Hokke ten Hokke - DONA

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5. Dogens Interpretation des Lotos-Sutra (Hokke ten Hokke)
Aus ZEN-Schatzkammer, Band 1
In diesem Kapitel des Shōbōgenzō beschreibt Dōgen sein
Verständnis des Lotos-Sūtra und geht dabei über die üblichen
Interpretationen dieses großen Werkes deutlich hinaus. Das
Lotos-Sūtra ist zweifellos eines der wichtigsten und am meisten
gelesenen buddhistischen Schriften Asiens. Es ist überaus
poetisch und entfaltet nicht zuletzt durch die Gleichnisse, zum
Beispiel vom brennenden Haus und verlorenen Sohn, die volle
Kraft und Lebensbejahung des Buddhismus. Wörtlich könnte man
es als „Sūtra der Lotosblume des wunderbaren Dharma“
bezeichnen. Es liegt daher nahe, das Lotos-Sūtra als die
Offenbarung der strahlenden, wunderbaren Welt und des großen
Universums zu verstehen, in dem wir leben und dessen wir uns
oft nicht bewusst sind.
Das Lotos-Sūtra ist jedoch leider oft als eine Art Märchenbuch
missverstanden worden, das von übernatürlichen Wundern und
Fantasien berichtet und so ein naives und wundergläubiges
Weltbild vermittelt. Wenn es sich tatsächlich so verhielte, würde
es nach Meister Nishijima lediglich das begrenzte
Weltverständnis der Ideen, Vorstellungen und Fantasien
widerspiegeln, also nur eine der vier buddhistischen
Lebensphilosophien umfassen, nämlich den Idealismus. Dann
würden der Realismus des praktischen Handelns und vor allem
die umfassende buddhistische Lebenspraxis und Lehre des
Gleichgewichts und Erwachens fehlen. Dem ist aber nicht so.
Als ganz junger Mönch trat Dōgen in ein buddhistisches Kloster
der Tendai-Linie ein, die das Lotos-Sūtra als wichtigste Lehre und
Grundlage hat. Er hatte also ausgezeichnete Kenntnisse dieses
Sūtras, war aber mit dem damaligen sehr theoretischen
Verständnis überhaupt nicht zufrieden und legt in diesem Kapitel
sein eigenes umfassendes Verstehen dar. Was ist nun der Kern
dieses großen Werkes?
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Der japanische Ausdruck ten im Titel Hokke ten hokke bedeutet
„bewegen“ und „drehen“, so dass das Lotos-Sūtra diese
Bewegung, also das Handeln und Geschehenlassen, als zentrale
Aussage enthält. Es geht nicht um das unbewegte,
unveränderliche Sein außerhalb der Zeit, das zumeist die
Grundlage der westlichen Philosophie ist. Hō bedeutet
„Wirklichkeit“, „Wahrheit“ oder das „Gesetz des Universums“, und
ke bedeutet „Blume“. Eine andere Übersetzung könnte wie folgt
lauten: „Die wunderbare Welt (und Wahrheit) ist wie eine Blume
und bewegt die wunderbare Welt, die selbst wie eine Blume ist.“
Damit ist auch das buddhistische Weltbild und die buddhistische
Lehre Dōgens charakterisiert: Wir leben in einer wunderbaren
Welt, die für uns immer klarer und schöner wird, je mehr wir ins
Gleichgewicht gelangen. Dieses Gleichgewicht ereignet sich in
der Zazen-Praxis und im Handeln des täglichen Lebens. Die Welt
ist also in der Balance der Bewegung.
Dōgens zentrale Aussage: „Die Dharma-Blume (der Wahrheit)
dreht die Blume der Dharma-Welt“ erschließt sich zunächst nicht
dem unterscheidenden Denken, weil scheinbar genau dasselbe
zweimal gesagt wird, die doppelte Aussage wäre daher
redundant. Sie geht also über das lineare, unterscheidende
Denken hinaus und will offensichtlich eine höhere intuitive
Wahrheit ansprechen, die zudem mit poetischer Ausstrahlung
verbunden ist. Im gesamten Kapitel wird die Dharma-Blume als
Symbol der Welt und des Universums beschrieben.
Die Dharma-Blume dreht sich nach Dôgen bei der ursprünglichen
Praxis des Bodhisattva-Weges und weicht nicht einmal
geringfügig davon ab. Es ist die den unterscheidenden Verstand
und Intellekt überschreitende Weisheit der Buddhas und damit
fest auf der Wirklichkeit gegründet. Diese intuitive Weisheit
ereignet sich nach Dōgen vor allem im Samadhi und in der
Zazen-Praxis und ist schwer zu erfassen und schwer zu erlangen.
Die Buddhas sind darin zusammen mit den Buddhas und
existieren genau so, wie sich die Dharma-Blume dreht.
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Gleichzeitig offenbaren sich die konkreten Dinge und Phänomene
dieser Welt unmittelbar in der wunderbaren Dharma-Blume. Sie
verliert sich nicht in fantastischen Illusionen und
wirklichkeitsfernen Träumen, denn so etwas endet immer in
Enttäuschungen und Negativität. Im Gegensatz dazu enthüllt,
offenbart und verwirklicht sich die Dharma-Blume, und damit ist
der Zugang zu ihr für die Menschen in der ganzen Welt und im
großen Universum eröffnet.
Wenn dies geschieht, werden nach Dōgen die „Objekte“ nicht im
herkömmlichen Sinne als außerhalb von uns selbst gesehen, und
die umfassende Praxis der Dharma-Blume vollendet sich in ihrer
eigenen Bewegung. Im tiefen Vertrauen auf das eine Fahrzeug
des Buddhismus erfüllt sich der große Dharma und offenbart sich
in der ganzen Schönheit der Wirklichkeit:
„Die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas können
vollständig verwirklichen, dass alle Dharmas wirklich Form sind.“
Mit der Blume des Dharma existieren die Orte wirklich, an denen
Buddha lehrte, gibt es den Raum, den großen Ozean und die
große Erde, und diese sind für die Menschen das eigene
vertraute Land. Wenn sich die Dharma-Blume dreht, ist sie dies
Handeln, das nicht starr, unveränderlich und unbeweglich ist,
sondern die lebendige Wirklichkeit und der Schatz des wahren
Dharma-Auges.
Dōgen zitiert die Geschichte von Hotatsu, der in jungen Jahren
Mönch wurde und sich vollständig dem Lotos-Sūtra widmete. Er
prahlte sogar damit, dass er das Lotos-Sūtra auswendig hersagen
konnte und bereits mehr als dreitausend Mal rezitiert hatte. Der
große Meister Daikan Enō, der selbst nicht lesen und schreiben
konnte, sagte ihm jedoch:
„Auch wenn du das Sūtra zehntausendmal (rezitiert hast), wirst du
nicht einmal in der Lage sein, (deine eigenen und andere) Fehler
zu erkennen, wenn du es nicht wirklich verstanden (und erfahren)
hast.“
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Daraufhin wurde der Mönch Hotatsu sehr nachdenklich und war
tief verunsichert. Meister Daikan Enō schlug ihm vor, dass er
anfangen solle, den Text bis zu einer Stelle zu rezitieren, an der
der Meister ihm die große, umfassende Bedeutung dieses Sūtra
erläutern wolle. Dies sei nämlich die umfassende Lehre und
Weisheit von Gautama Buddha selbst, und sie werde auf
verschiedenen Wegen und mit tiefgründigen Gleichnissen
angesprochen, aufgedeckt, erklärt und verwirklicht. Dadurch
könne man sich den Zugang zu dieser umfassenden Weisheit
eröffnen. „Du musst jetzt darauf vertrauen, dass Buddhas
Weisheit einfach dein natürlicher Zustand des Geistes ist“, sagte
er zu dem Mönch. Dann fuhr Daikan Enō mit einem eigenen
Gedicht fort:
„Wenn der Geist in Täuschung ist, dreht sich die Blume des
Dharma (allein).
Wenn der Geist in der Verwirklichung ist, drehen wir selbst die
Blume des Dharma.
Wenn wir nicht Klarheit über uns selbst haben, wird (das Sūtra)
wegen seiner (großen) Bedeutung
(unser) Feind, ganz gleich, wie häufig wir es rezitieren.
Ohne (selbstsüchtige) Absicht ist der Geist wahrhaftig.
Mit (selbstsüchtiger) Absicht wird der Geist falsch.
Wenn wir dieses „mit und ohne“ (Absicht) überschreiten,
fahren wir ewig mit dem weißen Ochsengespann.“
Meister Daikan Enō erläuterte dem Mönch vertieft das
Wesentliche des Lotos-Sūtra, und sagte, dass die meisten
Probleme durch die eigenen Vorstellungen und Fantasien
entstehen, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.“
Gerade wenn man den Verstand und Intellekt bis zum Äußersten
bemüht und damit immer weiter fortfährt, wird man sich vom
wesentlichen Inhalt des Sūtras immer weiter entfernen.
Gautama Buddha gestattete seinen Zuhörern bei einer seiner
berühmten Lehrreden, ihren Platz zu verlassen und fortzugehen,
wenn sie mit dem Gesagten nicht einverstanden waren. Dadurch
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drehte sich die Dharma-Blume ohne sie. Es gibt nach Dōgen nur
dieses eine authentische buddhistische Fahrzeug in der
Gegenwart, und durch dieses Fahrzeug gelangt man zur
Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wiederum sei keine Vorstellung und
kein Begriff, sondern der Schatz der Dharma-Blume selbst, der
uns schon immer gehört. Das Sūtra der Blume des Dharma sei
immer anwesend, von Zeitalter zu Zeitalter, vom Morgen bis zum
Abend. Wir legen es niemals aus der Hand, es gibt überhaupt
keine Zeit, in der wir es nicht lesen, denn es ist das Universum
selbst.
In der obigen Geschichte erfuhr der Mönch Hotatsu plötzlich das
große Erwachen und sprang vor Freude in die Höhe. Er verfasste
spontan das folgende Gedicht:
„Dreitausend Mal (habe ich) das Sūtra rezitiert:
Vergessen durch einen Satz des Meisters vom (Berg) Sôkei.
Vor der Klärung des zentralen Bedeutung von (Buddhas)
Erscheinen in der Welt:
Wie können wir verhindern, dass die sinnlosen Leben
wiederkehren?
…
Ursprünglich sind wir Könige im Dharma.“
Mit diesem Gedicht erhielt der Mönch Hotatsu vom Meister die
Bestätigung und Dharma-Übertragung und den Namen „Der
sūtralesende Mönch“.
Wie in dieser Begebenheit begann sich die Blume des Dharma
durch Meister Daikan Enō immer mehr zu verbreiten, als Blume
des Dharma, die die Blume des Dharma immer wieder dreht. Bis
dahin hatte es diese große Wahrheit nicht gegeben. Es ergibt
daher Dōgen zufolge keinen Sinn, die anderen Fahrzeuge des
Buddhismus immer wieder zu erforschen. Nach Dōgen ist die
Gegenwart die Wirklichkeit so, wie sie ist: die Wahrheit der
wirklichen Form, der wirklichen Natur, des wirklichen Körpers, der
wirklichen Energie, der wirklichen Ursachen, der wirklichen
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Wirkungen, und damit ist sie die sich drehende Blume des
Dharma.
Wenn der Geist in Illusionen verstrickt ist, werden wir von der
Blume des Dharma gedreht. Dann sind wir nicht frei. Aber ganz
gleich, ob die Blume des Dharma sich selbst dreht oder von uns
gedreht wird, sie ist immer das eine, umfassende BuddhaFahrzeug und das große Wesentliche. Wir müssen uns also keine
Sorgen machen, dass der Geist eventuell voller Täuschungen ist,
denn das Handeln ist der Bodhisattva-Weg selbst, und es ist das
Handeln im Augenblick. Wir dienen damit den Buddhas. Dies ist
die ursprüngliche Praxis des Bodhisattva-Weges. Es ist die
unmittelbare Augenblicklichkeit der sich drehenden Blume des
Dharma.
Das wichtige Gleichnis des brennenden Hauses im Lotos-Sūtra
kann man folgendermaßen zusammenfassen: Obgleich das Haus
bereits an mehreren Stellen in Flammen steht, spielen die Kinder
drinnen unbekümmert weiter und sind so sehr in ihr Spiel vertieft,
dass sie die drohende Gefahr durch das Feuer überhaupt nicht
bemerken. Der Vater versucht sie zu überreden, aus dem Haus
herauszulaufen, um sich vor den Flammen zu retten, aber sie
hören überhaupt nicht zu und spielen weiter. Darauf verspricht er
ihnen, dass draußen wunderschöne Kutschen mit Gespannen auf
sie warten, die viel schöner sind als ihr Spiel im brennenden
Haus. Dies überzeugt die Kinder sofort, und sie laufen aus dem
Haus. Dann erkennen sie plötzlich, in welch großer Gefahr sie
gewesen sind. Eine dieser Kutschen ist prächtig geschmückt und
wird von friedlichen weißen Ochsen gezogen. Sie ist schöner als
die Kinder es sich vorstellen konnten.
Es ist klar, dass mit diesem Gleichnis die Rettung durch die
Buddha-Lehre gemeint ist, die dazu verhilft, dem brennenden
Durcheinander des gewöhnlichen Lebens der quälenden Ideen
und des eigennützigen Materialismus zu entkommen. Die weiße
Kutsche ist aber nichts anderes als die sich drehende Blume des
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Dharma. Es nützt nichts, wenn man das Lotos-Sūtra nur
auswendig lernt, es aber nicht umfassend erfährt und erlebt.
Was bedeutet nun die Aussage: „Wenn der Geist im Zustand der
Verirklichung ist, drehen wir selbst die Blume des Dharma“?
Im „Zustand der Verwirklichung“ wird offensichtlich die Energie
der Realität direkt erfahren und erkannt, sodass wir das Gesetz
der Welt verwirklichen. Diese Verwirklichung bedeutet, die Blume
des Dharma zu drehen, und dabei handeln wir im Alltag. Wenn
wir selbst die Blume des Dharma drehen, bedeutet dies, dass es
diese eine Sein-Zeit ist, in der der Buddha lebt. Wir sind dann
nicht von den anderen und der Welt getrennt. Wir haben dann die
Freiheit zu handeln, wie wir wollen und sind in Harmonie mit der
Welt.
In der Zeit, wenn die Blume des Dharma sich dreht, gibt es nach
Dōgen die geistige Verwirklichung als Blume des Dharma, und
die Dharma-Blume existiert als geistige Verwirklichung von uns
und der Welt. Dies gilt konkret bei den Dingen und Phänomenen
und ideell im Geist, oder, wie Dōgen sagt, innerhalb des
wirklichen Raumes.
Das Unmittelbare im Hier und Jetzt und das allgemein Geistige
bilden eine untrennbare Einheit. Dies sei, so sagt Dōgen, die
Verwirklichung des Drehens der Dharma-Blume. Wenn wir uns
selbst verändern und drehen, entfaltet die Bodhi-Weisheit ihre
Kraft, und dies ist die reine Welt. Wenn wir für einen guten Freund
sorgen, sind wir ihm nahe, so wie auch er uns nahe ist, und dies
ist das Drehen der Blume des Dharma. Dann sind Geist und
Körper ohne Begrenzung und frei.
Dōgen stellt am Ende dieses Kapitels fest, dass seit
Bekanntwerden des Lotos-Sūtra viele Kommentare und
Interpretationen geschrieben worden waren. Kein Kommentar
habe jedoch das Wesen der drehenden Blume des Dharma
wirklich in der vollen Tiefe und in dem Umfang wie der große
Meister und ewige Buddha Daikan Enō erfasst. Seitdem wir
jedoch die Worte von Meister Daikan Enō gehört haben, haben
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wir die Begegnung des ewigen Buddha mit dem ewigen Buddha
erfahren, und wir leben im ewigen Buddha-Land. Dies ist für uns
alle eine große Freude. Die Wirklichkeit ist die drehende Blume
des Dharma, sie existiert so, wie sie ist, und ist ein Schatz, sie ist
das helle Licht, der Sitz der Wahrheit, denn die Dharma-Blume ist
groß, weit und ewig.
Dies ist allerdings auch der Geist mit Täuschungen, der von der
Blume des Dharma gedreht wird, und sie ist der Geist der
Verwirklichung, der selbst die Blume des Dharma dreht. Nichts
kann ausgeschlossen werden. Dies alles ist wirklich genau die
Dharma-Blume, die die Blume des Dharma dreht.
Dōgen schließt mit dem Gedicht:
„Wenn der Geist im Zustand der Täuschung ist, dreht sich die
Blume des Dharma.
Wenn der Geist im Zustand der Verwirklichung ist, drehen wir die
Blume des Dharma.
Wenn die vollkommene Verwirklichung diesem gleichen kann,
dreht die Blume des Dharma die Blume des Dharma.“
Die Blume des Dharma offenbart sich selbst also in voller Frische
und strahlender Schönheit im Zustand jenseits des angelernten
Wissens und jenseits des eindimensionalen intellektuellen
Denkens. Wir sollten dies stets im Sinn behalten und fest darauf
vertrauen. Die Blume des Dharma ist nach Dōgen zu fein, zu
wunderbar und zu umfassend für das unterscheidende lineare
Denken.
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