Einführung in die Geschichte der islamischen Länder Der arabische Prophet Gliederung 1 Leben Muḥammads 1.1 Der „Warner“ in Mekka (bis zur Hiǧra) 1.2 Der „Gesandte Gottes“ in Medina, die Hiǧra, die Bildung der Umma 1.3 Muḥammad und die Juden von Medina 1.4 Die Einnahme von Mekka 2 Die Botschaft 2.1 Beginn der Offenbarung 2.2 Was ist neu am Koran? Text 1 Leben Muḥammads 1.1 Der „Warner“ in Mekka Muḥammad wurde vielleicht gegen 570 u.Z. in Mekka geboren, in der zwar angesehenen, aber nicht führenden Sippe Hāšim (zur Erinnerung: dieser Hāšim soll die Verträge mit den umliegenden Beduinen ausgehandelt haben, welche den mekkanischen Handel erst ermöglichten). Muḥammad wurde schon sehr früh Vollwaise; über seinen Vater ist ganz erstaunlich wenig bekannt, außer dass er schon vor Muḥammads Geburt verstorben ist. Muḥammad war aber deswegen nicht schutzlos. Sein Onkel väterlicherseits, Abū Ṭālib, nahm ihn in seine Familie auf. Folie 1: „Kernfamilie“ Muḥammads Abū Ṭālib scheint damals – und bis zu seinem Tod etwa 619 – auch das Oberhaupt der Sippe gewesen zu sein. Er wurde niemals Muslim, und er hat doch über seinen Neffen immer seine schützende Hand gehalten, auch wenn dies für die gesamte Sippe zu erheblichen Nachteilen führte. Er ist also ein schönes Beispiel für das Funktionieren des arabischen Tribalismus. Folie 2: Zeittafel zum Leben Muḥammads Der junge Muḥammad erlernte den Handel, in der Stadt Mekka nichts Außergewöhnliches. Es heißt, er habe als Treuhänder seiner späteren Frau Ḫadīǧa Reisen u.a. nach Syrien 1 unternommen, wo er dann mit den dortigen Christen in Kontakt gekommen sei. Während dieser Reisen habe er sich als besonders zuverlässig erwiesen, daher sein Beiname al-Amīn „der Zuverlässige“ – es ist dabei nicht endgültig geklärt, ob dies nicht vielmehr sein gegebener Name war und Muḥammad „der Gepriesene“ vielmehr ein Beiname. Muḥammad beteiligte sich dann, vielleicht erst im Erwachsenenalter und möglicherweise erst, nachdem die Ehe mit der wohlhabenden Witwe Ḫadīǧa (sie war deutlich älter als er; solange sie lebte – bis ca. 619 – hatte Muḥammad keine weiteren Frauen; von den gemeinsamen Kindern spielt nur die Tochter Fāṭima eine historische Rolle; Söhne hatte Muḥammad zwar, aber sie sind alle als kleine Kinder verstorben) ihn materiell sicher gestellt und ihm zu Ansehen in den mekkanischen Kaufmannskreisen verholfen hatte, an den Übungen der Ḥanīfen (arab. ḥunafāʾ). Bei diesen Ḥanīfen handelt es sich, so belegt es der Koran, um eine Gruppe von Männern, die sich in Meditations- und Askeseübungen um Gotteserkenntnis bemühten; man hat in ihnen arabische vorislamische Monotheisten gesehen, und im Übrigen ist auch Abraham im Koran ein ḥanīf, kein mušrik. Zu diesen Übungen zogen sie sich in die wüstenhafte Bergwelt rund um Mekka zurück. Während eines solchen Aufenthalts am Berg Ḥīra bei Mekka hatte Muḥammad ein Erlebnis, das sein ganzes Leben umkrempelte. Er hatte eine Audition bzw. eine Audition und Vision, er hatte ein Gesicht und hörte eine Stimme: Beides identifizierte er später als zum Engel Gabriel (Ǧibrīl) gehörig. Am Ende wurde Muḥammad sich darüber klar, dass Gott ihn berufen hatte, zunächst in seiner engsten Umgebung eine (zunehmend rein) monotheistische Kultform zu praktizieren und später, auch die Mekkaner im Namen des Einzigen Gottes zu warnen. Die ersten geoffenbarten Texte sprechen in gleicher Weise von den segensreichen Taten Gottes für die Menschen als auch vom drohenden Gericht. Diese Texte wurden von Muḥammad und seinen zunächst fast ausschließlich aus Familienangehörigen bestehenden Anhängern in rituellen Handlungen (rituelles Gebet ṣalāt) verwendet. Erst nach einer Weile erging dann der Auftrag zum öffentlichen Auftritt, aus dem individuellen Gottsucher wurde ein Prophet. Muḥammad begriff sich als „Warner“ (munḏir), eigens für seine Landsleute – zunächst die Quraiš von Mekka, später die arabisch-sprachigen Menschen insgesamt – abgesandt. Der koranische Text betont immer wieder, dass die Offenbarung in arabischer Sprache ergehe. Die Warnung beinhaltete die Aufforderung, von den bisherigen Kulthandlungen – nunmehr als „Beigesellen“ širk qualifiziert – abzulassen und alle Verehrung stattdessen dem Einzigen Gott zukommen zu lassen. Damit hatten die Mekkaner – nach anfänglicher wohlwollender Neugierde – eine Reihe von Problemen. Denn verlangt wurde ja, dass sie einen großen Teil dessen, was ihr Leben ausgemacht hatte, unterlassen sollten. Verlangt wurde auch, Vorstellungen von Jenseits und Gericht zu übernehmen, die ihnen bisher fremd gewesen waren. Außerdem pries Muḥammad seinen Stamm gerade nicht, wie das eigentlich von 2 einem Stammesmitglied zu erwarten gewesen wäre, sondern kritisierte ihn im Gegenteil, bezeichnete die Lebensführung in wesentlichen Teilen als irregeleitet. Den bisherigen Kult, širk, wollte er beseitigen, das ging durchaus an die Grundlagen der tribalen Lebensweise. Er stellte sich auch mit dem Anspruch, „Gesandter Gottes“ zu sein, außerhalb des politischen Systems des Stammes: Bald wurde den Mekkanern klar, dass mit der Annahme der Botschaft vom Einzigen Gott dem Gesandten eben dieses Gottes eine ganz ungewöhnliche Stellung zukommen müsste. Weiter beobachteten sie, dass der Gesandte Gottes vor allem unter den weniger prominenten Familien, den „für schwach Gehaltenen“ mustaḍʿafūn erfolgreich warb, wenngleich – dies nicht weniger beunruhigend – schon unter den frühen Anhängern durchaus auch Männer (und Frauen) aus den angesehensten Sippen zu finden waren, wenngleich hier in der Regel nicht die führenden Vertreter der Sippe. Muḥammad verkündete zwar nicht die soziale Gleichheit oder Gleichberechtigung, aber es war klar, dass der Islam, wie die neue Richtung später genannt wurde, als Bekenntnisreligion die Gleichheit der Gläubigen vor Gott als ein wesentliches Merkmal tragen würde. Von dort, so mögen sich die einflussreichen Mekkaner gesagt haben, wäre der Weg nicht sonderlich weit bis zu einem sozialen Unruhepotenzial. Diese einflussreichen Mekkaner, die führenden Männer der angesehensten Sippen (ʿAbd Šams oder Umaiya, Maḫzūm) versuchten auf zwei Wegen, die ihnen bedrohlich erscheinende Entwicklung unter Kontrolle zu bekommen. Zum einen wurde auf die sozial abhängigen Muslime, eben die „für schwach Gehaltenen“, zunehmend massiver, wohl auch physischer Druck ausgeübt. Zum anderen bemühten sie sich, die maßgeblichen Männer der Banū Hāšim dazu zu bewegen, Muḥammad den Schutz aufzukündigen. Mit dem ersten Mittel dürften sie einigen Erfolg erzielt haben, der zweite Weg jedoch brachte nicht das gewünschte Resultat. Nicht einmal ein – an die zwei Jahre dauernder – Boykott gegen die Banū Hāšim führte zum erhofften Ergebnis: Abū Ṭālib blieb bei seinen Verpflichtungen Muḥammad gegenüber. Erst nach dem Tode Abū Ṭālibs (ca. 619) und dem etwa gleichzeitigen Tod Ḫadīǧas bewegten sich die Dinge auf eine Trennung zwischen Muḥammad und den Quraiš zu. Abū Ṭālibs Nachfolger als „Scheich“ der Banū Hāšim, ein anderer Onkel des Propheten, den die islamische Überlieferung, ja schon der Koran Abū Lahab („Vater des Feuers“ – gemeint ist das Höllenfeuer) nennt, scheint ein persönlicher Feind Muḥammads gewesen zu sein. Nach einer Weile entzog er ihm den Schutz und machte ihn damit „vogelfrei“. Nun musste Muḥammad sich außerhalb seines Stammes um Schutz bemühen. Versuche in der Nachbarschaft, etwa in der Stadt Ṭāʾif, blieben erfolglos, Verhandlungen mit weiter entfernt lebenden Stämmen gleichfalls. Das mag damit erklärt werden, dass Muḥammad nicht als irgendein Schutzsuchender (den man gewiss aufgenommen hätte, dafür gibt es Regeln), sondern als Gesandter Gottes auftrat. Den Leuten, die er um Schutz anging, mag 3 klar gewesen sein , dass sie sich gegebenenfalls darauf würden einzustellen haben würden, dass dieser Mann die bei ihnen ähnlich wie in Mekka geregelten politischen, sozialen und kultischen Verhältnisse nicht unangetastet lassen, sondern im Gegenteil eine Position für seine neue Religion – und damit auch für sich – fordern würde, und zwar nicht irgendeine, sondern diejenige, die ihm aufgetragen war. Außerdem wäre mit der Aufnahme Muḥammads, vor allem unter diesen Bedingungen, fast sicher eine Auseinandersetzung mit den mekkanischen Quraiš verbunden gewesen, was sich zumindest in der näheren Umgebung keine Gruppe leichthin zuziehen wollte. Muḥammad fand dann – nach über längere Zeit geführten Verhandlungen – Aufnahme in der Oasensiedlung Yaṯrib, die später nur noch unter dem Namen Medina bekannt war. Dorthin siedelte er im Jahr 622 über. Im Jahr 638 wird dann der 16. Juli 622 u.Z. als der Beginn einer neuen Epoche festgelegt, der erste Tag im Jahr Eins der Hiǧra, das Datum der Ankunft Muḥammads in der Oase von Yaṯrib. 1.2 Der Gesandte Gottes in Medina Die Verhältnisse in Medina waren von denen in Mekka in vieler Hinsicht verschieden. Es handelte sich nicht um eine einzige Stadt, sondern um eine größere Oase mit Landwirtschaft. Die Hauptsache aber war, dass die tribale Einheit in Medina (falls sie je bestanden hat) zerbrochen war. Die einzelnen Sippen, die man wohl nur aus systematischen Gründen zu Stämmen mit der Bezeichnung Aus und Ḫazraǧ zusammengefasst hatte, waren in nahezu hoffnungslos scheinender Weise miteinander verfehdet. Einige Zeit, bevor der Ruf an Muḥammad ergangen war, hatte es noch einmal schwere Auseinandersetzungen gegeben, die aber nicht mit dem deutlichen Sieg einer der beiden Seiten geendet hatten. So war es zu einer Art Waffenstillstand aus Erschöpfung gekommen und dann zum Ruf an Muḥammad. Einen Schlichter von außen zu bestellen (ḥakam – Schiedsrichter) war an sich nicht ungewöhnlich. Dass dieser Schiedsrichter nun als Gesandter Gottes auftrat, mag den verantwortlichen Sippenältesten von Medina auch als Vorteil erschienen sein: Um so größer würde seine Autorität sein. Schon vor der Hiǧra scheinen einige der wichtigsten Männer den Islam angenommen zu haben. Bald nach seiner Ankunft in Medina setzten Muḥammad und die führenden Vertreter der Sippen von Medina zumindest die ältesten Teile desjenigen Dokuments auf, das etwas irreführend als die „Gemeindeordnung von Medina“ in die Geschichte eingegangen ist. Auf die philologischen und historischen Probleme, die es in der Forschung mit diesem Text gibt, soll hier jedoch nicht eingegangen werden. Es scheint insgesamt klar zu sein, dass die „Hiǧra-Leute von den Quraiš“ nicht als ein übergeordnetes, sondern ein nebengeordnetes Element in die Oase aufgenommen worden sind, wobei Muḥammad zunächst einmal der Führer nur dieser Gruppe war. Es wird nämlich die grundsätzliche Eigenständigkeit einer 4 jeden Gruppe formuliert nach dem Grundsatz, dass „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ der jeweils anderen Gruppen zu unterbleiben habe. In das Vertragswerk wurden außerdem die in Medina recht zahlreich vorhandenen Juden einbezogen. In welchem Ausmaß, ist allerdings fraglich: Die größten Gruppen der Juden von Medina, die Banū Quraiẓa, die Banū Qainuqāʿ und die Banū Naḍīr, kommen in dem Text nicht vor. Dies hat zu der Vermutung geführt, die Juden seien nicht als eigenständiger Partner, sondern nur als Klienten ihrer jeweiligen arabischen Schutzherren in die vertraglichen Formulierungen hineingekommen. Für den so entstehenden Verband wird die Bezeichnung „Gemeinde“ umma gebraucht. Dabei ist wichtig, dass für diese umma offenbar weder tribale Gesichtspunkte allein noch religiöse Gesichtspunkte allein maßgeblich waren. Die Umma überwand die bisher bestehenden tribalen Grenzen bis zu einem bestimmten Maß: Sie war für Beitritte offen, überwiegend allerdings wird dabei an tribale Gruppen zu denken sein, die ihren Beitritt erklären können. Sie bestand andererseits zu Anfang nicht allein für Muslime: Unabhängig vom Status der Juden gilt, dass zumindest zuerst noch nicht alle Medinenser, für die der Vertrag galt, auch Muslime waren. – Das Konzept „Umma“ ist bekanntlich eines der wichtigsten im frühen Islam (und bleibt zentral bis heute), allerdings ist die Hauptbedeutung „Gemeinschaft aller Muslime“. Dies ist in der ersten Form der Umma in Medina demnach nicht unbedingt gemeint. Von dem Wenigen, das man aus dem Text der „Gemeindeordnung“ mit Sicherheit erschließen kann, scheint die Vertragsform und die Offenheit besonders wichtig. Die medinensische Umma geriet recht bald, das ließ sich wohl kaum vermeiden, in Konflikt mit den Quraiš in Mekka. Dafür sind vielleicht folgende Gründe zu nennen: Muḥammad hatte seinen Auftrag, gerade auch die Leute von den Quraiš, also tribal gesprochen seine eigenen Leute, zu warnen, keineswegs vergessen. Die Warnung nahm nun allerdings andere Formen an. Aus den weiteren Ereignissen kann man entnehmen, dass Muḥammad sich immer als ein Qurašī begriffen hat. Auch wenn der Islam die tribalen Zugehörigkeiten in gewissem Maße transzendiert – abschaffen tut er sie nicht. – Weiter hatten die „Hiǧra-Leute von den Quraiš“ in Medina keine rechte materielle Basis. Es ging schlecht an, dauerhaft die Gastfreundschaft der Medinenser, nun „Helfer“ (anṣār) genannt, in Anspruch zu nehmen. Als Ausweg bot sich, in guter Tradition, der Karawanenraub an, nun in Form einer „Warnung“ gegen die Quraiš gerichtet. Ob dahinter von Beginn an der Gedanke steckt, die Handelsnetze der Arabischen Halbinsel von Mekka weg auf Medina zu orientieren, wird man wohl nicht ermitteln können. Die erste und damit einschneidende Aktion dieser Art erfolgte ausgerechnet in einem der „heiligen Monate“. Es war davon die Rede, dass „heilige Zeiten“ und „heilige Stätten“ in einem tribalen System fast unverzichtbar sind. Daher handelte es sich bei der Missachtung 5 dieser heiligen Zeiten um einen schweren Rechtsbruch, so schwer, dass die Aktion koranisch, also durch eine Offenbarung, ad hoc legitimiert wurde. Allerdings kommt in der Aktion auch zum Ausdruck, mit den Regelungen der mekkanischen Vergangenheit wirklich zu brechen. – Der Wendepunkt wurde im Gefecht von Badr erreicht (im Jahr 2 der Hiǧra). Wieder sollte eine mekkanische Karawane überfallen werden. Dies gelang zwar nicht, aber in einem Gefecht gegen die Begleitmannschaft erlangten die Muslime einen deutlichen Sieg gegen eine Übermacht der Qurašīs; einige Führer der Quraiš werden getötet, andere gefangen genommen. Von da an beginnt der Stern der medinensischen Umma zu steigen, Medina beginnt, Mekka als Zentrum eines Systems von Bündnissen mit beduinischen Stämmen zu verdrängen, und die Kampfbereitschaft der medinensischen Umma wächst. Die Mekkaner haben versucht, auch als Vergeltung für Badr, diese Entwicklung zu verhindern. Sie zogen vor Medina, wo es zur Schlacht am Berg Uḥud kam (nördlich der Oase). Diese verlief für die Muslime nicht besonders erfolgreich, allerdings kann der Sieg der Mekkaner auch nicht entscheidend gewesen sein, da sie darauf verzichteten, in die Oase selbst einzudringen und die dort befindlichen befestigten Anlagen (Häuser, „Türme“) einzunehmen. So konnte sich die medinensische Umma bald wieder erholen. Wenig später kamen die Mekkaner erneut nach Medina, diesmal mit allen Kräften, die sie aufbieten konnten, also einschließlich ihrer beduinischen Verbündeten. Die Belagerung verlief im Sande, da die Medinenser einen Graben (ḫandaq) errichtet hatten, den die mekkanischen Reiter nicht überwinden konnten. Nach einiger Zeit begann das Bündnis der Belagerer daher zu bröckeln, manche der beduinischen Verbündeten der Quraiš zogen sich zurück, andere gingen auf die Seite der Muslime über. Dies war die letzte militärische Anstrengung der Mekkaner gegen Muḥammad. Denn diese Anstrengung – beide Seiten waren sich darüber im Klaren – konnte nicht wiederholt werden. Nicht noch einmal hätten die Mekkaner ihre beduinischen Verbündeten für ein solches Unternehmen gewinnen können. Nicht nur hatten einige dieser Verbündeten bereits die Seiten gewechselt – es schaute auch für die Verbliebenen nichts dabei heraus, ohne Beute, ja geschlagen war man von Medina abgezogen. 1.3 Muḥammad und die Juden von Medina Dies ist ein sehr kontroverses Thema, wobei die Kontroverse mit einiger Bitterkeit verbunden ist. – Muḥammad hat zunächst, in Medina eingetroffen, die Juden dort, zumindest einen Teil davon, in irgendeinem geregelten Status in die Umma aufgenommen, entweder als vollgültige Partner oder als Klienten arabischer nichtjüdischer Sippen. In der ersten Zeit scheint Muḥammad auch gehofft zu hben, gerade unter den Monotheisten älterer Observanz Gehör zu finden, unter Leuten also, denen Propheten und Prophetie, Monotheismus, Jenseits und Gericht aus ihrer eigenen Tradition ganz geläufig waren. Muḥammad sah sich 6 bekanntlich als Propheten in einer Reihe mit vielen Vorgängern, vor allem aus der israelitischen Tradition, zu der man ja auch Jesus rechnen kann. Die Propheten aller Epochen, so die islamische Auffassung bis heute, sind mit ein und derselben Sendung betraut gewesen; diese Botschaft habe nur, der Schwäche der Menschen und ihrer Bosheit wegen, immer wieder erneuert werden müssen. (Ab wann Muḥammad dann als das „Siegel der Propheten“, also der endgültig letzte Prophet, aufgefasst wird, ist eine andere Frage.) Nun trat aber nicht ein, was Muḥammad erwartet hatte. Seine unbestreitbaren Erfolge hatte er gerade unter der „heidnischen“ Bevölkerung Medinas, während die Juden beiseite standen. Es nützte Muḥammad nichts, dass er die Gemeinsamkeiten unterstrich: die gemeinsame Gebetsrichtung nach Jerusalem zum Beispiel, oder die Anzahl der Gebete, auch beim Fasten scheint es Anklänge an Verhältnisse bei den Juden gegeben zu haben – die Juden verweigerten ihm die Anerkennung als Prophet. Die so entstandene krisenhafte Situation scheint sich während der militärischen Auseinandersetzungen mit den Mekkanern dramatisch zugespitzt zu haben. Den Juden wurde Zusammenarbeit mit dem Gegner vorgeworfen. In ansteigender Schärfe der Maßnahmen wurden die Juden aus der Oase von Medina entfernt; die erste Gruppe wurde ausgewiesen, durfte aber Besitzrechte in Medina behalten; die zweite ausgewiesene Gruppe behielt nicht einmal das, und die dritte Gruppe wurde regelrecht massakriert. Später folgte die Eroberung der Oasen im Norden der Arabischen Halbinsel, wohin auch viele Juden aus Medina gegangen waren, besonders nach Ḫaibar. Die Juden durften dort bleiben, wurden aber mit schweren Abgaben belegt. Die Gebetsrichtung wurde im Laufe dieser Auseinandersetzungen von Jerusalem nach Mekka verlegt. Muḥammad begann, den arabischen Charakter seiner Sendung stärker zu unterstreichen. Vergleichbare Auseinandersetzungen mit Christen hat es in diesem Stadium nicht gegeben. Erst unter ʿUmar – dem zweiten Kalifen – wurden die Christen aus Naǧrān, einer Siedlung auf halben Wege zwischen Mekka und dem Jemen – aus der Arabischen Halbinsel verbannt, weil es hieß, in diesem Gebiet sollten nur Muslime leben. Aber ein Massaker unter Christen ist m.W. für die Frühzeit völlig unbekannt. 1.4 Die Einnahme von Mekka Wie gesagt hatte Muḥammad seinen Auftrag, vor allem die Quraiš zum Islam zu rufen, keineswegs vergessen. Nach der Grabenschlacht hatte er alle Trümpfe in der Hand. Das mekkanische Handelssystem war zumindest gefährdet – wie hätten die Mekkaner noch Karawanen nach Syrien bringen können, ohne die Zustimmung der Muslime und Muḥammads? Muḥammad entschloss sich aber, diese Vorteile nicht militärisch auszunützen. Er zog im Jahr nach der Grabenschlacht nach Mekka, um die Pilgerfahrt Ḥaǧǧ zu vollziehen. 7 Das mekkanische Heiligtum, die Kaʿba, wurde nun endgültig in die monotheistische Konzeption integriert – das hatte sich beim Wechsel der Gebetsrichtung bereits angedeutet. In jenem Jahr kam es allerdings noch nicht zur ersten islamischen Ḥaǧǧ, aber es wurde ein Vertrag geschlossen, dem zufolge im folgenden Jahr die Mekkaner für eine ausreichende Zeit die Stadt räumen würden, um den Medinensern den Vollzug der Riten zu gestatten. Und wirklich wurde das so gehalten. Nach einer Reihe von Komplikationen (deren Ablauf hier nicht interessieren soll) fiel die Stadt durch Übertritt ihrer führenden Männer dem Propheten in die Hände. Diese Männer, „Muslime der letzten Stunde“, sollten im weiteren Verlauf eine zentrale Rolle im islamischen Gemeinwesen spielen. Dies zeigte sich schon bei den nun folgenden militärischen Aktionen gegen verbleibende Gegner im Ḥiǧāz: Ṯaqīf (in Ṭāʾif) und Ḥawāzin. Sie wurden von einer Allianz von Quraiš und Medinensern unter Führung Muḥammads geschlagen. Bei der Aufteilung der Beute sollen dann die qurašitischen führenden Familien und Figuren bevorzugt behandelt worden sein, was nicht unkommentiert blieb. Dennoch nahm Muḥammad nicht wieder in Mekka Wohnung, sondern kehrte nach Medina zurück – die Rolle Mekkas als wirtschaftlich-politisches Zentrum des Ḥiǧāz war ausgespielt, seither ist die Stadt Pilgerzentrum und nur noch in zweiter Linie Zentrum für Handel und Gelehrsamkeit. In den letzten beiden Jahren im Leben Muḥammads trafen auch eine Reihe von Delegationen in Medina ein, die namens größerer oder kleinerer Gruppen (von Beduinen oder Ackerbauern) Loyalität versprachen. Sie wurden in die Umma aufgenommen; ob sie dies als eine persönliche Bindung an Muḥammad oder als Übergang in ein neues System verstanden, ist höchstens im Nachhinein zu ermitteln (nämlich aus ihrem Verhalten nach dem Tode Muḥammads). Verlangt wurde allerdings mehr als das, was ein mächtig gewordener Stammes-Scheich hätte verlangen können, nämlich Abgaben und Bekenntnis. Beides war neu. Während der gesamten Zeit setzte sich die prophetische Tätigkeit Muḥammads mehr oder weniger kontinuierlich fort. Er ist nicht im engeren Sinn „Staatsmann“ geworden – diese Seite seiner Tätigkeit, die politisch-militärische Führung der Umma, ergab sich vielmehr fast zwangsläufig aus der Prophetie. Nicht alle Fragen, die an ihn herangetragen wurden, fanden jedoch eine Offenbarung als Antwort. Die Regel wird gewesen sein, dass Muḥammad sozusagen im eigenen Namen sprach; auch die so gegebenen Anweisungen oder Schiedssprüche hatten jedoch Autorität. Oft wiederholt auch der Koran, die Muslime sollten Gott und seinem Gesandten gehorchen, gelegentlich wird Gott dabei auch nicht genannt, so dass dem Gesandten auch dann Gehorsam geschuldet ist, wenn er nicht im Namen Gottes spricht. Offene Opposition gegen Muḥammad war in Medina sehr selten (mit der Ausnahme der sog. „Heuchler“ munāfiqūn). 8 Am 8. Juni 632 ist Muḥammad gestorben. Zu diesem Zeitpunkt waren die Araber der Halbinsel vielleicht in ihrer Mehrheit bereits zum Islam übergetreten. Erste Züge auf byzantinisches Gebiet hatten, mit eher dürftigem Erfolg, bereits stattgefunden. Was Muḥammad hinterließ, war dennoch kein „Staat“, nicht einmal in einem zeitgenössischen Verständnis. Zu viel in Recht, Rechtsprechung, Verwaltung, allgemeiner Organisation blieb offen. Die Schaffung eines islamischen Staates war vielmehr Ergebnis der ersten zwei, drei Generationen nachz Muḥammad: ein länger dauernder Prozess, nicht der Geniestreich eines einzigen Mannes. 2 Die Botschaft 2.1 Beginn der Offenbarung Der Beginn der Offenbarung wurde eben schon skizziert als eine Begegnung Muḥammads mit einer Gestalt, die ihm eine Sendung auferlegte. Die Begegnung verlief für Muḥammad schmerzvoll. Die Gestalt, so heißt es, hielt ihm ein Kissen oder ein Stück Stoff entgegen, auf dem Worte geschrieben waren. Der Auftrag lautete: „Trag vor!“ und Muḥammads Antwort entweder: Ich kann nicht lesen, oder: Was soll ich vortragen? (Zumindest in einigen Versionen erlaubt der arabische Wortlaut beide Deutungen.) Am Ende handelte es sich um die Worte, welche nach der Mehrzahl der Interpreten die ersten Verse sind, die vom Koran offenbart wurden. Folie: Sure 96 1-5 deutsch und arabisch Die Sendung hat Muḥammad also nicht etwa freudig oder stolz übernommen, sondern unter Mühe, mit Zittern, in großer Unsicherheit. Koran, arab. qurʾān, ist ursprünglich „Rezitationstext“, daher auch in der Einzahl möglich, „ein qurʾān“. Das unterstreicht die Bedeutung des mündlichen Vortrags, der bis heute zentral ist: im rituellen Gebet, bei allen möglichen feierlichen Anlässen, während der Nächte des Ramaḍān – private und auch öffentliche Koranrezitation ist aus dem Leben der Muslime nicht wegzudenken. Dass „der Koran“ fast nur noch die Gesamtheit der Offenbarungsschrift bedeutet, ist dabei eine relativ späte Entwicklung. Der Koran ist in Teilen offenbart worden, die Redaktion des Textes, wie er heute vorliegt, ist das Werk der nachfolgenden Generation, nach Mehrheitsauffassung eines Teams, das im Auftrag des dritten Kalifen ʿUṯmān b. ʿAffān tätig war und ungefähr im Jahr 650 seine Arbeit abgeschlossen hat. Danach wurde allerdings noch die Lesung ausdifferenziert, es gibt sieben oder zehn, wenn man es ganz genau nimmt, sogar vierzehn Lesarten, die alle gleich gültig sind. Heute hat sich – durch die von der Azhar-Universität in Kairo veranstaltete Buchausgabe, die seit den 1920er Jahren gedruckt wird – nurmehr eine dieser Lesarten durchgesetzt. Die Varianten unter diesen Lesarten sind allerdings nicht tief greifend. 9 Der Koran besteht aus 114 Teilen, genannt Suren, die in etwa der Länge nach geordnet sind, so dass die längste Sure die zweite ist, die 114. eine der kürzesten. Die erste Sure, die Fātiḥa, bildet also eine Ausnahme, sie ist sehr kurz. Der Gesamttext teilt sich auf etwa 6000 Verse auf. In der islamischen Tradition werden die Suren (und auch Teile innerhalb von Suren) in „mekkanisch“ und „medinensisch“ aufgeteilt, es gibt auch darüber hinaus eine traditionelle Auffassung davon, welche Verse früher als andere offenbart worden sind; nicht immer sind sich alle Gelehrten einig. Die moderne Islamwissenschaft hat den Koran – außer nach diesen traditionellen Einteilungen – auch der Sprache nach untersucht; es gibt demnach innerhalb der mekkanischen Suren frühe, mittlere und spätere. Auch die sprachliche Komposition der Suren ist Gegenstand der Untersuchung. Diese Komposition ist bei längeren Suren nur noch selten thematisch. Frühe Suren zeichnen sich durch eine kraftvolle, manchmal dunkle Sprache aus, recht kurze Segmente bilden Reime (der Koran ist fast durchgehend in Reimprosa, arab. saǧʿ, gehalten), die Sprache scheint an die vorislamischen Sprüche von Dichtern und Wahrsagern angelehnt. Spätere Suren haben einen ruhigeren Textfluss, es werden mehr Geschichten erzählt, und in medinensischer Zeit kommen Regelungen rechtlichen Charakters hinzu. Insgesamt aber ist der Koran kein Gesetzbuch, von den wie gesagt ca. 6000 Versen sind, wenn man kultische Vorschriften zu Pilgerfahrt, Fasten, Gebet mitrechnet (wie es der islamischen Auffassung entspräche), nicht mehr als 600 rechtlichen Charakters, wenn man diese Vorschriften weglässt und sich damit einem europäischen Verständnis von Recht annähert, bleiben lediglich 80 Verse mit rechtlichem Inhalt übrig. Die frühen Suren behandeln (wie angedeutet) die Zeichen Gottes, die Schöpfung, die Allmacht, die alle den Menschen auffordern, doch Gott als den Einzigen Gott, das allein verehrungswürdige Wesen, anzuerkennen und entsprechend zu handeln. Ebenso schildern frühe Suren sehr eindringlich die Strafen im Jenseits, welche diejenigen erwarten, die sich der Botschaft widersetzen. Im weiteren Verlauf kommen wie gesagt Geschichten hinzu: Unter diesen nehmen Geschichten über vorislamische Propheten eine wichtige Stellung ein. Ibrāhīm und Mūsā stehen an erster Stelle, dann ʿĪsā, und insgesamt kommen eine ganze Reihe der uns eher aus dem Alten Testament, der hebräischen Bibel, bekannten Gestalten und Geschichten vor, oft mit typischen Abweichungen. Das soll nicht heißen, dass diese Gestalten und Geschichten direkt aus der jüdisch-christlichen Tradition übernommen sind, sondern eher, dass es gemeinsame Wurzeln gibt, eine Erzähltradition, die bald schriftlich untermauert, bald wieder mündlich fortläuft; dann wären die koranischen Versionen eine schriftliche Manifestation dieser Geschichten, neben denjenigen, die an anderen Stellen niedergelegt sind. 10 Mit Hilfe dieser Geschichten, aber auch sonst, geht der koranische Text auf Einwände und Einwürfe von Gegnern ein. Solche Geschichten sind daher manchmal in das auch sonst häufige „Sie fragen dich – so sage“ –Schema einzuordnen. Den Koran zu lesen fällt zuerst schwer. Das liegt daran, dass oft kein Zusammenhang erkennbar ist. Auch die erwähnten Geschichten sind oft eher Andeutungen als gerade heraus erzählt. Unter den Übersetzungen sind zwei zu nennen: Paret für die wissenschaftliche Genauigkeit (diese Ausgabe zitieren wir), und die eher dichterische (Teil-) Übersetzung von Friedrich Rückert (diese kann man zitieren, wenn es um die sprachliche Kraft des koranischen Textes geht). 2.2 Was ist neu am Koran? Am Koran, d.h. am Islam, ist in seiner Zeit und seinem Ort, dass er einen strikten Monotheismus enthält. Dabei kommt sehr früh schon Polemik gegen die früheren Offenbarungsreligionen vor (Sure 112). Das Argumentieren gegen das „Beigesellen“ širk zieht sich durch den gesamten Text. Der Koran – und damit der Islam – vertritt ein im Judentum nicht durchgehend vorhandenes und im Christentum kaum relevantes Konzept von Prophetie. Muḥammad, der Prophet, ist der Gesandte Gottes, er vertritt eine Sendung: Ihm wird, übermittelt durch den Engel, das ungeschaffene Wort Gottes, die Offenbarungsschrift, übermittelt, damit er sie verkünde. Die Offenbarungsschrift bestand bereits vorher, ihre Urschrift wird in der „wohlverwahrten Tafel“ gesehen. Der Prophet verkündet mit dieser Offenbarung gleichzeitig Gottes Willen und Gottes Gesetz. Was wir in der Alltagssprache mit „prophetisch“ meinen (auf eine kaum nachvollziehbare Weise weitsichtige Kenntnis dessen, was kommt, oder: in Andeutungen gemachte Äußerung über die Zukunft, nicht selten auf Bestellung) hat mit dem Ernst und der Schwere des Prophetenamtes in islamischer Auffassung nichts zu tun. Mit Muḥammad endet – so ist recht bald Konsens – der Zyklus der Prophetie in der Geschichte der Menschheit. Die Menschheitsgeschichte teilt sich also in insgesamt vier Phasen: Vor der Schöpfung, Vorewigkeit, die unerschaffenen Seelen der Menschen existieren als Gottes Plan in dessen Gegenwart. – Von der Schöpfung bis zum Tod Muḥammads: Zyklus der Prophetie. Immer wieder schickt Gott Propheten, Ādam, der erste Mensch, ist auch der erste Prophet, um die Menschen recht zu leiten. Aber die Gegenkräfte setzen sich immer wieder in den Vordergrund, im Fall der Banū Isrāʾīl und der Christen kommt hinzu, dass ihre Geistlichen aus eigensüchtigem Interesse die Schrift verfälschen. – Drittens: Von Muḥammad bis zum Gericht: Zyklus des Islam, der endgültigen Offenbarungsreligion. – Viertens: Vom Gericht an, Nachewigkeit, die Seelen der Menschen 11 leben fort, je nach ihrem Urteil im Heil oder der Verdammnis, wobei nicht immer ganz klar ist, ob die Verdammnis auch ewig dauert. Der Koran ist in arabischer Sprache geoffenbart. Das unterstreicht der Text an vielen Stellen. Wer kann, so heißt es, auch nur eine Sure, auch nur ein paar Verse beibringen, die in Schönheit und Tiefe der Bedeutung dem Offenbarungstext gleichkämen? Dieser Text ist das Beglaubigungswunder (muʿǧiz) des Propheten Muḥammad. 12