Der Griff zur Kaffeetasse

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23.03.2004
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Neurophysik
Der Griff zur Kaffeetasse
Marburger Forschungen zur Neurophysik der Raum- und Bewegungswahrnehmung
Wie ist es eigentlich möglich, bei der
morgendlichen Zeitungslektüre gezielt zur Kaffeetasse zu greifen,
ohne den Blick vom Leitartikel zu
wenden? Warum erkennen wir in der
bildenden Kunst oder in Comic-Zeichnungen oftmals eine Bewegung von
Objekten oder Personen, obwohl nur
statische Bewegungsstreifen dargestellt sind? Marburger Wissenschaftler aus dem Fachgebiet Neurophysik
arbeiten an diesen und ähnlichen
Fragestellungen.
Wie Informationen über räumliche Zusammenhänge und Bewegung
im Gehirn verarbeitet werden, steht
im Mittelpunkt unserer Untersuchungen. Aus früheren neurowissenschaftlichen Arbeiten wissen wir um
die Bedeutung eines bestimmten
Teils der Großhirnrinde (Cortex), des
so genannten Parietalcortex. So verursachen Schädigungen des rechten
posterioren (hinteren) Parietalcortex
(PPC) bei Menschen in Folge beispielsweise eines Schlaganfalls oder
eines Unfalls massive, meist permanente Störungen der Wahrnehmung
und der Orientierung im Raum.
Ein eindrucksvolles Beispiel für
eine solche Erkrankung ist der so
Typische Frühstückssituation: Wenn der Blick von der Zeitung zur Kaffeetasse schweift, verschieben sich die Abbildungen auf der Netzhaut, während sich ihr Standort tatsächlich nicht verändert.
genannte Hemineglect: Einige Patienten mit rechtsseitiger Schädigung des Parietalcortex essen nicht
vom linken Teil ihres Tellers, sie können weder Hindernissen im linken
Teil des Raumes ausweichen noch
gezielt zu Objekten im linken Teil des
Raumes greifen. Die Ursache für dieses Phänomen ist eine Arbeitsteilung
im Gehirn: Beide Hälften (Hemisphären) unseres Großhirns beschäftigen
sich vornehmlich mit der Verarbeitung von Reizen aus dem jeweils
gegenüberliegenden Teil des Raumes. So verarbeitet die rechte Großhirnhemisphäre vor allem Reize aus
dem linken Teil des Raumes und umgekehrt. Im Falle eines Hemineglects wird der der Schädigung
gegenüberliegende Teil des Raumes
nicht wahrgenommen.
Solche Wahrnehmungsdefizite
werden vor allem bei Interaktionen
von Patient und Umwelt offensichtlich (beispielsweise dem Essen vom
Teller), aber auch die auf dem Ge-
Die Gehirnregionen, die die visuellen Informationen verarbeiten, sind hier
schattiert dargestellt. Obwohl sich die
Blickrichtung
ändert, bleiben
dieselben Bereiche aktiv.
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dächtnis beruhende Wahrnehmung
des Raumes kann umfassend gestört sein. Solche Schädigungen des
Parietalcortex führen zu starken Beeinträchtigungen des täglichen Lebens der Betroffenen: Sie besitzen
ein normales Sehvermögen und nehmen doch nur die Hälfte ihrer Umwelt wahr.
Von der Netzhaut ins Gehirn
Um zu verstehen, warum eine Schädigung des PPC zu den genannten
Verhaltensstörungen führt, muss
man zunächst das System im normal funktionierenden Zustand kennen lernen. Visuelle Information wird
zunächst auf der Netzhaut (Retina)
des Auges abgebildet. Dies führt zur
Erregung von einzelnen Nervenzellen
(Neuronen), die die Information zur
weiteren Verarbeitung mittels elektrischer Impulse (Aktionspotentiale)
über eine Zwischenstation, den Thalamus, zum Cortex weiterleiten.
Über 50 Prozent der corticalen
Oberfläche dienen der Verarbeitung
von visueller Information. Die Dominanz visueller Signale gegenüber anderen zur Orientierung im Raum
wichtigen sensorischen Signalen
(Tastsinn, Gleichgewichtssinn, Gehörsinn) wird damit deutlich.
Eine Haupthypothese zur Funktionsweise des visuellen Systems
besagt, dass sich die Verarbeitung
visueller Information in verschiedene, parallel arbeitende Subsysteme
aufspaltet. Man spricht deshalb von
zwei Pfaden des visuellen corticalen
Systems. Ein vorderer, so genannter
ventraler Pfad beschäftigt sich vornehmlich mit der Verarbeitung von
Objektinformation (das WAS-Sys-
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Die funktionelle Magnetresonanz-Tomographie zeigt im menschlichen Gehirn
das Areal, das dem VIP-Areal bei Makaken entspricht.
tem). Der dorsale, also hintere Teil
des visuellen corticalen Systems,
der unter anderem den posterioren
Parietalcortex umfasst, ist mit der
Verarbeitung von Raum- und Bewegungsinformation beschäftigt (das
WO-System).
Natürliches Verhalten umfasst jedoch nicht nur die Verarbeitung von
Informationen auf dem Weg vom Sinnesorgan zum Zentralnervensystem.
Die Analyse des sensorischen Inputs
führt in der Regel zu einer Wahrnehmung der Umwelt und schließlich
auch zu einer Handlung innerhalb
dieser Umwelt (Efferenz). Handlungsplanung und -erzeugung erfolgen in
so genannten prämotorischen und
motorischen Arealen des Cortex.
Von dort aus werden efferente Signale über neuronale Schaltkreise bis
hin zu den relevanten Muskeln geleitet. Die Aktionen innerhalb der Umwelt führen selbst wiederum zu einem veränderten visuellen Eingang,
welcher beispielsweise motorische
Aktionen zur Folge hat. So wird ersichtlich, dass das visuelle System
in einen Informationskreislauf eingebunden ist und dass eine erfolgreiche Informationsverarbeitung in diesem Teil des sensomotorischen Systems die Grundlage für ein erfolgreiches Verhalten innerhalb der Umwelt
bildet.
Die Frühstückssituation
Um aber nur eine scheinbar so triviale Aufgabe wie das Greifen zur Tasse zu lösen, ist eine komplizierte Informationsverarbeitung notwendig.
Verdeutlicht sei das an einem Beispiel:
Das Referenz- oder Koordinatensystem für die visuelle Information
ist das Auge. Verändern wir unsere
Blickrichtung, so werden gleiche Objekte der Umwelt, wie zum Beispiel
die Tasse auf dem Frühstückstisch,
auf unterschiedliche Bereiche der
Retina abgebildet. In Abbildung A
(S. 26) ist die gesamte Szene dargestellt: Die rechte Hand greift zur Tasse, im Hintergrund liegt die Zeitung.
Die Abbildungen B und C zeigen
netzhautzentrierte Bilder derselben
Szene, jedoch für unterschiedliche
Blickrichtungen. Das Kreuz (+) kennzeichnet jeweils den Bereich des
schärfsten Sehens (Fovea). In Abbildung B ist der Blick auf die Tasse, in
Abbildung C auf die Zeitung gerichtet. Bei unterschiedlichen Blickrichtungen werden jeweils andere Zellen
durch die Projektion der Tasse auf
die Retina erregt und senden ihre Information zum Cortex. Es entsteht
nun das Missverhältnis zwischen
einer Verschiebung der Kaffeetasse
auf der Netzhaut (Abbildung B und
C) und ihrem konstanten Aufenthaltsort in der Umwelt (Abbildung A).
Würde ein Kommando zum Greifen
nach der Tasse allein auf visueller
Information bezüglich der Netzhaut
basieren, würde dies dazu führen,
dass wir die Tasse bei jedem Blickwechsel verfehlen.
Im Laufe der Verarbeitung visueller Information muss es also irgend-
wo einen Verrechnungsschritt, also
einen Bereich im Cortex geben, der
die Blickwechsel bei der Beurteilung
der einlaufenden visuellen Signale
„herausrechnet“ und den Ort eines
Objektes in der Umwelt explizit in einem von der Netzhaut unabhängigen
Koordinatensystem kodiert.
In Experimenten, die wir in Zusammenarbeit mit Kollegen am französischen Collège de France in Paris
durchführten, versuchten wir, die
„Frühstückssituation“ in einem adäquaten tierexperimentellen Verhaltensparadigma nachzustellen. Wir
stimulierten mittels visueller Reize
Neurone in einem bestimmten Gebiet
des Parietalcortex, einer Region, die
man als das ventrale intraparietale
Areal (VIP) bezeichnet. Ein trainiertes
Versuchstier (Makaka mulatta) fixierte nacheinander verschiedene Punkte auf einem vor ihm befindlichen
Projektionsschirm, während gleichzeitig visuelle Reize an verschiedenen Stellen auf diesem Schirm präsentiert wurden. Währenddessen registrierten wir die Aktivität einzelner
Nervenzellen des Areals VIP. Wir
konnten so nach dem Experiment
die neuronale Aktivität den verschiedenen visuellen Reizen zuordnen und
damit die Lage der so genannten rezeptiven Felder (des Teiles der Umwelt, den ein einzelnes Neuron
„sieht“) auf dem Projektionsschirm
berechnen.
Schon Wilhelm
Busch nutzte Bewegungsstreifen,
als er Meister
Böck abheben
ließ.
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Wir fanden tatsächlich Neurone,
die visuelle Information unabhängig
von der Blickrichtung, also in Kopfkoordinaten kodieren. Ein Beispiel ist
exemplarisch dargestellt. Man erkennt, dass die Lage des rezeptiven
Feldes (heller Bereich) für alle neun
gewählten Blickrichtungen konstant
ist. Ein solches Neuron könnte die
Lage eines Objektes (Frühstückstasse) in der Umwelt trotz unterschiedlicher Blickrichtungen immer gleich
anzeigen. Diese Information über die
räumliche Konstanz des Objektes
könnte ein motorisches Ausgangssignal generieren, das die Hand immer zum richtigen Ort führt, um die
Tasse zu greifen.
Gesamtziel unserer Untersuchungen ist es, das Verständnis der
Funktionsweise des PPC des Menschen zu verbessern. Mittels bildgebender Verfahren, vor allem mittels
funktioneller Magnetresonanz-Tomographie (fMRT), kann man die Funktionsweise des menschlichen Gehirns untersuchen und mit der des
Makaken vergleichen. In Zusammenarbeit mit Kollegen am Forschungszentrum Jülich haben wir eben diese
Methode des fMRT benutzt, um
mögliche funktionelle Analogien im
Bereich des PPC nachzuweisen. Unsere Experimente zeigten tatsächlich, dass es im posterioren Parietalcortex von Menschen ein Areal gibt,
das dem Areal VIP bei Makaken entspricht. Neurowissenschaftliche Studienergebnisse bei Makaken zur
Funktionsweise des PPC lassen sich
also auf Menschen übertragen. Damit ist aus unserer Sicht ein weiterer
Schritt getan, die Funktionsweise
des Gehirns zu erfassen, Diagnosen
des Neglects weiterzuentwickeln
und Therapien für Parietalcortex-Patienten zu verbessern.
Kino im Kopf
Die oben dokumentierte Übertragbarkeit der Ergebnisse von tierexperimentellen Studien auf den Menschen bestätigte sich erneut in einer
jüngsten Studie zur Bewegungswahrnehmung, die ebenfalls zu unseren
Forschungsfeldern gehört. Diese
Studie hatte ihren Ausgangspunkt in
der Beobachtung, dass in der bildenden Kunst und in Comic-Zeichnungen
eine Bewegung oft durch geschickt
platzierte statische Formen suggeriert wird, in Comics zum Beispiel
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So eifrig, wie Asterix hier Obelix
zunickt, ist es
kaum möglich,
keine Bewegung
wahrzunehmen.
durch so genannte „Bewegungsstreifen“. Wenn wir das Bild betrachten,
erhalten wir den Eindruck eines sich
bewegenden Objektes, ohne dass
tatsächlich eine Bewegung im Bild
stattfindet. Wie aber animiert unser
Gehirn das Bild, wie entsteht das Kino im Kopf?
Um dies herauszufinden, zeigten
wir Menschen wie auch Rhesusaffen
Folgen von so genannten Glass-Mustern. Sie enthalten keine wirkliche
Bewegung, suggerieren dies aber
durch die Anordnung der einzelnen
Elemente, ähnlich wie die Bewegungsstreifen in Comics. Sowohl die
Menschen als auch die Affen sahen
Bewegung in diesen Mustern. Diese
Wahrnehmung korreliert mit der Aktivität von Neuronen in so genannten
bewegungssensitiven Arealen des
Parietalcortex bei Rhesusaffen.
Diese neuen Ergebnisse erweitern die Kenntnisse über das visuelle
System und die Verarbeitung visueller Information bei Menschen. Entgegen der oben skizzierten Idee einer
Arbeitsteilung zwischen ventralem
und dorsalem Pfad, zwischen dem
WAS- und dem WO-System, nutzt der
Teil des Gehirns, der sich üblicherweise mit der Analyse von Raumund Bewegungsinformation (WO),
nicht aber mit den Formeigenschaften (WAS) beschäftigt, unter bestimmten Bedingungen offenbar
doch diese Forminformationen,
wenn damit die Deutung einer Szene
verbessert werden kann. So vervollständigt sich die Bewegungsverarbeitung; das visuelle System erreicht
die Sensitivität, die es uns ermöglicht, uns in einer dynamischen Umwelt zurechtzufinden.
Warum Physik?
Wie kommt eigentlich ein Physiker
dazu, sich mit dem Gehirn zu beschäftigen? Die Beantwortung dieser
Frage ist, was verwundern mag,
leicht. Das liegt daran, dass die Neurowissenschaften ein interdisziplinäres Lehr- und Forschungsgebiet darstellen. Wissenschaftler verschiedener „Couleur“ versuchen die Funktionsweise des Gehirns zu verstehen. Die Herangehensweise ist dabei
recht verschieden und hängt vom
Ausbildungshintergrund des einzelnen Neurowissenschaftlers ab. Vor
allem aber die Zusammenarbeit
unterschiedlicher traditioneller Fachrichtungen hat das Verstehen des
Gehirns in den letzten Jahrzehnten
vehement vorangebracht. Der Erfolg
einer solchen Interdisziplinarität
zeigt sich auch in der im Januar dieses Jahres begonnenen Arbeit des
Graduiertenkollegs „Gehirn und Verhalten: NeuroAct“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an
den Universitäten Marburg und Gie-
ßen eingerichtet wurde und dessen
Sprecher der Autor ist. Hochschullehrer aus den Gebieten Neurophysik, Psychologie, Linguistik und Medizin arbeiten hier zusammen. Die
Vielfalt der im Kolleg etablierten experimentellen Methoden zusammen
mit einem fokussierten, neurowissenschaftlichen Lehrangebot machen das Graduiertenkolleg NeuroAct zu einem ausgesprochen attraktiven nationalen Standort für die Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern und die Forschung im Bereich
der Systemneurowissenschaften.
Frank Bremmer
Kontakt:
Prof. Dr. Frank Bremmer
Fachbereich Physik
AG Neurophysik
Renthof 7
35032 Marburg
Tel.: (06421) 28-24162
Fax: (06421) 28-27034
E-Mail:
[email protected]
URL: http://www.staff.uni-marburg.
de/~bremmer
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