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Einführung in die
praktische Philosophie
Vorlesung 9.
Freiheit verpflichtet.
Kants Moralphilosophie II
Claus Beisbart
TU Dortmund
Sommersemester 2009
Was soll ich tun?
Kants Antwort: Der kategorischer Imperativ:
“handle nur nach derjenigen
Maxime,
durch
die
du
zugleich wollen kannst, daß
sie ein allgemeines Gesetz
werde.”
Grundlegung, 52
Bild aus en.wikipedia.org
Bisher
- haben wir den Begriff des kategorischen
Imperativ kennengelernt.
- haben wir unterschiedliche Fassungen des
kategorischen Imperativ untersucht.
Heute
- wollen wir uns überlegen, wie weit eine Ethik des
kategorischen Imperativ trägt.
- wollen wir fragen: Warum dem kategorischen
Imperativ folgen?
Gliederung
1. Der kategorische Imperativ in der Kritik
2. Ein Vergleich mit dem Utilitarismus
3. Freiheit verplichtet. Moralbegründung bei I. Kant
4. Der kategorische
Imperativ in der Kritik
Eine Stimme von Ihnen
“Kants
kategorischer
Imperativ
[...]
hat
gegenüber
teleologischen Ethikvorstellungen den großen Vorteil, dass er
nicht von kulturell geprägten oder subjektiven Vorstellungen
des „Guten“ abhängt sowie die individuellen Möglichkeiten des
Handelnen
(Kenntnis
der
Umstände,
Abschätzen
der
Konsequenzen) berücksichtigt. Der Kategorische Imperativ ist
außerdem
trotz
gesellschaftlicher
oder
technischer
Veränderungen immer aktuell geblieben; relativ moderne
Probleme wie Umweltschutz oder Gentechnik können mit Hilfe
des kategorischen Imperativs betrachtet werden. Allerdings
bietet
der
kategorische
Imperativ
keine
konkrete
Handlungsanweisung und kann nicht – wie er es ja eigentlich
per Definition fordert- in jedem Fall individuell angewandt
werden, sondern kann nur als idealtypischer Leitfaden gedacht
werden.”
Der kategorische Imperativ
in der Kritik
Beispielhaft wird im folgenden
Naturgesetzfassung betrachtet.
besonders
die
Kants Thesen:
Verallgemeinerung einer Maxime kann nicht gedacht
(und daher nicht gewollt) werden ↔ Verletzung
vollkommener Pflicht.
Verallgemeinerung einer Maxime kann zwar gedacht,
aber nicht gewollt werden ↔ Verletzung einer
unvollkommenen Pflicht.
Erläuterung
Dabei: vollkommene Pflicht:
zugunsten unserer Neigungen.
Keine
Ausnahme
Unvollkommene
Pflicht:
Ausnahme
unserer Neigungen möglich.
zugunsten
53
Vielleicht auch: Vollkommene Pflichten haben im
Zweifelsfall den Vorrang vor unvollkommenen
Pflichten.
Oder: Bei unvollkommenen Pflichten ist nicht genau
determiniert, was der Handelnde tun muss; er hat
einen individuellen Gestaltungsspielraum.
Kritik
Eine Art von Kritik, die wir bereits im Zusammenhang
des Utiltiarismus kennengelernt haben, vergleicht die
Aussagen einer moralischen/ethischen Theorie mit
moralischen Intuitionen. Wenn die Theorie in vielen
Fällen unseren moralischen Intuitionen widerspricht,
dann hat sie ein Problem.
Kants Theorie ist einer solchen Kritik in besonderem
Maße ausgesetzt, da Kant den Inhalt des
kategorischen Imperativ durch eine konzeptuelle
Analyse des Pflichtsbegriffs gewinnt.
Wir wollen im folgenden also Handlungen nennen
und fragen, ob sie a. im Sinne des k.I. und b. intuitiv
moralische Pflichten verletzen.
Problem
Maxime und Handlung:
Der kategorische Imperativ bezieht sich auf die
Maxime, nicht auf die Handlung selbst.
Problem: Dieselbe Handlung kann
unterschiedlichen Maximen ergeben.
sich
aus
Beispiel: Ein Vorgesetzter hat befohlen zu lügen
Maxime 1: Ich will lügen.
Maxime 2: Ich will dem Vorgesetzten gehorchen.
Für die Bewertung des Akteurs und der Frage, ob sein
Handeln moralischen Wert hat, ist natürlich
entscheidend, welche Maxime der Akteur wirklich
hat.
Problem
Aber wenn wir uns bloß abstrakt für die Frage
interessieren, welches Handeln in einer bestimmten
Situation richtig ist, dann gibt es keinen Akteur, an
dessen Maximen wir uns halten können.
O'Neill: Kant geht es primär gar nicht um die
Richtigkeit einer Handlung.
Im folgenden vermeiden wir das Problem, indem wir
von einer bestimmten Maxime ausgehen.
Typologie von Kritik
Kants Thesen:
Verallgemeinerung einer Maxime kann nicht gedacht (und daher nicht gewollt)
werden ↔ Verletzung vollkommener Pflicht.
Verallgemeinerung einer Maxime kann zwar gedacht, aber nicht gewollt
werden ↔ Verletzung einer unvollkommenen Pflicht.
1. Eine Maxime kann allgemein befolgt werden, aber es ist
intuitiv eine vollkommene Pflicht verletzt.
2. Eine Maxime kann verallgemeinert gewollt werden, aber es
ist intuitiv eine unvollkommene Pflicht verletzt.
3. Eine Maxime kann nicht allgemein befolgt werden, aber es ist
intuitiv keine vollkommene Pflicht verletzt.
4. Eine Maxime kann nicht verallgemeinert gewollt werden, aber
es ist intuitiv keine unvollkommene Pflicht verletzt.
Kritik vom Typ 1/2
Geist: Der kategorische Imperativ ist zu schwach, um
Handlungen, die wir als pflichtwidrig ansehen,
auszuschließen.
Kritik oft: Der kategorische Imperativ liefert ein
formales Testverfahren für Maximen, aber dieser
Formalismus ist zu schwach, um zu gehaltvollen
Wertungen zu kommen. Nur unter verdeckten
Zusatzannahmen wird der kategorische Imperativ
effektiv.
Die Naturgesetzfassung
”handle so, als ob die Maxime deiner Handlung
durch
deinen
Willen
zum
allgemeinen
Naturgesetz werden sollte.”
52
Kritik vom Typ 1
Beispiel: Zwangsverheiratung (vgl. Birnbacher 2003)
Maxime: Ich will meine Kinder zwangsverheiraten.
Intuitiv missachtet diese Maxime ein grundlegendes
moralisches
Recht.
Es
scheint
daher
eine
vollkommene Pflicht verletzt.
Aus Kants Sicht ist nur dann eine vollkommene Pflicht
verletzt,
wenn
eine
allgemeine
Praxis
von
Zwangsverheiratung nicht denkbar erscheint. Dem ist
jedoch nicht so.
Kritik vom Typ 2
Beispiel: Hilfeleistung (vgl. Grundlegung 56–57)
Maxime: Ich will anderen Menschen auch dann nicht
helfen, wenn sie unverschuldet in Not sind.
Intuitiv scheint eine unvollkommene Pflicht verletzt.
Aus Kants Sicht ist nur dann eine unvollkommene
Pflicht verletzt, wenn man nicht wollen kann, dass
niemand anderen Hilfe in Notlagen leistet. Aber
warum soll man das (rationalerweise) nicht wollen
können?
Kant: Ein Wille, der der Verallgemeinerung der
Maxime zustimmt, beraubt sich selbst möglicher
Mittel für die Zukunft.
Kritik vom Typ 2
Richtig ist: Wenn ich einerseits will, dass mir andere
in eventuellen Notlagen helfen, und wenn ich
andererseits die Verallgemeinerung der Maxime will,
dann will ich Dinge, die sich einander ausschließen.
Daher kann ich rationalerweise nicht beides wollen.
Aber:
Ein
kategorischer
Imperativ
gebietet
unabhängig davon, was ich will. Daher können wir
nicht voraussetzen, dass ich will, dass mir andere in
eventuellen Notlagen helfen.
Ausweg: Darwall: Bestimmte Dinge will jeder Wille
rationalerweise.
Kritik vom Typ 3/4
Geist: Kant schließt bestimmte Maximen aus, die an
und für sich kein Problem darstellen.
Kritik vom Typ 3
Beispiel (Rawls, diskutiert in Darwall): Praxis des “telishment”:
Personen werden willkürlich ausgewählt und verhaftet.
Eine Person kann sich jedoch weigern, ein telishment
durchzuführen. In diesem Fall sprechen wir von einem
nullishment.
Wenn alle Personen nullishment durchführen, dann gibt es kein
telishment mehr.
Die Maxime “Ich will mich dem telishment durch nullishment
verweigern” kann nicht verallgemeinert gedacht werden, weil
nullishment telishment voraussetzt. Nach Kant ist daher eine
vollkommene Pflicht verletzt.
Intuitiv: Nullishment scheint moralisch richtig zu sein.
Diagnose
Problem scheint zu sein: Versprechen, telishment etc.
sind soziale Praktiken, die durch bestimmte Regeln
konstituiert werden. Kants Theorie erlaubt uns nicht,
nach dem Sinn und Wert dieser Praktiken zu fragen.
Die Zweck-Mittel-Fassung
“Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner
Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit
zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchest.”
66 – 67
Problem hier ist: Was heißt es, dass die Menschheit
Zweck unseres Handelns ist. Zwecke beschreiben wir
normalerweise, indem wir einen wünschbaren Verlauf
der Dinge angeben. Was soll es aber heißen, dass ein
Mensch Zweck ist? (vgl. Ricken in Höffe, Klassiker auslegen)
Reaktionen von der Seite
Kants
1.
Zeige: Bei genauerer Betrachtung hat der
kategorische Imperativ doch keine kontraintuitiven
Konsequenzen.
2.
Standpunkt des hartgesottenen Theoretikers:
Unsere Intuitionen sind halt manchmal verfehlt.
Insgesamt bleibt kontrovers, wie angemessen Kants
Ethik des kategorischen Imperativ insgesamt ist.
Die Formulierung des kategorischen Imperativ gilt
jedoch als eine bleibende dauerhafte Leistung von
Kant.
Andere Kritik am
kategorischen Imperativ
Kant stellt den Menschen zu sehr in den Mittelpunkt.
Er behauptet, dass nur die Menschheit ein
Selbstzweck ist. Wie steht es jedoch mit Tieren und
Pflanzen?
2. Ein Vergleich mit dem
Utilitarismus
a. Monismus
Kants Moralphilosophie des kategorischen Imperativ
und der Utilitarismus sind beide monistisch.
Es wird jeweils ein Prinzip angegeben, anhand dessen
sich bestimmen lässt, ob ein Handeln richtig/wertvoll
ist.
Gegensatz zum Monismus:
Pluralismus: Es gibt nicht ein einziges Prinzip, das
moralisch richtiges Handeln beschreibt. Motivation:
Handlungen können aus unterschiedlichen Gründen
richtig sein.
b. Moralische Intuitionen
Frage: Wie gut sind die beiden Moraltheorien, wenn
es darum geht, unsere moralischen Intuitionen zu
erfassen?
Akt-Utilitarismus
hat
grundlegende
Rechte
Gerechtigkeit geht.
Probleme,
wo
es
und
um
Fragen
um
der
Kants Moralphilosophie hat Probleme, wo es um das
Einbeziehen und Abwägen von Gütern geht.
c. Moralisches Überlegen
Frage: Wie gut sind die beiden Moraltheorien, wenn
es darum geht, Formen praktischen und moralischen
Überlegens zu erfassen?
Für den Akt-Utilitarismus ist moralisches Überlegen
ein Abwägen von Gütern und ein Maximieren von
Werten.
Für Kants Moralphilosophie ist moralisches Überlegen
ein Verallgemeinern.
Beide Formen von Überlegen
Alltagspraxis verwendet.
werden
in
der
d. Absolutismus
Absolutismus: Bestimmte
niemals moralisch richtig.
Handlungstypen
sind
Tendenz: Der Utilitarismus ist nicht-absolutistisch.
Kant vertritt einen Absolutismus.
Einige Interpreten sind jedoch der Ansicht, dass der
Absolutismus von Kant nicht zum Kern seiner
Moralphilosophie gehört. Es wäre dann eine nichtabsolutistische Ethik des kategorischen Imperativ
denkbar.
e. Werttheorie
Der (hedonistische) Utilitarismus baut auf einer
Werttheorie (Axiologie) auf. Er benennt Güter. Diese
Güter geben substantielle Ziele vor, an denen sich
unser Handeln ausrichtet sollte. Ein Handeln ist
moralisch richtig, wenn in der richtigen Relation zu
den Werten steht (wenn es den Wert maximiert).
Kants kategorischer Imperativ baut nicht auf einer
Werttheorie auf. Kant hat zwar eine Art von
Werttheorie, der zufolge nur der gute Wille und der
Mensch als (potentieller) Träger des guten Willens
moralischen
Wert
hat.
Für
die
Universalisierungsformel spielt diese Werttheorie
jedoch keine Rolle. Eine Handlung wird aufgrund ihrer
Form beurteilt.
Weiterhin
Für den Utilitarismus hängt die Richtigkeit einer
Handlung von ihrer Beziehung auf nicht-moralische
Werte ab.
Folge: Die Moral ist nicht selbständig, beruht auf
nicht-moralischen Werten, dient nicht-moralischen
Werten.
Kant: Moral ist autonom. Sie hat keine Funktion.
Ethik der Autonomie
Autonomie ist ein wichtiges Schlagwort, mit dem
Kant seine Moralphilosophie kennzeichnet.
Autonomie:
gr.
Selbstgesetzgebung
Fähigkeit, sich selbst Gesetze zu geben.
oder
die
Gegensatz: Heteronomie (Fremdbestimmung)
Kants Definition von Autonomie des Willens:
“Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des
Willens, dadurch derselbe ihm [meint: sich] selbst
(unabhängig
von
aller
Beschaffenheit
der
Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist.”
87
Ethik der Autonomie
Warum spricht Kant hier von Selbstgesetzgebung?
Motivation: Der kategorische Imperativ fordert, ich
solle wollen können, dass die Maxime meines Wollens
allgemeines Gesetz wird. Ich soll mich also fragen,
inwieweit
meine
Maxime
zur
allgemeinen
Gesetzgebung taugt. Ich soll mich damit in die
Perspektive eines Gesetzgebers versetzen. Wenn
meine Maxime in der Tat zum allgemeinen Gesetz
taugt und ich danach handle, dann gebe ich ein
Gesetz, das auch für mich gilt, an das ich mich halte.
Ethik der Autonomie
Folgerung von Kant: Moralische Pflichten gründen
nicht in dem Akteur äußerlichen Werten, sondern im
Akteur selbst. Moralische Forderungen entstehen,
indem sich der Akteur selbst ein Gesetz gibt. Das
einzelne Subjekt ist die Quelle seiner Pflichten.
Vgl. dazu Kants theoretische Philosophie: Raum und
Zeit, sowie die sog. reinen Verstandesbegriffe (etwa
Kausalität) gründen letztlich im Subjekt selbst. Raum
und Zeit sind zum Beispiel Formen der (subjektiven)
Anschauung.
Weitere Folgerung: Nicht nur der Wille ist autonom
(gibt sich selbst Gesetze), auch die Moral als solche
ist autonom (unabhängig von moral-externen Dingen)
Ethik der Autonomie
Der Autonomie-Begriff weckt jedoch schnell auch
falsche Assoziationen.
Gemeint ist nicht:
1. Jeder kann moralischerweise tun, was er will.
2. Moralische Pflichten variieren mit der Person. Jeder
hat die Pflichten, die er sich selbst auferlegt.
Ethik der Autonomie
“Es ist nun kein Wunder, wenn wir auf alle bisherige
Bemühungen, die jemals unternommen worden, um das Prinzip
der Sittlichkeit ausfündig zu machen, zurücksehen, warum sie
insgesamt haben fehlschlagen müssen. Man sahe den
Menschen durch seine Pflicht an Gesetze gebunden, man ließ es
sich aber nicht einfallen, daß er nur seiner eigenen und
dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei, und
dass er nur verbunden sei, seinem eigenen, dem Naturzwecke
nach aber allgemein gesetzgebenden Willen gemäß zu
handeln.”
73
3. Moralbegründung bei
Kant
Bisher: Wir haben Kants Ausführungen vor allem als
Antwort auf die Frage gelesen: Welches Handeln ist
richtig?
Kants Überlegungen zur Moralphilosophie gelten
jedoch auch aus anderen Gründen für interessant.
Diese Gründe betreffen vor allem den Status der
Moral.
Einschränkung:
Die
Interpretation
von
Kants
Überlegungen ist schwierig, und ich kann nur einige
Überlegungen andeuten.
Ansatzpunkt: Moralbegründung.
Moralbegründung
Frage: Warum moralisch handeln?
Frage aus Kants Sicht: Warum dem kategorischen
Imperativ folgen?
Eine Antwort auf diese Frage heißt Moralbegründung.
Vgl. die sophistische Herausforderung bei Sokrates
und Platon. Die Sophisten empfehlen ein Leben, das
sich nicht an moralischen Pflichten ausrichtet.
Auch Kant stellt die Frage nach der Moralbegründung
explizit. Kant: Ist Sittlichkeit vielleicht nur ein
“Hirngespinst”,
“eine
chimärische
Idee
ohne
Wahrheit”? (96)
Hintergrund
Die Frage der Moralbegründung stellt Kant im dritten
Abschnitt der “Grundlegung”.
Vorher hat er bereits den kategorischen Imperativ
formuliert und in gewisser Weise hergeleitet.
Frage: Wie konnte Kant den kategorischen Imperativ
herleiten, ohne die Frage der Moralbegründung zu
beantworten?
Antwort: Kant geht in den ersten beiden Abschnitten
vom Begriff der Pflicht aus. Wenn man so will, geht er
vom üblichen Moralverständnis aus. Dabei blieb
offen, ob wir wirklich Pflichten haben und ob das
übliche Verständnis der Moral richtig ist. Die Frage:
“Warum moralisch sein/dem k.I. folgen?” ist daher
noch offen.
Hintergrund
Für Kant ist der kategorische
synthetisches Urteil a priori.
Imperativ
ein
Kants Frage: Wie sind solche Urteile möglich – wie
lassen sie sich begründen?
Ein Vorschlag
Man beantwortet die Frage: “Warum moralisch
handeln?”, indem man zeigt, dass moralisches
Handeln für den Akteur vorteilhaft ist, dass es seinem
eigenen Glück dient.
Kants Reaktion
Kant: Das kann nicht funktionieren!
Ein erstes Argument:
Die
Moralbegründung
von
eben
begründet
moralisches Handeln in Bezug auf einen bestimmten
Zweck, auf das Ziel des eigenen Glücks hin. Die
Begründung setzt voraus, dass jeder Mensch sein
eigenes Glück will.
Aber nach Kant: Moral gebietet kategorisch, d.h.
unabhängig von gegebenen Zwecken und Zielen.
Folge: Die Moralbegründung von eben begründet
nicht wirklich kategorische Forderungen der Moral,
begründet nicht wirklich den kategorischen Imperativ
Kants Reaktion
Kant: Das kann nicht funktionieren!
Ein zweites Argument:
1. Moralisch wertvolles Handeln erfolgt aus Pflicht:
Der Akteur handelt auf bestimmte Weise, weil das
seine Pflicht ist.
2. Die Moralbegründung von eben gibt dem Akteur
dagegen ein externes Motiv: Der Akteur handelt auf
bestimmte Weise, weil das in seinem Interesse liegt.
Folge: Die Moralbegründung von eben begründet
nicht wirklich moralisches Handeln.
Internalismus
Kant ist ein Internalist bezüglich der Moral:
Internalismus: Moral ist nicht durch Verweis auf
externe Motive zu begründen.
Moral verpflichtet schon aus sich heraus.
Moralische Überlegungen liefern Handlungsgründe,
beantworten also für sich die Frage: “Warum dieses
oder jenes tun?”
Im Detail werden heute viele Formen von
Internalismus unterschieden. Siehe etwa Darwall,
Kapitel 15.
Moralisches Handeln
NICHT:
Wunsch/externes Motiv:
Überzeugung:
“Ich will glücklich sein.”
“Ich
bin
nur
dann
glücklich/angesehen,
wenn
ich
moralisch
richtig handle, und in
meiner
Handlungssituation ist x richtig.”
“Ich will angesehen sein.”
Handlungsabsicht
“Also tue ich, was
moralisch richtig ist,
d. h. x”
Moralisches Handeln
SONDERN:
Vernunftüberlegung:
“Handeln x ist moralisch
richtig (etwa: die Maxime:
Ich will in Situationen
dieser Art nicht x tun ist
nicht verallgemeinerbar)”
Handlungsabsicht:
“Daher tue ich jetzt
x.”
Kants Überzeugung
Reine Vernunft kann
praktisch werden!
Etwa
Kritik der praktischen Vernunft,
Vorrede
Kants Überzeugung
Bedeutung:
1. Damit streicht Kant die Leistungsfähigkeit der
praktischen Vernunft heraus. Anders als in der
theoretischen Philosophie werden hier nicht die
Grenzen der Vernunft, sondern ihre positiven
Fähigkeiten betont.
2. Kant wendet sich insbesondere gegen die These,
dass all unser Handeln auf Neigungen zurückgeht.
Neigungen entspringen der sinnlichen Natur des
Menschen, ihnen gegenüber sind wir passiv. Kant:
Das Handeln des Menschen ist nicht durch seine
Neigungen determiniert!
Gegenposition
Empiristen (Hume): Handlungen brauchen eine Art
von Gefühl als Handlungsmotiv. Beispiel: Ich esse,
weil ich Hunger spüre.
Kants Antwort im Prinzip: Der Mensch kann sich über
seine Neigungen hinwegsetzen und sollte das für
moralisches Handeln tun.
Entgegenkommen von Kant:
Moralisch wertvolle Handlungen entspringen einem
besonderen Gefühl, nämlich der Achtung, aber dieses
Gefühl ist vernunftgewirkt (38).
Modifziertes Modell
Vernunftüberlegung:
“Handeln x ist moralisch
richtig (etwa: die Maxime:
Ich will in Situationen
dieser Art nicht x tun ist
nicht verallgemeinerbar)”
Gefühl: Achtung für
Gesetz
Handlungsabsicht:
“Daher tue ich jetzt
x.”
Frage
Wie lässt sich moralisches Handeln begründen?
Kants Antwort
Freiheit
“Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird,
so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip [dem
kategorischen Imperativ] daraus.”
98
Eine Stimme von Ihnen
“Diese Aussage "Freiheit verpflichtet." wirkt zu erst
einmal recht kontrovers, ist aber zutreffend, da
gewisse Grundrechte und -pflichten existieren
müssen, damit jeder nur so viele Freiheiten
bekommt, dass er der Freiheit anderer nicht schadet,
aber doch so viele, dass er sich nicht eingeschränkt
fühlt.”
Aber das ist nicht, was Kant meint.
Was ist Freiheit?
Kant meint hier Willensfreiheit.
Kants Definition von Willensfreiheit:
“Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender
Wesen, so fern sie vernünftig sind, und Freiheit
würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein,
da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden
Ursachen wirkend sein kann.”
97
Also:
1. Der freie Wille ist kausal wirksam (er setzt
Wirkungen).
2. Der freie Wille ist nicht kausal bestimmt (er ist
nicht bloß Wirkung).
Bild
Willensentscheidung
Folgen der
Handlung
Warum impliziert Freiheit
den k.I.?
Kant:
1. Frei zu sein heißt, kausal Wirkungen zu setzen.
2. Wenn U die Ursache von W ist, dann gibt es einen
gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen U und W.
3. Folgerung: Freiheit ist nicht Gesetzlosigkeit,
sondern eine bestimmte Form von Gesetzmäßigkeit.
4. Der kategorische Imperativ (Naturgesetzfassung)
gebietet lediglich Gesetzmäßigkeit als Form unseres
Handelns.
5. Folgerung: Freies Handeln gehorcht dem k.I.
Anders gesagt: Freiheit impliziert den k.I.!
Sind wir frei?
Den kategorischen Imperativ kann man nur unter
Verweis auf die Freiheit begründen, wenn wir wirklich
frei sind (Willensfreiheit haben).
Aber sind wir wirklich frei?
Zweifel:
1. Wie kann man beweisen, dass wir frei sind?
2. Ist unser Wille nicht durch Ursachen bestimmt? In
der Tat geht Kant von einem kausalen Determinismus
aus. Kausaler Determinismus: Alles ist eindeutig
durch Ursachen bestimmt.
(heute wegen Quantenmechanik etc. nicht mehr
populär)
Kant
1. Ein vernünftiges Wesen kann sich nur als frei
denken (99–101). Mehr noch: Als Vernunftwesen
haben wir guten Grund, uns als frei zu denken. Denn
die Vernunft ist ein Vermögen, das völlig unabhängig
vom “Input” aus der Sinnlichkeit ist (107–109).
Unsere Vernunft ist ein Vermögen spontaner
Selbsttätigkeit.
2. Wenn wir uns als frei denken, dann nehmen wir
einen anderen Standpunkt ein als den, den wir
einnehmen, wenn wir die Welt zu erkennen
versuchen (105).
Ding an sich – Erscheinung
Kant: Wir erkennen die Dinge nur so, wie sie sich uns
darbieten, als Gegenstände möglicher Erfahrung, d.h.
als Erscheinung.
Wir können aber nicht davon ausgehen, dass die
Dinge an sich wirklich so sind, wie sie sich uns
darbieten (105–110).
Beispiel: Dinge sind uns stets in Raum und Zeit
gegeben. Kant: Raum und Zeit sind aber Formen
unserer Anschauung, kein Bestandteil der Welt.
Dinge an sich: Dinge, so wie sie unabhängig von uns,
von unseren Anschauungsformen sind.
Freiheit und Determinismus
Kant: In der Welt der Erscheinungen mag ein
kausaler Determinismus gelten: Alles ist durch
Ursachen bestimmt.
Daraus folgt aber nicht, das unser Wille als Ding an
sich nicht frei ist!
Auflösung der dritten Antinomie
Kritik der reinen Vernunft
Bild
Dinge an sich
Willensentscheidung
Folgen der
Handlung
Willensentscheidung
Folgen der
Handlung
Erscheinungen
Neigungen
Bild
Ding an sich
Ich
Frei und nur dem
kategorischen
Imperativ unterworfen
Erscheinung
Durch Neigungen
und die Sinnlichkeit
bestimmt
Spannung: Nötigung
Heute
Weiterhin großes Interesse an internalistischen
Moralbegründungen im Anschluss an Kant (Beispiel:
Christine Korsgaard).
Ideen:
- Nur wer moralisch handelt, handelt wirklich frei.
- Wer moralische Pflichten verletzt, missachtet
Rationalitätsforderungen, die konstitutiv für jedes
Handeln sind, und handelt daher nicht mehr im
Vollsinn des Wortes “Handeln”.
- Wer moralische Pflichten verletzt, der ist praktisch
unvernünftig.
Zusammenfassung
Vorlesungen 8 und 9
Wir haben:
1. geklärt, was ein kategorischer Imperativ ist (8.1)
2. die Hauptfassungen des kategorischen Imperativ
kennengelernt (8.2.)
3. Kritik am kategorischen Imperativ diskutiert (9.1.)
4. Kants Moralphilosophie mit dem Utilitarismus
verglichen (9.2.)
5. Kants Begründung des kategorischen Imperativ
kennengelernt (9.3).
Test: Was wissen Sie?
1. Erklären Sie den Begriff des kategorischen Imperativ!
2.
Nennen
Sie
unterschiedliche
kategorischen Imperativ.
Formulierungen
des
3. Erläutern Sie an einem Beispiel, wie der kategorische
Imperativ in der Praxis als Richtschnur unseres Handelns
funktionieren soll!
4. Vergleichen Sie Kants Moralphilosophie mit dem Utilitarismus!
5. Skizzieren Sie, wie Kant den kategorischen Imperativ
begründet!
6. Welche Einwände kann man gegen die Ethik des
kategorischen Imperativ erheben? Wie könnte Kant diesen
Einwänden widersprechen?
Literatur
I. Kant, Werke, herausgegeben von W. Weischedel,
Band VII, Frankfurt am Main 1974, Seitenangaben
nach der Originalausgabe
Einführungen:
S. Darwall, Philosophical Ethics, Boulder 1998, Kapitel 15 und
16.
Th. E. Hill jr., Kantianism, in: H. LaFollette (Hrsg.), Ethical
Theory, 227–246
O. O'Neill, Constructions of Reason. Explorations of Kantian
Practical Philosophy, Cambridge 1989, darin besonders:
Consistency in Action
D. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin 2003
Literatur
Kommentare:
C. Horn, C. Mieth und N. Scarano, Immanuel Kant. Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main 2007
O. Höffe (Hrsg.), Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
Ein kooperativer Kommentar. Frankfurt am Main 2000 (dritte
Auflage)
D. Schönecker und A. Wood, Kants “Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten”. Ein einführender Kommentar, Paderborn
etc. 2002
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