Einführung in die praktische Philosophie Vorlesung 8. Was soll ich tun? Der kategorische Imperativ als oberstes Prinzip der Moral. Kants Moralphilosophie I. Claus Beisbart TU Dortmund Sommersemester 2009 Was soll ich tun? Kants Antwort: Der kategorischer Imperativ: “handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.” Grundlegung, 52 Die Moralphilosophie von Kant www.en.wikipedia.org Gliederung 1. Einführung: Was soll der kategorische Imperativ? a. Kants Schriften zur Moralphilosophie b. Kants Verortung der Moralphilosophie c. Die Idee eines kategorischen Imperativ 2. Der kategorische Imperativ a. Die allgemeine Formulierung b. Die Naturgesetz-fassung c. Die Zweck-Mittel-Fassung d. Die Reich-der-Zwecke-Fassung 3. Wie kommt Kant auf den kategorischen Imperativ? 4. Der kategorische Imperativ in der Kritik 1. Einführung: Was soll der kategorische Imperativ? 1. a. Kants Schriften zur Moralphilosophie: (kleinere Schriften) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) Kritik der praktischen Vernunft (1788) Metaphysik der Sitten (1797) Beobachtung: Das sind nicht unbedingt Titel, wie man sie für Werke zur Moralphilosophie erwartet. Grund: Kant untersucht Moralphilosophie in einem größeren System, im Rahmen seiner kritischen Philosophie. Der Zusammenhang Kants kritische Philosophie: Motivation für die erste Kritik (KrV, 1781/1787): Einer sachhaltigen metaphysischen Untersuchung muss eine kritische Überprüfung der Vernunft selbst vorangehen: Was kann die menschliche Vernunft überhaupt leisten? Kritik der reinen Vernunft: Gerichtshof, in dem die Vernunft über ihre Wissensansprüche entscheidet. Vernunftkritik als Selbstkritik der Vernunft. Kants theoretische Philosophie Wesentliche Aussagen Kants: 1. Der Mensch ist apriorischer (erfahrungsunabhängiger), aber welthaltiger (synthetischer) Erkenntnis fähig. 2. Diese Erkenntnis bezieht sich nur auf Gegenstände möglicher Erfahrung. Daher: Die Vernunft darf nicht über mögliche Erfahrungsgegenstände hinausgehen. Grenze der Vernunft 3. Die Gegenstände gibt es nicht nur als mögliche Erfahrungsgegenstände, sondern auch als Dinge an sich (Dinge, wie sie unabhängig von uns sind). Dinge an sich können wir aber nicht erkennen. Kants praktische Philosophie Wesentliche Aussagen Kants: 1. Es gibt eine apriorische oder reine Ethik, die unabhängig von aller Erfahrung ist. 2. Reine Vernunft kann praktisch werden. Keine Grenze der Vernunft. 3. Wenn wir frei handeln, dann müssen wir uns ein Stück weit als Ding an sich betrachten. b. Kants Verortung der Moralphilosophie Schema (Anfang der Grundlegung) Philosophie material formal Gesetze der Natur Regeln des Denkens Sein der Freiheit Sittengesetze Sollen Physik Ethik/Sittenlehre Metaphysik der Sitten Praktische Anthropologie Metaphysik der Sitten Metaphysik der Sitten: A priori (unabhängig von Erfahrung); praktische Anthropologie a posteriori Frage: Hat die Moral wirklich einen apriorischen Kern? (VII-XII, 25 – 35). Metaphysik der Sitten Kants Antwort: 1. Moralische Gebote drücken eine Notwendigkeit aus (siehe dazu unten). praktische 2. Moralische Gebote gelten allgemein: a. für alle Vernunftwesen b. in allen Situationen. Bemerkung: Notwendigkeit und strikte Allgemeinheit sind für Kant Kennzeichen apriorischer Urteile (KrV, B-Einleitung) 3. Moralische Gebote lassen sich nicht aus dem ablesen, was die Leute wirklich tun – vielleicht halten sie sich nicht an moralische Gebote. Beleg „Jedermann muss eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten; und so alle übrige eigentliche Sittengesetze; daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft” VIII c. Die Idee eines kategorischen Imperativ Für Kant ist der kategorische Imperativ das oberste Prinzip der Moral (XV, vgl. Utilitarismus, dort hatten wir ein Entscheidungskriterium, das angab, welche Handlung richtig ist). Doch was heißt hier „Imperativ“? Und was bedeutet “kategorisch”? Imperativ hier nicht im Sinne des Modus Imperativ in der Grammatik („Lies dieses Buch!“) Kants Definition: “Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ.” 37 Also: Imperativ ist die Formulierung eines Gebots, und ein Gebot ist ein objektives praktisches Prinzip, das unseren Willen nötigt. Was bedeutet das? Elemente a. Objektives Prinzip: allgemeine Regel, die ein bestimmtes Handeln als praktisch notwendig herausstellt. Beispiel: Versprechen muss man halten! Der Begriff der praktischen Notwendigkeit ist wichtig für Kant – seine Moralphilosophie ist daran orientiert (etwa 39). Die Begriffe der Pflicht, des Sollens, Müssens drücken alle eine praktische Notwendigkeit aus. Griechisch Pflicht: „deon“, Kants Ethik wird häufig deontologisch genannt. Elemente b. Nötigung: Ein Handeln wird als praktisch notwendig dargestellt; das heißt, in einer bestimmten Situation müssen wir auf bestimmte Weise handeln. Manchmal handeln wir aber in der Tat nicht so – manchmal verletzen wir moralische Pflichten. Die Instanz, die hier versagt, ist unser Wille. Ein objektives praktisches Prinzip, das von unserem Willen missachtet werden kann, tritt dem Willen als nötigend entgegen. “[Imperative] sagen, daß etwas zu tun oder zu unterlassen gut sein würde, allein sie sagen es einem Willen, der nicht immer darum etwas tut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu tun gut sei.” (37-8) Imperative Gebote werden sprachlich ausgedrückt (37). durch Sollenssätze Ein Imperativ formuliert ein Gebot. Daher: Imperative sind bei Kant Sollenssätze Arten von Imperativen Hypothetisch Regeln der Geschicklichkeit Kategorisch Ratschläge der Klugheit Gebote der Sittlichkeit 43 Hypothetisch vs. kategorisch Hypothetische Imperative: Stellen ein Handeln als notwendig für die Realisierung eines Ziels/einer Absicht dar. Kategorische Imperative: Stellen ein Handeln als schlechthin notwendig dar. Alternativ: Hypothetische Imperative stellen etwas als gut für etwas anderes dar; kategorische Imperative stellen etwas als schlechthin gut dar (39-40). Hypothetische Imperative Beispiele: “Wenn Du gesund bleiben willst, dann musst Du Sport treiben.” “Sporttreiben ist notwendig für das Gesundbleiben” Achtung 1. Das Ziel, für das ein Handeln einem hypothetischen Imperativ zufolge notwendig ist, wird alltagssprachlich oft nicht explizit erwähnt. “Du musst mehr Sport treiben” ist oft im Sinne eines hypothetischen Imperativ gemeint. P. Foot: Entscheidende Frage: Wie meint der Sprecher mit einem hypothetischen Imperativ? Ist der Imperativ so gemeint, dass man ihm entgehen kann, indem man sagt: Ich will doch gar nicht (gesund werden, ...). 2. Es kommt nicht auf die “Wenn-dann”-Form eines Imperativ allein an, sondern dass im “Wenn”-Satz ein Ziel oder eine Willensbestimmung steht. “Wenn Du es regnet, musst Du eine Jacke anziehen” kann als kategorischer Imperativ gemeint sein. Status Kant unterscheidet in der KrV zwischen analytischen und synthetischen Urteile. Grob: Analytische Sätze sind bereits aus begrifflichen Gründen wahr (“Alle Junggesellen sind unverheiratet”). 1. Ein hypothetischer Imperativ ist in Bezug auf den Inhalt synthetisch (dass Sport gut für die Gesundheit ist, gilt nicht begrifflich, erfordert echtes Wissen darüber, welche Folgen Sport hat). Ein hypothetischer Imperativ ist aber analytisch in Bezug auf den Willen. (Wer wirklich gesund bleiben will und denkt, dass nur Sport gesund erhält, der will auch Sport treiben). 2. Ein kategorischer Imperativ ist nach Kant synthetisch, daher schwieriger zu begründen! Arten von Imperativen Hypothetisch Regeln der Geschicklichkeit Kategorisch Ratschläge der Klugheit Gebote der Sittlichkeit 43 Hypothetische Imperative lassen sich nach Kant in zwei Klassen unterteilen. Der Zweck, für den etwas notwendig ist, kann sein: möglich Imperativ ist “problematisch” Regel der Geschicklichkeit Beispiel: “Wenn Du heute nach Wien fahren willst, dann musst Du den Zug um 20 Uhr nehmen.” wirklich Imperativ ist “assertorisch” Ratschlag der Klugheit Kant: Jeder Mensch will sein Glück Beispiel: “Realisiere gute Beziehungen zu anderen Menschen (dann wirst Du glücklich)” Kategorische Imperative Kategorische Imperative sind Gebote im eigentlichen Sinne. Kant nennt kategorische Imperative moralisch. Kants These: Die Moral gebietet kategorisch, d.h. unabhängig von den Zielen und Absichten, die wir bereits haben. Plausibilisierung: Moral sagt uns nicht, was wir tun sollen, wenn wir x wollen, sondern was wir zuerst einmal wollen sollen. Beispiel: Wenn ich jemandem sage: “Du musst Dein Versprechen halten!”, dann kann man dem nicht sinnvollerweise entgegensetzen: “Ich will aber etwas anderes tun.” Arten von Imperativen Hypothetisch Regeln der Geschicklichkeit Kategorisch Ratschläge der Klugheit Gebote der Sittlichkeit Prudentielle Rationalität Moralische Rationalität Heute Terminologie: Instrumentelle Rationalität 2. Der kategorische Imperativ Vorbemerkungen: 1. Bisher haben wir nur den Begriff des kategorischen Imperativ nach Kant untersucht. Jetzt fragen wir: Was gebietet der kategorische Imperativ eigentlich? Was besagt er inhaltlich? 2. Bisher gab es keine Gründe, nicht von mehreren kategorischen Imperativen zu sprechen. Kant ist aber der Meinung, dass es letztlich nur einen kategorischen Imperativ gibt (52). Um diesen geht es nun. Übersicht Wir können beim kategorischen Imperativ eine Grundformel und drei Fassungen unterscheiden. Diese gehen wir jetzt durch. a. Die Grundformel “die allgemeine Formel des kategorischen Imperativs [...]: handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann” 81 Was heißt das? b. Die Naturgesetzfassung ”handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.” 52 damit ist in etwa gemeint: ”Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.” 52 Benennung der Fassungen nach Schönecker/Wood Analyse Die Richtigkeit/Pflichtgemäßheit einer Handlung ergibt sich aus der Maxime, auf die Maxime kommt es an. Maxime: Subjektives Prinzip des Wollens (etwa Par. 1, KpV), drückt in allgemeiner Form aus, was sich ein Handelnder vorgenommen hat. Beispiele: “Ich will mein Vermöge gewinnbringend anlegen, egal was das für andere bedeutet.” “Ich will auch in Notlagen nicht lügen.” Also: Nach Kant ist eine Handlung moralischerweise nach ihren Motiven, die in der Maxime ausgedrückt werden, zu bewerten. Analyse 2 Die entscheidende Frage hinsichtlich der Maxime lautet: Kann ich wollen, dass meine Maxime Naturgesetz wird? Das meint: Kann ich wollen, dass die Maxime universell von allen Menschen befolgt wird? Wir nennen das Universalisierungstest. Die Frage ist also, ob man meine Maxime universalisieren kann. Schwierigkeiten, die dabei auftreten können (57): 1. Es lässt sich gar nicht denken, dass jeder die Maxime befolgt. Dann ist eine vollkommene Pflicht verletzt. 2. Es lässt sich nicht wollen, dass jeder die Maxime befolgt, dann ist eine unvollkommene Pflicht verletzt. Universalisierung Von lateinisch: universalis: Universalisierung: Verallgemeinerung. Vollkommene Pflichten Frage: Darf in einer Notlage ein Versprechen geben, das ich nicht zu halten beabsichtige? Maxime V: In Notlagen will ich Versprechen geben, die ich nicht halten will. Universalisierung: Jeder handelt nach dieser Maxime. Problem: Ein Versprechen ist eigentlich eine Selbstbindung: Wir verpflichten uns, das Versprochene zu tun. Wenn jeder Versprechen gibt, ohne sie halten zu wollen, dann ist die Institution des Versprechens aber de facto abgeschafft. Wenn jemand dann sagt: “Ich verspreche Dir ...”, so werden andere das nicht mehr als Selbstbindung und damit im Sinne eines echten Versprechens verstehen. Daher können wir nicht mehr sagen, dass hier wirklich ein Versprechen gegeben wird. Daher: Die allgemeine Befolgung der Maxime lässt sich nicht denken, ist widersprüchlich. Daher darf ich nicht nach Maxime V handeln (54 f.) Unvollkommene Pflichten Frage: Muss ich einer in Not geratenen Person helfen? Maxime H: Ich will anderen nicht helfen, selbst wenn sie in Not sind. Universalisierung: Jeder handelt nach dieser Maxime. Problem: Ich kann mir zwar vorstellen, dass jeder H gemäß handelt, aber wenn das so ist, dann werden meine eigenen Möglichkeiten in der Zukunft beschnitten, da mir niemand hilft, wenn ich in eine Notlage gerate. Das ist jedoch nicht wünschbar. Ein Wille kann nicht wollen, dass seine eigenen Möglichkeiten in der Zukunft solchermaßen beschnitten werden. Daher: Die allgemeine Befolgung der Maxime kann man nicht sinnvollerweise wollen. Daher darf ich nicht nach Maxime unvollkommen Pflicht ist verletzt (56-57). H handeln – eine Plausibilisierung Ein entscheidender Schritt bei der Überprüfung von Maximen ist die Universalisierung. Warum soll Universalisierung in der Moral so wichtig sein? Eine Handlung moralisch zu bewerten heißt, sie nicht nur aus dem Blickwinkel meiner Wünsche etc. zu betrachten, sondern von einem allgemeineren Standpunkt. Die Universalisierung garantiert diesen allgemeinen Standpunkt. In Ihren Worten “Kants kategorischer Imperativ gebietet, dass jede Handlung auf der Grundlage einer Maxime geschehen soll, die gleichzeitig auch als allgemeines Gesetz denkbar und wünschenswert wäre. Der kategorische Imperativ gilt somit unbedingt und unter allen Umständen. Er ist nicht ziel - und zweckorientiert” Achtung Die Universalisierung führt nur dann zu plausiblen Ergebnissen, wenn man von relativ allgemeinen Maximen ausgeht. Beispiel: Maxime: An einem Geburtstag von mir (an einem Dienstag im Juni) will ich Versprechen geben, die ich nicht zu halten gedenke. Die Universalisierung dieser Maxime führt nicht notwendig dazu, dass die Instituition des Versprechens de facto aufgegeben wird. Daher ergibt sich nicht notwendig ein Widerspruch und eine Pflichtwidrigkeit. Daher: Bereits bei der Formulierung der Maxime ist eine gewisse Allgemeinheit erforderlich. Für Kant ergibt sich das wohl aus seiner Handlungsauffassung. c. Die Zweck-Mittel-Fassung “Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.” 66 – 67 Analyse Allgemein: Wir wählen Mittel um bestimmter Zwecke willen. Kant: Es gibt einen Zweck, den wir in jedem Fall wählen sollen, der für sich einen Selbstzweckcharakter hat: Die Menschheit. Deren Selbstzweckcharakter müssen wir respektieren. Schwierigkeiten, die hier auftreten können: 1. Eine Maxime widerspricht dem Selbstzweckcharakter des Menschen. Dann ist eine vollkommene Pflicht verletzt. 2. Eine Maxime stimmt nicht positiv mit dem Selbstzweckcharakter des Menschen überein. Dann ist eine unvollkommene Pflicht verletzt. Vollkommene Pflichten Frage: Darf in einer Notlage ein Versprechen geben, das ich nicht zu halten beabsichtige? Maxime V: In Notlagen will ich Versprechen geben, die ich nicht halten will. Problem: Damit degradiere ich andere Menschen bloß zum Mittel meiner eigenen Wunscherfüllung. Daher: Meine Maxime stimmt nicht mit dem Selbstzweck “Mensch” überein. Daher darf ich nicht nach Maxime V handeln. Eine vollkommene Pflicht ist verletzt (67 f.). Unvollkommene Pflichten Moralische Frage: Muss ich einer in Not geratenen Person helfen? Maxime H: Ich will anderen nicht helfen, selbst wenn sie in Not sind. Damit wird der Selbstzweckcharakter des Menschen zwar nicht direkt verletzt, aber auch nicht positiv unterstützt. Ich unterstütze den Selbstzweckcharakter des Menschen nur, wenn ich die Zwecke der anderen Menschen realisieren helfe. Daher: Die Maxime stimmt nicht positiv mit dem Selbstzweckcharakter des Menschen zusammen. Daher darf ich nicht nach Maxime H handeln. Eine unvollkommene Pflicht ist verletzt (69). Plausibilisierung Mit der Zweck-Mittel-Fassung des kategorischen Imperativs drückt Kant aus, dass es grundlegende moralische Rechte des Menschen gibt, die wir nicht verletzen dürfen. Kant: Der Mensch hat nicht einen Preis, darf also nicht mit anderen Dingen, die einen Preis haben, verrechnet werden, sondern hat Würde (77). c. Die Reich-der-ZweckeFassung Erste Ankündigung: “die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens” 70 Formulierung als Imperativ: “handle nach Maximen eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reiche der Zwecke” 84 Reich der Zwecke Grobe Idee: Wenn jeder jeden anderen als Selbstzweck respektiert, dann stimmen die Zwecke aller Menschen positiv zusammen. Diesen Zustand nennt Kant Reich der Zwecke. Der Ausdruck “Reich” legt dabei den Gedanken einer politischen Ordnung nahe. Wir können uns das Reich der Zwecke als eine politische Ordnung vorstellen, in der jeder Mensch den Gesetzen gehorcht, jeder aber Gesetzgeber ist (74 – 76). Wir diskutieren diese Formulierung nicht weiter. Drei Fassungen des kategorischen Imperativ Aber es sollte Imperativ geben! doch nur einen kategorischen Kant: Es handelt sich um unterschiedliche Fassungen desselben Imperativ (79). Interpretation: Die Fassungen sind extensional äquivalent, insofern sie genau dieselben Handlungen als praktisch notwendig/moralisch richtig darstellen. Kant empfiehlt für die Praxis alle drei Fassungen des kategorischen Imperativ (81). 3. Wie kommt Kant auf den kategorischen Imperativ? Frage also: Wie bestimmt Kant den Inhalt des kategorischen Imperativ? Bemerkung: In der “Grundlegung” geht Kant hier zunächst hypothetisch vor. Er fragt: Wenn es einen kategorischen Imperativ gibt, was würde er fordern? Dass es einen kategorischen Imperativ wirklich gibt, zeigt er erst später. Eine Überlegung 1. Annahme: Wenn wir ein Handeln moralisch beurteilen, dann betrachten wir es im Lichte seiner Motive. Plausibilisierung: Ich stoße absichtlich eine Vase um. Wann kann man mich moralisch dafür verurteilen? Wenn ich damit etwas Schlechtes wollte. Wenn ich es für moralisch richtig hielt, die Vase umzustoßen, dann kann man mir in gewisser Hinsicht keinen moralischen Vorwurf machen. Kant: Was uns letztlich bei der moralischen Beurteilung interessiert, ist der Wille. Was letztlich allein gut sein kann, ist ein guter Wille (1-8). Beleg “Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urteilskraft, und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wählenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden” 1 Eine Überlegung Wenn es bei einer moralischen Beurteilung einer Handlung auf das Motiv ankommt, dann fragt sich: Welches Motiv muss eine moralisch richtige/wertvolle Handlung haben? Kant: 2. Moralisch richtiges Handeln erfolgt aus Pflicht, ist also nicht nur pflichtgemäß. Plausibilisierung: Wenn eine Person nur freundlich gegen mich ist, weil sie sich davon einen Vorteil verspricht, dann verdient sie kein moralisches Lob für ihr Handeln. Nur wenn sie aus Pflichtbewusstsein freundlich ist, kann man sie in moralischer Hinsicht loben. (8-17) Eine Überlegung 3. Worin besteht Handeln aus Pflicht? Handeln aus Pflicht kann nicht darin bestehen, dass ich ein moralisch wertvolles Ziel erstrebe, denn außer dem guten Willen selbst gibt es ja für Kant keine moralischen Güter. Handeln aus Pflicht kann daher nicht durch den Inhalt meines Wollens gekennzeichnet werden, sondern muss durch die Form meines Wollens beschrieben werden. Diese Form kann man durch ein Gesetz beschreiben. Aber was gebietet das Gesetz? Gesetze sind allgemein, daher kann das Gesetz für die Form des moralischen Handelns nur Verallgemeinerung/Universalisierbarkeit meines Handelns fordern → Kategorischer Imperativ in der ersten Fassung! (15-17) Eine andere Überlegung Wenn ein Imperativ kategorisch gebietet, dann geht er nicht von einem bestimmten Zweck aus. Es ist also kein vorgegebener Zweck vorhanden, auf dem man aufbauen kann. Der kategorische Imperativ soll ganz allgemein ein Handeln als notwendig kennzeichnen. Der kategorische Imperativ kann daher nur die Form einer Handlung als Allgemeinheit festlegen. 51-52 Ein kurzer Vergleich mit dem Utilitarismus Der Utilitarismus (vor allem der hedonistische) geht von einer Werttheorie aus. Handlungen sind dann moralisch richtig, wenn sie durch ihre Folgen hinreichend viel (nämlich maximalen) Wert produzieren. Die Richtigkeit einer Handlung bemisst sich also nur nach den Folgen (Konsequenzialismus). Kant hat eine sehr eigenartige Werttheorie (der zufolge nur der Mensch oder der gute Wille Wert hat). Nach Kant gründet die Richtigkeit einer Handlung also nicht in der Produktion von Werten, sondern in der Form der Handlung. Literatur Zitate hier nach: I. Kant, Werke, herausgegeben von W. Weischedel, Band VII, Frankfurt am Main 1974, Seitenangaben nach der Originalausgabe Kommentare: C. Horn, C. Mieth und N. Scarano, Immanuel Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main 2007 O. Höffe (Hrsg.), Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar. Frankfurt am Main 2000 (dritte Auflage) Weitere Literaturangaben in der nächsten Vorlesung.