.
30
Tests. Üblicherweise wird die Korrelationsmethode bei Tests eingesetzt, mit denen Begabungen, Leistungen oder andere psychologische
Merkmale (beispielsweise die Fähigkeit zum
Gesichtererkennen) gemesEin Test bietet eine
sen werden. Ein Test bietet
einheitliche Situation
für eine Gruppe von Persofu¤r eine Gruppe von
nen, die sich in einer beProbanden mit unterstimmten Eigenschaft unterschiedlichen Eigenscheiden (Ausmaß an Hirnschaftsauspra¤gungen.
schädigung, mathematische
Fähigkeiten, manuelle Geschicklichkeit oder Aggression), eine einheitliche, standardisierte Situation. Unterschiede der beim Test erreichten
Punktwerte können mit Unterschieden bei einer
anderen Variablen korreliert werden. Zum Beispiel kann man den Punktwert in einem mathematischen Fähigkeitstest mit späteren Zeugnisnoten in Mathematik korrelieren. Ist die Korrelation
hoch, kann man die Testwerte heranziehen, um
aus einer neuen Schülergruppe diejenigen auszuwählen, die einem speziellen Förderkurs (oder
aber einem Fortgeschrittenenkurs) zugewiesen
werden.
Korrelation und Kausalita¤t. Zwischen experimentellen Untersuchungen und Korrelationsstudien besteht ein gravierender Unterschied. In
einem typischen Experiment wird eine Variable
(die unabhängige Variable) systematisch manipuliert, um ihren ursächlichen (kausalen) Effekt
auf eine andere Variable (die abhängige Variable)
zu bestimmen. Solche Beziehungen zwischen Ursache und Effekt lassen sich aus Korrelationsstudien nicht ableiten.
Zum Beispiel haben Untersuchungen gezeigt,
dass Jungen umso aggressiver sind, je mehr Gewaltdarstellungen sie im Fernsehen sehen. Aber
verursacht der Gewaltkonsum im Fernsehen die
Aggression, oder schauen aggressive Jungen
mehr Gewaltsendungen? Wenn wir nur den
korrelativen Zusammenhang kennen, können
wir nicht sagen, welche Variable die Ursache
und welche Variable die Folge ist. (An früherer
Stelle wurde jedoch schon erwähnt, dass in anderen Untersuchungen auch ein kausaler Zusammenhang zwischen Gewaltkonsum im Fernsehen
und aggressiven Verhaltenstendenzen nachgewiesen wurde. Dort konnten die Forscher die unabhängige Variable kontrollieren und die Teilnehmer den Bedingungen randomisiert zuweisen.)
1 Das Wesen der Psychologie
Zwei Variablen können auch korreliert sein,
ohne dass überhaupt eine die andere verursacht.
Zum Beispiel wurde schon viele Jahre, bevor
sorgfältige medizinische Experimente nachwiesen, dass Rauchen tatsächlich Krebs erzeugt,
eine Korrelation zwischen Rauchen und Lungenkrebs nachgewiesen. Das heißt, man wusste bereits, dass Raucher mit größerer Wahrscheinlichkeit an Krebs erkranken als Nichtraucher. Doch
ließ diese Korrelation die Möglichkeit offen, dass
irgendeine dritte Variable diesen Zusammenhang
verursacht – und die Tabakindustrie wurde nicht
müde, auf diese Möglichkeit hinzuweisen. Wenn
beispielsweise Menschen, die in versmogten städtischen Gebieten wohnen, häufiger Raucher sind
als Menschen aus ländlichen Gegenden mit sauberer Luft, könnte die stärkere Luftverschmutzung für die höhere Krebsrate bei Rauchern verantwortlich sein und nicht das Rauchen selbst.
Kurzum: Wenn zwei Variablen korreliert sind,
kann die Variation der einen möglicherweise die
Ursache für die Variation der anderen sein. Ein
korrelativer Zusammenhang ist sogar eine Voraussetzung für eine Verursachungsbeziehung.
Ohne weitere Experimente ist ein solcher Kausalschluss aus Korrelationsstudien jedoch nicht gerechtfertigt, weil Korrelation eben nicht notwendigerweise auch Kausalität impliziert.
Beobachtung
Direkte Beobachtung. In einem frühen Untersuchungsstadium kommt man einer Phänomenerklärung am ehesten dadurch näher, dass man
das Phänomen in seinem natürlichen Auftreten
einfach direkt beobachtet. Die sorgfältige Beobachtung menschlichen und tierischen Verhaltens
bildet den Ausgangspunkt
für einen Großteil psycholo- Direkte Beobachtung
richtet sich auf ein
gischer Forschungen. Zum Pha¤nomen in seinem
Beispiel vermittelt uns die natu¤rlichen Auftreten.
Beobachtung von Primaten
in ihrer natürlichen Lebensumgebung Aufschlüsse über ihre soziale Organisation. Diese
Kenntnisse sind dann bei späteren Laboruntersuchungen von Nutzen. Filmaufzeichnungen von
Neugeborenen bringen Details ihrer Aktivität
gleich nach der Geburt zu Tage und zeigen, auf
welche Art von Reizen sie reagieren. Allerdings
Prinzipien psychologischer Forschung
bedarf es eines speziellen Trainings, um natürlich
auftretendes Verhalten akkurat beobachten und
aufzeichnen zu können, ohne dass eigene Voreingenommenheiten die Beobachtungsberichte
verzerren oder beeinträchtigen.
Beobachtungsmethoden können natürlich
auch im Labor eingesetzt werden. Sofern der
untersuchte Verhaltensbereich durch die Herauslösung aus seiner natürlichen Umgebung stark
beeinträchtigt zu werden droht, kann man sich
beispielsweise auf die Beobachtung seiner biologischen Komponenten konzentrieren. So entwickelten William Masters und Virginia Johnson
in ihrer klassischen Untersuchung zu den physiologischen Aspekten der menschlichen Sexualität
(1966) eigene Techniken, um sexuelle Reaktionen im Labor direkt zu beobachten. Ihre Daten
umfassten (1) Verhaltensbeobachtungen, (2)
Aufzeichnungen physiologischer Veränderungen
und (3) Antworten auf Fragen zu den Empfindungen der Teilnehmer vor, während und nach
sexueller Stimulation. Zwar stimmen die Forscher darin überein, dass die Sexualität des Menschen neben dem biologischen Aspekt noch viele
andere Dimensionen besitzt, doch erwiesen sich
die Beobachtungen der anatomischen und physiologischen Aspekte sexueller Reaktionen als
außerordentlich hilfreich, um das Wesen der
menschlichen Sexualität besser zu verstehen
und um sexuelle Probleme und Schwierigkeiten
zu behandeln.
Befragung. Manche Fragestellungen, die sich
durch direkte Beobachtung nur schlecht untersuchen lassen, kann man auf dem Wege indirekter Beobachtung untersuchen, und zwar
mit Hilfe von Fragebögen und Interviews. Man
beobachtet die Menschen also nicht bei einem
bestimmten Verhalten, so wie sie es normalerweise ausführen. Vielmehr fragen Forscher die
Menschen einfach, ob das in Frage stehende
Verhalten auf sie zutrifft. Diese Methode der
Befragung ist für Verzerrungen jedoch anfälliger
als die direkte Beobachtung. Beispielsweise versuchen Menschen zuweilen, in einem günstigeren
Licht zu erscheinen, als es der Realität entspricht;
man nennt dies die Tendenz
Bei Methoden der Bezur sozialen Erwünschtheit.
fragung geben PersoSo geben sie beispielsweise
nen Ausku¤nfte ¤uber ihr
an, mehr Sport zu treiben,
Verhalten.
als sie es tatsächlich tun.
31
Dennoch haben Befra- Die Tendenz zur sogungsmethoden wichti- zialen Erwu¤nschtheit
ge Erkenntnisse vermit- bringt manche Mentelt. Bevor beispielsweise schen dazu, sich durch
Masters und Johnson ihre Selbstausku¤nfte in
ihre Forschungen über ein gu¤nstiges Licht zu
die sexuellen Reaktionen setzen.
des Menschen durchgeführt hatten, stammte der größte Teil der verfügbaren Information über das reale menschliche
Sexualverhalten (im Gegensatz zu den Verhaltensmaßgaben durch Gesetze, Religion und gesellschaftliche Normen und Konventionen) aus
umfangreichen Umfragen, die Alfred Kinsey
und seine Kollegen 20 Jahre zuvor erhoben hatten. Tausende von Interviews wurden für die
beiden Pionierarbeiten ausgewertet, die 1967 unter den Titeln Das sexuelle Verhalten des Mannes
und Das sexuelle Verhalten der Frau auch auf
Deutsch erschienen sind (Original: Sexual behavior in the human male; Kinsey, Pomeroy &
Martin, 1948; Sexual behavior in the human
female, Kinsey, Pomeroy, Martin & Gebhard,
1953).
Umfragen wurden auch eingesetzt, um etwas
über die politischen Einstellungen von Menschen, ihre Produktpräferenzen, ihre Bedürfnisse
bei der Gesundheitsvorsorge oder Ähnliches herauszufinden. In Deutschland beruht beispielsweise der von den Kommunen regelmäßig herausgegebene Mietspiegel auf Umfrageergebnissen; bekannt sind auch die Wahlprognosen der
großen Umfrageinstitute und die regelmäßigen
Beliebtheitsskalen von Politikern. Für eine angemessene und methodisch abgesicherte Umfrage
muss ein sorgfältig vorgetesteter Fragebogen
einer Stichprobe von Personen vorgelegt werden,
und diese Stichprobe muss nach geeigneten Kriterien und mit geeigneten Methoden so ausgewählt werden, dass sie für die größere Population,
über die etwas ausgesagt werden soll, repräsentativ ist.
Fallgeschichten. Eine weitere Form indirekter
Beobachtung besteht darin, eine Fallgeschichte
aufzustellen – eine Teilbiographie einer bestimmten Person. Dazu lässt
man sie wichtige Erfahrun- Eine Fallgeschichte
gen und Erlebnisse aus ihrer beschreibt einen Teil
Vergangenheit wiedergeben. der Biographie einer
Wenn es beispielsweise um Person.
1
32
1 Das Wesen der Psychologie
die Bedingungen in der Kindheit als Vorläufer
einer Depression im Erwachsenenalter geht, beginnt der Untersuchende damit, Fragen über
frühe Lebensereignisse zu stellen. Solche Fallgeschichten sind Biographien, die speziell für
wissenschaftliche Zwecke vorgesehen sind. Sie
bilden eine wichtige Datenquelle für die psychologische Untersuchung von Einzelpersonen.
Fallgeschichten sind in ihrer Aussagekraft dadurch begrenzt, dass sie auf den Erinnerungen
einer Person und ihren Rekonstruktionen früherer Ereignisse beruhen; diese sind häufig getrübt,
verzerrt oder unvollständig. Manchmal kann
man andere Daten hinzuziehen, um die mit einer
Fallgeschichte gewonnenen Daten zu untermauern. Zum Beispiel können bestimmte Jahreszahlen mit Hilfe von Dokumenten, etwa Todesurkunden, nachgeprüft werden, oder man befragt
Verwandte der interviewten Person nach ihren
eigenen Erinnerungen an die in Frage stehenden
Ereignisse. Dennoch sind Fallgeschichten wegen
der genannten Präzisionsmängel wenig geeignet,
um eine Theorie oder eine Hypothese zu prüfen.
Sie tragen eher zur Bildung von Hypothesen bei,
die man dann auf strengere Weise oder an einer
größeren Stichprobe überprüfen kann. Folglich
nutzen Wissenschaftler Fallgeschichten in ähnlicher Weise wie Ärzte oder Therapeuten, die versuchen, Personen zu diagnostizieren und geeignete Behandlungsmethoden auszuwählen.
Literaturu
¤bersichten
Ein weiterer Weg, wie psychologische Forschung
betrieben wird, ist die Erstellung von Literaturübersichten. Dabei handelt es sich um eine wissenschaftliche ZusammenfasLiteraturu
¤ bersichten
sung der vorliegenden Forgeben eine wissenschungsergebnisse zu einem
schaftliche Zusammenbestimmten Thema. Weil
fassung der vorliegendas Gebiet der Psychologie
den Forschungsergebsehr schnell wächst, sind
nisse zu einem beLiteraturübersichten auf akstimmten Thema.
tuellem Stand ein unverzichtbares Mittel, um in den sich anhäufenden
wissenschaftlichen Belegen für oder gegen eine
bestimmte psychologische Hypothese oder Theorie die relevanten Muster zu erkennen.
Literaturübersichten gibt Ein narrativer Literaes in zwei Varianten. Eine turu¤berblick ist eine
Form ist der narrative Über- verbale Beschreibung
blick, bei dem die Autoren und Diskussion des
mit Worten Untersuchungen Forschungsstandes auf
beschreiben, die bereits einem Gebiet.
durchgeführt wurden, und
die Stärke der vorhandenen psychologischen Belege kritisch diskutieren. Studierende in höheren
Semestern schreiben zuweilen als Seminararbeit
narrative Literaturübersichten zu ausgewählten
Themen. Ein anderer Typ von Literaturübersicht, der immer beliebter wurde, ist die MetaAnalyse. Dabei werden vorliegende Untersuchungen mit Hilfe von statistischen Verfahren zusammen- Bei einer Meta-Analyse
gefasst, woraus sich die ent- werden vorhandene
Untersuchungen mit
sprechenden Schlüsse ablei- statistischen Methoden
ten lassen. Wie wir gesehen zusammengefasst, um
haben, werden in jedem ein- den Forschungsstand zu
zelnen Experiment die Pro- beurteilen.
banden als „Fälle“ betrachtet;
jeder Teilnehmer trägt seine eigenen Daten bei,
welche dann statistisch zusammengeführt werden. Bei einer Meta-Analyse werden dagegen
die einzelnen Untersuchungen als „Fälle“ behandelt; jede Untersuchung trägt ihre eigenen zusammengefassten Daten bei, welche dann auf
einer höheren Analyseebene (der Meta-Ebene)
weiter zusammengefasst werden. Man kann
sich leicht vorstellen, dass Meta-Analysen gegenüber narrativen Literaturübersichten das Potenzial besitzen, systematischer und ausgewogener
zu sein. Im Verlauf dieses Lehrbuchs greifen
wir oft auf Meta-Analysen zurück, um den Forschungsstand bei psychologischen Theorien und
Hypothesen darzustellen.
Ethische Prinzipien
psychologischer Forschung
Da Psychologen Lebewesen untersuchen, dürfen
sie ethische Fragen nicht vernachlässigen, die sich
bei der Durchführung ihrer Forschungen stellen
können. Entsprechend haben die deutschen psychologischen Dachverbände – wie auch der amerikanische Psychologenverband APA und vergleichbare Verbände in anderen Ländern –
Prinzipien psychologischer Forschung
Richtlinien für den Umgang mit menschlichen
Versuchsteilnehmern und mit Versuchstieren
aufgestellt und etabliert (DGPs, 1998; American
Psychological Association, 1990).
In den USA muss qua Bundesgesetz jede Institution, die öffentlich geförderte Forschungen
durchführt, eine interne Kommission einsetzen,
die die Forschungsvorhaben begutachtet, um
sicherzustellen, dass die Teilnehmer korrekt behandelt werden. In Deutschland muss bei der
Beantragung öffentlicher Gelder (beispielsweise
bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft)
ebenfalls zum Umgang mit Versuchspersonen
und Versuchstieren Stellung genommen werden,
wobei örtliche Ethikkommissionen nicht in der
Weise obligatorisch sind wie in den USA; bei
Untersuchungen an Schulen übernimmt aber
beispielsweise das zuständige Oberschulamt diese
Rolle.
Forschungen an Menschen. Der ethische Umgang mit menschlichen Versuchsteilnehmern ist
erstens durch das Prinzip des minimalen Risikos
geleitet. Dieses besagt, dass
Nach dem Prinzip des
in den meisten Fällen die
minimalen Risikos soll für die Forschungsdurchfühdie Gefa¤hrdung durch
rung antizipierten Risiken
ein Forschungsvorhanicht größer sein sollten als
ben die Risiken des
die Risiken des normalen
Alltags nicht u¤bersteiAlltagslebens. Ganz offengen.
sichtlich soll eine Person keinen körperlichen Schäden oder Verletzungen
ausgesetzt werden. Weniger eindeutig ist dagegen
die Entscheidung, wie viel psychischer Stress in
einem Forschungsprojekt ethisch noch zu rechtfertigen ist. Im täglichen Leben kann eine Person natürlich unhöflich sein, lügen oder anderen
Menschen Angst einjagen. Unter welchen Umständen ist es jedoch für einen Forscher ethisch
zu rechtfertigen, einen Versuchsteilnehmer in
dieser Weise zu behandeln, um den Zielen seines
Forschungsprojekts näher zu
Informierte Einwillikommen?
Solche Fragen
gung bedeutet, dass
müssen die EthikkommissioProbanden, nachdem
nen von Fall zu Fall entsie u¤ber alle relevanten
scheiden.
Aspekte informiert
wurden, freiwillig an
Das zweite ethische Leiteiner Untersuchung
prinzip für den Umgang
teilnehmen und diese
mit Menschen in Untersujederzeit ohne Nachchungen ist die informierte
teile abbrechen ko¤nnen.
Einwilligung. Danach müs-
33
sen den Teilnehmern im Voraus alle Aspekte
der Untersuchung mitgeteilt werden, die ihre
Kooperationsbereitschaft beeinträchtigen könnten. Nach dieser Information müssen sich die
Teilnehmer freiwillig in die Untersuchung begeben und dürfen diese zu jedem Zeitpunkt
und ohne persönlichen Nachteil abbrechen,
wenn sie es wünschen. Wie beim Prinzip des minimalen Risikos lässt sich auch die informierte
Einwilligung nicht immer ohne weiteres umsetzen. Insbesondere steht die informierte Einwilligung manchmal zu einer anderen häufigen Anforderung an Forschungen im Widerspruch:
Die Teilnehmer sollen sich der untersuchten
Hypothesen nicht bewusst sein. Wenn ein Forscher plant, eine Gruppe von Teilnehmern Listen
mit bekannten Wörtern und eine andere Gruppe
von Teilnehmern Listen mit unbekannten Wörtern lernen zu lassen, um sie dann zu vergleichen,
wirft das kein ethisches Problem auf, wenn man
den Teilnehmern vorab verrät, dass sie Wortlisten lernen werden: Sie müssen die Variation der
Wortlisten ja nicht kennen. Auch ergeben sich
keine ernsthaften ethischen Fragen, wenn überraschenderweise Wörter abgefragt werden, die die
Teilnehmer nicht erwartet hatten. Aber wie sieht
es aus, wenn der Forscher Probanden vergleichen
möchte, die beim Wörterlernen im einen Fall
neutral und im anderen Fall verärgert oder verlegen gestimmt sind? Die Untersuchung würde
sicher keine aussagekräftigen Schlussfolgerungen
zulassen, wenn man den Teilnehmern vorab
mitteilen müsste, dass sie mit Absicht geärgert
(indem man sie grob behandelt) oder in Verlegenheit gebracht werden (indem man sie glauben
lässt, sie hätten versehentlich ein Laborgerät
kaputt gemacht). Für solche Fälle besagt die
Richtlinie, dass – falls eine solche Untersuchung
überhaupt zugelassen wird – die Teilnehmer zumindest im Anschluss an die Untersuchung
schnellstmöglich informiert und aufgeklärt werden müssen. Bei dieser postexperimentellen Aufklärung werden die Gründe In der Phase der postdafür, warum Probanden in experimentellen AufUnkenntnis gelassen oder so- kla¤rung werden den
gar
getäuscht
wurden, Probanden etwaige
schlüssig dargelegt. Mit mög- Ta¤uschungen und Inforlichen andauernden Gefühls- mationsdefizite aufgereaktionen muss man so um- deckt und mit Blick auf
gehen, dass die Probanden das Untersuchungsziel
erkla¤rt.
die Untersuchung mit unbe-
1
34
1 Das Wesen der Psychologie
kontrovers
Sind wir von Natur aus egoistisch?
Wir sind von Natur aus
egoistisch
George C. Williams, Staatsuniversita¤t von
New York, Stony Brook
Ja, wir sind egoistisch, und zwar in einem bestimmten
biologischen Sinn, der sehr wichtig ist und den man
nicht vergessen sollte, wenn man das Menschsein,
die philosophische Ethik und verwandte Themen diskutiert (Williams, 1996, Kapitel 3 und 9). Wir sind
egoistisch in einer speziellen Weise, die unsere
Gene verlangen. Sie sind sogar maximal egoistisch,
weil wir sonst nicht existieren wu¤rden. Die Gene,
die u¤ber viele Generationen weitergegeben werden,
sind diejenigen, denen es am besten gelungen ist,
weitergegeben zu werden. Dazu mu¤ssen sie besser
sein als jede andere Alternative, wenn es darum
geht, einen menschlichen oder sonstigen Ko
¤rper herzustellen, der die Gene wiederum mit gro¤erer Vehemenz und Durchsetzungskraft weitergibt als die
anderen Mitglieder der Population. Individuen ko
¤nnen
diesen genetischen Wettbewerb hauptsa¤chlich dadurch gewinnen, dass sie bis zur Geschlechtsreife
u¤berleben und dann erfolgreich um die Ressourcen
ka¤mpfen (Nahrung, Nistpla¤tze, Partner et cetera),
die sie fu¤r ihre eigene Reproduktion beno¤tigen.
In diesem Sinne sind wir notwendigerweise egoistisch, was nicht heien muss, dass wir nicht auch
uneigennu¤tzig handeln ko
¤nnen. Individuen haben
die Fa¤higkeit, andere dabei zu unterstu¤tzen, Ressourcen zu erschlieen und Verluste oder Gefahren zu
vermeiden, und setzen sie auch ha¤ufig ein. Um derartiges Verhalten biologisch zu verstehen, mu¤ssen die
Randbedingungen, unter denen das scheinbar wohlwollende Verhalten auftritt, analysiert werden. Das
offensichtlichste Beispiel fu¤r helfendes Verhalten
u¤ben Eltern gegenu¤ber ihrem Nachwuchs aus. Die
einleuchtende Erkla¤rung dieses Verhaltens besteht
darin, dass Eltern ihre Gene nicht erfolgreich weitergeben ko
¤nnten, wenn sie ihren eigenen Jungen nicht
auf artgerechte Weise helfen wu¤rden: Sa¤ugetiermu¤tter mu¤ssen ihre Babys sa¤ugen; Vo
¤gel mu¤ssen
ihren Nestlingen Futter bringen; eine Pflanze muss
jeden Samen mit einer optimalen Menge an Na¤hrstoffen ausstatten. Dabei handelt es sich jedoch
nie um eine generalisierte Hilfsbereitschaft von Erwachsenen gegenu¤ber Jungen. Vielmehr gibt es Me-
chanismen, mit denen Eltern ihren eigenen Nachwuchs identifizieren ko
¤nnen und ihre Hilfsbereitschaft
dann ausschlielich auf ihn beschra¤nken.
Wenn die Reproduktion ausschlielich auf sexuellem Wege erfolgt und die Partner in der Regel nicht
eng miteinander verwandt sind, besitzt jeder Nachkomme die Ha¤lfte der Gene eines jeden Elternteils.
Aus der Sicht eines Elternteils ist ein Sohn oder
eine Tochter genetisch halb so wichtig wie er selbst,
und die Reproduktion eines Nachkommen ist halb so
wichtig wie die eigene, wenn es darum geht, die eigenen Gene weiterzugeben. Die partielle genetische
¤ bereinstimmung gilt jedoch fu¤r alle Verwandten,
U
nicht nur fu¤r den eigenen Nachwuchs. So kann es
dem genetischen Egoismus eines Individuums auch
dienen, sich gegenu¤ber Verwandten generell hilfreich
zu verhalten und nicht nur gegenu¤ber dem eigenen
Nachwuchs. Solche Verhaltensweisen entstehen
durch die sogenannte Verwandtschaftsselektion,
die natu¤rliche Selektion fu¤r den adaptiven Gebrauch
von Hinweisreizen, die das Ausma und die Wahrscheinlichkeit von Verwandtschaftsbeziehungen anzeigen. In welchem Ausma Hinweise auf eine genealogische (das heit Stammes-) Verbindung auch vor¤gen, ein Individuum wird Verwandte gegenliegen mo
u¤ber Nicht-Verwandten und nahe Verwandte (Eltern,
Nachwuchs, Geschwister) gegenu¤ber entfernteren
Verwandten bevorzugen.
Ein ma¤nnlicher Vogel, dessen Partnerin Eier in sein
Nest legte, kann einen Evolutionsvorteil erzielen,
wenn er die Eier ausbru¤tet und spa¤ter die ausgeschlu¤pfte Brut fu¤ttert. Aber was ist, wenn er mo
¤glicherweise betrogen wurde? Kann er wirklich sicher
sein, dass seine Partnerin nicht von einem Nachbarma¤nnchen befruchtet wurde, so dass eines oder mehrere der Eier gar nicht seinen eigenen Nachwuchs enthalten? Paarungen der Partnerin auerhalb der Partnerschaft kommen, mit oder ohne Duldung, bei vielen
Arten vor. Die Ma¤nnchen solcher Arten passen auf
das Verhalten ihrer Partnerinnen ganz besonders
auf und sind sehr eifrig, wenn es darum geht, rivalisierende Ma¤nnchen aus ihrem Territorium zu verjagen. Es ist zu erwarten, dass sich Ma¤nnchen von
Arten, bei denen durchschnittlich zehn Prozent der
Eier von Rivalen befruchtet werden, weniger gewissenhaft um ihre Nestlinge ku¤mmern als von Arten,
in denen auerpartnerschaftliche Seitenspru¤nge niemals vorkommen.
Prinzipien psychologischer Forschung
35
1
Die Verwandtschaftsselektion ist ein ursa¤chlicher
Faktor fu¤r das uneigennu¤tzige oder sogenannte altruistische Verhalten. Ein weiterer Faktor ist das Gegenseitigkeitsprinzip zwischen nicht verwandten Individuen, bei dem jeder Teilnehmer sofort oder zuku¤nftig
von diesem Verhalten profitiert. Zu den genannten
Faktoren geho
¤rt auch die egoistische Ta¤uschung beziehungsweise die Manipulation der Instinkte eines
anderen Individuums, die auf Verwandtschaftsselektion oder andere altruistische oder kooperative Verhaltensweisen gerichtet sind.
Wie die Ma¤nnchen ko
¤nnen sich auch die Vogelweibchen nicht sicher sein, dass die Nestlinge ihre
eigenen sind, weil das Eierablegen (Sayler, 1992),
bei dem ein Ei im Nest eines anderen Vogels abgelegt
wird, wa¤hrend dessen Besitzer kurz zum Fressen abwesend ist, bei vielen Arten vorkommt. In genetischer
Hinsicht gewinnt ein Weibchen, wenn es die elterlichen Instinkte eines anderen ausnutzt. Die Spezies,
bei der Ta¤uschung und Manipulation am weitesten
entwickelt sind, ist -- dank unserer Sprachfa¤higkeit
-- unsere eigene. Shakespeare zufolge sprach Heinrich V. seine Armee mit Ðwir Schar von Bru¤dern
an. Feministinnen sprechen von ÐSchwesternschaft. Die Ta¤uschung und Manipulation der Gefu¤hle
anderer kann natu¤rlich aus ehrenwerten oder aus
weniger ehrenwerten Gru¤nden erfolgen.
Wir sind nicht von Natur aus
egoistisch
Frans B. M. de Waal, Emory Universita¤t
ÐWie selbstbezogen man sich den Menschen
auch vorstellen mag, gibt es doch offensichtlich
einige Prinzipien in seinem Wesen, die ihn am
Glu¤ck anderer interessiert sein lassen und
ihre Zufriedenheit ihm zum Bedu¤rfnis machen,
wenn er auch nichts daraus gewinnt als die
Freude, dessen ansichtig zu werden.
Adam Smith, 1759
Als Lenny Skutnik 1982 in Washington (DC) in den
eiskalten Potomac eintauchte, um ein Opfer eines
Flugzeugunglu¤cks zu retten, oder als holla¤ndische Zivilisten im Zweiten Weltkrieg ju¤dische Familien versteckten, nahmen sie im Interesse von vo
¤llig fremden
Personen lebensbedrohliche Risiken auf sich. In ¤ahnlicher Weise rettete Binti Jua, ein Tieflandgorilla aus
dem Brookfield-Zoo in Chicago, einen bewusstlosen
Jungen, der in ihr Gehege gefallen war, wobei sie
eine Handlungsfolge ausfu¤hrte, die ihr zuvor nicht beigebracht wurde.
Solche Beispiele rufen vor allem deshalb einen tiefen Eindruck hervor, weil sie Mitgliedern unserer eigenen Spezies zugute kommen. In meinen Arbeiten zur
Evolution von Empathie und Moral habe ich jedoch so
vielfa¤ltige Belege dafu¤r gefunden, dass Tiere fu¤reinander sorgen und wechselseitig auf ihre Sorgen und Lei¤ berleben
den reagieren, dass ich ¤uberzeugt bin, das U
ha¤ngt nicht nur von der Sta¤rke im Kampf ab, sondern
zuweilen auch von Kooperation und Gu¤te (de Waal,
1996). Beispielsweise ist es unter Schimpansen
u¤blich, dass sich ein Zuschauer dem Opfer eines Angriffs na¤hert und ihm behutsam einen Arm um die
Schulter legt.
Trotz dieser fu¤rsorglichen Neigungen werden Menschen und andere Lebewesen von Biologen regelma¤ig als vollsta¤ndige Egoisten dargestellt. Der
Grund dafu¤r ist theoretischer Natur: Jegliches Verhalten soll sich herausgebildet haben, um den eigenen
Interessen des Handelnden zu dienen. Die Annahme,
dass Gene, die ihrem Tra¤ger nicht nu¤tzen, im Prozess
der natu¤rlichen Selektion benachteiligt sind, erscheint logisch. Aber ist es angemessen, ein Tier
nur deshalb egoistisch zu nennen, weil sich sein Verhalten zum eigenen Nutzen entwickelt hat?
Der Prozess, der ¤uber Jahrmillionen der Evolution
zur Herausbildung einer bestimmten Verhaltensweise
gefu¤hrt hat, verliert seine Relevanz, wenn es um die
Erkla¤rung geht, warum sich ein Tier hier und jetzt in
einer bestimmten Weise verha¤lt. Tiere sehen nur die
unmittelbaren Folgen ihrer Handlungen, und selbst
diese sind ihnen nicht immer klar. Wir nehmen an,
dass eine Spinne ein Netz baut, um Fliegen zu fangen;
aber das stimmt so nur auf funktionaler Ebene. Es
gibt keine Hinweise darauf, dass Spinnen irgendeine
Idee haben, wofu¤r Netze gut sind. Mit anderen
Worten: Der Zweck eines Verhaltens sagt nichts
u¤ber die ihm zu Grunde liegenden Motive aus.
Erst ku¤rzlich wurde das Konzept des Egoismus
(englisch: selfishness) seiner umgangssprachlichen
Bedeutung beraubt und kam auch auerhalb des psychologischen Bereichs zur Anwendung. Auch wenn
der Begriff nunmehr von einigen synonym mit
ÐEigennutz verwendet wird, impliziert der Egoismus
auch die Absicht (Intention), sich selbst zu nu¤tzen,
also das Wissen um den mo
¤glichen Gewinn aus einem
"
36
1 Das Wesen der Psychologie
¤ konomie. Der Untersophen und Vater der O
schied zwischen eigennu¤tzigen Handlungen
und egoistischen Motiven wird auch darin
deutlich, dass Smith, der fu¤r seine Betonung
des Eigeninteresses als Leitprinzip der
Volkswirtschaft bekannt ist, in seinen
Schriften auch die universelle menschliche
Fa¤higkeit zur Sympathie behandelte.
Die Urspru¤nge dieser Neigungen liegen
nicht im Dunkeln. Alle Arten, die auf Kooperation angewiesen sind, zeigen Gruppenloyalita¤t und Hilfeleistungstendenzen. Diese
Tendenzen entwickelten sich im Kontext
eines eng verflochtenen sozialen Lebens,
in dem sie den Verwandten und den Weggefa¤hrten zugute kamen, die in der Lage waren, sich fu¤r Gefa¤lligkeiten zu revanchieren.
Der Impuls zu helfen war deshalb niemals
¤ berlebenswert fu¤r diejenigen, die
ohne U
> Ein erwachsener ma¤nnlicher Schimpanse, der in einem
ihn zeigten. Aber der Impuls wurde von
Kampf mit einem Rivalen besiegt wurde, schreit auf, wa¤hrend
den Konsequenzen abgetrennt, die seine
er von einem Jungtier mit einer Umarmung getro¤stet wird. SolEntwicklung bedingt haben. Folglich konnte
che tro
¤stende Gesten wurden bislang bei anderen Tieren nicht
er auch dann auftreten, wenn Gegenleistunberichtet. Das Verhalten erscheint als eine Form der Empathie
gen unwahrscheinlich waren, beispielsweise
ohne greifbaren Nutzen fu¤r den Ausfu¤hrenden.
gegenu¤ber Fremden.
Jegliches Verhalten egoistisch zu nennen,
bestimmten Verhalten. Ein Rebstock kann seinen
ist, als ob man alles Leben auf Erden als umgewaneigenen Interessen dienen, indem er einen Baum
delte Sonnenenergie bezeichnet. Beide Aussagen mo¤u¤berwuchert; aber da es Pflanzen an Absichten und
gen von allgemeinem Wert sein, sind aber wenig hilfWissen fehlt, ko
¤nnen sie nicht egoistisch sein, es
reich, um die Vielfalt zu erkla¤ren, die wir um uns herum
sei denn in einem bedeutungsleeren, metaphorischen
erleben. Manche Tierarten ¤uberleben durch ru¤ckSinn. Aus demselben Grund ko
¤nnen Gene nicht egoissichtslosen Wettbewerb, andere durch wechselseitige
tisch sein.
Hilfe. Ein Rahmenkonzept, das keinen Raum bietet,
Charles Darwin verwechselte Anpassung niemals
um die beteiligten gegensa¤tzlichen ,Geisteshaltungen
mit individuellen Zielen, und er billigte altruistische
zu unterscheiden, mag fu¤r die Evolutionsbiologie von
Motive. Darin folgte er Adam Smith, dem MoralphiloNutzen sein: In der Psychologie ist es fehl am Platz.
einträchtigter Würde und mit einem tieferen
Verständnis für die Ziele der Untersuchung verlassen. Die Kommission muss davon überzeugt
werden, dass das Informations- und Aufklärungsverfahren für diese Zwecke geeignet und angemessen ist.
In Deutschland wird das Prinzip der informierten Einwilligung – vor allem bei der Arbeit
mit studentischen Stichproben – weniger strikt
gehandhabt. Hier hat der Forscher augenscheinlich mehr Freiheit, aber ihm obliegt damit auch
mehr Verantwortung. Im Allgemeinen geben die
Teilnehmer dem Versuchsleiter – unbeschadet
ihres Rechts, ihre Teilnahmebereitschaft jederzeit
zu widerrufen – einen gewissen Vertrauensvorschuss und dürfen dafür erwarten, ethisch vertretbar behandelt und am Ende der Untersuchung wie beschrieben informiert und aufgeklärt
zu werden.
Ein drittes ethisches Forschungsprinzip besteht in Versuchsteilnehmer bedem Recht auf Geheimhal- sitzen ein Recht auf
tung. Jegliche Information, Geheimhaltung; alle
die im Verlauf einer Unter- erhobenen Informatiosuchung über eine Person er- nen mu¤ssen vertraulich
bleiben.
hoben wird, muss vertraulich
37
Prinzipien psychologischer Forschung
bleiben und darf Dritten ohne explizite Einwilligung des Teilnehmers nicht zur Kenntnis gegeben werden. Dieses Prinzip wird häufig so umgesetzt, dass man den Namen und andere
Informationen, aus denen einzelne Teilnehmer
anhand der Daten identifiziert werden können,
vom Datensatz abtrennt. Die Daten werden
dann nur noch durch einen Kode oder durch
eine Teilnehmernummer gekennzeichnet. Auf
diese Weise hat niemand außer dem Versuchsleiter Zugang zu den Antworten und Reaktionen
eines bestimmten Teilnehmers. Eine weitere
gängige Praxis besteht darin, nur aggregierte Daten zu berichten – also beispielsweise die durchschnittlichen Werte aller Teilnehmer einer Bedingung oder Versuchsgruppe. Dadurch wird
die Anonymität einzelner Untersuchungsteilnehmer zusätzlich geschützt.
Auch bei Einhaltung all dieser ethischen Bedingungen muss der Forscher noch die Kosten
der Untersuchung gegen ihren möglichen Nutzen
abwägen – dabei geht es hier nicht um die ökonomischen Kosten, sondern um die Kosten für
den Menschen. Muss man wirklich eine Untersuchung konzipieren, in der die Teilnehmer getäuscht oder in Verlegenheit gebracht werden?
Nur wenn sich der Forscher und gegebenenfalls
das Entscheidungskomitee sicher sind, dass die
Untersuchung – in praktischer oder theoretischer Hinsicht – lohnenswerte Informationen
zu Tage bringen wird, kann das Forschungsvorhaben gerechtfertigt werden.
Forschungen an Tieren. Ein weiterer Bereich,
in dem ethische Standards beachtet werden müssen, sind Forschungen mit Tieren. Etwa sieben
Prozent der psychologischen Untersuchungen
arbeiten mit Tieren; dabei handelt es sich zu 95
Prozent um Ratten, Mäuse und Vögel. Psychologen forschen mit Tieren vor allem aus zwei Gründen. Zum einen kann das Verhalten von Tieren
an sich interessant und untersuchungswürdig
sein. Zum anderen können die Systeme von
Tieren als Modell für menschliche Systeme herangezogen werden, so dass die Forschung an
Tieren Erkenntnisse bringt, die man an Menschen nicht oder nicht auf ethisch vertretbare
Weise gewinnen könnte. So haben Tierexperimente eine zentrale Rolle für das Verstehen
und die Behandlung psychischer Probleme im
Zusammenhang mit Angst, Stress, Aggression,
Depression, Drogenmissbrauch, Essstörungen,
Bluthochdruck und Alzheimer-Erkrankung gespielt (Carroll & Overmier, 2001). Trotz der andauernden Debatte über das ethische Für und
Wider von Forschungen an Tieren unterstützen
in den USA die meisten Psychologen (80 Prozent) und psychologischen Studienabsolventen
(72 Prozent) die Verwendung von Tieren in
der Forschung (Plous, 1996a, 1996b). Bei dieser
breiten Befürwortung bleibt jedoch die Besorgnis
über die kleine Untergruppe von Tierexperimenten mit schmerzhaften oder gesundheitsschädlichen Verfahren. Um dieser Besorgnis gerecht
zu werden, fordern die Tierschutzgesetze wie
auch die Richtlinien der psychologischen Verbände, dass sich jegliche schmerzhafte oder die
Gesundheit beeinträchtigende Untersuchung an
Tieren nur nach sorgfältiger Abwägung der Erkenntnisse, die sich aus der Untersuchung ziehen
lassen, rechtfertigen lässt. Zu den ethischen Leitlinien gehört auch die Betonung der moralischen
Verpflichtung von Forschenden, Tiere würdig
wie Lebewesen zu behandeln und Schmerz und
Leiden möglichst gering zu halten. Spezielle Regeln und Gesetze über die Lebensbedingungen
und die Haltung von Labortieren bestimmen,
wie diese moralische Verpflichtung einzuhalten
ist.
Neben diesen speziellen Richtlinien besteht
ein zentrales Prinzip der Forschungsethik darin,
dass die Teilnehmer an psychologischen Untersuchungen als gleichwertige Partner betrachtet werden. Einige der in diesem Buch behandelten Forschungen wurden durchgeführt, bevor die oben
beschriebenen Richtlinien erstmals formuliert
waren, und würden von den meisten Kommissionen heute nicht mehr zugelassen werden.
zusammengefasst
Die Durchfu¤hrung psychologischer Forschungsarbeiten umfasst die Formulierung einer Hypothese und ihre anschlieende Pru¤fung mit Hilfe
einer wissenschaftlichen Methode. Zu den wichtigsten Begriffen, um psychologische Experimente zu verstehen, geho
¤ren unabha¤ngige und
abha¤ngige Variablen, Experimental- und Kontrollgruppen, Randomisierung, Messung und
Statistik.
1
38
1 Das Wesen der Psychologie
Wenn Experimente nicht durchfu¤hrbar sind,
kann man mit der Korrelationsmethode bestimmen, ob eine natu¤rlich auftretende Variable mit
einer anderen zusammenha¤ngt. Das Ausma
dieses Zusammenhangs wird mit dem Korrelationskoeffizienten r gemessen, der positiv (bis
maximal +1) oder negativ (bis minimal -- 1) ausfallen kann, je nachdem, ob die Werte auf der
einen Variablen mit steigenden Werten der anderen Variable ansteigen (+) oder fallen ( -- ).
Forschung erfolgt auch mit Hilfe der Beobachtungsmethode, entweder durch direkte Beobachtung, durch Befragungen oder durch Fallstudien.
Schlielich wird Forschung auch durch Literaturu¤bersichten betrieben, wobei narrative Zusammenfassungen und statistische Meta-Analysen zu unterscheiden sind.
Die grundlegenden ethischen Richtlinien fu¤r
einen ethischen Umgang mit menschlichen Teilnehmern sind minimales Risiko, informierte
Einwilligung und das Recht auf Geheimhaltung.
Jegliches schmerzhafte oder gesundheitsscha¤dliche Verfahren gegenu¤ber Tieren muss eingehend gerechtfertigt werden durch die mo¤glichen
Erkenntnisse einer Untersuchung.
nachgefragt
1. Abbildung 1.3 zeigt die Ergebnisse einer klassischen Untersuchung, aus der hervorging, dass
die Pra¤ferenz neunja¤hriger Jungen fu¤r Gewaltsendungen im Fernsehen mit ihrem aggressiven
Verhalten im Alter von 19 Jahren zusammenha¤ngt. Warum erbringt diese Untersuchung nicht
den Nachweis, dass es der Fernsehkonsum ist,
welcher die Jungen aggressiver macht? Welche
Art von Belegen bra¤uchte man fu¤r eine solche
Behauptung?
2. Angenommen, ein Forscher findet eine Korrelation von +.50 zwischen den Symptomen einer
Esssto
¤rung und der intensiven Bescha¤ftigung
mit dem eigenen Aussehen. Was la¤sst sich daraus schlieen? Wie ko¤nnte man diese beobachtete Zusammenhangsbeziehung erkla¤ren? Versuchen Sie, eine Hypothese u¤ber Ursache und
Wirkung zu formulieren! Wie wu¤rden Sie diese
Hypothese pru¤fen?
¤ berblick
im U
1. Psychologie ist die Wissenschaft vom Verhalten und den geistigen Prozessen.
2. Die Wurzeln der Psychologie lassen sich bis ins
vierte und fünfte Jahrhundert vor Christus zurückverfolgen. Die griechischen Philosophen
Sokrates, Platon und Aristoteles formulierten
grundlegende Fragen über den Geist, während
Hippokrates, der ,Vater der Medizin‘, zu wichtigen Beobachtungen darüber kam, wie das
Gehirn andere Organe steuert. Eine der ersten
Debatten über die Psychologie des Menschen
galt der Frage, ob die menschlichen Fähigkeiten angeboren (die nativistische Sicht) oder
durch Erfahrung erworben (die empiristische
Sicht) sind.
3. Die wissenschaftliche Psychologie entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem
Grundgedanken, dass sich Geist und Verhalten
zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen
erheben lassen. Das erste psychologische Experimentallabor hat Wilhelm Wundt 1879 an der
Universität Leipzig gegründet.
4. Zu den ersten psychologischen ,Schulen‘ im
20. Jahrhundert gehören der Strukturalismus
(die Analyse geistiger Strukturen), der Funktionalismus (die Untersuchung, wie der Geist
so arbeitet, dass sich ein Organismus an seine
Umwelt anpassen und in ihr funktionieren
kann), der Behaviorismus (die Untersuchung
des Verhaltens auf Umweltreize ohne Rekurs
auf Bewusstsein), die Gestaltpsychologie (die
sich auf die von Reizen gebildeten Muster
und die Organisation von Erfahrungen konzentriert) und die Psychoanalyse (welche die
Rolle unbewusster Prozesse bei der Persönlichkeitsentwicklung und als Beweggründe unseres
Handelns hervorhebt).
5. Zu den neueren Entwicklungen in der Psychologie des 20. Jahrhunderts gehören die Theorie
der Informationsverarbeitung, die Psycholinguistik und die Neuropsychologie.
6. Dem Studium der Psychologie kann man sich
aus verschiedenen Blickwinkeln nähern. Der
biologische Ansatz führt Handlungen auf Ereignisse innerhalb des Körpers, insbesondere
in Gehirn und Nervensystem, zurück. Der verhaltenspsychologische Ansatz berücksichtigt
¤ berblick
im U
nur äußere Aktivitäten, die sich beobachten
und messen lassen. Der kognitive Ansatz thematisiert geistige Prozesse wie Wahrnehmung,
Gedächtnis, logisches Denken, Entscheiden
und Problemlösen und stellt einen Zusammenhang zwischen diesen Prozessen und
dem Verhalten her. Der psychoanalytische Ansatz betont unbewusste Motive, die aus sexuellen und aggressiven Triebimpulsen stammen.
Der konstruktivistische Ansatz konzentriert
sich darauf, wie Menschen ihre sozialen Umwelten aktiv konstruieren und interpretieren,
was in Abhängigkeit von ihrer Kultur, ihrer
persönlichen Biographie und ihrem aktuellen
Motivationszustand variiert. Eine bestimmte
psychologische Fragestellung lässt sich meistens unter mehr als nur einem dieser Ansätze
analysieren.
7. Der biologische Ansatz unterscheidet sich von
den anderen Perspektiven darin, dass er seine
Prinzipien zum Teil aus der Biologie ableitet.
Oft versuchen Biologen, psychologische Prinzipien anhand biologischer Mechanismen zu
erklären; dies nennt man Reduktionismus.
Verhaltensphänomene können zunehmend
sowohl auf psychologischer als auch auf biologischer Ebene analysiert und erklärt werden.
8. Die wichtigsten Teilgebiete der Psychologie
sind die Biologische (oder Physiologische) Psychologie, die Allgemeine und Experimentelle
Psychologie, die Entwicklungspsychologie,
die Sozial- und Persönlichkeitspsychologie,
die Klinische Psychologie, die Schulpsychologie, die Pädagogische Psychologie und die Arbeits- und Organisationspsychologie. Viele der
neueren Forschungsbereiche, deren Impulse
die Psychologie im 21. Jahrhundert kennzeichnen, übergreifen die traditionellen Teilgebiete.
Dazu gehören die kognitive Neurowissenschaft
(einschließlich der affektiven und sozialen
kognitiven Neurowissenschaft), die Evolutionspsychologie, die kulturvergleichende Psychologie und die Positive Psychologie.
9. Zum Ablauf psychologischer Forschung gehört, eine Hypothese aufzustellen und diese
dann unter Einsatz einer wissenschaftlichen
Methode zu prüfen. Nach Möglichkeit wird
dabei die Methode des Experiments bevorzugt.
Damit sollen alle Variablen außer den gerade
untersuchten kontrolliert oder konstant gehalten werden, wodurch sich Hypothesen über
39
Ursache und Wirkung prüfen lassen. Die
unabhängige Variable ist die Variable, die
der Experimentator manipuliert; die abhängige Variable, die meistens in der Messung
eines Verhaltensaspekts der Versuchsteilnehmer besteht, wird untersucht, um herauszufinden, ob sie durch die Variation der unabhängigen Variable beeinflusst wird. In einem
einfachen Experimentaldesign manipuliert
der Experimentator eine unabhängige Variable und beobachtet ihren Effekt auf eine
abhängige Variable.
10. In vielen Experimenten ist die unabhängige
Variable eine Bedingung, die entweder vorliegt oder nicht. Das einfachste Experimentaldesign besteht aus einer Experimentalgruppe
(einer Gruppe von Teilnehmern, in der die
angenommene Ursache vorliegt) und einer
Kontrollgruppe (anderen Teilnehmern, bei
denen die angenommene Ursache nicht gegeben ist). Ein unabdingbares Element von experimentellen Designs ist die zufällige (randomisierte) Zuweisung der Probanden zu
Experimental- und Kontrollgruppe. Wenn
die Manipulation der unabhängigen Variable
bei der abhängigen Variable zu einem statistisch bedeutsamen (signifikanten) Unterschied zwischen Experimental- und Kontrollgruppe führt, können wir davon ausgehen, dass die Experimentalbedingung einen
reliablen Effekt hatte und der gefundene Unterschied nicht auf Zufallsfaktoren oder einige wenige Extremfälle zurückgeführt werden
kann.
11. In Situationen, in denen Experimente nicht
durchführbar sind, kann man die Korrelationsmethode einsetzen. Damit wird bestimmt, ob ein auf natürliche Weise auftretender Unterschied mit einem anderen interessierenden Unterschied zusammenhängt.
Das Ausmaß des korrelativen Zusammenhangs zwischen zwei Variablen misst man
mit dem Korrelationskoeffizienten r, einer
Zahl zwischen – 1 und +1. Wenn keinerlei
systematische Beziehung besteht, beträgt
die Korrelation 0, ein perfekter Zusammenhang wird durch den Wert 1 angezeigt.
Von 0 bis 1 steigt die Stärke des Zusammenhangs. Der Korrelationskoeffizient kann positiv oder negativ sein, je nachdem, ob die
Ausprägungen der einen Variable mit den
1
40
Ausprägungen der anderen Variable ansteigen (+) oder ob höhere Ausprägungen der
einen Variable mit geringeren Ausprägungen
der anderen Variable einhergehen ( – ).
12. Forschungen kann man auch mit der Beobachtungsmethode durchführen, wobei das
interessierende Phänomen gezielt beobachtet
wird. Akkurates Beobachten und Aufzeichnen muss geübt und trainiert werden. Phänomene, die sich nur schwer oder gar nicht direkt beobachten lassen, kann man indirekt
beobachten; dazu dienen Befragungen (Fragebögen und Interviews) oder die Rekonstruktion einer Fallgeschichte.
1 Das Wesen der Psychologie
13. Drei grundlegende ethische Prinzipien leiten
den ethisch vertretbaren Umgang mit
menschlichen Versuchspersonen oder Teilnehmern einer Untersuchung: minimales Risiko, informierte Einwilligung und das Recht
auf Geheimhaltung. Schmerzhafte oder schädigende Verfahren, die an Tieren zum Einsatz
kommen, müssen gerechtfertigt werden, indem sie gegen die aus der Untersuchung zu
gewinnenden Erkenntnisse gewissenhaft abgewogen werden.
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43
Neurone -- die Bausteine des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Neurotransmitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
............................
53
...................................
72
Evolution, Gene und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
im berblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Der Aufbau des Nervensystems
Das endokrine System
2 Biologische Grundlagen
der Psychologie
2
Im Jahre 1848 widerfuhr Phineas Gage, einem
freundlichen und besonnenen Mann, ein
schrecklicher Unfall, der ihn von Grund auf verändern sollte. Gage war ein 25-jähriger Vorarbeiter für die Rutland und Burlington Eisenbahngesellschaft in Neuengland. Seine Mannschaft und
er arbeiteten mit Sprengstoff, um den Weg für
eine neue Eisenbahnstrecke durch eine Felswand
zu bahnen. Als Gage gerade dabei war, einen Teil
des Felsens zu sprengen, fiel ihm aus Versehen
seine Eisenstange, die er zum Stopfen des Sprengstoffs benutzte, herunter. Das Eisen schlug mit
solcher Wucht auf den Felsen, dass sich der
Sprengstoff entzündete. Die folgende Explosion
schleuderte die über einen Meter lange Eisenstange direkt durch Gages Kopf. Ihre Spitze bohrte
sich durch seine linke Wange und wanderte hinter seinem linken Auge entlang, bis sie an der oberen Vorderseite seines Kopfes wieder aus Schädel
und Gehirn austrat. Die blutverschmierte und
mit Teilen seines Gehirns bedeckte Stange fand
man mehrere Meter weit entfernt.
Erstaunlicherweise überlebte Gage diese
schreckliche Verletzung. Seine Mannschaft
brachte ihn zurück zu seiner Unterkunft, wo
ein ansässiger Arzt seine Kopfwunde säuberte
und versorgte. Solange die ärztliche Behandlung
durchgeführt wurde, war Gage bei vollem Verstand und unterhielt sich mit seinen Kameraden.
Und obwohl seine Blutung sehr stark war, hörte
sie zwei Tage nach dem Unfall auf, und Gages
Verfassung schien sich zu stabilisieren. Sein Gehirn war allerdings sehr mitgenommen, und er
verfiel in einen komaartigen Zustand. Mehr als
einen Monat lang siechte er – fast stumm –
vor sich hin. Doch wie durch ein Wunder begann
sich seine Verfassung zu verbessern, und schließlich erholte sich Gage so gut, dass er nach Hause
entlassen werden konnte.
Aber Gage war „nicht länger Gage“ (Harlow,
1868). Der sonst so freundliche und zurückhal-
tende Mann war nun stürmisch und impulsiv.
Eine der auffälligsten Veränderungen seiner Persönlichkeit bestand darin, dass er sich jetzt sehr
schnell zu groben und vulgären Flüchen hinreißen ließ. Er war unbeherrscht und hatte all
seinen früheren sozialen Anstand verloren. Es
verwundert daher nicht, dass er keine feste Anstellung mehr fand. Er schlug sich umherziehend
mit Gelegenheitsjobs durch und versuchte, bei
einem neuen Eisenbahnprojekt in Chile Arbeit
zu finden. Nach acht Jahren in Südamerika,
noch immer im Besitz der Eisenstange, die ihm
seine frühere Persönlichkeit geraubt hatte, kehrte
er nach Kalifornien zurück. Dort starb er 1860 an
Epilepsie. So grauenhaft Gages Unfall auch war,
eröffnete er uns sehr viele Erkenntnisse darüber,
wie im Gehirn komplexe psychische Prozesse entstehen (Damasio, Grabowski, Frank, Galaburda
& Damasio, 1994). Dieses Kapitel wird uns zeigen, dass so gut wie alle Aspekte des Verhaltens
und der geistigen Funktionen besser verstanden
werden können, wenn man über die zu Grunde
liegenden biologischen Prozesse Bescheid weiß.
Als Erstes werden wir uns mit der zellulären Basis
des Nervensystems befassen.
Neurone -- die Bausteine
des Nervensystems
Die grundlegende Einheit des Nervensystems ist
das Neuron. Neurone sind spezialisierte Zellen,
die Nervenimpulse beziehungsweise Botschaften
zu anderen Neuronen, Drüsen und Muskeln übertragen. Ein Neuron ist eine
spezialisierte Zelle, die
Neurone bilden den Schlüs- Nervenimpulse zu ansel zum Verständnis der Ar- deren Neuronen,
beitsweise des Gehirns und Drsen und Muskeln
damit auch der Grundlagen bertrgt.
44
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
Dendriten
Synaptische
Endknöpfchen
Abb. 2.1 Schemazeichnung eines Neurons. Die
Pfeile zeigen die Richtung der
Nervenimpulse. Manche Axone
sind verzweigt; die Verzweigungen nennt man Kollaterale.
Die Axone vieler Neurone sind
von einer isolierenden Myelinscheide umgeben. Dadurch
wird die Geschwindigkeit der
Nervenimpulse erhht. (Nach
Gaudin & Jones, 1989.)
Zellkörper
unseres Bewusstseins. Wir kennen die Rolle der
Neurone bei der Übertragung von Nervenimpulsen. Wir wissen auch um die Arbeitsweise einiger
neuronaler Schaltkreise. Aber wir stehen erst am
Anfang, ihre komplexen Funktionen bei Gedächtnisleistungen, im emotionalen Geschehen
und bei Denkvorgängen zu begreifen.
Die zahlreichen Typen von Neuronen im
Nervensystem unterscheiden sich stark in Größe
und Erscheinungsbild, aber sie besitzen alle bestimmte gemeinsame Merkmale (siehe Abbildung 2.1).
Vom Zellkörper oder
Ein Dendrit empfngt
Soma gehen mehrere verneuronale Impulse von
zweigte Fortsätze aus, die
benachbarten NeuroDendriten
(abgeleitet vom
nen.
griechischen Wort „dendron“ für „Baum“), welche
Ein Axon ist eine
Nervenimpulse von benachschlanke, vom Zellkrbarten Neuronen empfanper ausgehende Rhre;
gen. Das Axon stellt eine
es leitet neuronale
schlanke Röhre dar, die sich
Impulse an andere
vom Zellkörper ausgehend
Neurone, Muskeln oder
Drsen weiter.
ausdehnt und diese Impulse
an andere Neurone (oder
Muskeln oder Drüsen) weiterleitet. An seinem
Ende verzweigt sich das Axon wie ein Baum in
winzige Ästchen, die in kleinen Verdickungen,
den synaptischen Endknöpfchen, enden.
Diese Endknöpfchen berühren den Zellkörper
oder die Dendriten des Empfangsneurons nicht
direkt. Vielmehr besteht an dieser Schaltstelle,
Zellkern
Myelinscheide
Ranvier-Schnürringe
Axon (umgeben
von der Myelinscheide)
Richtung des
Aktionspotenzials
der Synapse, ein kleiner Spalt, Eine Synapse ist die
der dementsprechend synap- Schaltstelle zwischen
tischer Spalt genannt wird. den Endknpfchen
Gelangt ein Nervenimpuls eines Senderneurons
über ein Axon zu einer Syn- und dem Zellkrper
apse, löst er dort die Aus- oder den Dendriten
schüttung eines Neurotrans- eines Empfangsneurons.
mitters aus, eines chemischen
Stoffes, der durch den synaptischen Spalt diffundiert und Neurotransmitter sind
das empfangende Neuron chemische Substanzen,
die durch den synaptistimuliert. Dadurch wird schen Spalt diffundieder Impuls von einem Neu- ren und das empfanron auf das andere übertra- gende Neuron stimuliegen. An den Dendriten und ren.
am Zellkörper jedes Neurons
bilden die Axone vieler anderer Neurone Synapsen (siehe Abbildung 2.2).
Alle Neurone gleichen sich zwar in diesen allgemeinen Eigenschaften, unterscheiden sich aber
sehr stark nach Größe und Form (siehe Abbildung 2.3). Das Axon eines Rückenmarkneurons
kann bis zu einem Meter lang sein und vom Wirbelausgang bis zu den Muskeln des großen Zehs
reichen. Das Axon eines Neurons im Gehirn kann
dagegen nur den Bruchteil eines Millimeters lang
sein.
Neurone werden in Abhängigkeit von ihren
allgemeinen Funktionen in drei Gruppen eingeteilt. Sensorische Neurone übertragen Impulse von
den Rezeptoren der Sinnesorgane zum Zentralnervensystem. Rezeptoren sind spezialisierte Zel-
45
Neurone -- die Bausteine des Nervensystems
Dendriten
2
Zellkörper
Synaptische
Endknöpfchen
Synaptische
Endknöpfchen
Axon
Kollaterale
Abb. 2.2 Synapsen am Zellkrper eines Neurons. Viele verschiedene Axone, die sich mehrfach verzweigen,
haben synaptische Kontaktstellen auf den Dendriten und Zellkrpern eines Neurons. Jede Endverzweigung eines
Axons mndet in eine Verdickung, das prsynaptische Endknpfchen, welches die Neurotransmitter enthlt. Durch
Ausschttung von Neurotransmittern werden die Nervenimpulse ber die Synapse zu den Dendriten oder dem
Zellkrper der Empfangszelle bertragen.
len in den Sinnesorganen, den Muskeln, der Haut
und den Gelenken, die auf physikalische oder
chemische Änderungen ansprechen und diese
Reize in neuronale Impulse umwandeln, die
dann von den sensorischen Neuronen weitergeleitet werden. Motoneurone (motorische Neurone)
übertragen die vom Gehirn oder Rückenmark
ausgehenden Signale zu den Muskeln und Drüsen. Interneurone erhalten Signale von den sensorischen Neuronen und senden Impulse an andere
Interneurone oder Motoneurone. Interneurone gibt
Ein Nerv ist ein Bndel
von lang erstreckten
es nur im Gehirn, in den AuAxonen, die zu Hundergen und im Rückenmark.
ten oder Tausenden von
Ein Nerv ist ein Bündel
Neuronen gehren.
von lang erstreckten Axonen,
die zu Hunderten oder Tausenden von Neuronen
gehören. Ein einzelner Nerv kann aus Axonen
von sensorischen und motorischen Neuronen
bestehen. Im Allgemeinen bilden die Zellkörper
der Neurone im Nervensystem Gruppen. Im
Gehirn und im Rückenmark werden solche
Gruppen von Neuronen als
Nuclei (Singular: Nucleus) Nuclei sind Gruppen
bezeichnet, außerhalb des neuronaler Zellkrper
im Gehirn und RckenGehirns und des Rücken- mark; auerhalb von
marks heißen sie Ganglien Gehirn und Rckenmark
(Singular: Ganglion).
heien solche Gruppen
Außer Neuronen besitzt Ganglien.
das Nervensystem noch eine
große Anzahl von Stützzellen, die keine Nervenzel-
46
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
Neuron in
der Retina
des Auges
Neuron
im Cortex
Dendrit
Dendrit
Zellkörper
Axon
Zellkörper
Neuron im
olfaktorischen
Cortex
Axon
zahlenmäßig im Verhältnis 9:1 und bilden
mehr als die Hälfte des Gehirnvolumens. Die Bezeichnung „glia“ ist von dem griechischen Wort
für „Leim“ abgeleitet und verweist auf eine ihrer
Funktionen – nämlich die Neurone an ihrem
Platz zu halten. Zusätzlich versorgen Gliazellen
die Neurone mit Nährstoffen, sammeln Abfallprodukte im Gehirn und beseitigen abgestorbene
Neurone sowie fremde Substanzen. Dadurch
halten sie die Signalleitfähigkeit der Neurone aufrecht (Haydon, 2001). Auf diese Weise unterstützen Gliazellen die Neurone so wie der Trainer
einer Sportmannschaft, der während eines Spiels
dafür sorgt, dass seine Spieler stets genügend
Flüssigkeit zu sich nehmen.
Aktionspotenziale
Dendrit
Zellkörper
Neuron im
Rückenmark
Dendrit
Zellkörper
Axon
Axon
Abb. 2.3 Formen und relative Gre von Neuronen. Das Axon eines Neurons im Rckenmark, das in
der Abbildung nicht vollstndig gezeigt wird, kann
ber einen Meter lang sein.
Gliazellen sind nichtneuronale Sttzzellen,
die sehr zahlreich im
Nervensystem vorkommen.
len sind: die Gliazellen. Sie
befinden sich zwischen den
Neuronen und umschließen
diese oft. Die Gliazellen
überwiegen die Neurone
Information breitet sich entlang eines Neurons in
Form eines Aktionspotenzials aus – eines elektrochemischen Impulses, der
vom Zellkörper bis zum Ein Aktionspotenzial
ist ein elektrochemiEnde des Axons verläuft. Jescher Impuls, der von
des Aktionspotenzial resul- den Dendriten bis zum
tiert aus Bewegungen elekt- Ende des Axons verrisch geladener Moleküle, luft.
der Ionen, in ein Neuron hinein oder aus ihm heraus. Um zu verstehen, wie
ein solches Aktionspotenzial entsteht, muss
man sich Folgendes klarmachen: Neurone sind
normalerweise äußerst wählerisch, wenn es darum geht, welche Ionen in die Zelle hineinoder aus ihr herausströmen können.
Die Zellmembran eines Neurons ist halb
durchlässig (semipermeabel), so dass einige
Ionen sie leicht durchwandern können, während
sie für andere unpassierbar ist. Eine besondere
Situation ergibt sich, wenn spezielle Durchgangsstellen in der Membran geöffnet sind. Diese
Durchgangsstellen, porenförmige
Proteinmoleküle, Ionenkanle sind
werden Ionenkanäle genannt porenfrmige Proteinund verteilen sich über die molekle, die als
Durchgangsstellen dieZellmembran (siehe Abbil- nen und sich ber die
dung 2.4). Diese Protein- gesamte Zellmembran
strukturen regulieren das verteilen.
Ein- und Ausströmen von
Ionen wie Natrium (Naþ), Kalium (Kþ), Kalzium
(Caþþ) und Chlor (Cl). Jeder Ionenkanal ist
47
Neurone -- die Bausteine des Nervensystems
selektiv, das heißt, er erlaubt im geöffneten Zustand nur den Durchfluss einer Ionenart.
Wenn ein Neuron gerade kein Aktionspotenzial erzeugt, wird es als Neuron im Ruhezustand bezeichnet. Während dieses Ruhezustandes ist die Zellmembran für Naþ-Ionen undurchlässig, die man daher in hoher Konzentration außerhalb des Neurons findet. Im Gegensatz dazu
ist die Membran für Kþ-Ionen durchlässig, welche sich vermehrt innerhalb des Neurons konzentrieren. Spezielle Proteinstrukturen, sogenannte Ionenpumpen, sind bei Neuronen im
Ruhezustand maßgeblich daran beteiligt, diese
ungleiche Verteilung der Ionen auf beiden Seiten
der Zellmembran aufrechtzuerhalten, indem sie
das Ein- und Ausströmen der Ionen regulieren.
Wenn beispielsweise Naþ in das Neuron eingeströmt ist, dann transportieren es die Ionenpumpen wieder hinaus. Umgekehrt werden Kþ-Ionen
wieder in das Neuron transportiert, wenn sie zuvor ausgeströmt waren. Auf diese Weise wird bei
einem Neuron im Ruhezustand eine hohe Konzentration von Naþ außerhalb der Zelle und eine
niedrige Konzentration innerhalb der Zelle aufrechterhalten. Insgesamt bewirken Ionenkanäle
und Ionenpumpen eine elektrische Polarisierung
der Zellmembran des Neurons im Ruhezustand.
Infolgedessen ist ein Neuron innen negativer geladen als außen. Die elektrische Ladung eines
Ionen
Offener
Ionenkanal
Neurons im Ruhezustand wird als Ruhepotenzial
bezeichnet und reicht von – 50 bis – 100 Millivolt. Dabei ähnelt das Ruhepotenzial eines Neurons vom Unter einem RuhePrinzip her der Ladung einer potenzial versteht man
die elektrische Ladung
Batterie: In beiden Fällen eines Neurons im Ruwird ein elektrochemisches hezustand.
Gefälle zur Energiespeicherung verwendet. Die Energie der Batterie wird
eingesetzt, um elektrische Geräte wie etwa tragbare Radios zu betreiben, während die Energie
eines Neurons zur Erzeugung von Aktionspotenzialen dient.
Bei Stimulation des Neurons durch einen erregenden Reiz verringert sich die Spannung, das
heißt die Ladungsdifferenz zwischen den beiden
Seiten der Zellmembran. Dieser Prozess heißt
Depolarisation und wird durch Neurotransmitteraktivität an den Rezeptoren der Dendriten
verursacht. Auf dem Axon befinden sich spannungssensitive Na+-Ionenkanäle. Wenn das Ausmaß der Depolarisation groß genug ist, öffnen
sich diese Kanäle kurz, und Na+-Ionen strömen
in die Zelle. Da sich gegensätzliche Ladungen
elektrisch anziehen, kann das positiv geladene
Natrium in das negativ geladene Zellinnere gelangen. Danach ist an dieser Stelle des Axons
die Ladung an der Innenseite relativ zur Außenseite positiv. Benachbarte Natriumkanäle reagie-
Pore eines Ionenkanals
Lipidmoleküle in
der Membran
Außenseite
der Zelle
Innenseite
der Zelle
Geschlossener
Ionenkanal
Abb. 2.4 Ionenkanle. Chemische
Stoffe wie Natrium, Kalium, Kalzium
und Chlor durchwandern die
Zellmembran ber porenfrmige
Proteinmolekle, die sogenannten
Ionenkanle.
2
48
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
Aktionspotenziale können sich auf dem Axon
– abhängig von seinem Durchmesser – mit einer
Geschwindigkeit von ungefähr drei bis zu 400
Kilometer pro Stunde fortbewegen; dabei leiten
dickere Axone im Allgemeinen schneller. Die
Geschwindigkeit hängt aber auch davon ab, ob
das Axon mit einer Myelinscheide umhüllt ist.
Eine solche Scheide besteht aus speziellen Gliazellen, die sich um das Axon wickeln und dabei
kleine Lücken zwischen sich lassen (siehe noch
einmal Abbildung 2.1). Diese Teilungen werden
Ranvier-Schnürringe genannt. Diese Isolierung
durch die Myelinscheide ermöglicht die saltatorische Erregungsleitung, bei Als saltatorische
welcher der Impuls von Erregungsleitung beeinem Ranvier-Schnürring zeichnet man das
zum nächsten springt (be- Springen eines Nervennannt nach dem lateinischen impulses von einem
Wort „saltare“ für „sprin- Ranvier-Schnrring zum
gen“). Dadurch wird die nchsten.
ren auf diesen Spannungsabfall und öffnen sich,
wodurch der angrenzende Bereich auf dem Axon
depolarisiert wird. Dieser Prozess der Depolarisation, der sich über die gesamte Länge des Axons
hinweg wiederholt, ist ein Aktionspotenzial.
Während das Aktionspotenzial das Axon entlangwandert, schließen sich die Natriumkanäle unmittelbar dahinter, und die zahlreich vorhandenen Ionenpumpen werden aktiviert, um das
Ruhepotenzial an der Zellmembran möglichst
schnell wiederherzustellen (siehe Abbildung
2.5). Die Bedeutung der Natriumkanäle zeigt
sich an der Wirkung örtlicher Betäubungsmittel
wie Procain, die standardmäßig zum Einsatz
kommen, um während zahnärztlicher Eingriffe
die Mundregion zu betäuben. Solche Wirkstoffe
verhindern die Öffnung der Natriumkanäle,
stoppen somit das Aktionspotenzial und unterbrechen die Weiterleitung eines sensorischen Signals an das Gehirn (Catterall, 2000).
–
–
Natriumionen
+
+
+
Reiz
n
embra
Axonm –
–
–
–
s-
g
Ladun
fluss
+
+
+
(a)
Natriumionen
–
+
–
+
–
+
+
+
Reiz
embra
Axonm –
–
–
–
Kaliumionen
+
+
+
n
gs-
Ladun
fluss
(b)
Abb. 2.5 Aktionspotenziale. (Nach Starr & Taggart, 1989.)
(a) Mit der Auslsung eines Aktionspotenzials ffnen sich die Natriumkanle. Infolgedessen wandern Natriumionen
in das Axon. Dabei transportieren sie positive Ladungen.
(b) Nachdem ein Aktionspotenzial an einer bestimmten Stelle auf dem Axon entstanden ist, schlieen sich die
Natriumkanle an dieser Stelle und ffnen sich am nchsten Punkt. Sobald sich die Natriumkanle schlieen, ffnen
sich die Kaliumkanle, und Kaliumionen strmen aus dem Axon heraus. Auch sie transportieren positive Ladungen.
49
Neurone -- die Bausteine des Nervensystems
Sendeneuron
2
Empfangsneuron
Axon
Sendeneuron
Neuronaler
Impuls
Endknöpfchen
Synaptische
Vesikel
Synaptischer
Spalt
Bindungsstelle
Postsynaptische
Membran
Molekül eines
Neurotransmitters
Geschwindigkeit der Erregungsleitung entlang
des Axons deutlich erhöht. Myelinscheiden
sind besonders dort zu finden, wo es auf eine
schnelle Weiterleitung des Aktionspotenzials ankommt, beispielsweise entlang der Axone, welche
die Muskulatur aktivieren. Bei der Multiplen Sklerose, deren erste Symptome typischerweise im Alter zwischen 16 und 30 Jahren auftreten, greift das
Immunsystem das körpereigene Myelin an und
zerstört es, was die Reizleitung stört und schwere
sensorische und motorische Funktionsstörungen
hervorruft.
Synaptische bertragung
Der synaptische Spalt zwischen Neuronen ist
besonders wichtig, da die Neurone an dieser Stelle
Signale übertragen. Ein einzelnes Neuron feuert
ein Aktionspotenzial, sobald die Erregung, die
es über mehrere seiner Synapsen erhält, eine gewisse Schwelle überschreitet. Das Neuron feuert
dabei in einem einzigen, kurzen Impuls und
Abb. 2.6 Ausschttung von Neurotransmittern in einen synaptischen Spalt. Die
Neurotransmitter werden von synaptischen
Vesikeln zu der prsynaptischen Membran
transportiert. Die Vesikel verschmelzen mit der
Membran und entleeren sich in den synaptischen Spalt. Die Neurotransmitter diffundieren
durch den Spalt und binden sich an die Rezeptormolekle der postsynaptischen Membran.
(Nach Sternberg, 1995.)
bleibt dann für ein paar Tausendstel Sekunden
inaktiv. Aktionspotenziale sind immer gleich
stark und können nur von Reizen ausgelöst werden, welche die Erregungsschwelle überschreiten.
Als Reaktion auf jegliche synaptische Eingangssignale kann ein Neuron also lediglich entweder
ein Aktionspotenzial feuern oder nicht, und
wenn, dann stets mit der gleichen Stärke. Dies
nennt man das Alles-oder-nichts-Prinzip der neuronalen Aktivität. Neuronale Aktionspotenziale
kann man sich als binäre Signale vorstellen mit
den beiden Ausprägungen 0 und 1, wie sie
auch in Computern zur Steuerung von Softwarebefehlen zum Einsatz kommen: Neurone feuern
entweder Aktionspotenziale (1) oder sie tun es
nicht (0). Einmal ausgelöst, wandert das Aktionspotenzial am Axon entlang zu dessen zahlreichen
präsynaptischen Endknöpfchen.
Wie schon erwähnt, gibt es an einer Synapse
keine direkte Berührung zwischen den Neuronen: Jedes Signal muss den synaptischen Spalt
überwinden (siehe Abbildung 2.6). Gelangt ein
Aktionspotenzial über das Axon zu einem synaptischen Endknöpfchen, aktiviert es die dort vor-
50
handenen synaptischen Vesikel – kleine Bläschen,
die Neurotransmitter enthalten. Bei einer Stimulation schütten sie Neurotransmitter in den synaptischen Spalt aus. Die Neurotransmitter diffundieren vom präsynaptischen oder sendenden
Neuron durch den synaptischen Spalt und binden an Rezeptoren; das sind
Rezeptoren sind ProProteine in der dendritischen
teine, welche in der
Membran des Empfangs- beMembran des postsynziehungsweise postsynaptiaptischen Neurons lieschen Neurons. Dabei passen
gen.
Neurotransmitter und Rezeptoren zusammen wie Schlüssel und Schloss.
Die Bindung der Neurotransmitter an Rezeptoren ändert unmittelbar die Durchlässigkeit der
Ionenkanäle im postsynaptischen Neuron. Einige
Neurotransmitter wirken erregend (exzitatorisch): Positiv geladene Ionen wie Naþ können
in das postsynaptische Neuron strömen und es
somit depolarisieren – das Innere der Zelle
wird im Vergleich zum Äußeren positiver. Andere Neurotransmitter haben einen hemmenden
(inhibierenden) Effekt. Sie negativieren das Innere eines Neurons im Vergleich zum Äußeren (mit
anderen Worten, sie hyperpolarisieren die Zellmembran) – entweder durch Ausströmen positiv
geladener Ionen wie Kþ oder durch Einströmen
negativ geladener Ionen wie Cl. Kurz gesagt: Erregung erhöht, Hemmung senkt die Wahrscheinlichkeit, dass das Empfangsneuron feuern wird.
Jedes einzelne Neuron kann Neurotransmitter
aus Tausenden von Synapsen mit anderen Neuronen aufnehmen, darunter sowohl erregende
als auch hemmende Neurotransmitter. Je nach
der Impulsfrequenz, mit der die verschiedenen
Axone feuern, setzen sie ihre Neurotransmitter
zu unterschiedlichen Zeitpunkten frei. Wenn
an einer bestimmten Stelle der Zellmembran
des Empfangsneurons zu einem bestimmten
Zeitpunkt die erregende Wirkung größer als
die hemmende wird, kommt es zur Depolarisation und damit zu einem Aktionspotenzial nach
dem Alles-oder-nichts-Prinzip.
Nachdem ein Neurotransmitter ausgeschüttet
und durch den synaptischen Spalt diffundiert ist,
muss er seine Wirkung in
Bei der Wiederaufnahsehr kurzer Zeit entfalten,
me resorbieren die
um eine genaue Steuerung
prsynaptischen
zu ermöglichen. Bei einigen
Endknpfchen den
Neurotransmittern wird die
berschssigen NeuroSynapse durch Wiederauftransmitter.
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
nahme sofort wieder gereinigt, indem der überschüssige Neurotransmitter von den präsynaptischen Endknöpfchen, die ihn ausgeschüttet hatten, resorbiert wird. Die Wiederaufnahme unterbricht die Wirkung des Neurotransmitters und
erspart den präsynaptischen
Endknöpfchen,
weitere Beim Prozess des AbTransmittersubstanz synthe- baus reagieren Enzyme
tisieren zu müssen. Bei ande- mit dem Neurotransmitter im synaptischen
ren Neurotransmittern wird Spalt, wodurch dieser
die Wirkung durch Abbau chemisch gespalten und
unterbrochen: Im entspre- deaktiviert wird.
chenden synaptischen Spalt
reagieren Enzyme mit dem Neurotransmitter,
um ihn chemisch zu spalten und ihn so zu deaktivieren.
zusammengefasst
Die grundlegende Einheit des Nervensystems ist
das Neuron.
Neurone erhalten chemische Signale an Verzweigungen, die man Dendriten nennt, und bertragen elektrochemische Potenziale entlang
eines rhrenfrmigen Fortsatzes, des Axons.
Chemische Neurotransmitter werden an den
Synapsen ausgeschttet und bermitteln Informationen zwischen zwei Neuronen. Neurotransmitter entfalten ihre Wirkung, indem sie an Rezeptorproteine anbinden.
Bei ausreichend hoher Depolarisation eines
Neurons erzeugt dieses ein Aktionspotenzial
nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip. Dieses
Aktionspotenzial wandert das Axon hinab und
bewirkt an den synaptischen Endknpfchen,
dass Neurotransmitter freigesetzt werden.
nachgefragt
1. Nur etwa ein Zehntel der Zellen in unserem Gehirn sind Neurone. Der Rest sind Gliazellen. Bedeutet dies, dass wir beim Denken nur zehn Prozent unseres Gehirns benutzen? Oder wie
knnte man diesen Sachverhalt interpretieren?
2. Lokalansthetika, wie Zahnrzte sie verwenden,
wirken durch die Blockierung von Na+-Kanlen in
den Neuronen, die nahe am Injektionsort liegen.
Im Allgemeinen injizieren ˜rzte ein Betubungsmittel natrlich dort, wo der Schmerz sitzt. Was
wrde die Injektion eines solchen Mittels in das
Gehirn bewirken? Wird es auch dort ausschlielich die Schmerz- und Berhrungsempfindungen
blockieren, oder htte es eine andere Wirkung?
Neurotransmitter
Neurotransmitter
Bisher wurden mehr als 70 Neurotransmitter
identifiziert. Weitere werden sicherlich hinzukommen. Einige Neurotransmitter können an
mehr als nur einen Rezeptortypen binden, wodurch sie in der Lage sind, bei verschiedenen Typen von Rezeptoren ganz unterschiedliche Wirkungen hervorzurufen. Der Neurotransmitter
Glutamat beispielsweise kann mindestens zehn
Arten von Rezeptormolekülen aktivieren. Neurone können dadurch sehr unterschiedlich auf
diesen Neurotransmitter reagieren (Madden,
2002). Bestimmte Neurotransmitter wirken an
manchen Bindungsstellen exzitatorisch und an
anderen inhibitorisch, weil dabei zwei unterschiedliche Typen von Rezeptormolekülen beteiligt sind. Natürlich können in diesem Kapitel
nicht alle bisher gefundenen Neurotransmitter
besprochen werden. Vielmehr konzentrieren
wir uns auf einige wenige, die für das Verhalten
des Menschen besonders bedeutsam sind.
Acetylcholin. Acetylcholin kommt im Nervensystem an vielen Synapsen vor. Im Allgemeinen
wirkt es erregend, aber es kann in Abhängigkeit
vom Typ des Rezeptormoleküls in der Membran
des postsynaptischen Neurons auch hemmend
wirken. Besonders verbreitet ist Acetylcholin in
einer Region des Vorderhirns, dem Hippocampus, der bei der Bildung neuer Gedächtnisinhalte eine wichtige Rolle spielt (Eichenbaum,
2000). Acetylcholin spielt auch bei der Alzheimer-Erkrankung eine wichtige Rolle, einer verheerenden Störung des Gedächtnisses und anderer kognitiver Funktionen, die vorrangig alte
Menschen befällt. Neurone im Vorderhirn, die
Acetylcholin produzieren, degenerieren bei Alzheimer-Patienten, was eine verringerte Acetylcholinproduktion zur Folge hat. Je weniger
Acetylcholin erzeugt wird, desto schwerer ist
der Gedächtnisverlust.
Acetylcholin wird auch an jeder Synapse ausgeschüttet, an der ein Neuron an einer Skelettmuskelfaser endet. Das Acetylcholin gelangt auf
kleine Strukturen der Muskelzellen, die (motorischen) Endplatten. Die Endplatten sind mit Rezeptormolekülen bedeckt, die bei Aktivierung
durch Acetylcholin eine molekulare Verbindung
innerhalb der Muskelzellen herstellen, wodurch
51
diese kontrahieren. Einige chemische Stoffe, die
auf Acetylcholin wirken, können Muskellähmungen erzeugen. Beispielsweise liegt dem Botulismus – einer Lebensmittelvergiftung, die durch
Bakterien in schlecht abgefüllten Nahrungsmittelkonserven hervorgerufen wird – die Blockierung der Acetylcholin-Ausschüttung an den
Nerv-Muskel-Synapsen durch Botiliumtoxin zu
Grunde. Wird dabei die Atemmuskulatur gelähmt, kann Botulismus zum Tode führen. Einige
Nervengase, die für militärische Zwecke entwickelt wurden, sowie viele Pestizide zerstören
die Enzyme, die das Acetylcholin nach dem Feuern des Neurons abbauen. Ohne diesen Abbauprozess erfolgt eine unkontrollierte Synthese
von Acetylcholin im Nervensystem, wodurch
eine normale synaptische Erregungsübertragung
nicht mehr möglich ist.
Noradrenalin. Noradrenalin (auch: Norepinephrin) ist ein Neurotransmitter aus der Klasse
der Monoamine und wird hauptsächlich durch
Neurone im Hirnstamm produziert. Kokain
und Amphetamin verlängern die Wirkung des
Transmitters durch eine Verlangsamung des
Wiederaufnahmeprozesses. Dadurch bleiben die
Empfangsneurone länger aktiviert, was letztlich
die psychostimulierenden Effekte solcher Drogen
hervorruft. Im Gegensatz dazu beschleunigt Lithium die Wiederaufnahme von Noradrenalin,
wodurch sich eine depressive Stimmung einstellt.
Jede von außen herbeigeführte Zu- oder Abnahme von Noradrenalin geht mit einer entsprechenden Veränderung in der Stimmungslage der betreffenden Person einher.
Dopamin. Dopamin, ebenfalls ein Monoamin,
ist dem Noradrenalin chemisch sehr ähnlich.
Die Ausschüttung von Dopamin in einzelnen
Teilen des Gehirns erzeugt positive Hochgefühle.
Die gegenwärtige Forschung untersucht die Rolle
des Dopamins bei der Entstehung von Sucht. Zu
viel Dopamin in einigen Regionen des Gehirns
kann zu Schizophrenie führen, und zu wenig
in anderen Regionen führt zur Parkinson-Krankheit. Wirkstoffe zur Behandlung von Schizophrenie wie etwa Chlorpromazin oder Clozapin blockieren die Dopamin-Rezeptoren. L-DOPA dagegen, eine Substanz, die häufig zur Behandlung der
Parkinson-Erkrankung verabreicht wird, erhöht
den Dopaminspiegel im Gehirn.
2
52
Serotonin. Serotonin ist ein weiteres Monoamin.
Es spielt wie Noradrenalin eine große Rolle bei der
Regulation unserer Stimmung. Niedrige Niveaus
von Serotonin werden beispielsweise mit depressiven Zuständen in Verbindung gebracht. Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer sind Antidepressiva, die den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhen,
indem sie die Wiederaufnahme des Neurotransmitters blockieren. Das Präparat Fluctin mit
dem Wirkstoff Fluoxetin, der in den USA unter
dem Handelsnamen Prozac weit verbreitet ist,
stellt einen solchen Serotonin-WiederaufnahmeHemmer dar und wird häufig zur Behandlung
von Depression eingesetzt. Da Serotonin ebenso
für die Regulation von Schlaf und Appetit wichtig
ist, wird damit auch die Essstörung Bulimie behandelt. Interessanterweise entfaltet die halluzinogene Droge Lysergsäurediethylamid (LSD)
ihre Wirkung, indem sie an Serotoninrezeptoren
im Gehirn bindet.
Glutamat. Der erregende Neurotransmitter Glutamat, eine Aminosäure, ist in mehr Neuronen
des zentralen Nervensystems vertreten als alle anderen Neurotransmitter. Glutamat wirkt exzitatorisch, da es bei Neuronen, an denen es ausgeschüttet wird, eine Depolarisation hervorruft. Es
existieren mindestens drei Subtypen von Glutamat-Rezeptoren, von denen man annimmt,
dass sie Lernen und Gedächtnis beeinflussen.
Dies gilt insbesondere für den sogenannten
NMDA-Rezeptor, der nach der chemischen Substanz (N-Methyl-D-Aspartat) benannt wurde,
mit deren Hilfe man diesen Rezeptortyp nachweisen kann. Neurone im Hippocampus, einer Region in der Nähe des Gehirnzentrums, sind besonders reich an NMDA-Rezeptoren, und diese Region scheint maßgeblich an der Bildung neuer
Gedächtnisinhalte beteiligt zu sein (Eichenbaum,
2000; siehe Kapitel 7). Störungen in der glutamatvermittelten neuronalen Erregungsübertragung
wurden mit Schizophrenie in Verbindung gebracht.
GABA. Ein anderer wichtiger, hemmend wirkender Aminosäure-Neurotransmitter ist die
Gamma-Amino-Buttersäure, abgekürzt GABA
(von gamma-aminobutyric acid). Die meisten
Synapsen im Gehirn benutzen GABA. Der Wirkstoff Picrotoxin, welcher GABA-Rezeptoren
blockiert, erzeugt Krämpfe, weil Muskelbewe-
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
gungen ohne den hemmenden Einfluss von
GABA nicht kontrolliert werden können. Die beruhigende Wirkung bestimmter angstlösender
Arzneimittel, der sogenannten Benzodiazepine,
beruht auf der hemmenden Wirkung von
GABA (siehe Kapitel 15). Die Funktionen dieser
Neurotransmitter sind in der Tabelle „Konzepte
im Überblick“ zusammengefasst.
Konzepte im berblick
Neurotransmitter und ihre Funktionen.
Neurotransmitter
Funktion
Acetylcholin
Acetylcholin ist beteiligt an
Gedchtnis und Aufmerksamkeit;
Abnahme steht in Zusammenhang
mit der Alzheimer-Erkrankung. Es
bertrgt auch Signale zwischen
Nerv und Muskel.
Noradrenalin
(Norepinephrin)
Noradrenalin wird durch Psychostimulanzien erhht. Niedrige Konzentrationen tragen zu Depression
bei.
Dopamin
Dopamin vermittelt die Wirkungen
von natrlicher Belohnung (beispielsweise Essen und Sex) und von
Substanzmissbrauch.
Serotonin
Serotonin spielt eine wichtige Rolle
bei der Stimmung und dem Sozialverhalten. Medikamente zur Linderung von Depression und Angst erhhen die Serotoninkonzentration
in den Synapsen.
Glutamat
Glutamat ist der Hauptvertreter der
erregenden Neurotransmitter im
Gehirn und ist an Lern- und Gedchtnisvorgngen beteiligt.
GABA
GABA ist der wichtigste hemmende
Neurotransmitter im Gehirn.
Arzneimittel zur Angstlinderung erhhen die GABA-Aktivitt.
zusammengefasst
Zu den wichtigsten Neurotransmittern gehren
Acetylcholin, Noradrenalin (oder Norepinephrin),
Dopamin, Serotonin, Gamma-Amino-Buttersure
(GABA) und Glutamat.
53
Der Aufbau des Nervensystems
Neurotransmitter ben entweder exzitatorische
(erregende) oder inhibitorische (hemmende) Wirkungen auf Neurone aus. Welche Wirkung eintritt,
hngt dabei vom Typ des postsynaptischen Rezeptors ab, an den die Neurotransmitter binden.
nachgefragt
1. Es gibt verschiedene Neurotransmittersysteme im
menschlichen Gehirn. Was knnte wohl der Grund
fr eine solche neurochemische Vielfalt sein?
2. Welche Vorteile bietet die chemisch gesteuerte
Signalbertragung im Gehirn? Welche Nachteile
gibt es?
Der Aufbau des Nervensystems
Die Einteilung des Nervensystems
Alle Teile des Nervensystems sind miteinander
verknüpft, aber typischerweise geht man von
einer Aufteilung in zwei Hauptbereiche aus (siehe
Abbildung 2.7). Das Zentralnervensystem besteht
aus allen Neuronen im GeDas Zentralnervenhirn und im Rückenmark.
system umfasst alle
Das periphere Nervensystem
Neurone im Gehirn und
wird durch die Nerven geRckenmark; das peribildet, die das Gehirn und
phere Nervensystem
besteht aus den Nerven, das Rückenmark mit den
die Gehirn und Rckenanderen Teilen des Körpers
mark mit anderen Teilen verbinden. Das periphere
des Krpers verbinden.
Nervensystem
wiederum
Zentralnervensystem
Nervensystem
Peripheres
Nervensystem
wird in das somatische System Die Verbindungen zu
und das autonome System den Sinnesrezeptoren,
eingeteilt. Das somatische den Muskeln und der
System überträgt Botschaften Krperoberflche bilden
von und zu den Sinnesrezep- das somatische Systoren, den Muskeln und der tem; das autonome
Körperoberfläche. Das auto- System stellt die Verbindungen zu den innenome System stellt die Ver- ren Organen und den
bindung zu den inneren Or- Drsen her.
ganen und den Drüsen her.
Die sensorischen Nerven des somatischen Systems leiten Informationen über äußere Reizungen der Haut, der Muskeln oder der Gelenke
zum Zentralnervensystem. Durch sie fühlen wir
Schmerz, Druck und Temperaturänderungen.
Die motorischen Nerven des somatischen Systems
leiten Impulse vom Zentralnervensystem zu den
Muskeln, wo sie Aktivität auslösen. Sie sind für
alle Muskeln zuständig, die wir bei willkürlichen
Bewegungen oder bei der unwillkürlichen Steuerung des Körpergleichgewichts und der Körperhaltung benutzen. Die Nerven des autonomen
Systems, die von und zu den inneren Organen
verlaufen, regulieren Prozesse wie Atmung, Herzschlag und Verdauung. Das autonome System sowie seine zentrale Funktion bei Emotionen werden in diesem Kapitel an späterer Stelle behandelt.
Die meisten Nervenfasern, welche die verschiedenen Teile des Körpers mit dem Gehirn
verbinden, laufen im Rückenmark zusammen,
wo die knöcherne Wirbelsäule sie schützt. Das
Rückenmark ist ziemlich kompakt; es hat etwa
den Durchmesser des kleinen Fingers. Einige
der einfachsten Reiz-Reaktions-Reflexe werden
über das Rückenmark realisiert. Ein Beispiel ist
der Kniesehnenreflex. Wird die Kniesehne durch
Druck gereizt, streckt sich der zugehörige Muskel,
und die in diesen Muskel eingebetteten sensori-
Gehirn
Rückenmark
Somatisches System
Autonomes System
Abb. 2.7 Der Aufbau des
Nervensystems.
2
54
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
schen Zellen senden ein Signal über sensorische
Neurone zum Rückenmark. Dort sind die sensorischen Neurone synaptisch mit motorischen
Neuronen verbunden. Diese leiten Impulse
zum selben Muskel zurück, wodurch der Muskel
kontrahiert und das Bein gestreckt wird. Obwohl
diese Reaktion ohne jegliche Signale des Gehirns
allein über das Rückenmark erfolgt, kann sie
durch Signale von höheren Nervenzentren beeinflusst werden. So wird beispielsweise die Streckbewegung verstärkt, wenn man seine Hände vor
dem Schlag auf das Knie verschränkt und kräftig
auseinanderzieht. Und wenn man sich direkt, bevor der Arzt auf die Sehne klopft, vorstellt, das
eigene Knie sei bewegungsunfähig, kann man
den Reflex unterdrücken.
Der Aufbau des Gehirns
Man kann das Gehirn nach unterschiedlichen
Kriterien einteilen. Der Ansatz in Abbildung
2.8a unterscheidet drei Gehirnbereiche anhand
ihrer räumlichen Lage: (1) Das Rautenhirn umfasst alle Strukturen im hinteren (posterioren)
Teil des Gehirns, ganz in
Das Rautenhirn umder Nähe des Rückenmarks.
fasst alle Strukturen im
(2) Das Mittelhirn, direkt
hinteren Teil des Gevor dem Rautenhirn gelegen,
hirns, das Vorderhirn
befindet sich nahe der Mitte
alle Strukturen im vordes Gehirns. (3) Das Vorderderen Teil des Gehirns.
Dazwischen liegt das
hirn schließt alle Strukturen
Mittelhirn.
ein, die sich im vorderen (anterioren) Teil des Gehirns
Der zentrale Kern oder befinden. Der kanadische
Forscher Paul MacLean
Hirnstamm steuert unwillkrliches Verhalten
schlug eine andere Sichtweise
wie Husten und Niesen
vor, in der die Gehirnstruksowie primitive willkrturen nicht nach ihrem Ort,
liche Verhaltensweisen
sondern nach ihrer Funktion
wie Atmen, Schlafen
unterteilt werden (MacLean,
oder Trinken.
1973). MacLean nahm drei
konzentrisch angeordnete
Das limbische System Schichten für das Gehirn
dient zur Steuerung unan: (1) Der zentrale Kern reserer Emotionen.
guliert unser unwillkürliches
Verhalten. (2) Das limbische
Das Grohirn ist
System steuert unsere Emozustndig fr unsere
tionen. (3) Das Großhirn ist
intellektuellen Profür unsere intellektuellen
zesse.
Prozesse zuständig. Abbil-
dung 2.8b zeigt, wie diese Schichten angeordnet
sind. Bei der Diskussion von Gehirnstrukturen
und deren Funktionen folgen wir der Konzeption
von MacLean.
Der zentrale Kern
Der zentrale Kern steuert unwillkürliches Verhalten wie Husten, Niesen und Schlucken sowie ,einfaches‘ willkürlich kontrolliertes Verhalten wie
Atmen, Erbrechen, Schlafen, Essen, Trinken,
die Temperaturregulation und das Sexualverhalten. Zum zentralen Kern – auch Hirnstamm genannt – gehören neben allen Strukturen des Rautenhirns und Mittelhirns auch zwei Strukturen
des Vorderhirns, nämlich der Hypothalamus
und der Thalamus. Damit erstreckt sich der zentrale Kern vom Rautenhirn bis zum Vorderhirn.
Dieses Kapitel befasst sich mit fünf Strukturen
des Hirnstamms, welche die einfachsten, überlebenswichtigen Verhaltensweisen regulieren: Medulla oblongata, Kleinhirn, Thalamus, Hypothalamus und Formatio reticularis. Die Tabelle in
Abbildung 2.8d enthält die Funktionen dieser
fünf Strukturen sowie die Funktionen des cerebralen Cortex, des Balkens (Corpus callosum),
des Hippocampus und der Amygdala.
Die erste leichte Verdickung des Rückenmarks
beim Eintritt in den Schädel ist die Medulla oblongata (verlängertes Rü- Die Medulla oblongata
ckenmark), eine schmale (verlngertes RckenStruktur, welche die Atmung mark) steuert die Atund einige Reflexe, die für mung und einige Refledie aufrechte Körperhaltung xe fr die aufrechte
wichtig sind, steuert. An die- Krperhaltung.
ser Stelle kreuzen sich auch die wichtigsten Nervenbahnen, die vom Rückenmark kommen, so
dass die rechte Seite des Körpers mit der linken
Seite des Gehirns und die linke Seite des Körpers
mit der rechten Seite des Gehirns verbunden ist.
Das Kleinhirn. Die gefaltete Struktur des Kleinhirns – oder Cerebellums – befindet sich
gleich über der Medulla ob- Das Kleinhirn oder
longata an der Rückseite Cerebellum ist vor aldes Hirnstamms. Sie ist vor lem fr die Bewegungsallem für die Bewegungsko- koordination zustndig.
ordination zuständig. Bestimmte Bewegungen können auch auf höherer
Gehirnebene ausgelöst werden, aber die Koordi-
55
Der Aufbau des Nervensystems
Gehirn
Rautenhirn
Medulla
Brücke
Formatio reticularis
Das Mittelhirn ist in der
Mitte des Gehirns lokalisiert
Kleinhirn
Thalamus
Das Vorderhirn
umfasst alle Strukturen im anterioren
Teil des Gehirns
Das Rautenhirn schließt alle
Strukturen ein, die im posterioren
Teil des Gehirns liegen
Abb. 2.8 (a) Der rumliche Aufbau des Gehirns.
2
Vorderhirn
Mittelhirn
Hypothalamus
Limbisches System
Hypophyse
nierung solcher Bewegungen erfolgt durch das
Kleinhirn. Schädigungen des Kleinhirns erzeugen
ruckartige, unkoordinierte Bewegungen. Neben
der Bewegungskoordination ist das Cerebellum
aber auch wichtig, um neue motorische Reaktionen zu lernen (Thompson & Krupa, 1994; siehe
Kapitel 7).
Direkte neuronale Verbindungen zwischen
dem Kleinhirn und frontalen Teilen des Gehirns
sind an Sprache, Planung und Schlussfolgern
beteiligt (Middleton & Strick, 1994). Diese neuronalen Verbindungen sind beim Menschen viel
stärker ausgeprägt als bei Affen und anderen
Tieren. Derartige Belege lassen darauf schließen,
dass das Kleinhirn eine wichtige Rolle sowohl bei
der Steuerung und Koordinierung höherer mentaler Funktionen als auch bei der Koordinierung
von Bewegungen spielt.
Großhirn
Cerebraler
Cortex
Limbisches
System
Thalamus
Zentraler
Kern
Kleinhirn
Abb. 2.8 (b) Der funktionale Aufbau des
menschlichen Gehirns.
Cerebraler Cortex
Hirnstamm
56
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
Corpus callosum
Großhirn
Thalamus
Hypothalamus
Epiphyse
Hypophyse
Mittelhirn
Brücke
Kleinhirn
Medulla
Diese Grafik zeigt die
wichtigsten Strukturen
des Zentralnervensystems.
(Vom Rückenmark ist nur
der obere Teil zu sehen.)
Rückenmark
Abb. 2.8 (c) Das Gehirn des Menschen im mittleren Lngsschnitt.
Struktur
Funktion
Cerebraler Cortex
Die cortikalen Areale umfassen das primre motorische Areal, den primren somatosensorischen Cortex, den primren visuellen Cortex, den primren auditorischen
Cortex und die Assoziationsareale.
Corpus callosum
Das Corpus callosum -- der Balken -- verbindet die beiden Hemisphren des Grohirns.
Hippocampus
Der Hippocampus hat eine wichtige Funktion fr das Gedchtnis, insbesondere fr das
episodische Gedchtnis.
Amygdala
Die Amygdala ist beteiligt an der Vermittlung von Emotionen, vor allem von Furcht.
Thalamus
Der Thalamus leitet die einlaufende Information von den sensorischen Rezeptoren zum
Grohirn; er hilft auch bei der Regulation von Schlaf und Wachsein.
Hypothalamus
Der Hypothalamus vermittelt Essen, Trinken und Sexualverhalten. Er reguliert die
endokrine Aktivitt und hlt die Homostase aufrecht. Darber hinaus spielt er eine
Rolle beim emotionalen Geschehen und bei der Stressreaktion.
Kleinhirn
Das Kleinhirn -- oder Cerebellum -- ist fr die Bewegungskoordination und fr das
Erlernen von Bewegungsablufen zustndig.
Formatio reticularis
Die Formatio reticularis spielt eine Rolle bei der Erregungskontrolle und bei der
Fokussierung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Reize.
Medulla oblongata
Die Medulla oblongata steuert die Atmung und einige Reflexe, die den Krper in
aufrechter Position halten.
Abb. 2.8 (d) Wichtige Teile des menschlichen Gehirns und ihre Funktionen.
57
Der Aufbau des Nervensystems
Der Thalamus. Unmittelbar über dem Mittelhirn jeder Hemisphäre befinden sich zwei eiförmige Ansammlungen von
Der Thalamus dient als Nuclei: der Thalamus. Der
sensorische UmschaltThalamus dient als sensoristation und leitet Inforsche Umschaltstation, welmation von den Sinche die einlaufende Informanesrezeptoren (wie
etwa Sehen und Hren) tion von den sensorischen
Rezeptoren (wie etwa Sehen
zum Grohirn weiter.
Ebenso wichtig ist seine und Hören) zum Großhirn
Rolle bei der Regulation weiterleitet. Er spielt ebenso
von Schlaf- und Wacheine wichtige Rolle bei der
zustnden.
Regulation von Schlaf- und
Wachzuständen.
Hypothalamus. Der Hypothalamus ist eine viel kleinere
Struktur direkt unter dem
Thalamus. Er reguliert motivierte Verhaltensweisen wie
Essen, Trinken und Sexualverhalten. Der Hypothalamus steuert auch die Körpertemperatur, die Pulsfrequenz
und den Blutdruck, die alle
Homostase bezeichBestandteile der Homöostase
net den normalen
sind. Darunter versteht man
Funktionszustand eines
das normale Gleichgewicht
gesunden Organismus.
zwischen den physiologischen Systemen des Körpers. Ist ein Organismus
Belastungen ausgesetzt, wird die Homöostase
gestört, und Prozesse zur Korrektur des entstandenen Ungleichgewichts werden in Gang gesetzt.
So schwitzen wir, wenn es uns zu warm ist, und
wir zittern, wenn es uns zu kalt ist. Beide Prozesse
sind darauf ausgerichtet, die Normaltemperatur
wieder herzustellen; sie werden durch den Hypothalamus gesteuert.
Der Hypothalamus spielt auch eine wichtige
Rolle beim emotionalen Geschehen und bei unseren Reaktionen auf Stress erzeugende Situationen. Eine schwache elektrische Reizung bestimmter Regionen des Hypothalamus erzeugt angenehme Gefühle; eine Stimulation benachbarter
Regionen führt zu unangenehmen Gefühlen.
Auch steuert der Hypothalamus über seinen Einfluss auf die Aktivität der Hypophyse, die direkt
unter ihm liegt (siehe Abbildung 2.8), das endokrine System und damit die Produktion von Hormonen. Diese Kontrolle ist in Gefahrensituationen
besonders wichtig, wenn der Körper sehr rasch
Der Hypothalamus reguliert motivierte Verhaltensweisen wie Essen, Trinken und Sexualverhalten. Er steuert aber auch die
Krpertemperatur, die
Pulsfrequenz und den
Blutdruck.
einen ganzen Komplex von physiologischen Prozessen mobilisieren muss, der als Angriff-oderFlucht-Reaktion bezeichnet wird. Dieser Funktion
entsprechend wird der Hypothalamus auch als das
Stresszentrum des Gehirns bezeichnet.
Formatio reticularis. Die Die Formatio retiFormatio reticularis ist ein cularis ist ein Netz
Netz von Neuronen, das von Neuronen, welches
sich vom unteren Hirn- insbesondere fr die
stamm bis zum Thalamus er- Steuerung von Erregung
streckt und dabei eine Reihe zustndig ist.
anderer Strukturen des zentralen Kerns durchkreuzt. Dieses neuronale Netzwerk dient insbesondere zur Erregungssteuerung.
Wenn die Formatio reticularis einer Katze oder
eines Hundes mit einer bestimmten Wechselstromfrequenz über implantierte Elektroden gereizt wird, schläft das Tier ein. Die Stimulation
mit einem höherfrequenten Signal weckt das
schlafende Tier wieder auf.
Die Formatio reticularis hat auch eine wichtige
Funktion für unsere Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Reize zu fokussieren. Alle sensorischen Rezeptoren besitzen Nervenfasern, die
in die Formatio reticularis führen, welche als Filter zu fungieren scheint. Einige sensorische Signale werden von ihr zum Cortex durchgelassen
(das heißt, sie werden bewusst), andere werden
dagegen abgeblockt.
Das limbische System
Um den zentralen Kern des Gehirns und eng verbunden mit dem Hypothalamus liegt das limbische System. Dabei handelt es sich um eine Ansammlung von Strukturen, die zusätzliche Kontrolle über instinktives Verhalten auszuüben
scheint, das ansonsten vom Hypothalamus und
dem Hirnstamm reguliert wird (siehe noch einmal Abbildung 2.8). Tiere wie beispielsweise Fische und Reptilien, die nur ein rudimentäres limbisches System besitzen, zeigen bei Aktivitäten
wie Füttern, Angriff, Flucht und Paarung nur stereotype Verhaltensweisen. Bei Säugetieren scheint
das limbische System einige dieser instinktiven
Verhaltensmuster zu hemmen. Dadurch wird
der Organismus flexibler und kann sich besser
an Veränderungen in der Umwelt anpassen.
2
58
Ein Teil des limbischen Systems, der Hippocampus, besitzt eine wichtige Funktion
für das Gedächtnis. Die Bedeutung dieser Funktion
wurde entdeckt, als man in
den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts Menschen
zur Behandlung ihrer Epilepsie diese Gehirnstruktur chirurgisch entfernte. Nach der Erholung von einer solchen Operation sind Patienten
leicht in der Lage, alte Freunde zu erkennen oder
frühere Erlebnisse zu berichten; sie können lesen
und Dinge tun, die sie lange vor der Operation
erlernt haben. Dagegen haben sie Schwierigkeiten, über Ereignisse zu berichten, die sie im
Jahr vor der Operation erlebt haben. An Erlebnisse nach ihrer Operation haben sie gar keine Erinnerung. So erkennen solche Patienten zum Beispiel eine Person am Nachmittag nicht wieder,
mit der sie einige Stunden am Vormittag verbracht haben. Sie können ein Puzzlebild jede Woche wieder zusammenlegen, ohne sich daran zu
erinnern, dass sie es schon einmal getan haben,
und sie können dieselbe Zeitung immer wieder
lesen, ohne sich an den Inhalt zu erinnern (Squire
& Kandel, 2000).
Das limbische System ist auch am emotionalen
Verhalten beteiligt. Die Amygdala, eine mandelförmige Struktur tief im InAls Amygdala bezeichnern des Gehirns, ist entnet man eine manscheidend für Emotionen
delfrmige Teilstruktur
wie etwa Furcht (Maren,
des limbischen Sys2001). Zum Beispiel zeigen
tems; sie ist entscheidend fr Emotionen wie Affen mit Schädigung der
Amygdala einen deutlichen
zum Beispiel Furcht.
Rückgang an Furcht (Klüver
& Bucy, 1937). Menschen mit solchen Schädigungen sind nicht in der Lage, Gesichtsausdrücke
von Furcht zu erkennen oder neue Reaktionen
auf Furcht zu erlernen (Bechara et al., 1995).
Die Beschreibung des Gehirns auf der Basis
von drei konzentrischen Strukturen – dem zentralen Kern, dem limbischen System und dem
Großhirn (siehe dazu den nächsten Abschnitt)
– darf nicht dazu verleiten, diese Teile als voneinander unabhängig zu sehen. Sie sind mit einem
Netzwerk von Computern zu vergleichen. Jeder
übernimmt spezielle Funktionen, aber sie müssen
zusammenarbeiten, um das beste Ergebnis zu erreichen. Ähnlich erfordert die Analyse der Sinnesinformation bestimmte Verarbeitungspro-
Der Hippocampus ist
ein Teil des limbischen
Systems; er besitzt eine
wichtige Funktion fr
das Gedchtnis.
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
zesse und Entscheidungen (für die das Großhirn
zuständig ist), die sich von denen unterscheiden,
die für die (vom limbischen System ausgeübte)
Steuerung von sequenziellem, reflexhaftem Verhalten erforderlich sind. Die Feinsteuerung der
Muskeln (beim Schreiben oder beim Spielen
eines Musikinstruments) erfordert wiederum
eine andere Art der Steuerung, die durch den primären motorischen Cortex im Vorderhirn geleistet wird. Alle diese Aktivitäten werden als integriertes System realisiert, so dass der Organismus
reibungslos funktioniert.
Das Grohirn
Das Großhirn ist beim Menschen viel höher entwickelt als bei jedem anderen Organismus. Die
äußere Schicht des Großhirns wird cerebraler Cortex (oder einfach Cortex) genannt. Die Bezeichnung ist Der cerebrale Cortex
ist die uere Schicht
vom lateinischen Wort für des Grohirns.
„Rinde“ abgeleitet. Der Cortex eines konservierten Gehirns erscheint grau,
weil er hauptsächlich aus Nuclei und Fasern
ohne Myelinscheide besteht – daher auch der
Name „graue Substanz“. Das Innere des Großhirns, unterhalb des Cortex, besteht vor allem
aus myelinisierten Axonen und erscheint weiß
(auch „weiße Substanz“ genannt).
Jedes Sinnessystem sendet Informationen an
spezifische Areale des Cortex. Motorische Reaktionen oder Bewegungen der Körperteile werden
von einem anderen Areal des Cortex gesteuert.
Der Rest des Cortex, der weder für sensorische
noch für motorische Information zuständig ist,
besteht aus Assoziationsarealen. Diese Areale nehmen den größten Teil des menschlichen Cortex
ein und dienen Gedächtnis-, Denk- und Sprachfunktionen.
Das Großhirn besteht aus zwei Hemisphären
auf der linken und der rechten Seite des Gehirns,
welche durch den Balken Das Grohirn besteht
(das Corpus callosum) ver- aus zwei Hemisphren
bunden sind. Sie sind im auf der linken und der
Großen und Ganzen sym- rechten Seite des Gemetrisch und durch eine tiefe hirns, die miteinander
Furche getrennt, die von durch den Balken (das
vorn nach hinten läuft. Wir Corpus callosum) versprechen deshalb von der bunden sind.
59
Der Aufbau des Nervensystems
(a)
Scheitel- oder
Parietallappen
(b)
Stirn- oder
Frontallappen
Zentralfurche
Linke Hemisphäre Rechte Hemisphäre
Frontallappen
Längsfurche
2
Zentralfurche
Insel (nicht
sichtbar unter
der Oberfläche)
Hinterhaupts- Schläfen- oder Sulcus
oder Okzipital- Temporallappen lateralis
lappen
Cortex
Scheiteloder
Parietallappen
Subcortikales
Gewebe
Furche
(c)
Hinterhaupts- oder
Okzipitallappen
Scheitel- oder
Parietallappen
(d)
Hinterhaupts- oder
Okzipitallappen
Frontallappen
Kleinhirn
Schläfen- oder
Temporallappen
Abb. 2.9 Okzipitallappen. Jede cerebrale Hemisphre besteht aus mehreren Lappen, die durch Furchen getrennt
sind. Zustzlich zu den groen sichtbaren Lappen liegt eine groe innere Falte, die Insula, tief in der lateralen Furche.
(a) Seitenansicht. (b) Ansicht von oben. (c) Querschnitt durch den cerebralen Cortex. Man beachte den Unterschied
zwischen der grauen Substanz im Oberflchenbereich und der tiefer liegenden weien Substanz. (d) Fotographie des
menschlichen Gehirns. (Nach Gaudin & Jones, 1989.)
Jede Hemisphre lsst
sich in vier Lappen
einteilen: den Frontallappen, den Parietallappen, den Okzipitallappen und den Temporallappen; alle Lappen sind
groe Regionen des
cerebralen Cortex mit
unterschiedlichen
Funktionen.
rechten und der linken Hemisphäre. Jede Hemisphäre
ist in vier Lappen eingeteilt
– große Regionen des cerebralen Cortex mit unterschiedlichen
Funktionen
(siehe Abbildung 2.9): den
Stirnlappen (Frontallappen),
den Scheitellappen (Parietallappen), den Hinterhauptslappen
(Okzipitallappen)
und den Schläfenlappen (Temporallappen). Der
Stirnlappen ist vom Scheitellappen durch die
Zentralfurche (Sulcus centralis) getrennt, die
vom Scheitel seitwärts zu den Ohren verläuft.
Die Grenze zwischen dem Scheitellappen und
dem Hinterhauptslappen verläuft weniger eindeutig. Für unsere Zwecke genügt, dass sich
der Scheitellappen unter dem Schädeldach und
hinter der Zentralfurche befindet, während der
Hinterhauptslappen im hinteren Teil des Gehirns
liegt. Der Schläfenlappen ist durch eine tiefe Fur-
60
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
che an der Seite des Gehirns, den Sulcus lateralis,
abgesetzt.
Bewegungen der linken Körperhälfte erfolgen
durch die rechte Hemisphäre.
Der primre motorische Cortex. Der primäre
motorische Cortex, unmittelbar vor der Zentralfurche gelegen, steuert die Willkürbewegungen
des Körpers (siehe Abbildung 2.10). Eine elektrische Stimulation bestimmter Stellen des motorischen Cortex ruft die Bewegung bestimmter Körperteile hervor, dagegen führt eine Schädigung
eben dieser Stellen zu Störungen der entsprechenden Bewegungen. Auf dem motorischen
Cortex ist der Körper ungefähr auf dem Kopf stehend abgebildet. Bewegungen der Zehen werden
durch Areale gesteuert, die sich oben befinden,
für Bewegungen der Zunge und des Mundes
sind jedoch Areale im unteren Bereich des motorischen Cortex zuständig. Bewegungen der rechten Seite des Körpers werden durch den motorischen Cortex der linken Hemisphäre bewirkt;
Der primre somatosensorische Cortex. Im
Parietallappen liegt ein Areal, das durch die Zentralfurche vom motorischen Cortex abgetrennt ist
und bei elektrischer Reizung Sinnesempfindungen auf der entgegengesetzten Seite des Körpers
auslöst. Wird dieses Areal stimuliert, dann fühlt
es sich an, als ob ein Körperteil berührt oder bewegt würde. Daher wird dieser Bereich primärer
somatosensorischer Cortex („Soma“ ist der Körper,
„sensorisch“ betrifft die Sinne) genannt, das Areal
der Körpersinne. Die Empfindungen von Wärme, Kälte, Berührung, Schmerz und die Empfindung von Körperbewegungen sind in diesem Teil
des Cortex repräsentiert.
Die meisten Fasern der Nervenbahnen, die
vom somatosensorischen und vom motorischen
Cortex ausgehen und zu ihnen hinführen, wech-
Zentralfurche
Primärer motorischer
Cortex
Primärer somatosensorischer
Cortex
BrocaAreal
Gyrus
angularis
Sulcus lateralis
Vorderseite
des Gehirns
Primärer
auditorischer
Cortex
WernickeAreal
Primärer
visueller
Cortex
Abb. 2.10 Funktionsteilung in der linken Hemisphre. Ein groer Teil des Cortex ist an der Steuerung von
Bewegungen und an der Analyse sensorischer Inputs beteiligt. Diese Areale (dazu gehren der motorische, der
somatosensorische, der visuelle, der auditive und der olfaktorische Cortex) sind auf beiden Seiten des Gehirns
vorhanden. Andere Funktionen finden sich nur auf einer Seite des Gehirns. So sind das Broca- und das Wernicke-Areal an der Produktion und dem Verstehen von Sprache beteiligt. Der Gyrus angularis hilft beim Vergleich
der visuellen Form des Wortes mit seiner auditorischen Reprsentation. Diese Funktionen existieren nur in der
linken Hlfte des Gehirns.
61
Der Aufbau des Nervensystems
seln die Körperseite. So gehen sensorische Impulse von der rechten Seite des Körpers zum linken somatosensorischen Cortex, und die Muskeln des rechten Fußes und der rechten Hand
werden durch den linken motorischen Cortex gesteuert.
Im Allgemeinen ist die Größe der Fläche auf
dem somatosensorischen Cortex, die mit einem
bestimmten Teil des Körpers assoziiert ist, proportional zur Empfindlichkeit und zum Einsatz
dieses Körperteils. Beispielsweise besitzt der
Hund unter den vierbeinigen Säugetieren für
seine Vorderpfoten nur einen kleinen cortikalen
Bereich. Beim Waschbär dagegen, der seine Vorderpfoten ausgiebig zur Erkundung und Manipulation seiner Umgebung einsetzt, ist der cortikale
Bereich für die Steuerung seiner Vorderpfoten
viel größer ausgeprägt, wobei sogar einzelnen
Fingern eine eigene Region zugeordnet ist. Die
Ratte lernt sehr viel über ihre Umgebung durch
ihre empfindsamen Barthaare und verfügt daher
für jedes Barthaar über einen separaten cortikalen
Bereich.
Der primre visuelle Cortex. Am hinteren
Ende der beiden Okzipitallappen befindet sich
der primäre visuelle Cortex. Abbildung 2.11 zeigt
die Fasern des Sehnervs und die Nervenbahnen
von beiden Augen bis zum visuellen Cortex. Dabei ist zu beachten, dass ein Teil der Fasern des
Sehnervs vom rechten Auge zur rechten Hemisphäre führt, während die restlichen Fasern
beim Chiasma opticum (der Sehkreuzung) zur
linken Hemisphäre wechseln. Analog gilt dies
auch für das linke Auge. Genau betrachtet führen
die Fasern von der rechten Seite beider Augen in
die rechte Hemisphäre, und die Fasern von der
linken Seite der Augen gehen in die linke Hemisphäre. Diese Zusammenhänge sind manchmal
für die Lokalisierung eines Hirntumors oder anderer Sehstörungen nützlich. Zum Beispiel verursacht eine Schädigung des visuellen Cortex in der
linken Hemisphäre blinde Flecken in den jeweiligen linken Hälften der beiden Augen, was einem
Verlust des rechten Gesichtsfelds entspricht.
Der primre auditorische Cortex. Der primäre
auditorische Cortex befindet sich an der Oberfläche des Temporallappens an der Seite jeder Hemisphäre. Er ist an der Analyse komplexer akustischer Signale beteiligt, insbesondere an der Ana-
Linkes Auge
Rechtes Auge
Sehnerv
Chiasma
opticum
Visueller Cortex
Abb. 2.11 Die Sehbahnen. Nervenfasern von der
inneren oder nasalen Hlfte der Retina kreuzen sich
beim Chiasma opticum und gehen zur anderen Seite
des Gehirns. So werden die Signale von Reizen, die
auf die jeweils rechte Seite der Retina fallen ( = linkes
Gesichtsfeld), zur rechten Hemisphre bertragen. Entsprechend werden Signale von Reizen, die auf die linke
Seite jeder Retina fallen ( = rechtes Gesichtsfeld), zur
linken Hemisphre bertragen. (Nach Gaudin & Jones,
1989.)
lyse der zeitlichen Strukturierung von Schallsignalen wie etwa der menschlichen Sprache.
Beide Ohren sind im auditorischen Cortex beider
Hemisphären repräsentiert, wobei jedoch die
Verbindungen zur gegenüberliegenden Seite des
Cortex stärker sind. Demnach sendet das rechte
Ohr Informationen zum primären auditorischen
Cortex sowohl der rechten als auch der linken
Hemisphäre, wobei aber mehr Information in
die linke Hemisphäre übertragen wird. Beim linken Ohr verhält es sich entsprechend umgekehrt.
Der Assoziationscortex. Diejenigen Bereiche
des cerebralen Cortex, die weder für sensorische
noch für motorische Prozesse zuständig sind, bilden, wie schon erwähnt, den Assoziationscortex.
Die frontalen Assoziationsfelder (Teile des Frontallappens vor dem motorischen Cortex) scheinen
eine wichtige Rolle bei den Gedächtnisleistungen
zu spielen, die für erfolgreiches Problemlösen erforderlich sind (Miller & Cohen, 2001). Bei Affen
führt zum Beispiel eine Schädigung der Frontallappen dazu, dass ihre Fähigkeit zur Lösung von
Problemen verloren geht, bei denen eine Reakti-
2
62
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
on nach einer Zeitverzögerung ausgeführt werden
muss. Bei einem solchen Problem wird für den
Affen sichtbar Futter in eine von zwei Schalen gelegt, die anschließend mit zwei identischen Objekten zugedeckt werden. Dann wird ein undurchsichtiger Schirm zwischen den Affen und
die zugedeckten Schalen gestellt. Nach einer gewissen Zeit wird der Schirm entfernt, und der
Affe darf eine der Schalen wählen. Gesunde Affen
können sich noch nach mehreren Minuten an die
richtige Schale erinnern, Affen mit Schädigungen
der Frontallappen sind schon nach einigen Sekunden nicht mehr dazu in der Lage. Gesunde
Affen haben im Frontallappen Neurone, die während der Verzögerungszeit Aktionspotenziale erzeugen. Dadurch bleibt möglicherweise die Erinnerung an ein Ereignis erhalten (Goldman-Rakic,
1996).
Die posterioren Assoziationsfelder befinden sich
in der Nähe der verschiedenen primären sensorischen Areale. Sie scheinen aus Teilfeldern
zu bestehen, die jeweils für eine bestimmte Art
von Sinneseindrücken zuständig sind. So hängt
der untere Teil des Temporallappens mit der
visuellen Wahrnehmung zusammen. Läsionen
(Gehirnschäden) in diesem Bereich rufen Defizite
bei der Wiedererkennung und Diskrimination
von Formen hervor. Eine Schädigung an dieser
Stelle des Cortex beeinträchtigt hingegen nicht
das visuelle Auflösungsvermögen, wie es bei einer
Läsion im primären visuellen Cortex des Okzipitallappens der Fall wäre. Vielmehr vermag ein
Patient die Form zu ,sehen‘ und die Umrisse
nachzuzeichnen, er kann die Form aber nicht
identifizieren oder von anderen Formen unterscheiden (Gallant, Shuop & Mazer, 2000;
Goodglass & Butters, 1988).
Bilder vom lebenden Gehirn
Hoch entwickelte Computermethoden, die erst
seit Kurzem verfügbar sind, ermöglichen es, für
den Patienten schmerzfrei und ohne weitere Beeinträchtigung oder gar Schädigung detaillierte
Bilder vom lebenden menschlichen Gehirn zu erhalten. Vor der Ausarbeitung dieser Techniken
konnte eine präzise Lokalisierung und Identifikation der meisten Gehirnverletzungen nur durch
einen explorativen neurochirurgischen Eingriff,
eine komplizierte neurologische Diagnose oder
eine Autopsie nach dem Tod des Patienten vorgenommen werden.
Eine dieser Techniken ist die Computer-Tomographie (CT). Dabei wird ein schmaler Röntgenstrahl durch den Kopf des Patienten geschickt.
Gemessen wird der Anteil der Eingangsstrahlung,
der auf der anderen Seite des Kopfes noch ankommt. Das entscheidend Neue an dieser Technik war, dass Hunderttausende solcher Messungen mit verschiedenen Orientierungen (oder
Achsen) des Strahls durch den Kopf vorgenommen werden können. Auf der Grundlage dieser
Messungen berechnet der Computer ein Querschnittsbild des Gehirns, das fotographiert oder
auf einem Monitor gezeigt werden kann. Solche
scheibenweisen Querschnittsbilder („tomo“ ist
ein altes griechisches Wort und bedeutet „Scheibe“ oder „Schnitt“) können für jeden gewünschten Orientierungswinkel und jede Schnittebene
erstellt werden.
Eine neuere und noch leistungsfähigere
Methode ist die Magnet-Resonanz-Tomographie
(MRT). Scanner benutzen
hierbei starke Magnetfelder, Die Magnet-Resonanzhochfrequente
elektrische Tomographie erlaubt
Impulse und Computer zur Bildaufnahmen vom lebenden Gehirn. Scanner
Berechnung eines Bildes. benutzen starke MagBei diesem Verfahren liegt netfelder, hochfrequender Patient in einer Röhre, te elektrische Impulse
die von einem großen Mag- und Computer zur Beneten umgeben ist, der ein rechnung eines Bildes.
starkes Magnetfeld erzeugt.
Wird ein ausgewählter Teil
des Körpers in ein starkes Magnetfeld gebracht
und einem elektrischen Impuls mit einer bestimmten Frequenz ausgesetzt, sendet das Gewebe ein messbares Signal aus. Wie mit der CT können Hunderttausende solcher Messungen gemacht werden. Der Computer berechnet aus
diesen vielen Messungen ein zweidimensionales
Bild des untersuchten Körperteils. Wissenschaftler bezeichnen diese Technik als „magnetische
Kernresonanz“, weil man Veränderungen im
Energieniveau von Wasserstoffkernen misst, die
durch die hochfrequenten Impulse verursacht
werden. Viele Mediziner lassen jedoch den Begriff
„Kern“ weg, weil sie befürchten, dass die Öffentlichkeit einen Zusammenhang mit radioaktiver
Strahlung sehen könnte.
Der Aufbau des Nervensystems
63
2
> So sieht die Bildgebung bei
einer MRT-Untersuchung aus.
Die hellen Bereiche stehen
fr maximale, die dunklen fr
minimale Gehirnaktivitt. Oft
werden die Aktivierungsunterschiede auch farblich markiert.
Im Vergleich zur CT bietet die MRT bei der Diagnose von Erkrankungen des Gehirns und des
Rückenmarks eine größere Präzision. So sind beispielsweise in einem MRT-Querschnittsbild des
Gehirns typische Merkmale einer Multiplen Sklerose zu erkennen. Eine CT kann dies nicht. Früher erforderte die Diagnose der Multiplen Sklerose einen Krankenhausaufenthalt und das Einspritzen eines Kontrastmittels in den Rückenmarkskanal. Die MRT hilft auch beim Auffinden
von Veränderungen im Rückenmark und an der
Schädelbasis, beispielsweise bei Bandscheibenvorfällen, Tumoren oder angeborenen Fehlentwicklungen und Missbildungen.
Zusätzlich zu den anatomischen Details des
Gehirns, wie CT und MRT sie zu liefern vermögen, hätte man oft auch gern Informationen über
die neuronale Aktivität verschiedener Gehirnteile. Dies gelingt mit einer computergesteuerten
Abtasttechnik, der sogenannten Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Diese Technik nutzt
aus, dass jede Körperzelle für ihre Stoffwechselprozesse Energie benötigt. Die Neurone im Gehirn verwenden als Energiequelle vor allem Glucose, das dem Blutstrom entnommen wird. Glucose wird mit einer schwach radioaktiven Substanz vermischt, so dass jedes Glucosemolekül
eine kleine radioaktive Markierung erhält. Wird
diese Mischung in den Blutstrom injiziert, ver-
wendet das Gehirn diese markierten Glucosemoleküle nach wenigen Minuten genau so wie normale Glucose. Die besonders aktiven Neurone
brauchen besonders viel Glucose und sind deshalb auch am stärksten radioaktiv. PET ist eine
hoch empfindliche Methode zur Messung dieser
Radioaktivität. Die Messergebnisse werden durch
einen Computer ausgewertet, der ein Quer-
> Die Positronen-Emissions-Tomographie zeigt drei
Bereiche in der linken Hemisphre, die whrend einer
sprachlichen Aufgabe aktiv sind.
64
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
Forschung aktuell
Das Gehirn wchst weiter
Das Bild, das uns in diesem Kapitel von der Neuroanatomie gezeigt wurde, mag uns schlieen lassen, dass
es sich beim Nervensystem um ein statisches und
fest verdrahtetes System handelt, ganz so wie ein
Fernsehgert. Aber ist die Anatomie der Neurone
wirklich so unvernderlich? Aktuelle Untersuchungen
legen nahe, dass dem nicht so ist. Tatschlich scheint
das Gehirn ein hochdynamisches System zu sein, das
whrend der Entwicklung und infolge von Erfahrungen, die wir als Erwachsene machen, ber enorme
plastische Wandlungsfhigkeit verfgt. Die vielleicht
aufregendste neue Entdeckung ist die, dass sich
whrend Lernphasen nicht nur die Synapsen anpassen, indem sie wachsen und schrumpfen, sondern
dass im Gehirn eines Erwachsenen in der Folge
ganz unterschiedlicher Erfahrungen sogar Neurone
neu entstehen.
Neu entstehende Neurone? Ja, tatschlich. Die Entstehung neuer Nervenzellen wird Neurogenese genannt. Bei Sugetieren bilden sich die meisten Neurone schon frh in der embryonalen Entwicklung,
wenn der Fetus sich noch in der Gebrmutter befindet. Diese unreifen Neurone wandern durch das sich
entwickelnde Gehirn und steuern ein Ziel an, das
ihnen sagt, dass sie hier den Rest ihres Daseins verbringen werden. Wenn sie an diesem Bestimmungsort
angekommen sind, bleiben die Neurone dort und
differenzieren sich nach Form und Gre in eine
der vielfachen Mglichkeiten aus, die in Abbildung
2.3 zu sehen sind. Im Normalfall verlieren die Neurone
die Fhigkeit zur Zellteilung, sobald sie ihre Spezialisierung abgeschlossen haben. Mit anderen Worten:
Die Zellen, die einmal entstanden sind und an ihren
Bestimmungsort wandern, werden spter im Leben
nicht durch neue Zellgenerationen ersetzt.
Die jngsten Forschungsergebnisse haben jedoch
den lange etablierten Standpunkt, das erwachsene
Gehirn sei unfhig, neue Generationen von Nervenzel-
len zu bilden, in Frage gestellt. In einer aktuellen Studie injizierte eine Forschergruppe Ratten ein unter
dem Namen BRDU gelufiges Prparat, das erst
krzlich entstandene Neurone markiert. Nachdem
den Ratten das Mittel gespritzt wurde, wurde mit
den Tieren eine klassische Konditionierungsaufgabe
einstudiert, die den Hippocampus beansprucht. Die
Forscher fanden heraus, dass die Ratten, die das Training in der Konditionierungsaufgabe absolvierten,
einen signifikanten Anstieg der Menge an markierten
Neuronen im Hippocampus aufwiesen (Gould, Beylin,
Tanapat, Reeves & Shors, 1999). Interessanterweise
stand eine hnliche Konditionierungsaufgabe, die
aber keine Anforderungen an den Hippocampus stellt,
nicht in Verbindung mit der Herausbildung neuer Neurone im Hippocampus. Besagte Forschergruppe hat
ganz aktuell herausgefunden, dass Substanzen, welche die hippocampale Neurogenese blockieren, die
Konditionierung des Lidschlagreflexes beeintrchtigen (Shors et al., 2001). In ihrer Gesamtheit legen
diese Untersuchungen nicht nur nahe, dass Lernvorgnge mit der Neubildung von Neuronen im Gehirn
in Zusammenhang stehen, sondern auch, dass die
Neurogenese selbst eine unverzichtbare Grundlage
fr erfolgreiches Lernen darstellt. Erstaunlicherweise
entstehen neue Neurone nicht nur durch komplizierte
Lernaufgaben. Forscher am Salk-Institut entdeckten,
dass man die Menge an neu herausgebildeten hippocampalen Neuronen allein dadurch erhhen kann,
dass man Tieren die Gelegenheit gibt, sich auszutoben (van Praag, Kempermann & Gage, 1999). Diese
Neurone entwickeln und verhalten sich genau so
wie ausgereifte Neurone (van Praag et al., 2002).
Wer tglich Sport treibt, hlt sich also nicht nur
krperlich fit -- man strkt damit auch die Lernfhigkeit des eigenen Gehirns. Also nichts wie los: Das
beste Gehirntraining besteht darin, tatschlich ein
paar Kilometer zu joggen!
schnittsbild des Gehirns berechnet. Mit unterschiedlichen Farben werden die verschiedenen
Niveaus der neuronalen Aktivität dargestellt.
Die Messung der Radioaktivität basiert auf der
Emission von Positronen, welche positiv geladene
Teilchen sind – daher der Name des Verfahrens.
Gehirnerkrankungen wie Epilepsie, Blutgerinnsel und Gehirntumore können mit dieser
Technik identifiziert werden. PET-Bilder, welche
die Gehirne Schizophrener mit solchen von gesunden Personen verglichen, zeigten Unterschiede im Stoffwechselniveau bestimmter Gehirnareale (Schultz et al., 2002). Mit der PET-Technik
wurde auch untersucht, welche Gehirnareale bei
höheren kognitiven Funktionen – Musik hören,
Mathematikaufgaben bearbeiten oder sprechen –
aktiviert sind, mit dem Ziel, die beteiligten Gehirnstrukturen zu identifizieren (Posner, 1993).
Der Aufbau des Nervensystems
CT, MRT und PET erweisen sich bei der Analyse
des Zusammenhangs von Gehirn und Verhalten
als wertvolle Werkzeuge. Sie sind ein Beispiel dafür, wie Fortschritte in einem Feld der Wissenschaft auf der Grundlage neuer technischer Entwicklungen in einem anderen erreicht werden
(Pechura & Martin, 1991; Raichle, 1994). So
kann man mit der PET beispielsweise Unterschiede in der neuronalen Aktivität der beiden Hemisphären untersuchen: die Gehirnasymmetrien.
Asymmetrien des Gehirns
Auf den ersten Blick sehen die beiden Hemisphären wie Spiegelbilder aus. Die Ausmessung des
Gehirns nach einer Autopsie zeigt aber, dass
die linke Hemisphäre fast immer etwas größer
ist als die rechte. Auch enthält die rechte Hemisphäre sehr viele lange Nervenfasern, die weit entfernte Bereiche des Gehirns verbinden, während
die linke Hemisphäre viele kürzere Nervenfasern
besitzt, die ein dichtes Netz von Verbindungen
innerhalb kleiner Areale bilden (Hellige,1993).
Schon 1861 untersuchte der französische Arzt
Paul Broca das Gehirn eines verstorbenen Patienten mit Sprachverlust. Er fand eine Schädigung
eines Bereichs in der linken Hemisphäre, genau
über dem Sulcus lateralis im Frontallappen. Diese
Region des Gehirns, die als Broca-Areal bekannt
wurde (siehe Abbildung 2.10), ist an der Sprachproduktion beteiligt. Eine Zerstörung der entsprechenden Region in der rechten Hemisphäre führt
normalerweise nicht zu einer Sprachstörung.
Auch die Regionen, die am Sprachverstehen sowie
am Schreiben und am Verstehen geschriebener
Sprache beteiligt sind, befinden sich meistens in
der linken Hemisphäre. Ein Schlaganfall, der
die linke Hemisphäre schädigt, verursacht mit
größerer Wahrscheinlichkeit eine Sprachstörung
als ein solcher, der sich lediglich auf die rechte Hemisphäre beschränkt. Das Sprachzentrum liegt
nicht bei allen Menschen in der linken Hemisphäre; einige Linkshänder haben ihr Sprachzentrum
in der rechten Hemisphäre.
Obwohl nun die Rolle der linken Hemisphäre
für die Sprache seit Langem bekannt ist, gibt es
erst seit Kurzem die Möglichkeit zu untersuchen,
was jede Hemisphäre allein leisten kann. Bei einer
gesunden Person bilden die Gehirnfunktionen
65
ein integriertes Ganzes; die Information in einer
Hemisphäre wird sofort über ein breites Band
von Nervenfasern, das Corpus callosum (den Balken), in die andere Hemisphäre weitergegeben.
Der Balken bildet bei einigen Formen der Epilepsie ein Problem, weil ein Anfall, der in einer Hemisphäre ausgelöst wird, über diesen Balken die
Entladung einer großen Anzahl von Neuronen in
der anderen Hemisphäre auslöst. Um solche generalisierten Anfälle zu verhindern, haben Neurochirurgen bei Patienten mit schwerer Epilepsie
den Balken durchtrennt. Durch diese sogenannten Split-Brain-Patienten erhielt man wichtige
Erkenntnisse über die Funktionsweise von linker
und rechter Hemisphäre.
Split-Brain-Forschung. Wir haben gesehen,
dass die Motonerven beim Austritt aus dem Gehirn die Seite wechseln, so dass die linke Hemisphäre die rechte Hälfte des Körpers und die
rechte Hemisphäre die linke Körperhälfte steuert.
Auch haben wir festgestellt, dass die Region für
die Sprachproduktion (das Broca-Areal) in der
linken Hemisphäre lokalisiert ist. Darüber hinaus
sollte man sich vergegenwärtigen, dass Bilder
links vom Fixationspunkt durch beide Augen
in die rechte Hemisphäre und Bilder rechts
vom Fixationspunkt zur linken Hemisphäre geleitet werden, wenn die Augen auf die Mitte
des Gesichtsfeldes fixiert sind (siehe Abbildung
2.12). Folglich bekommt jede Hemisphäre ein
Bild von der Hälfte des visuellen Feldes, in
dem ,ihre‘ Hand normalerweise agiert. Die linke
Hemisphäre sieht zum Beispiel die rechte Hand
im rechten visuellen Feld. Im gesunden Gehirn
gelangen die Reize, die eine Hemisphäre erreichen, auch sehr schnell in die andere Hemisphäre; ein ganzheitliches Funktionieren des Gehirns
ist gesichert. Wir wollen nun unter Berücksichtigung dieser drei Tatsachen über das Gehirn sehen, was geschieht, wenn das Corpus callosum
durchtrennt ist und die Hemisphären in diesem
gespaltenen Gehirn („split brain“) nicht mehr
miteinander kommunizieren können.
Roger Sperry, der diese Forschungsrichtung
begründet hat, erhielt 1981 den Nobelpreis. In
einer seiner Testsituationen sitzt ein SplitBrain-Patient so vor einem Schirm, dass er seine
Hände nicht sehen kann (siehe Abbildung 2.13a).
Die Augen sind auf einen Punkt in der Mitte des
Schirms gerichtet. Für eine Zehntelsekunde wird
2
66
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
Linkes
Rechtes
Gesichtsfeld Gesichtsfeld
Fixationspunkt
L
R
Rechte
Hand
Linke
Hand
Riechen
linkes Nasenloch
Sprache
Schreiben
Sprachzentrum
Rechnen
Riechen
rechtes Nasenloch
Raumvorstellung
Nichtverbale Vorstellung
Rechtes
Linkes
Gesichtsfeld
Gesichtsfeld
Durchtrenntes
Corpus callosum
Abb. 2.12 Sensorische Inputs in die beiden Hemisphren. Sind die Augen auf den Mittelpunkt des
Sehfeldes fixiert, werden Reize links vom Fixationspunkt in die rechte Hemisphre und Reize rechts
vom Fixationspunkt in die linke Hemisphre projiziert.
Die linke Hemisphre steuert die Bewegungen der rechten Hand und die rechte Hemisphre die der linken
Hand. Auch beim Hren kreuzen sich die sensorischen
Inputs, allerdings gehen einige der Schallreprsentationen auch zu der Seite, auf der das aufnehmende Ohr
liegt. Die linke Hemisphre ist fr geschriebene und gesprochene Sprache sowie fr mathematische Berechnungen zustndig. Die rechte Hemisphre kann nur einfache Sprache verstehen. Ihre hauptschliche Funktion
liegt im Umgang mit rumlichen Strukturen und mit
Mustern. (Aus Nebes & Sperry, 1971.)
das Word „Mutter“ auf der linken Seite des
Schirms dargeboten. Dieses Signal geht bekanntlich zur rechten Hemisphäre, welche die linke
Seite des Körpers steuert. Mit der linken Hand
kann diese Person leicht eine Schraubenmutter
aus der für sie nicht sichtbaren Objektmenge ertasten und auswählen. Sie kann aber das Wort
nicht angeben, da die Sprache durch die linke Hemisphäre gesteuert wird und das Bild des Wortes
„Mutter“ wegen des durchtrennten Balkens nicht
in diese Hemisphäre transferiert werden konnte.
Auf Nachfrage scheint ihr auch nicht bewusst zu
sein, was ihre linke Hand gerade tut. Da der sensorische Input von der linken Hand zur rechten
Hemisphäre gelangt, erhält die linke Hemisphäre
keine Information darüber, was die linke Hand
fühlt oder macht. Die ganze Information wird
zur rechten Hemisphäre zurückgemeldet, in die
auch der ursprüngliche visuelle Reiz „Mutter“
projiziert wurde.
Bei diesem Versuch darf das Wort nicht länger
als eine Zehntelsekunde auf dem Bildschirm dargeboten werden. Bei längerer Darbietung können
sich die Augen der Person bewegen, und das
Wort wird dann auch in die linke Hemisphäre
projiziert. Wenn sich die Augen frei bewegen
können, erreichen die Informationen beide Hemisphären. Deshalb werden die Defizite, die als
Folge der Durchtrennung des Corpus callosum
auftreten können, im Alltagsverhalten einer Person auch kaum sichtbar.
Weitere Experimente lassen erkennen, dass
Split-Brain-Patienten sprachlich nur darüber
kommunizieren können, was die linke Hemisphäre verarbeitet hat. Abbildung 2.13b zeigt
eine andere Testsituation. Auf dem Bildschirm
wurde das Wort „Hutband“ so dargeboten,
dass das Wort „Hut“ in die rechte und das
Wort „Band“ in die linke Hemisphäre projiziert
wurde. Fragt man, was die Person gesehen hat,
so antwortet sie „Band“. Wenn sie dagegen
nach der Art des Bandes gefragt wird, so erhält
man alle möglichen Kombinationen – „Gummiband“, „Rockband“, „Laufband“ und anderes.
„Hutband“ wird nur mit Ratewahrscheinlichkeit
genannt. Tests mit anderen zusammengesetzten
Wörtern (zum Beispiel „Handtasche“ und „Aktentasche“) führten zu ähnlichen Ergebnissen.
Was die rechte Hemisphäre wahrnimmt, kann
nicht ins Bewusstsein der linken Hemisphäre gelangen. Mit einem durchtrennten Corpus callosum scheint jede Hemisphäre vom Zugang zu
den Erfahrungen der anderen Hemisphäre abgeschnitten zu sein.
Verbindet man Split-Brain-Patienten die Augen und gibt ihnen ein bekanntes Objekt (beispielsweise einen Kamm, eine Zahnbürste oder
einen Schlüsselbund) in die linke Hand, so scheinen sie zu wissen, worum es sich handelt, und
können die Funktion des Objekts durch Gesten
demonstrieren. Sie können dieses Wissen aber
67
Der Aufbau des Nervensystems
?
Mutter
Sprache
Linke
Hand
Sprache
Band
Buch
Band
Linke
Hand
Hut
Linke
Hand
Sprache
Mutter
Tasse
Band
(a)
Hut
(b)
Buch
(c)
Abb. 2.13 Die Fhigkeiten der beiden Hemisphren.
(a) Ein Split-Brain-Patient kann ein Objekt mit der linken Hand richtig ertasten, wenn der Name kurzzeitig zur rechten
Hemisphre projiziert wird. Er kann aber das Objekt weder benennen, noch kann er seine Handlung beschreiben.
(b) Das Wort ,,Hutband wird kurzzeitig so dargeboten, dass ,,Hut in die rechte Hemisphre und ,,Band in die linke
Hemisphre gelangt. Der Patient berichtet, dass er das Wort ,,Band sieht, kann aber nicht angeben, welche Art von
Band gemeint ist.
(c) Eine Liste gebruchlicher Objekte (zum Beispiel sind ,,Buch und ,,Tasse enthalten) wird beiden Hemisphren
gezeigt. Ein Wort der Liste (,,Buch) wird dann zur rechten Hemisphre projiziert. Bei entsprechender Aufforderung
beginnt die linke Hand, das Wort zu schreiben. Der Patient wei aber nicht, was seine linke Hand geschrieben hat,
und rt ,,Tasse.
nicht sprachlich ausdrücken. Fragt man sie während der Manipulation des Objekts, was sie gerade machen, so haben sie keine Ahnung. Dieser
Zustand hält an, solange keine sensorischen Inputs vom Objekt zur linken (sprachverarbeitenden) Hemisphäre gelangen können. Sobald
aber die rechte Hand des Patienten das Objekt
versehentlich berührt oder vom Objekt charakteristische Geräusche ausgehen (etwa das Klappern
eines Schlüsselbunds), kann die linke Hemisphäre sofort die richtige Antwort geben.
Die rechte Hemisphäre ist zwar nicht zur
Sprachproduktion in der Lage, doch hat sie einige
sprachliche Fähigkeiten. Sie kann die Bedeutung
des Wortes „Mutter“ aus unserem ersten Beispiel
erkennen, sie kann auch ein wenig schreiben. In
Abbildung 2.13c ist ein Experiment dargestellt,
bei dem Split-Brain-Patienten zuerst eine Liste
gebräuchlicher Wörter wie „Tasse“, „Messer“,
„Buch“ oder „Glas“ gezeigt wird. Diese Liste
wird so lange dargeboten, dass die Wörter in beide Hemisphären gelangen können. Danach wird
die Liste entfernt. Eines der Wörter (beispielsweise „Buch“) wird dann kurzzeitig auf die linke Seite
des Schirms und damit in die rechte Hemisphäre
projiziert. Nach der Aufforderung, das Gesehene
aufzuschreiben, beginnt die linke Hand auch tatsächlich, das Wort „Buch“ zu schreiben. Die Pa-
tienten können aber nicht angeben, was ihre linke
Hand geschrieben hat, und raten irgendein Wort
der zuvor gesehenen Liste. Sie wissen schon, dass
sie etwas geschrieben haben, weil sie die Schreibbewegungen über ihren Körper wahrnehmen. Da
aber zwischen der rechten Hemisphäre, die das
Wort gesehen und geschrieben hat, und der linken Hemisphäre, welche die Sprache steuert,
keine Kommunikation stattfindet, können sie
nicht angeben, welches Wort sie geschrieben haben (Sperry, 1968, 1970; siehe auch Gazzaniga,
1985; Hellige, 1990).
Spezialisierung der Hemisphren. Die Untersuchungen an Split-Brain-Patienten zeigen die
funktionale Spezialisierung der beiden Hemisphären. Die linke Hemisphäre leitet die Fähigkeit, uns durch Sprache auszudrücken. Sie
kann komplizierte logische Schlüsse und mathematische Denkoperationen ausführen. Die rechte
Hemisphäre kann nur sehr einfache Sprache verstehen. Sie kann beispielsweise auf einfache Substantive mit der Wahl eines Objekts, etwa einer
Mutter oder eines Kamms, reagieren; sie kann
aber keine abstrakteren sprachlichen Formen verstehen. Auf einfache Aufforderungen wie „winken“, „jemandem zunicken“, „den Kopf schütteln“ oder „lächeln“ reagiert sie meistens nicht.
2
68
Dafür besitzt die rechte Hemisphäre hoch entwickelte Fähigkeiten für die Raumwahrnehmung
und die Mustererkennung. Sie ist der linken Hemisphäre bei der Konstruktion geometrischer
und perspektivischer Zeichnungen überlegen.
Sie kann viel besser als die linke Hemisphäre farbige Klötze so anordnen, dass ein vorgegebenes
Muster entsteht. Wenn Split-Brain-Patienten
aufgefordert werden, eine solche Aufgabe mit
der rechten Hand auszuführen, machen sie viele
Fehler. Manchmal fällt es ihnen sogar schwer, die
linke Hand daran zu hindern, diese Fehler der
rechten Hand automatisch zu korrigieren.
Untersuchungen mit gesunden Personen bestätigen die unterschiedliche Spezialisierung der
beiden Hemisphären. Wenn verbale Informationen wie Wörter oder sinnfreie Silben kurzzeitig
der linken Hemisphäre (über das rechte Gesichtsfeld) dargeboten werden, werden sie schneller
und korrekter erkannt als bei Projektion in die
rechte Hemisphäre. Im Unterschied dazu können
Gesichter, charakteristische emotionale Gesichtsausdrücke, die Orientierung von Linien oder Stellen, an denen sich Punkte befinden, schneller erkannt werden, wenn diese Reize der rechten Hemisphäre dargeboten werden (Hellige, 1990).
Auch zeigen Untersuchungen der elektrischen
Gehirnaktivität mit dem Elektroencephalogramm (EEG), dass sich diese Aktivität während
einer verbalen Aufgabe in der linken Hemisphäre
erhöht, während die Aktivität bei einer räumlichen Aufgabe in der rechten Hemisphäre zunimmt (Kosslyn, 1988; Springer & Deutsch,
1989).
Diese Ergebnisse bedeuten nicht automatisch,
dass die beiden Hemisphären unabhängig voneinander arbeiten. Vielmehr ist gerade das Gegenteil der Fall. Die Hemisphären unterscheiden
sich in ihren Spezialisierungen, aber sie integrieren ihre Aktivitäten fortwährend. Erst dieses Zusammenspiel macht es möglich, dass das Gehirn
umfassendere und auch andere mentale Prozesse
ausführen kann als jede Hemisphäre allein.
Diese Unterschiede sind in den verschiedenen
Anteilen jeder Hemisphre an den kognitiven Aktivitten zu erkennen. Wenn eine Person eine Geschichte liest, spielt die rechte Hemisphre eine
besondere Rolle bei der Dekodierung der visuellen Information, bei der Aufrechterhaltung der integrierten Struktur der Geschichte, beim Verste-
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
hen der emotionalen und humoristischen Inhalte,
beim Ableiten der Bedeutung aus erworbenen Assoziationen und beim Verstehen metaphorischer
Ausdrcke. Die linke Hemisphre spielt dagegen
eine besondere Rolle beim Verstehen der Syntax,
bei der berfhrung der geschriebenen Wrter in
eine phonetische Reprsentation und bei der Ableitung der Bedeutung aus komplexen Relationen
zwischen den Begriffen und der Syntax. Es gibt
aber keine Aktivitt, an der nur eine Hemisphre
beteiligt ist oder zu der nur eine Hemisphre
einen Beitrag leistet (Levy, 1985, S. 44).
Sprache und Gehirn
Ein großer Teil der Information über die Gehirnmechanismen für Sprache stammt aus der Beobachtung von Patienten mit Schädigungen des Gehirns. Solche Schädigungen können die Folge
eines Tumors, einer Kopfwunde oder eines Risses
in einem Blutgefäß sein. Eine
Aphasien sind
Sprachstörung, die durch Sprachstrungen infoleine Schädigung des Gehirns ge von Schdigungen
hervorgerufen wurde, nennt des Gehirns.
man Aphasie.
Wie schon berichtet, beobachtete Broca, dass
die Schädigung einer bestimmten Gehirnregion
an der Seite des linken Frontallappens mit einer
Sprachstörung einhergeht, die expressive Aphasie
(auch Broca-Aphasie oder motorische Aphasie) genannt wird. Personen mit geschädigtem BrocaAreal haben Schwierigkeiten, Wörter korrekt auszusprechen, und können nur mühevoll und langsam sprechen. Ihre Sprache ergibt Sinn, besteht
aber nur aus Stichwörtern. Substantive werden
generell im Singular ausgesprochen; Adjektive,
Adverbien, Artikel und Konjunktionen werden
häufig weggelassen. Diese Personen haben aber
keine Schwierigkeiten beim Verstehen gesprochener oder geschriebener Sprache.
1874 berichtete der deutsche Wissenschaftler
Carl Wernicke, dass die Schädigung einer anderen Region, zwar ebenfalls in der linken Hemisphäre, aber im Temporallappen gelegen, in Beziehung zu einer anderen Sprachstörung steht,
der rezeptiven Aphasie (Wernicke-Aphasie, sensorische Aphasie). Personen mit einer Schädigung
dieser Region, die auch als Wernicke-Areal bezeichnet wird, sind unfähig, Wörter zu verstehen:
Der Aufbau des Nervensystems
Sie können Wörter zwar hören, aber verstehen
ihre Bedeutung nicht. Sie können Wortfolgen
ohne Schwierigkeit und in korrekter Artikulation
produzieren, aber sie machen Fehler bei der Verwendung der Wörter, so dass ihre Sprache sinnleer erscheint.
Indem er diese Störungen analysierte, entwickelte Wernicke ein Modell, mit dem erklärt werden sollte, wie das Gehirn Sprache produziert und
versteht. Trotz des Alters von 100 Jahren scheint
dieses Modell in seinen allgemeinen Merkmalen
noch zuzutreffen. Norman Geschwind baute auf
diesen Ideen auf und entwickelte eine Theorie,
die als Wernicke-Geschwind-Modell bekannt
wurde (Geschwind, 1979). Nach diesem Modell
speichert das Broca-Areal artikulatorische Kodes
für die Sequenz der Muskelbewegungen, die für
die Aussprache eines Wortes gebraucht wird.
Wenn diese Kodes zum motorischen Cortex
übertragen werden, aktivieren sie von dort die
Muskeln der Lippen, der Zunge und des Kehlkopfs in der richtigen Abfolge. Im Ergebnis
wird ein gesprochenes Wort produziert. Im Wernicke-Areal werden dagegen auditorische Kodes
und die Bedeutungen von Wörtern gespeichert.
Um ein Wort auszusprechen, muss der auditorische Kode im Wernicke-Areal aktiviert und zum
Broca-Areal übertragen werden. Dort aktiviert er
den zugehörigen artikulatorischen Kode. Der artikulatorische Kode wiederum wird in das motorische Areal übertragen, um die Muskeln zu aktivieren und das gesprochene Wort zu produzieren.
Damit ein Wort, das eine andere Person ausspricht, verstanden wird, muss es vom auditorischen Cortex zum Wernicke-Areal übertragen
werden. Dort wird für die gesprochene Form
des Wortes der passende auditorische Kode gesucht und auf der Grundlage dieses Abgleichs
die Wortbedeutung aktiviert. Wurde ein geschriebenes Wort dargeboten, erfolgt zuerst
eine Repräsentation im visuellen Cortex. Diese
wird dann zum Gyrus angularis übertragen, in
dem die visuelle Wortform mit dem auditorischen Kode im Wernicke-Areal assoziiert wird.
Wenn dieser auditorische Kode gefunden ist,
dann ist auch die Bedeutung aktiviert. Die Bedeutungen der Wörter sind also zusammen mit ihren
auditorischen Kodes im Wernicke-Areal gespeichert. Das Broca-Areal speichert die artikulatorischen Kodes. Der Gyrus angularis setzt die visu-
69
elle Wortform mit ihrem auditorischen Kode in
Beziehung. Weder das eine noch das andere Areal
speichert jedoch Information über die Wortbedeutungen. Die Bedeutung eines Wortes wird
nur dann abgerufen, wenn der entsprechende
akustische Kode im Wernicke-Areal aktiviert ist.
Das Wernicke-Geschwind-Modell erklärt viele
der Sprachstörungen von Aphasikern. Schädigungen des Broca-Areals stören die Sprachproduktion, haben aber nur einen geringen Einfluss
auf das Verstehen geschriebener und gesprochener Sprache. Schädigungen des Wernicke-Areals
stören alle Aspekte des Sprachverstehens; die Personen können aber auf Grund des intakten Broca-Areals noch Wörter richtig artikulieren (wenn
auch das produzierte Ergebnis keine sinnvolle Bedeutung aufweist). Das Modell sagt auch präzise
vorher, dass Personen mit Schädigungen im Gyrus angularis nicht lesen können, aber keine
Schwierigkeiten beim Sprechen und Verstehen
gesprochener Sprache haben. Ist schließlich die
Schädigung auf den auditorischen Cortex beschränkt, kann eine Person normal lesen und
sprechen, aber sie kann keine gesprochene Sprache verstehen.
Das autonome Nervensystem
Wie bereits erwähnt, besteht das periphere Nervensystem aus zwei Teilen. Das somatische System reguliert die Skelettmuskulatur und erhält
Informationen von der Haut, den Muskeln und
verschiedenen Sinnesorganen. Das autonome
System steuert die Tätigkeit der Drüsen und
der glatten Muskulatur einschließlich des Herzens, der Blutgefäße, des Magens und der Eingeweide. Die Bezeichnung „glatt“ rührt daher, dass
diese Muskeln unter dem Mikroskop glatt aussehen. (Die Skelettmuskeln sehen dagegen aus, als
würden sie aus Streifen bestehen – hier spricht
man von der „gestreiften“ Muskulatur.) Der
Name „autonomes Nervensystem“ leitet sich
von der Tatsache ab, dass viele der von diesem
System gesteuerten Aktivitäten, darunter Verdauung und Blutkreislauf, als autonom oder selbstregulierend charakterisiert werden können. Die
Steuerung dieser Vorgänge wird selbst dann fortgesetzt, wenn eine Person schläft oder bewusstlos
ist.
2
70
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
Tränendrüse
Auge
Mittelhirn
Nasenschleimhaut
Gaumen
Rachen
Ohrspeicheldrüse
Medulla
oblongata
Auge
Nasenschleimhaut
Ohrspeicheldrüse
Unterzungen- und
Unterkieferspeicheldrüsen
Unterzungen- und
Unterkieferspeicheldrüsen
Lungen
Lungen
Bronchien
Bronchien
Th1
Herz
Herz
Leber
Parasympathisch
Sympathisch
Leber
Magen
Bauchspeicheldrüse
Milz
Th12
Magen
L1
Dünndarm
Dickdarm Dünndarm
Niere
Dickdarm
Autonomer
Plexus
Niere
Autonomer
Plexus
S2
Nebennierendrüse
Dickdarm
Dickdarm
Rectum
Genitalien
Ureters
Harnleiter
Harnblase Rectum
Beckeneingeweidenerven
Harnleiter
Harnblase
Genitalien
Abb. 2.14 Motorische Fasern des autonomen Nervensystems. Das sympathische Teilsystem ist rechts, das
parasympathische Teilsystem links vom Rckenmark dargestellt. Durchgezogene Linien stehen fr prganglionre
Fasern; gestrichelte Linien fr postganglionre Fasern. Neurone des sympathischen Teilsystems beginnen im Brustund Lendenwirbelbereich. Sie bilden synaptische Schaltstellen mit Ganglienzellen auerhalb des Rckenmarks.
Neurone des parasympathischen Teilsystems gehen von der Medullaregion des Gehirnstamms und vom unteren
sakralen Teil des Rckenmarks aus. Sie werden auf Ganglien umgeschaltet, die in der Nhe der stimulierten Organe
liegen. Die meisten inneren Organe werden durch beide Teilsysteme antagonistisch beeinflusst.
71
Der Aufbau des Nervensystems
Das autonome Nervensystem besteht aus zwei
Teilsystemen, dem sympathischen und dem
parasympathischen NervenDas sympathische
system. Die Wirkungen der
Nervensystem domibeiden Teilsysteme sind
niert whrend Phasen
weitgehend antagonistisch.
von Erregung, whrend
Das sympathische Nervendas parasympathische Nervensystem in system dominiert üblicherweise während Phasen starRuhephasen die Steueker Erregung, das parasymrung bernimmt.
pathische Nervensystem steht
dagegen in enger Verbindung mit Ruhe. Abbildung 2.14 zeigt die gegensätzlichen Effekte der
beiden Teilsysteme auf die verschiedenen
Organe. Das parasympathische System verengt
die Pupille des Auges, regt den Speichelfluss an
und senkt die Herzschlagfrequenz. Das sympathische System hat in diesen Fällen dagegen die jeweils gegenteilige Wirkung. Das Gleichgewicht
zwischen diesen beiden Teilsystemen hält den
Normalzustand des Körpers aufrecht (irgendwo
zwischen extremer Erregung und vegetativer Entspanntheit).
Der sympathische Teil scheint als Gesamtheit
zu agieren. In einem emotionalen Erregungszustand werden simultan die Herzschlagfrequenz
erhöht, die Arterien der Skelettmuskeln und
des Herzens erweitert, die Arterien der Haut
und der Verdauungsorgane verengt und Schwitzen ausgelöst. Bestimmte endokrine Drüsen werden zur Hormonsekretion veranlasst, wodurch
das Erregungsniveau weiter steigt.
Im Unterschied zum sympathischen Teilsystem beeinflusst das parasympathische System
zu jedem Zeitpunkt nur ein Organ; in Phasen
der Ruhe obliegt ihm die Vorherrschaft. Es ist
an der Regulation der Verdauung beteiligt und
verwaltet und schützt ganz allgemein die Ressourcen des Körpers. Eine verminderte Herzschlagfrequenz und verlangsamte Atmung, die
beide durch das parasympathische Teilsystem
aufrechterhalten werden, erfordern beispielsweise weit weniger Energie als ein erhöhter Puls und
eine schnelle Atmung, die wiederum das Ergebnis
einer Aktivierung des sympathischen Teilsystems
sind.
Obwohl das sympathische und das parasympathische Teilsystem in der Regel antagonistisch
wirken, gibt es bestimmte Ausnahmen. So dominiert zum Beispiel das sympathische System bei
Furcht und Erregung; eine keineswegs unge-
wöhnliche Furchtreaktion des parasympathischen Systems ist jedoch die unwillkürliche Entleerung der Blase oder des Darms. Ein anderes
Beispiel stellt die Regulation des männlichen Sexualverhaltens dar, die darin besteht, dass einer
parasympathisch gesteuerten Erektion eine sympathisch gesteuerte Ejakulation folgt.
2
zusammengefasst
Das Nervensystem lsst sich einteilen in das
zentrale Nervensystem (bestehend aus Gehirn
und Rckenmark) und das periphere Nervensystem (die Nerven, die das Gehirn und Rckenmark mit anderen Regionen des Krpers verbinden). Das periphere Nervensystem ist weiterhin
unterteilt in das somatische System, das Informationen zu den Sinnesrezeptoren, den Muskeln
und der Krperoberflche und von dort zurck
bertrgt, und das autonome System, welches
die Verbindung zu den inneren Organen und
den Drsen herstellt.
Das Bndel von Nervenfasern, das die beiden
Hemisphren des Gehirns miteinander verbindet, wird Balken oder Corpus callosum genannt.
Eine Schdigung des Balkens resultiert in deutlichen Unterschieden in der Funktionsweise beider Hemisphren. Die linke Hemisphre ist
gebt in sprachlichen und mathematischen
Fhigkeiten. Die rechte Hemisphre kann dagegen zwar ein wenig Sprache verstehen, Kommunikation ber Sprache ist ihr allerdings nicht
mglich. Dafr sind in ihr rumliches Vorstellungsvermgen und Mustererkennungsfhigkeit
hoch entwickelt.
Das autonome System besteht aus dem sympathischen und dem parasympathischen Teilsystem. Das sympathische System ist whrend
Phasen von Erregung aktiv, das parasympathische System dominiert bei Ruhe.
nachgefragt
1. Warum ist unser Gehirn symmetrisch (in dem
Sinn, dass die rechte und die linke Hlfte gleich
aussehen)? Wir besitzen einen linken und einen
rechten motorischen Cortex, einen linken und
einen rechten Hippocampus, ein linkes und
ein rechtes Kleinhirn und so weiter. In jedem
Fall ist die linke Seite ein Spiegelbild der rechten
Seite, so wie das linke Auge zum Beispiel ein
Spiegelbild des rechten Auges ist. Warum besitzt
das Gehirn wohl diese Symmetrie?
72
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
2. Bei Split-Brain-Patienten, deren Corpus callosum
durchtrennt ist, scheinen die rechte und die
linke Hlfte des Gehirns nach der Operation unabhngig zu arbeiten. Eine Hlfte, der ein Wort
gezeigt wird, kann das Wort lesen und darauf
reagieren, ohne dass die andere Hlfte etwas
davon wei. Hat eine solche Person zwei Geistes- und Gedankenwelten, die jeweils Unterschiedliches wissen und tun? Oder haben solche
Patienten trotzdem nur einen Verstand?
Das endokrine System
Man kann sich das Nervensystem als eine Instanz
vorstellen, die durch eine direkte Aktivierung der
Muskeln und Drüsen die schnellen Änderungen
von Aktivitäten des Körpers steuert. (Die Drüsen
sind überall im Körper verteilte Organe, die Substanzen wie Schweiß, Milch oder ein bestimmtes
Hormon erzeugen und abgeben.) Das endokrine
System ist in seiner Wirkung wesentlich langsamer. Es beeinflusst die Aktivitäten von Zellgruppen überall im Körper nur indirekt. Diese Beeinflussung erfolgt über die Hormone. Hormone
sind chemische Stoffe, die
Hormone sind chemivon den endokrinen Drüsen
sche Stoffe, die von den
in den Blutstrom abgegeben
endokrinen Drsen in
und so zu anderen Teilen
den Blutstrom abgedes Körpers transportiert
geben werden und in
werden, wo sie spezifische
anderen Teilen des
Effekte auf diejenigen Zellen
Krpers spezifische
Wirkungen hervorrufen.
haben, die ihre Botschaft
,verstehen‘ (siehe Abbildung
2.15). Hormone wirken auf unterschiedliche
Zelltypen verschieden. Jede Zielzelle ist mit Rezeptoren ausgestattet, die nur diejenigen Hormonmoleküle erkennen, die für diese Zelle Botschaften tragen. Die Rezeptoren entnehmen dem
Blutstrom die Hormonmoleküle und bringen sie
in das Zellinnere. Einige endokrine Drüsen werden durch das Nervensystem aktiviert, andere
durch Änderungen im inneren chemischen Zustand des Körpers.
Eine der wichtigsten endokrinen Drüsen ist
die Hypophyse oder Hirnanhangdrüse. Diese
Drüse ist eine Ausstülpung des Gehirns und befindet sich direkt unter dem Hypothalamus (siehe
Abbildung 2.8c). Sie wird auch die „zentrale Drüse“ genannt, weil sie die größte Anzahl unter-
schiedlicher Hormone produziert und die Sekretionsaktivität von anderen endokrinen Drüsen
reguliert. Eines der Hypophysenhormone, das
sogenannte Wachstumshormon, hat die wichtige
Aufgabe, das Körperwachstum zu steuern. Zu
wenig von diesem Hormon führt zu Zwergwuchs,
zu viel erzeugt Riesenwuchs. Andere Hormone
der Hypophyse lösen die Aktivität von endokrinen Drüsen wie etwa der Schilddrüse, den
Gonaden oder der äußeren Schicht der Nebennieren aus. Bei vielen Tieren beruhen die Verhaltensweisen beim Werben beziehungsweise
Balzen, bei der Paarung und bei der Fortpflanzung auf einer komplexen Wechselwirkung zwischen der Aktivität des Nervensystems und dem
Einfluss der Hypophyse auf die Geschlechtsdrüsen.
Die Beziehung zwischen der Hypophyse und
dem Hypothalamus veranschaulicht die komplexen Interaktionen. Bestimmte Neurone im Hypothalamus schütten bei Stress (Furcht, Angst,
Schmerz, emotionale Ereignisse und so weiter)
das Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH)
aus, das durch eine kanalähnliche Struktur zur
Hypophyse gelangt. CRH stimuliert die Hypophyse zur Freisetzung des adrenocorticotropen
Hormons (ACTH), des wichtigsten Stresshormons des Körpers. ACTH wiederum wird über
den Blutstrom zu den Nebennieren und anderen
Organen gebracht, in denen es die Freisetzung
von etwa 30 Hormonen auslöst. Jedes dieser Hormone hat eine Funktion bei der Einstellung des
Körpers auf eine Gefahrensituation. Beispielsweise steigt der zelluläre Glucosebedarf in einem Zustand von Gefahr, und das Nebennierenhormon
Kortisol, das während Stressphasen ausgeschüttet
wird, fördert die Freisetzung von Glucose aus
Fettspeichern im Körper. Interessanterweise übt
Kortisol auch eine Wirkung auf kognitive Funktionen aus: In niedriger Konzentration steigert es
Gedächtnisleistungen, hoch konzentriert führt es
jedoch zu Gedächtnisbeeinträchtigungen sowie
zum Absterben von Neuronen.
Die Nebennieren beeinflussen die Stimmung
einer Person, ihr Energieniveau und ihre Fähigkeit zum Umgang mit Stress. Der innere Teil
der Nebennieren, das Nebennierenmark, setzt
Adrenalin (Epinephrin) und Noradrenalin
(Norepinephrin) frei. Adrenalin versetzt den
Organismus in Bereitschaft für eine Gefahrensituation. Zusammen mit dem sympathischen
73
Das endokrine System
Teil des autonomen Nervensystems wird die Tätigkeit der glatten Muskulatur und der Schweißdrüsen beeinflusst. Adrenalin erzeugt auch eine
Verengung der Blutgefäße des Magens und der
Eingeweide sowie eine Erhöhung der Herzschlagfrequenz.
Auch Noradrenalin (Norepinephrin) bereitet
den Organismus für den Umgang mit einer Gefahrensituation vor. Es stimuliert die Hypophyse
zur Ausschüttung eines Hormons, das auf die äußere Schicht der Nebennieren, die Nebennierenrinde, wirkt. Dieses Hormon wiederum regt in
2
Hypothalamus
Hypophyse
Epiphyse
Nebenschilddrüse
auf der Rückseite
der Schilddrüse
Schilddrüse
Thymusdrüse
Nebennierendrüse
Ovarien
(bei Frauen)
Hoden
(bei Männern)
Abb. 2.15 Einige endokrine Drsen. Die Ausschttung von Hormonen durch endokrine Drsen ist fr die Integration der Aktivitt des Organismus genauso wichtig wie das Nervensystem. Die beiden Systeme unterscheiden
sich aber in der Geschwindigkeit, mit der sie agieren beziehungsweise reagieren knnen. Ein Nervenimpuls kann den
Krper in einigen Hundertstel Sekunden durchwandern. Die endokrinen Drsen brauchen Sekunden oder sogar
Minuten, um einen Effekt zu erzielen. Die ausgeschtteten Hormone mssen ber den Blutstrom zu den Zielorten
wandern. Dieser Prozess dauert bedeutend lnger.
74
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
der Leber die Erhöhung des Zuckerspiegels an,
um dem Körper die nötige Energie für eine
schnelle Reaktion zur Verfügung zu stellen.
Die Hormone des endokrinen Systems und
die Neurotransmitter der Neurone dienen ähnlichen Funktionen. Beide übermitteln Botschaften
zwischen den Zellen. Ein Neurotransmitter überträgt Botschaften zwischen benachbarten Neuronen; seine Wirkungen sind daher örtlich sehr begrenzt. Demgegenüber kann ein Hormon lange
Wege im Körper zurücklegen und auf viele
verschiedene Zelltypen unterschiedlich wirken.
Trotz dieser Unterschiede üben einige dieser chemischen Botenstoffe beide Funktionen aus. So
wirken Adrenalin und Noradrenalin als Neurotransmitter, wenn sie von einem Neuron freigesetzt werden, und als Hormone, wenn sie von
den Nebennieren ausgeschüttet werden.
zusammengefasst
Die endokrinen Drsen schtten Hormone in
den Blutkreislauf aus. Diese wandern durch
den Krper und knnen auf verschiedene Zelltypen in unterschiedlichster Weise wirken.
Die Hypophyse steuert die Sekretionsaktivitt
anderer endokriner Drsen.
nachgefragt
1. Wenn Hormone in den Blutkreislauf sekretiert
werden, sind sie in der Lage, jede Zelle des
Krpers zu erreichen. Wie ist es dann mglich,
dass die Hormone bei bestimmten Gewebearten
im Krper selektive Wirkungen ausben? Sind
Analogien zur synaptischen bertragung im Gehirn denkbar?
2. Im Winter erwrmt die Heizung die Luft im Innern
eines Hauses, und der Thermostat erkennt,
wenn die Temperatur der Luft im Haus das vorgegebene Niveau erreicht. Auf welche Weise
knnte sich das endokrine System dieses Prinzip
zu Nutze machen, um die Hormonkonzentrationen im Blutkreislauf aufrechtzuerhalten? Welche
zentrale Drse knnte wohl als ,,Thermostat
des endokrinen Systems fungieren?
Evolution, Gene und
Verhalten
Um die biologischen Grundlagen der Psychologie
wirklich verstehen zu können, brauchen wir sowohl Wissen über evolutionäre und genetische
Einflüsse als auch über biologische Strukturen
und Prozesse. Alle biologischen Organismen haben sich über Jahrmillionen hinweg entwickelt,
und dabei spielten Umweltfaktoren eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung von Aufbau und
Funktion der jeweiligen Nervensysteme. Charles
Darwin nannte den Prozess, mit dem sich evolutionsbedingte Veränderungen erklären lassen,
natürliche Selektion; sie spielt bei der Ausformung
sowohl des Verhaltens als auch des Gehirns eine
entscheidende Rolle. Das Gebiet der Verhaltensgenetik verbindet die Methoden der Genetik und der Psy- Die Verhaltensgenetik
untersucht die Vererchologie, um den Einfluss
bung psychischer
der Vererbung von Verhal- Merkmale.
tensmerkmalen zu untersuchen (Plomin, Owen & McGuffin, 1994). Es ist
bekannt, dass viele physische Merkmale – beispielsweise Körpergröße, Knochenstruktur,
Haar- und Augenfarbe – vererbt werden. Die
Verhaltensgenetik möchte herausfinden, in welchem Ausmaß auch psychische Merkmale wie
geistige Fähigkeiten, Temperament und emotionale Stabilität von den Eltern auf die Nachkommen vererbt werden (Bouchard, 1984, 1995).
Eine Forschungsgruppe unter Robert Plomin
am Institut für Psychiatrie in London hat chromosomale Marker identifiziert, die zur Ausprägung von Intelligenz beitragen (Fisher et al.,
1999). Allerdings sind solche Ergebnisse nicht
als endgültig zu betrachten. Im nächsten Abschnitt wird deutlich werden, dass Umweltbedingungen einen großen Einfluss darauf haben, wie
sich genetische Faktoren auf die Entwicklung
eines Individuums auswirken.
Evolution, Gene und Verhalten
Verhaltensevolution
Jede Betrachtung von Verhalten darf nicht bloß
die unmittelbaren Ursachen des Verhaltens einschließen wie etwa das Feuern von Motoneuronen im Rückenmark, welches den Kniesehnenreflex auslöst, sondern auch die eigentlichen
Ursachen. Eigentliche Ursachen von Verhalten
erklären dieses in seinem evolutionären Kontext.
Während unmittelbare Ursachen uns verraten,
„wie“ ein Verhalten entsteht, verhelfen uns die
eigentlichen Ursachen in erster Linie zu dem Verständnis, „warum“ eine Verhaltensweise überhaupt existiert – das heißt, warum sie durch
natürliche Selektion entstanden ist.
Betrachten wir uns zum Beispiel das männliche Aggressionsverhalten (siehe den Exkurs
am Ende dieses Kapitels). Sowohl bei Menschen
als auch bei anderen Säugetieren sind die männlichen Individuen typischerweise aggressiver als
die weiblichen (Buss & Shackelford, 1997); dies
gilt insbesondere bei gleichgeschlechtlichen
Interaktionen. Bei Säugetierarten, deren sexuelle
Fortpflanzung jahreszeitabhängig gesteuert wird,
ist die Aggression zwischen den Männchen während der Paarungszeit besonders stark ausgeprägt. Bei Rotwild und Seeelefanten zum Beispiel
versuchen die Männchen, für die Paarung kleine
Gruppen von Weibchen („Harems“) unter ihrer
Kontrolle zu halten, und reagieren aggressiv auf
andere Männchen, die den Versuch unternehmen, sich mit einem dieser Weibchen zu paaren.
Die unmittelbaren Ursachen für aggressives
Verhalten sind ziemlich gut erforscht. Beispielsweise ist die Blutkonzentration des Geschlechtshormons Testosteron mit aggressivem Verhalten
korreliert. Ebenso hat man herausgefunden, dass
eine Schädigung subcortikaler Gehirnareale bei
Tieren das Auftreten von aggressiven Verhaltensweisen reduzieren oder auch erhöhen kann.
Neuere Befunde weisen darauf hin, dass Serotonin eine wichtige Rolle bei aggressivem Verhalten
spielt (Nelson & Chiavegatto, 2001) und dass zumindest bei Nagetieren das männliche Aggressionsverhalten durch Geruchshinweisreize vermittelt wird (Stowers, Holy, Meister, Dulac &
Koenteges, 2002). Darüber hinaus moduliert
der soziale Kontext sehr stark die Art und das
Muster aggressiver Handlungsweisen. Während
der Paarungszeit bauen sich Rothirsche und See-
75
elefanten-Bullen vor männlichen Konkurrenten
auf und greifen diese an, wenn sie sich zu nahe
heranwagen; sie attackieren aber nicht die paarungsfähigen Weibchen.
Weshalb gibt es jedoch überhaupt aggressives
Verhalten und die zu Grunde liegenden neuronalen und hormonalen Regulationsmechanismen?
Was sind die eigentlichen Ursachen von Aggression? Aus einer evolutionären oder funktional
ausgerichteten Perspektive kann man männliches
Aggressionsverhalten bei der Paarung als adaptiv
bezeichnen: Es gewährleistet Erfolg bei der Fortpflanzung, und erfolgreiche Fortpflanzung unterstützt das Fortbestehen jener Gene, die das aggressive Verhalten steuern. Aggressive Rothirsche
können sich empfängnisbereite Weibchen eher
sichern und sich mit ihnen paaren; dadurch erhöht sich der Anteil der Männchen in der nachfolgenden Generation, welche die Gene für Aggressivität besitzen. Wenig aggressive Rothirsche
haben dagegen nur geringe Chancen, sich ein zur
Paarung geeignetes Weibchen zu ,reservieren‘;
ihre Gene werden folglich in der Rotwildpopulation immer seltener. Dies bedeutet nicht, dass aggressives Verhalten aus ethischer oder moralischer Sicht ,gut‘ ist, sondern es ist adaptiv im
Kontext der Evolution.
Da aggressives Verhalten durch Wettbewerb
um Paarungsgelegenheiten ausgelöst wird, bezeichnet man es auch als
Unter sexueller Seleksexuell selektiert. Sexuelle tion versteht man einen
Selektion stellt einen Spezial- Spezialfall der natrlifall der natürlichen Selektion chen Selektion. Sie
dar. Sie bringt im Geschlecht bringt im Geschlecht
mit der potenziell größeren mit der potenziell
Reproduktionsrate Eigen- greren Reproduktischaften hervor, die eine er- onsrate Eigenschaften
folgreiche Fortpflanzung be- hervor, die eine erfolgreiche Fortpflanzung
günstigen. Bei Rotwild ist begnstigen.
die Reproduktionsrate der
Weibchen durch ihre Trächtigkeit und Stillzeit
begrenzt. Für die Männchen wird die Möglichkeit
sich fortzupflanzen dagegen allein durch die Anzahl der verfügbaren Weibchen beschränkt. Bei
einigen Vogelarten ist die männliche Fortpflanzungsrate geringer als die weibliche, weil die
Männchen im Nest bleiben, um die Eier auszubrüten, während die Weibchen auf die Suche
nach weiteren männlichen Partnern gehen, mit
denen sie sich dann paaren. In diesem Fall zeigen
die Weibchen ein ausgeprägteres Aggressionsver-
2
76
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
halten als die Männchen. Generell werden beim
Geschlecht mit der größeren Fortpflanzungsrate
stets diejenigen Eigenschaften selektiert, mit
deren Hilfe man sich seine Paarungspartner besser sichern kann. Diese Eigenschaften sind nicht
nur auf Verhaltensneigungen wie etwa Aggression begrenzt, sondern schließen auch körperliche Merkmale wie beispielsweise Körpergröße
und Färbung ein.
P
P
D
C
P
P
D T
A
P
D
D
P
T AD
P
Chromosome und Gene
Natürliche Selektion funktioniert über Gene.
Gene sind Segmente auf Molekülen der Desoxyribonukleinsäure (DNA), welche die elementaren
Erbkomponenten bilden. Die Gene, die wir von
unseren Eltern erhalten und an unsere Nachkommen weitergeben, befinden sich auf Strukturen
im Kern jeder Körperzelle, den Chromosomen.
Die meisten menschlichen Körperzellen haben
46 Chromosome. Jedes Individuum erhält bei
der Befruchtung 23 Chromosome von den Spermien des Vaters und 23 Chromosome von der
Eizelle der Mutter. Diese 46 Chromosome bilden
23 Paare, die sich bei jeder Zellteilung verdoppeln
Abb. 2.16 Chromosome. Diese Fotographie zeigt in
starker Vergrerung die 46 Chromosome einer Frau.
Bei einem Mann wren die Paare 1 bis 22 die gleichen,
aber das Paar 23 wre beim Mann ein XY-Paar und
nicht, wie bei der Frau, ein XX-Paar.
D
G
P
D
A
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P
P
D G C D
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A
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Abb. 2.17 Die Struktur eines DNA-Molekls. Jeder
Strang des Molekls besteht aus einer alternierenden
Abfolge von Desoxyribose (D) und Phosphat (P). Die
Sprossen der verdrehten Leiter setzen sich aus den Basen (Adenin A, Guanin G, Thymin T, Cytosin C) zusammen. Die Doppelnatur der Helix und die Einschrnkungen bei den mglichen Paarungen der Basen ermglichen die Selbstreplikation der DNA. Im Prozess der Zellteilung treffen sich die beiden Strnge der DNA, wobei
sich die Basenpaare aufspalten: Je ein Element eines
Paares bleibt bei einem Strang. Jeder Strang bildet
dann einen neuen komplementren Strang, indem er
berschssige Basen benutzt, die in der Zelle zur Verfgung stehen. Dabei binden sich immer nur die Basen
A und T sowie C und G wechselseitig. Durch diesen Prozess entstehen zwei identische DNA-Molekle.
(siehe Abbildung 2.16). Ein DNA-Molekül sieht
wie eine verdrehte Leiter oder eine Spirale aus
zwei Strängen (Doppel-Helix) aus (siehe Abbildung 2.17).
Jedes Gen übergibt ko- Ein Gen ist ein Segment
dierte Instruktionen an die eines DNA-Molekls
Zelle, wodurch diese zur und bildet die basale
Ausübung einer bestimmten Einheit des ErbmateFunktion (gewöhnlich die rials.
Evolution, Gene und Verhalten
Herstellung eines bestimmten Proteins) angeleitet wird. Obwohl jede Körperzelle dieselben Gene
besitzt, ist jede einzelne Zelle spezialisiert, da stets
nur fünf bis zehn Prozent der Gene in einer Zelle
aktiv sind. Im Laufe der Entwicklung aus der befruchteten Eizelle schaltet jede Zelle einige Gene
ein und die restlichen aus. Wenn beispielsweise
,Nervengene‘ aktiv sind, entwickelt sich die Zelle
zu einem Neuron. Diese Gene weisen die Zelle an,
diejenigen Stoffe herzustellen, die für die Übernahme neuronaler Funktionen notwendig sind.
Diese Entwicklung wäre nicht möglich, wenn
nicht irrelevante Gene wie etwa ,Muskelgene‘ abgeschaltet wären.
Gene bilden wie Chromosome Paare. Ein Gen
eines Paares kommt von einem Chromosom
einer Spermienzelle, das anChromosome sind
dere Gen kommt von einem
Strukturen im Kern jeChromosom der Eizelle. Auf
der Krperzelle.
diese Weise erhält ein Kind
von jedem Elternteil nur die Hälfte der jeweiligen
Chromosome. Die Gesamtzahl der Gene in
einem menschlichen Chromosom liegt bei etwa
1000, vielleicht auch darüber. Da die Anzahl
der Gene so groß ist, ist es extrem unwahrscheinlich, dass zwei Menschen den gleichen Satz an
Genen erben, selbst wenn sie Geschwister sind.
Die einzige Ausnahme bilden eineiige Zwillinge
mit exakt gleichen Genen, weil sie sich aus einem
einzigen Ei entwickelt haben.
Dominante und rezessive Gene. Jedes der
Gene eines Paares kann dominant oder rezessiv
sein. Sind beide Gene eines Paares dominant,
so treten bei dem Individuum die Merkmale
auf, die durch diese Gene bestimmt sind.
Wenn ein dominantes Gen zusammen mit einem
rezessiven Gen ein Paar bildet, so bestimmt wiederum das dominante Gen die auftretenden
Merkmalsausprägungen des Individuums. Nur
wenn beide Elternteile rezessive Gene zu einem
Paar beitragen, setzt sich die rezessive Form
der Merkmale durch. Betrachten wir beispielsweise die Gene für die Augenfarbe. Blau ist dabei
rezessiv, und braun ist dominant. Ein Kind mit
blauen Augen kann also zwei Elternteile mit jeweils blauen Augen haben oder ein Elternteil
mit blauen und ein Elternteil mit braunen Augen
(das zugleich ein rezessives Gen für blaue Augen
trägt) oder aber zwei Elternteile mit braunen
Augen (jedes hat dann auch ein rezessives Gen
77
für blaue Augen). Ein Kind mit braunen Augen
hat dagegen niemals zwei Elternteile mit jeweils
blauen Augen. Einige weitere Merkmale, die
durch rezessive Gene übergeben werden, sind
Kahlköpfigkeit, Albinismus, Hämophilie und
Allergie gegen den kletternden Giftsumach (Toxicodendron radicans), eine Efeuart.
Die meisten Merkmale eines Menschen sind
nicht durch ein einzelnes Genpaar bestimmt.
Es gibt allerdings einige wichtige Ausnahmen,
bei denen ein einziges Gen eine große Rolle
spielt. Von besonderer Bedeutung sind aus psychologischer Sicht Krankheiten wie die Phenylketonurie (PKU) und die Chorea Huntington
oder Huntington-Krankheit, die beide mit einer
Degenerierung des Nervensystems und damit
verbundenen Verhaltensproblemen sowie kognitiven Defiziten einhergehen. Die Gene, die diese
Störungen hervorrufen, sind von Genetikern
mittlerweile identifiziert worden.
Die PKU geht auf die Wirkung eines rezessiven
Gens zurück, das von beiden Elternteilen vererbt
wurde. Der Säugling kann eine bestimmte Aminosäure (Phenylalanin) nicht verdauen, die sich
dann im Körper ansammelt, das Nervensystem
vergiftet und irreversible Gehirnschäden hervorruft. Kinder mit PKU sind hochgradig retardiert
und leben gewöhnlich nicht länger als 30 Jahre.
Wenn die Erkrankung schon bei der Geburt entdeckt wird und der Säugling dann unverzüglich
eine Diät einhält, die den Phenylalaninspiegel
im Körper niedrig hält, stehen die Chancen
gut, bei guter Gesundheit und intakter Intelligenz
alt zu werden. Als die Lokalisation des PKU-Gens
noch nicht bekannt war, konnte die Erkrankung
frühestens drei Wochen nach der Geburt diagnostiziert werden.
Ein einziges dominantes Gen verursacht die
Huntington-Krankheit. Der langfristige Verlauf
der Krankheit zeigt sich in der Degeneration
bestimmter Gehirnareale sowie in einer voranschreitenden Zustandsverschlechterung über
zehn bis 15 Jahre hinweg. Personen mit dieser
Krankheit verlieren nach und nach die Fähigkeit,
zu sprechen und ihre Bewegungen zu kontrollieren. Sie zeigen einen deutlichen Gedächtnisverlust und einen Abbau ihrer geistigen Fähigkeiten.
Die Krankheit bricht im Allgemeinen im Alter
von 30 bis 40 Jahren aus; davor gibt es keine Anzeichen für die Erkrankung.
2
78
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
Da das Huntington-Gen mittlerweile ebenfalls
isoliert werden konnte, kann das Erkrankungsrisiko einer Person bestimmt werden, indem man
diagnostiziert, ob sie das Gen trägt oder nicht.
Nach heutigem Stand kann die Erkrankung nicht
geheilt werden; allerdings wurde zumindest das
Protein identifiziert, das durch dieses Gen produziert wird. Dies könnte ein Schlüssel für eine Behandlung der Erkrankung sein.
Geschlechtsgebundene Gene. Eine gesunde
Frau besitzt zwei ähnlich aussehende Chromosome im Paar 23, die sogenannten X-Chromosome.
Beim Mann enthält das Paar 23 nur ein X-Chromosom; das zweite Chromosom sieht etwas anders aus und wird Y-Chromosom genannt (siehe
Abbildung 2.16). Daher bezeichnet man das normale weibliche Chromosomenpaar mit XX und
das männliche Paar mit XY.
Frauen mit ihren beiden X-Chromosomen
sind vor rezessiven Merkmalen auf diesem Chromosom geschützt. Bei Männern, die ein X- und
ein Y-Chromosom tragen, kommen mehr rezessive Merkmale zum Ausdruck, weil ein Gen, das
sich auf einem der beiden Chromosome befindet,
keine Gegenwirkung eines dominanten Gens auf
dem anderen Chromosom erfährt. Genetisch bedingte Merkmale und Funktionsstörungen, die
mit dem 23. Chromosomenpaar verbunden
sind, werden als Geschlechtsmerkmale oder geschlechtsgebundene Funktionsstörungen bezeichnet. Ein rezessives geschlechtsgebundenes
Merkmal ist beispielsweise die Farbenblindheit.
Ein Mann ist farbenblind, wenn das X-Chromosom, das er von seiner Mutter erhielt, das Gen für
Farbenblindheit trägt. Unter Frauen kommt Farbenblindheit seltener vor, da eine farbenblinde
Frau sowohl einen farbenblinden Vater als
auch eine Mutter haben muss, die entweder
auch farbenblind ist oder ein rezessives Gen für
Farbenblindheit trägt.
Genetische
Verhaltensstudien
Manchmal legen einzelne Gene bestimmte Merkmale fest, aber die meisten menschlichen Merkmale resultieren aus einem Zusammenspiel vieler
Gene: Sie sind polygenetisch festgelegt. Merkmale
wie Intelligenz, Körpergröße und Emotionalität
lassen sich nicht in klar unterscheidbare Kategorien einteilen, sondern variieren kontinuierlich.
Die meisten Menschen sind weder ausgesprochen
dumm noch besonders klug; Intelligenz ist über
einen breiten Bereich verteilt, wobei sich die
meisten Menschen etwa in der Mitte befinden.
Es kommt zwar vor, dass ein bestimmter genetischer Defekt zur geistigen Retardierung führt,
aber im Allgemeinen beeinflusst eine große Anzahl verschiedener Gene diejenigen Faktoren,
die den verschiedenen Fähigkeiten einer Person
zu Grunde liegen und die somit ihr geistiges Potenzial bestimmen. Wie wir im Folgenden noch
erörtern werden, hängt es aber natürlich von
Umweltfaktoren ab, was aus diesem genetischen
Potenzial letztlich wird (Plomin, Owen &
McGruffin, 1994).
Selektive Zchtung. Eine Untersuchungsmethode zur Merkmalsvererbung bei Tieren ist
die selektive Züchtung. Dabei werden solche Tiere
miteinander gepaart, die
übereinstimmend besonders Bei der selektiven
hohe oder aber niedrige Aus- Zchtung werden Tiere
miteinander gepaart,
prägungen auf einem Merkdie entweder besonders
mal ihres Verhaltens oder ih- hohe oder besonders
rer körperlichen Beschaffen- niedrige Ausprgungen
heit aufweisen. In einer älte- auf einem Merkmal ihren Untersuchung zur Lern- res Verhaltens oder ihfähigkeit wurden weibliche rer krperlichen BeRatten, die beim Erlernen schaffenheit aufweisen.
eines Labyrinths schlecht abschnitten, mit männlichen Ratten gepaart, die
ebenfalls keine gute Lernleistung erzielt hatten.
Umgekehrt wurden weibliche Tiere mit guten
Lernresultaten mit entsprechenden männlichen
Tieren gepaart. Die Nachkommen dieser Paare
wurden mit dem gleichen Labyrinth getestet.
Nach einigen Generationen war ein ,kluger‘
und ein ,dummer‘ Rattenstamm gezüchtet (siehe
Abbildung 2.18). Solch eine Züchtung bringt aber
nicht zwangsläufig mehr oder weniger intelligente Tiere hervor. Von einem Tier mit weniger
starker Furchtausprägung beispielsweise würde
man eine bessere Leistung in der Labyrinthaufgabe erwarten, da es die Vorrichtung wahrscheinlich intensiver erkunden würde.
Mit selektiver Zucht konnte die Erblichkeit
mehrerer Verhaltensmerkmale belegt werden.
Solche Zuchtergebnisse führten zu besonders
79
Evolution, Gene und Verhalten
300
Mittlerer Fehler
250
"Dumme" Ratten
"Kluge" Ratten
200
150
100
1
2
3
4
5
6
Generationen
Abb. 2.18 Vererbung beim Labyrinthlernen von
Ratten. Mittlere Fehlerraten von ,klugen und ,dummen
Ratten im Laufe eines selektiven Zchtungsprozesses.
(Nach Thompson, 1954.)
reizbaren oder aber besonders lethargischen
Hunden, zu besonders aggressiven oder sexuell
sehr aktiven Küken, zu Fruchtfliegen, die sich
vom Licht mehr oder weniger angezogen fühlen,
und schließlich zu Mäusen, die Alkohol gerne
mögen oder aber gerade nicht mögen. Wenn
ein Verhaltensmerkmal durch Vererbung beeinflusst wird, dann sollte es durch selektive Züchtung auch verändert werden können. Wir können
umgekehrt davon ausgehen, dass ein Merkmal,
das durch Züchtung nicht verändert werden
kann, vor allem von Umweltfaktoren abhängt
(Plomin, 1989).
Zwillingsstudien. Da es offensichtlich unethisch
ist, Züchtungsexperimente mit Menschen in
Erwägung zu ziehen, müssen wir uns hier auf
Ähnlichkeiten im Verhalten von verwandten Personen stützen. Es gibt Merkmale, die in bestimmten Familien immer wieder auftreten. Familienmitglieder sind aber nicht nur genetisch verwandt, sondern sie teilen auch die gleiche Umwelt. Wenn eine musikalische Begabung ,in der
Familie liegt‘, wissen wir nicht, ob es sich dabei
um ein vererbtes Merkmal handelt oder ob der
Einfluss darin besteht, dass die Eltern auf Musik
besonderen Wert legen. Die Söhne alkoholkranker Väter werden häufiger alkoholkrank als
andere Menschen. Geht dies hauptsächlich auf
genetische Faktoren oder auf Umweltbedingungen zurück? Um solche Fragen beantworten zu
können, haben sich Psychologen der Untersuchung von Zwillingen zugewandt. Von besonderem Interesse sind dabei adoptierte Zwillinge, die
in verschiedenen Umwelten aufgewachsen sind.
Eineiige Zwillinge entwickeln sich aus einer
einzigen befruchteten Eizelle. Daher tragen sie
auch exakt identische Gene. (Sie werden auch
als monozygotische Zwillinge bezeichnet. „Zygote“
bedeutet „befruchtetes Ei“.) Zweieiige (dizygotische) Zwillinge entwickeln sich aus zwei verschiedenen Eizellen. Sie sind sich daher genetisch
nicht ähnlicher als normale Geschwister. Durch
den Vergleich von eineiigen mit zweieiigen Zwillingen lassen sich die Einflüsse der Vererbung
und der Umwelt trennen. Eineiige Zwillinge
sind sich in ihrer Intelligenz ähnlicher als zweieiige Zwillinge, selbst wenn sie bei Geburt getrennt wurden und in unterschiedlichen familiären Umwelten aufgewachsen sind (siehe Kapitel
13). Eineiige Zwillinge sind sich auch in einigen
Persönlichkeitsmerkmalen und in der Anfälligkeit für Schizophrenie ähnlicher als zweieiige
Zwillinge (siehe Kapitel 15).
Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Menge an
grauer Substanz im Gehirn, wie sie etwa durch
MRT gemessen werden kann, bei eineiigen Zwillingen stärker korreliert ist als bei zweieiigen und
dass sie darüber hinaus auch mit Intelligenz in
Zusammenhang gebracht werden kann (Thompson et al., 2001). Mit anderen Worten: Klügere
Menschen haben mehr graue Substanz in ihren
Gehirnen, und die vorhandene Menge scheint
tatsächlich stark mit genetischen Faktoren zusammenzuhängen (Plomin & Kosslyn, 2001).
Ein überraschendes Ergebnis aus Studien mit
adoptierten Kindern weist darauf hin, dass genetische Einflüsse mit zunehmendem Alter stärker
werden. Die psychischen Eigenschaften von
Kleinkindern sind weder denen ihrer biologischen Eltern noch denen ihrer Adoptiveltern
sehr ähnlich. Mit zunehmendem Alter wäre
durchaus zu erwarten, dass sich Merkmale wie
die allgemeinen geistigen und verbalen Fähigkeiten denen ihrer Adoptiveltern angleichen und die
Ähnlichkeit mit den diesbezüglichen Eigenschaften der biologischen Eltern eher sinkt. Entgegen
dieser Erwartung werden adoptierte Kinder,
wenn sie sich dem Alter von 16 Jahren nähern,
ihren biologischen Eltern in diesen Eigenschaften
2
80
2 Biologische Grundlagen der Psychologie
kontrovers
Beruht aggressives Verhalten
auf biologischen Faktoren oder auf
Umweltfaktoren?
Aggressives Verhalten
kann biologische
Grundlagen haben
L. Rowell Huesmann,
Universitt von Michigan
Die Auftrittswahrscheinlichkeit von aggressivem Verhalten wird von neuroanatomischen, neurophysiologischen, endokrinen und anderen physiologischen Anomalien beeinflusst. Obwohl diese Faktoren aggressives Verhalten nicht direkt hervorzurufen scheinen, interagieren die biologischen Unterschiede von Kindern
mit ihren frhen Erfahrungen in unterschiedlichen
Lernumwelten (ihren biosozialen Interaktionen) und
erzeugen interindividuelle Unterschiede im Sozialverhalten.
Die biosozialen Erfahrungen in der Frhphase des
Lebens scheinen besonders entscheidend fr die Entwicklung von gewohnheitsmigem aggressivem Verhalten zu sein. ˜rger wird schon weit vor Beendigung
des ersten Lebensjahres erfahren, und physische
Aggression (schlagen, stoen) ist bei Zweijhrigen
verbreitet. Im Allgemeinen gilt: Je aggressiver
sechs-, sieben- oder achtjhrige Kindern sind, desto
aggressiver sind sie als Erwachsene (Huesmann,
Eron, Lefkowitz & Walder, 1984). Biologische Unterschiede beeinflussen sowohl das Verhalten und Lernen der Kinder als auch die Art und Weise, wie Individuen emotional auf bestimmte Situationen reagieren, die hufig mit der Auslsung von Gewaltttigkeiten in Verbindung gebracht werden.
Was sind nun die biologischen Faktoren, die einige
Menschen fr aggressives Verhalten anfllig machen?
Erstens scheint eine Vielzahl von neuroanatomischen Unterschieden die Aggression zu beeinflussen.
Zusammen mit dem prfrontalen Cortex scheinen der
Hypothalamus und die Amygdala besonders wichtige
Orte fr anatomische Unterschiede zu sein, die sich
auf die Aggression auswirken. Elektrische Reizung
und Lsionen in diesen Nuclei knnen die Neigung
zu aggressivem Verhalten beeinflussen (siehe Moyer,
1976). Anatomische Unterschiede in jedem dieser
Areale, hervorgerufen beispielsweise durch ein Trauma oder einen Tumor, verndern die aggressiven
Tendenzen. Ob sich jedoch tatschlich bemerkenswerte Vernderungen der Aggressivitt einstellen,
hngt auch von situativen Faktoren ab. So haben
beispielsweise elektrische Stimulationen bei Tieren
gezeigt, dass dieselbe Stimulation, die Aggression
gegen einen kleinen Gegner auslst, nicht auch
Aggression gegenber einem greren Gegner hervorruft.
Zweitens scheint es so zu sein, dass Individuen mit
einem niedrigeren Serotoninspiegel -- einem Neurotransmitter, der an der Inhibition von impulsiven Reaktionen auf Frustrationen beteiligt ist -- ein erhhtes
Risiko aufweisen, sich aggressiv zu verhalten (Knoblich & King, 1992). Wenn das Serotonin im Krper
durch eine Dit oder durch Medikamente verringert
wird, werden die behandelten Tiere im Verhalten
aggressiver. Linnoila et al. (1983) fanden, dass
Mnner, die wegen triebhaften gewaltttigen Verhaltens im Gefngnis waren, geringere Serotoninspiegel
haben als nichttriebhafte Gewalttter. Darber hinaus
verhalten sich Kinder mit niedrigem Serotoninspiegel
mit grerer Wahrscheinlichkeit aggressiv (siehe
Knoblich & King, 1992).
Drittens scheint ein erhhter Testosteronspiegel,
sowohl vor der Geburt als auch in der frhen Kindheit,
zur Entwicklung einer Neurophysiologie zu fhren, die
fr die Auslsung aggressiven Verhaltens prdisponiert ist. Ein hherer Testosteronspiegel scheint zu
jedem Zeitpunkt die Wahrscheinlichkeit zu erhhen,
dass ein Individuum in eben diesem Moment aggressiv reagiert. Reinisch (1981) fand, dass Mdchen,
deren Mtter whrend der Schwangerschaft mit
einem testosteronhnlichen Hormon behandelt worden waren, mit einer greren Tendenz zu aggressivem Verhalten aufwuchsen als vergleichbare Kontrollpersonen. ˜hnlich reagieren mnnliche Jugendliche
bei einer Provokation aggressiver, wenn sie mehr
Testosteron haben (Olweus et al., 1988). Die Effekte
gehen aber nicht nur in eine Richtung. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Beherrschung eines
anderen oder Aggression gegen andere den Testosteronspiegel bei Mnnern erhht (Booth et al.,
1989).
Evolution, Gene und Verhalten
Unzweifelhaft spielen neben den drei Faktoren, die
ich erwhnt habe, noch andere biologische Faktoren
eine Rolle bei der Aggression (wie etwa das typische
Erregungsniveau). Diese drei Faktoren illustrieren
aber sehr gut, wie die Biologie ber die Interaktion
mit der Umwelt die Aggressivitt beeinflusst. Wodurch werden die biologischen Unterschiede hervorgerufen? Die genetische Variation ist sicher wichtig.
Untersuchungen an Zwillingen, die von Geburt an getrennt aufgewachsen sind, zeigen bei eineiigen
Zwillingen eine hhere Korrelation ihrer Aggressivitt
als bei zweieiigen gleichgeschlechtlichen Zwillingen
(beispielsweise Tellegen et al., 1988). Groe Lngsschnittstudien mit Jungen, die bei der Geburt adoptiert wurden, haben ergeben, dass der biologische
Vater und der adoptierte Sohn oft darin bereinstimmen, einer Gewalttat berfhrt worden zu sein (Mednick, Reznick, Hocevar & Baker, 1987). Diese genetischen Einflsse knnen sich gut durch die diskutierten biologischen Unterschiede -- Testosteron, Serotonin oder die Neuroanatomie des limbischen Systems -- oder auch durch einen anderen Mechanismus
ausdrcken. Was auch die genaue Ursache sein mag,
diese biologischen Prdispositionen haben ohne
Zweifel einen Einfluss darauf, wie die Interaktion
mit der Umwelt die sozialen Skripte, berzeugungen
und Schemata des Kindes formt und wie Menschen
auf provokative und frustrierende Umweltreize kognitiv und emotional reagieren.
Aggressives Verhalten
kann auf Umweltfaktoren
beruhen
Russell Geen,
Universitt von Missouri-Columbia
Die Rolle der erlernten und angeborenen Faktoren
bei der menschlichen Aggressivitt kann nicht als ein
Entweder-Oder beschrieben werden. Praktisch jeder
Psychologe, der sich mit diesem Problem beschftigt,
erkennt an, dass beide Faktoren eine Rolle spielen
und dass Unterschiede in den Standpunkten mit einer
unterschiedlichen Gewichtung des einen oder des
anderen Faktors einhergehen.
Belege fr die Bedeutung des Lernens bei der
Aggression kommen vor allem aus zwei Quellen.
Die eine besteht aus kontrollierten Untersuchungen
des Verhaltens in natrlichen und experimentellen
81
Umgebungen. Experimentelle Studien haben gezeigt,
dass aggressives Verhalten auf Belohnung und Bestrafung genauso anspricht wie anderes operantes
Verhalten. Zustzlich variiert die menschliche Aggression noch in Abhngigkeit davon, wie stark die
Erwartung des Aggressors ist, dass aggressives Verhalten auch zu dem gewnschten Ergebnis fhrt,
und wie hoch er den Nutzen dieses Ergebnisses
einschtzt (Perry, Perry & Boldizar, 1990). Es ist
eine seit Langem akzeptierte Prmisse der sozialen
Lerntheorie, dass Verhalten eine Funktion der Erwartung von Belohnungen und des Wertes dieser Belohnungen ist. Die Forschung hat zeigen knnen, dass
aggressives antisoziales Verhalten auf frhe Erfahrungen mit den eigenen Familienmitgliedern zurckgeht.
Ein Gruppe von Forschern, die dieses Problem untersucht haben, kam zu dem Schluss, dass ,,das grundlegende Einben von antisozialen Verhaltensmustern
vor der Adoleszenz in der Familie stattfindet und dass
die Familienmitglieder die primren Trainer sind
(Patterson, Reid & Dishion, 1992). Kinder lernen zuerst, dass Schlagen, Schimpfen oder Wutanflle effektive Mittel zur Erlangung der erwnschten Dinge
von anderen Familienmitgliedern sind. Ein solches
Verhalten kann schlielich zu umfassenderem antisozialen Verhalten innerhalb und auerhalb der Familie
generalisieren.
Die andere Belegquelle fr das soziale Lernen von
Aggression findet sich in Untersuchungen, die Unterschiede in der Gewaltttigkeit in Abhngigkeit von
kulturellen und sozialen Faktoren aufdecken. Es
gibt beispielsweise betrchtliche Belege fr eine systematische Variation des Auftretens von gewaltttigen Handlungen zwischen verschiedenen Kulturen.
Auch haben die Einwohner einiger Lnder im Vergleich zu Personen anderer Lnder die strker vorherrschende Meinung, dass Gewaltanwendung ein
Mittel zur Lsung von Problemen sei (Archer & McDaniel, 1995). Andere Untersuchungen weisen wiederum innerhalb der USA regionale subkulturelle Unterschiede in der Aggression nach. Die Mordrate unter
weien, nicht-hispanischen mnnlichen Personen, die
in lndlichen Umgebungen oder kleinen Stdten im
Sden des Landes leben, ist hher als die entsprechenden Raten in anderen Regionen mit ansonsten
vergleichbaren Verhltnissen. Dieses Ergebnis wurde
mit den unterschiedlichen regionalen Normen fr
aggressives Verhalten erklrt (Cohen & Nisbett,
1994).
Wenn in der Diskussion um die menschliche
Aggression die Anlagefaktoren gegen die Umweltfaktoren gesetzt werden, so ist das eine falsche "
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2 Biologische Grundlagen der Psychologie
Dichotomie. Geen (1990) hat darauf hingewiesen,
dass Lernen und Vererbung am besten als
Hintergrundvariablen verstanden werden, die ein Potenzial fr Aggression festlegen knnen, ohne sie als
unmittelbare Verursachungsfaktoren anzusehen. Aggressives Verhalten ist eine Reaktion auf situative Bedingungen, die eine Person erregen und einen Angriff
provozieren. Selbst wenn eine Person eine Disposition zu aggressivem Verhalten besitzt und zu dessen
Ausfhrung fhig ist, muss eine spezifische Situation
das Verhalten auslsen. Die Wahrscheinlichkeit des
Auftretens eines solchen Verhaltens wie auch dessen
Intensitt variieren in Abhngigkeit von der Art der
Provokation und dem Potenzial fr aggressives Verhalten, das durch mehrere Hintergrundvariablen bestimmt wird. Es ist sicher so, dass Personen, die
mit einer Disposition zur Gewaltttigkeit geboren wurden, bei Angriffen aggressiver reagieren als Personen
ohne eine solche Disposition. Ebenso werden Personen, die durch soziales Lernen starke Aggressionsneigungen erworben haben, aggressiver reagieren als
Personen mit anderen Lernerfahrungen. Vererbung
und soziales Lernen sind komplementre Faktoren
bei der menschlichen Aggression.
ähnlicher als ihren Adoptiveltern (Plomin, Fulker, Corley & Defries, 1997). Die genetischen Einflüsse gewinnen demnach mit dem Alter an Gewicht.
auch dazu, im Vergleich zu anderen Personen
mehr Endorphin auszuschütten (ein natürlicher
Neurotransmitter aus der Gruppe der Opiate,
der mit Belohnungen zusammenhängt), wenn
sie Alkohol trinken (Gianoulakis, Krishnan &
Thavundayil, 1996). Dies weist auf eine mögliche
biologische Prädisposition für Alkoholabhängigkeit hin.
Solche Analysen können aber auch falsch interpretiert werden und müssen mit Vorsicht bewertet werden. So wurde beispielsweise einmal
behauptet, dass ein Gen für den D2-Dopaminrezeptor nur bei Personen mit schwerer Alkoholabhängigkeit auftritt und deshalb eine genetische
Basis für Alkoholismus darstellt. Neuere Untersuchungen dieses Gens zeigen aber, dass es auch bei
Personen zu finden ist, die anderen Arten (zweifelhafter) Vergnügungen nachgehen. So könnte
das Gen auch in Verbindung mit Drogensucht,
Fettsucht, Spielsucht und anderen Formen ,ungezügelten Verhaltens‘ stehen (Blum, Cull, Braverman & Comings, 1996). Was wir von der Rolle
dieses Gens und seiner Beziehung zum Verhalten
zu wissen glauben, hat sich in den wenigen Jahren
seit seiner Identifizierung verändert und wird sich
in dem Maße weiter verändern, in dem neue Anhaltspunkte verfügbar werden. All diese Studien
unterstreichen, dass man besser auf weitere bestätigende Befunde warten sollte, bevor man auf die
genetische Basis eines Verhaltensmerkmals
schließt. In einigen Fällen hat sich das, was zunächst als eine eindeutige genetische Erklärung
eines Verhaltens erschien, später als unhaltbar erwiesen.
Molekulargenetik des Verhaltens. In jüngster
Zeit haben einige Forscher darauf hingewiesen,
dass bestimmte Merkmale des Menschen, beispielsweise einige Persönlichkeitsaspekte, durch
spezifische Gene bestimmt werden, indem diese
– so wird angenommen – einzelne Rezeptoren
von Neurotransmittern beeinflussen (Zuckerman, 1995). In den meisten Untersuchungen dieser Art werden Familienmitglieder mit einem bestimmten Merkmal identifiziert und dann mit
Familienmitgliedern verglichen, die dieses Merkmal nicht aufweisen. Mit molekulargenetischen
Verfahren wird versucht, Gene oder Chromosomensegmente zu finden, die mit der Manifestation des Merkmals korreliert sind. So scheint für
eine Kombination von Merkmalen, die als ,Suche
nach neuen Reizen‘ bezeichnet wird (die durch
Persönlichkeitsfragebögen ermittelte Neigung
zu Impulsivität, Exploration und cholerischem
Temperament), ein Gen verantwortlich zu sein,
das die D4-Rezeptoren für Dopamin festlegt
(Benjamin et al., 1996).
Hin und wieder wurden solche Analysen auch
auf sehr spezifische Verhaltensmerkmale angewandt. Wir hatten schon darauf hingewiesen,
dass die Söhne von alkoholabhängigen Vätern
mit größerer Wahrscheinlichkeit ebenfalls alkoholabhängig werden als zufällig ausgewählte Vergleichspersonen. Söhne von Alkoholikern neigen
83
im berblick
Umwelteinflsse auf die Genexpression. Das
vererbte Potenzial, mit dem ein Kind die Welt betritt, wird stark durch die Umwelt beeinflusst, auf
die es trifft. Ein Beispiel dafür ist Diabetes. Die
Neigung zu Diabetes ist vererbt, wobei der exakte
Mechanismus der Übertragung noch unbekannt
ist. Bei Diabetes produziert die Bauchspeicheldrüse nicht genug Insulin, um Kohlehydrate zu
verbrennen und damit Energie für den Körper
zu liefern. Wissenschaftler nehmen an, dass die
Insulinproduktion genetisch bestimmt ist. Die
Krankheit tritt allerdings nicht bei allen Personen
auf, die das genetische Potenzial für Diabetes haben. Wenn ein Zwilling Diabetes hat, tritt die
Krankheit bei dem anderen Zwilling nur in 50
Prozent der Fälle auf. Es sind nicht alle Umweltfaktoren bekannt, die zum Ausbruch der Krankheit beitragen, aber mit ziemlicher Sicherheit gehört die Fettleibigkeit dazu. Eine übergewichtige
Person braucht zur Verbrennung der Kohlehydrate mehr Insulin als eine normalgewichtige Person. Folglich bricht die Krankheit bei einer Person mit einer genetischen Disposition für Diabetes mit größerer Wahrscheinlichkeit aus, wenn sie
Übergewicht hat.
Eine ganz ähnliche Situation besteht auch bei
der Schizophrenie. Überzeugende Belege lassen
vermuten, dass diese Krankheit eine Vererbungskomponente besitzt (siehe Kapitel 15). Wenn ein
(eineiiger) Zwilling schizophren ist, dann ist die
Chance groß, dass auch der andere Anzeichen
einer geistigen Störung zeigt. Ob der andere Zwilling aber eine voll ausgeprägte Schizophrenie ausbildet, hängt von einer Reihe von Umweltfaktoren ab. Gene können also bestimmen, ob eine
Person für Schizophrenie anfällig ist; aber die
Umwelt, in der ein Individuum aufwächst, trägt
dazu bei, was am Ende tatsächlich passiert.
zusammengefasst
Chromosome und Gene (Segmente von DNAMoleklen, die genetische Information tragen)
bermitteln die Erbanlagen eines Individuums.
Verhalten hngt von der Interaktion zwischen
Anlage und Umwelt ab: Die Gene eines Individuums begrenzen das persnliche Potenzial,
doch was mit diesem Potenzial tatschlich geschieht, hngt von der Umwelt ab, in der dieser
Mensch aufwchst.
nachgefragt
1. Es scheint so, als wrde jedes Jahr die Entdeckung eines neuen Alkoholismusgens, eines
Gens fr Drogenabhngigkeit, Schizophrenie,
sexuelle Orientierung, Impulsivitt oder ein anderes komplexes psychisches Merkmal berichtet. Aber es stellt sich oft durch weitere Untersuchungen heraus, dass die Gene zwar bei einigen Personen zum jeweiligen Merkmal in Beziehung stehen, aber eben nicht bei allen. Oft erweisen sich auch Zusammenhnge mit anderen
Merkmalen als dem, mit dem es zuerst in Verbindung gebracht wurde. Warum knnten Gene
psychische Merkmale in dieser Art und Weise
beeinflussen? Mit anderen Worten: Warum
gibt es keine strenge Eins-zu-eins-Zuordnung
zwischen dem Vorhandensein eines Gens und
dem Ausprgungsgrad eines bestimmten psychischen Merkmals?
2. Gene haben einen wichtigen Einfluss auf das
Gehirn und das Verhalten. Doch sind es wirklich
die Gene, die fr alles verantwortlich sind, oder
kann man sich auch Beispiele fr ein Verhalten
vorstellen, das nicht genetisch vorprogrammiert
ist? Wie wird ein solches Verhalten ber verschiedene Generationen hinweg weitergegeben?
im berblick
1. Die grundlegende Einheit des Nervensystems
ist ein spezialisierter Zelltyp, das Neuron.
Vom Zellkörper eines Neurons gehen kleine
Fortsätze, die Dendriten, sowie ein dünner,
röhrenförmiger Fortsatz, das Axon, aus. Eine
Reizung der Dendriten und des Zellkörpers
führt zu einem neuronalen Impuls, der das
Axon entlangwandert. Sensorische Neurone
übertragen Signale von den Sinnesorganen
zum Gehirn und zum Rückenmark; Motoneurone übertragen Signale von Gehirn und
Rückenmark zu den Muskeln und Drüsen.
Ein Nerv ist ein Bündel von lang erstreckten
Axonen, die zu Hunderten oder Tausenden
von Neuronen gehören.
2. Ein Reiz bewegt sich in einem Neuron als elektrochemischer Impuls von den Dendriten zum
Ende des Axons. Dieser wandernde Impuls,
das Aktionspotenzial, wird durch den elektro-
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chemischen Prozess der Depolarisation hervorgerufen. Er verändert die Ladungsdifferenz
an aufeinanderfolgenden Punkten auf dem
Weg durch das Neuron mit Hilfe eines Zellmechanismus.
Einmal gestartet, wandert das Aktionspotenzial
das Axon entlang bis zu vielen kleinen Verdickungen am Ende, den synaptischen Endknöpfchen. Diese Endknöpfchen setzen chemische Substanzen frei, die Neurotransmitter,
die für die Übertragung des Signals von einem
Neuron zum nächsten verantwortlich sind.
Die Neurotransmitter diffundieren durch die
Synapse, einen schmalen Spalt an der Verbindungsstelle der beiden Neurone, und binden
sich an Neurorezeptoren in der Zellmembran
des Empfangsneurons. Einige Neurotransmitter wirken erregend und andere erregungshemmend. Wenn die erregende Wirkung auf
das empfangende Neuron im Vergleich zur
hemmenden Wirkung hinreichend groß
wird, findet eine Depolarisation statt, und
das Neuron feuert einen Alles-oder-nichts-Impuls.
Es gibt viele verschiedene Arten der Neurotransmitter-Rezeptor-Interaktion, die zur Erklärung einer ganzen Reihe psychologischer
Phänomene beitragen. Die wichtigsten Neurotransmitter sind Acetylcholin, Noradrenalin
(Norepinephrin), Dopamin, Serotonin, GABA
und Glutamat.
Das Nervensystem wird eingeteilt in das
Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark) und das periphere Nervensystem (die
Nerven, die das Gehirn und das Rückenmark
mit anderen Teilen des Körpers verbinden).
Das periphere Nervensystem gliedert sich in
das somatische System (das Botschaften von
und zu den Sinnesorganen, Muskeln und der
Körperoberfläche überträgt) und das autonome System (das die Verbindung mit den
inneren Organen und den Drüsen herstellt).
Das menschliche Gehirn besteht aus drei funktionalen Teilbereichen: dem zentralen Kern,
dem limbischen System und dem Großhirn.
Den zentralen Kern bilden die Medulla oblongata, die für die Atmung und die Haltungsreflexe zuständig ist; das Kleinhirn, das die
motorische Koordinierung gewährleistet; der
Thalamus als Umschaltstation für ankommende sensorische Information und der Hy-
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pothalamus, der für Emotionen und die Aufrechterhaltung der Homöostase wichtig ist.
Die Formatio reticularis, die einige der anderen Teile des zentralen Kerns durchzieht, reguliert den Erregungs- und Bewusstseinszustand des Organismus.
Das limbische System steuert einen Teil des
Instinktverhaltens, das durch den Hypothalamus geregelt wird. Dazu gehören Nahrungsaufnahme, Angriffs- und Fluchtverhalten
und Fortpflanzung. Es spielt auch eine wichtige Rolle bei Emotionen und Gedächtnis.
Das Großhirn ist in die beiden Hemisphären
unterteilt. Die gefaltete Oberfläche dieser Hemisphären, der cerebrale Cortex, besitzt eine
entscheidende Funktion für höhere mentale
Prozesse wie Denken, Lernen und Entscheidungsfindung. Bestimmte Bereiche des cerebralen Cortex sind für die Verarbeitung spezieller sensorischer Inputs oder die Steuerung
bestimmter Bewegungen verantwortlich. Der
Rest des Cortex besteht aus Assoziationsarealen, die mit Gedächtnis, Denken und
Sprache befasst sind.
Es gibt mittlerweile Techniken, um detaillierte Bilder vom Gehirn des Menschen zu
erhalten, ohne den Patienten Stress auszusetzen oder ihn zu verletzen. Dazu gehören die
Computer-Tomographie (CT), die MagnetResonanz-Tomographie (MRT) und die
Positronen-Emissions-Tomographie (PET).
Wenn das Corpus callosum (ein Streifen von
Nervenfasern, der die beiden Hemisphären
verbindet) beschädigt ist, können deutliche
Unterschiede in der Funktionalität der beiden Hemisphären beobachtet werden. Die
linke Hemisphäre ist besonders stark bei
sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten. Die rechte Hemisphäre kann Sprache
zu einem gewissen Grad verstehen, aber nicht
sprachlich kommunizieren. Sie ist besonders
entwickelt für räumliches Denken und
Mustererkennung.
Der Begriff Aphasie wird zur Beschreibung
von Sprachdefiziten benutzt, die durch
Hirnschäden hervorgerufen werden. Personen mit einer Schädigung des Broca-Areals
haben Schwierigkeiten bei der korrekten
Aussprache von Wörtern und können nur
langsam und sehr mühsam sprechen. Personen mit geschädigtem Wernicke-Areal kön-
im berblick
nen Wörter hören, aber verstehen ihre Bedeutung nicht.
12. Das autonome Nervensystem besteht aus
dem sympathischen und dem parasympathischen Teil. Es ist besonders wichtig für emotionale Reaktionen, weil es die glatte Muskulatur und die Drüsenaktivität steuert. Das
sympathische System ist besonders aktiv bei
Erregung, und das parasympathische System
dominiert in Ruhezuständen.
13. Die endokrinen Drüsen schütten Hormone
ins Blut aus. Mit dem Blut wandern die Hormone durch den Körper und wirken auf
unterschiedliche Zelltypen auch jeweils unterschiedlich. Die Hypophyse wird auch als
Hauptdrüse bezeichnet, weil sie die sekretorische Aktivität der anderen endokrinen
Drüsen steuert. Die Nebennieren sind für
die Stimmung, das Energieniveau und die
Stressbewältigung wichtig.
14. Die Erbmasse eines Menschen, die über die
Chromosome und die Gene weitergegeben
wird, beeinflusst die psychischen und physischen Merkmale. Gene sind Segmente von
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DNA-Molekülen, welche die genetische Information tragen. Einige Gene sind dominant, einige rezessiv, und einige sind geschlechtsgebunden. Die meisten Merkmale
des Menschen sind polygenetisch kodiert;
das heißt, sie sind durch das Zusammenwirken vieler Gene bestimmt.
15. Selektive Züchtung (die Paarung von Tieren,
die ein Merkmal in besonders hoher oder
niedriger Ausprägung besitzen) ist eine Methode, um den Einfluss der Vererbung zu
untersuchen. Ein anderes Mittel besteht darin, die Effekte der Umwelt und der Vererbung durch Zwillingsstudien zu trennen.
Dabei werden eineiige Zwillinge (deren
Gene identisch sind) mit zweieiigen Zwillingen (deren genetische Ähnlichkeit nicht
höher ist als die normaler Geschwister) verglichen. Verhalten hängt von der Interaktion
zwischen Umwelt und Vererbung ab: Die
Gene eines Individuums setzen die Grenzen
für sein Potenzial. Die Umwelt, in der das
Individuum heranwächst, bestimmt aber,
was aus diesem Potenzial wird.
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http://www.springer.com/978-3-8274-1405-2
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