26-28 23.03.2004 12:28 Uhr Seite 26 Neurophysik Der Griff zur Kaffeetasse Marburger Forschungen zur Neurophysik der Raum- und Bewegungswahrnehmung Wie ist es eigentlich möglich, bei der morgendlichen Zeitungslektüre gezielt zur Kaffeetasse zu greifen, ohne den Blick vom Leitartikel zu wenden? Warum erkennen wir in der bildenden Kunst oder in Comic-Zeichnungen oftmals eine Bewegung von Objekten oder Personen, obwohl nur statische Bewegungsstreifen dargestellt sind? Marburger Wissenschaftler aus dem Fachgebiet Neurophysik arbeiten an diesen und ähnlichen Fragestellungen. Wie Informationen über räumliche Zusammenhänge und Bewegung im Gehirn verarbeitet werden, steht im Mittelpunkt unserer Untersuchungen. Aus früheren neurowissenschaftlichen Arbeiten wissen wir um die Bedeutung eines bestimmten Teils der Großhirnrinde (Cortex), des so genannten Parietalcortex. So verursachen Schädigungen des rechten posterioren (hinteren) Parietalcortex (PPC) bei Menschen in Folge beispielsweise eines Schlaganfalls oder eines Unfalls massive, meist permanente Störungen der Wahrnehmung und der Orientierung im Raum. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine solche Erkrankung ist der so Typische Frühstückssituation: Wenn der Blick von der Zeitung zur Kaffeetasse schweift, verschieben sich die Abbildungen auf der Netzhaut, während sich ihr Standort tatsächlich nicht verändert. genannte Hemineglect: Einige Patienten mit rechtsseitiger Schädigung des Parietalcortex essen nicht vom linken Teil ihres Tellers, sie können weder Hindernissen im linken Teil des Raumes ausweichen noch gezielt zu Objekten im linken Teil des Raumes greifen. Die Ursache für dieses Phänomen ist eine Arbeitsteilung im Gehirn: Beide Hälften (Hemisphären) unseres Großhirns beschäftigen sich vornehmlich mit der Verarbeitung von Reizen aus dem jeweils gegenüberliegenden Teil des Raumes. So verarbeitet die rechte Großhirnhemisphäre vor allem Reize aus dem linken Teil des Raumes und umgekehrt. Im Falle eines Hemineglects wird der der Schädigung gegenüberliegende Teil des Raumes nicht wahrgenommen. Solche Wahrnehmungsdefizite werden vor allem bei Interaktionen von Patient und Umwelt offensichtlich (beispielsweise dem Essen vom Teller), aber auch die auf dem Ge- Die Gehirnregionen, die die visuellen Informationen verarbeiten, sind hier schattiert dargestellt. Obwohl sich die Blickrichtung ändert, bleiben dieselben Bereiche aktiv. 26 dächtnis beruhende Wahrnehmung des Raumes kann umfassend gestört sein. Solche Schädigungen des Parietalcortex führen zu starken Beeinträchtigungen des täglichen Lebens der Betroffenen: Sie besitzen ein normales Sehvermögen und nehmen doch nur die Hälfte ihrer Umwelt wahr. Von der Netzhaut ins Gehirn Um zu verstehen, warum eine Schädigung des PPC zu den genannten Verhaltensstörungen führt, muss man zunächst das System im normal funktionierenden Zustand kennen lernen. Visuelle Information wird zunächst auf der Netzhaut (Retina) des Auges abgebildet. Dies führt zur Erregung von einzelnen Nervenzellen (Neuronen), die die Information zur weiteren Verarbeitung mittels elektrischer Impulse (Aktionspotentiale) über eine Zwischenstation, den Thalamus, zum Cortex weiterleiten. Über 50 Prozent der corticalen Oberfläche dienen der Verarbeitung von visueller Information. Die Dominanz visueller Signale gegenüber anderen zur Orientierung im Raum wichtigen sensorischen Signalen (Tastsinn, Gleichgewichtssinn, Gehörsinn) wird damit deutlich. Eine Haupthypothese zur Funktionsweise des visuellen Systems besagt, dass sich die Verarbeitung visueller Information in verschiedene, parallel arbeitende Subsysteme aufspaltet. Man spricht deshalb von zwei Pfaden des visuellen corticalen Systems. Ein vorderer, so genannter ventraler Pfad beschäftigt sich vornehmlich mit der Verarbeitung von Objektinformation (das WAS-Sys- 26-28 23.03.2004 12:28 Uhr Seite 27 Neurophysik Die funktionelle Magnetresonanz-Tomographie zeigt im menschlichen Gehirn das Areal, das dem VIP-Areal bei Makaken entspricht. tem). Der dorsale, also hintere Teil des visuellen corticalen Systems, der unter anderem den posterioren Parietalcortex umfasst, ist mit der Verarbeitung von Raum- und Bewegungsinformation beschäftigt (das WO-System). Natürliches Verhalten umfasst jedoch nicht nur die Verarbeitung von Informationen auf dem Weg vom Sinnesorgan zum Zentralnervensystem. Die Analyse des sensorischen Inputs führt in der Regel zu einer Wahrnehmung der Umwelt und schließlich auch zu einer Handlung innerhalb dieser Umwelt (Efferenz). Handlungsplanung und -erzeugung erfolgen in so genannten prämotorischen und motorischen Arealen des Cortex. Von dort aus werden efferente Signale über neuronale Schaltkreise bis hin zu den relevanten Muskeln geleitet. Die Aktionen innerhalb der Umwelt führen selbst wiederum zu einem veränderten visuellen Eingang, welcher beispielsweise motorische Aktionen zur Folge hat. So wird ersichtlich, dass das visuelle System in einen Informationskreislauf eingebunden ist und dass eine erfolgreiche Informationsverarbeitung in diesem Teil des sensomotorischen Systems die Grundlage für ein erfolgreiches Verhalten innerhalb der Umwelt bildet. Die Frühstückssituation Um aber nur eine scheinbar so triviale Aufgabe wie das Greifen zur Tasse zu lösen, ist eine komplizierte Informationsverarbeitung notwendig. Verdeutlicht sei das an einem Beispiel: Das Referenz- oder Koordinatensystem für die visuelle Information ist das Auge. Verändern wir unsere Blickrichtung, so werden gleiche Objekte der Umwelt, wie zum Beispiel die Tasse auf dem Frühstückstisch, auf unterschiedliche Bereiche der Retina abgebildet. In Abbildung A (S. 26) ist die gesamte Szene dargestellt: Die rechte Hand greift zur Tasse, im Hintergrund liegt die Zeitung. Die Abbildungen B und C zeigen netzhautzentrierte Bilder derselben Szene, jedoch für unterschiedliche Blickrichtungen. Das Kreuz (+) kennzeichnet jeweils den Bereich des schärfsten Sehens (Fovea). In Abbildung B ist der Blick auf die Tasse, in Abbildung C auf die Zeitung gerichtet. Bei unterschiedlichen Blickrichtungen werden jeweils andere Zellen durch die Projektion der Tasse auf die Retina erregt und senden ihre Information zum Cortex. Es entsteht nun das Missverhältnis zwischen einer Verschiebung der Kaffeetasse auf der Netzhaut (Abbildung B und C) und ihrem konstanten Aufenthaltsort in der Umwelt (Abbildung A). Würde ein Kommando zum Greifen nach der Tasse allein auf visueller Information bezüglich der Netzhaut basieren, würde dies dazu führen, dass wir die Tasse bei jedem Blickwechsel verfehlen. Im Laufe der Verarbeitung visueller Information muss es also irgend- wo einen Verrechnungsschritt, also einen Bereich im Cortex geben, der die Blickwechsel bei der Beurteilung der einlaufenden visuellen Signale „herausrechnet“ und den Ort eines Objektes in der Umwelt explizit in einem von der Netzhaut unabhängigen Koordinatensystem kodiert. In Experimenten, die wir in Zusammenarbeit mit Kollegen am französischen Collège de France in Paris durchführten, versuchten wir, die „Frühstückssituation“ in einem adäquaten tierexperimentellen Verhaltensparadigma nachzustellen. Wir stimulierten mittels visueller Reize Neurone in einem bestimmten Gebiet des Parietalcortex, einer Region, die man als das ventrale intraparietale Areal (VIP) bezeichnet. Ein trainiertes Versuchstier (Makaka mulatta) fixierte nacheinander verschiedene Punkte auf einem vor ihm befindlichen Projektionsschirm, während gleichzeitig visuelle Reize an verschiedenen Stellen auf diesem Schirm präsentiert wurden. Währenddessen registrierten wir die Aktivität einzelner Nervenzellen des Areals VIP. Wir konnten so nach dem Experiment die neuronale Aktivität den verschiedenen visuellen Reizen zuordnen und damit die Lage der so genannten rezeptiven Felder (des Teiles der Umwelt, den ein einzelnes Neuron „sieht“) auf dem Projektionsschirm berechnen. Schon Wilhelm Busch nutzte Bewegungsstreifen, als er Meister Böck abheben ließ. 27 26-28 23.03.2004 12:28 Uhr Seite 28 Neurophysik Wir fanden tatsächlich Neurone, die visuelle Information unabhängig von der Blickrichtung, also in Kopfkoordinaten kodieren. Ein Beispiel ist exemplarisch dargestellt. Man erkennt, dass die Lage des rezeptiven Feldes (heller Bereich) für alle neun gewählten Blickrichtungen konstant ist. Ein solches Neuron könnte die Lage eines Objektes (Frühstückstasse) in der Umwelt trotz unterschiedlicher Blickrichtungen immer gleich anzeigen. Diese Information über die räumliche Konstanz des Objektes könnte ein motorisches Ausgangssignal generieren, das die Hand immer zum richtigen Ort führt, um die Tasse zu greifen. Gesamtziel unserer Untersuchungen ist es, das Verständnis der Funktionsweise des PPC des Menschen zu verbessern. Mittels bildgebender Verfahren, vor allem mittels funktioneller Magnetresonanz-Tomographie (fMRT), kann man die Funktionsweise des menschlichen Gehirns untersuchen und mit der des Makaken vergleichen. In Zusammenarbeit mit Kollegen am Forschungszentrum Jülich haben wir eben diese Methode des fMRT benutzt, um mögliche funktionelle Analogien im Bereich des PPC nachzuweisen. Unsere Experimente zeigten tatsächlich, dass es im posterioren Parietalcortex von Menschen ein Areal gibt, das dem Areal VIP bei Makaken entspricht. Neurowissenschaftliche Studienergebnisse bei Makaken zur Funktionsweise des PPC lassen sich also auf Menschen übertragen. Damit ist aus unserer Sicht ein weiterer Schritt getan, die Funktionsweise des Gehirns zu erfassen, Diagnosen des Neglects weiterzuentwickeln und Therapien für Parietalcortex-Patienten zu verbessern. Kino im Kopf Die oben dokumentierte Übertragbarkeit der Ergebnisse von tierexperimentellen Studien auf den Menschen bestätigte sich erneut in einer jüngsten Studie zur Bewegungswahrnehmung, die ebenfalls zu unseren Forschungsfeldern gehört. Diese Studie hatte ihren Ausgangspunkt in der Beobachtung, dass in der bildenden Kunst und in Comic-Zeichnungen eine Bewegung oft durch geschickt platzierte statische Formen suggeriert wird, in Comics zum Beispiel 28 So eifrig, wie Asterix hier Obelix zunickt, ist es kaum möglich, keine Bewegung wahrzunehmen. durch so genannte „Bewegungsstreifen“. Wenn wir das Bild betrachten, erhalten wir den Eindruck eines sich bewegenden Objektes, ohne dass tatsächlich eine Bewegung im Bild stattfindet. Wie aber animiert unser Gehirn das Bild, wie entsteht das Kino im Kopf? Um dies herauszufinden, zeigten wir Menschen wie auch Rhesusaffen Folgen von so genannten Glass-Mustern. Sie enthalten keine wirkliche Bewegung, suggerieren dies aber durch die Anordnung der einzelnen Elemente, ähnlich wie die Bewegungsstreifen in Comics. Sowohl die Menschen als auch die Affen sahen Bewegung in diesen Mustern. Diese Wahrnehmung korreliert mit der Aktivität von Neuronen in so genannten bewegungssensitiven Arealen des Parietalcortex bei Rhesusaffen. Diese neuen Ergebnisse erweitern die Kenntnisse über das visuelle System und die Verarbeitung visueller Information bei Menschen. Entgegen der oben skizzierten Idee einer Arbeitsteilung zwischen ventralem und dorsalem Pfad, zwischen dem WAS- und dem WO-System, nutzt der Teil des Gehirns, der sich üblicherweise mit der Analyse von Raumund Bewegungsinformation (WO), nicht aber mit den Formeigenschaften (WAS) beschäftigt, unter bestimmten Bedingungen offenbar doch diese Forminformationen, wenn damit die Deutung einer Szene verbessert werden kann. So vervollständigt sich die Bewegungsverarbeitung; das visuelle System erreicht die Sensitivität, die es uns ermöglicht, uns in einer dynamischen Umwelt zurechtzufinden. Warum Physik? Wie kommt eigentlich ein Physiker dazu, sich mit dem Gehirn zu beschäftigen? Die Beantwortung dieser Frage ist, was verwundern mag, leicht. Das liegt daran, dass die Neurowissenschaften ein interdisziplinäres Lehr- und Forschungsgebiet darstellen. Wissenschaftler verschiedener „Couleur“ versuchen die Funktionsweise des Gehirns zu verstehen. Die Herangehensweise ist dabei recht verschieden und hängt vom Ausbildungshintergrund des einzelnen Neurowissenschaftlers ab. Vor allem aber die Zusammenarbeit unterschiedlicher traditioneller Fachrichtungen hat das Verstehen des Gehirns in den letzten Jahrzehnten vehement vorangebracht. Der Erfolg einer solchen Interdisziplinarität zeigt sich auch in der im Januar dieses Jahres begonnenen Arbeit des Graduiertenkollegs „Gehirn und Verhalten: NeuroAct“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an den Universitäten Marburg und Gie- ßen eingerichtet wurde und dessen Sprecher der Autor ist. Hochschullehrer aus den Gebieten Neurophysik, Psychologie, Linguistik und Medizin arbeiten hier zusammen. Die Vielfalt der im Kolleg etablierten experimentellen Methoden zusammen mit einem fokussierten, neurowissenschaftlichen Lehrangebot machen das Graduiertenkolleg NeuroAct zu einem ausgesprochen attraktiven nationalen Standort für die Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern und die Forschung im Bereich der Systemneurowissenschaften. Frank Bremmer Kontakt: Prof. Dr. Frank Bremmer Fachbereich Physik AG Neurophysik Renthof 7 35032 Marburg Tel.: (06421) 28-24162 Fax: (06421) 28-27034 E-Mail: [email protected] URL: http://www.staff.uni-marburg. de/~bremmer