Aktueller Stand in Diagnostik und Therapie der Myasthenia gravis

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M E D I Z I N
KONGRESSBERICHT
Aktueller Stand in
Diagnostik und Therapie
der Myasthenia gravis
Z
um 125jährigen Jubiläum des rum der Patienten und eine geeignete
Krankenhauses Moabit, Ber- neurophysiologische Diagnostik. K.
lin, veranstaltete die Neurolo- Ricker, Reichenberg, wies auf die ungische Abteilung vom 10. bis 11. Mai verändert hohe diagnostische Bedeu1997 einen Workshop zum Thema tung der repetitiven Stimulation hin.
Myasthenia gravis. Spezialisten aus 30 D. Hahn, Würzburg, informierte
deutschen Myasthenie-Behandlungs- über die differenzierte radiologische
zentren diskutierten zwei Tage über Thymusdiagnostik. Die radiologiden aktuellen Stand der Diagnostik, sche Darstellung von ThymusverPathogenese, Klinik und Therapie.
änderungen im vorderen MediastiDie klinische Diagnose der My- num mittels Computertomographie
asthenia gravis kann schwierig sein, und Magnetresonanztomographie gebesonders dann, wenn die Sympto- hören zum diagnostischen Standard
matik vorerst nur auf wenige Mus- und sind unabdingbar zur Planung
kelgruppen beschränkt
bleibt. In seiner umfassenden Darstellung der
klinischen Symptomatik der Myasthenie hob
F. Schumm, Göppingen,
hervor, daß bei der
Hälfte der Patienten initial lediglich okuläre
Symptome wie Doppelbilder und Ptose auftreten und erst im späteren
Verlauf die charakteristische, wechselnd ausgeprägte, belastungs- Abbildung 1: Klinische Diagnostik der Myasthenia gravis. Patient mit beabhängige muskuläre lastungsabhängiger Schwäche, vor allem der Oberarmmuskulatur
Schwäche eintritt. Andere Primärsymptome, wie Schluck- der Thymektomie. R. Hohlfeld, Münstörungen, Dysarthrie oder bela- chen, und A. Melms, Tübingen, faßstungsabhängige Ateminsuffizienz, ten den aktuellen Kenntnisstand der
bieten allzu häufig Anlaß zur Fehl- Pathogenese der Myasthenie zusameinschätzung der Erkrankung, gab B. men. Die pathogene Bedeutung der
Schalke, Regensburg, zu bedenken. AChR-AK ist unbestritten, wennDer klinische Verlauf ist ausgespro- gleich in 10 bis 20 Prozent der Patienchen variabel, von nur wenig fluktu- ten zu vermutende Autoantikörper
ierenden Minimalsymptomen bis hin mit den momentan zur Verfügung
zu schweren Defektmyasthenien mit stehenden Methoden nicht nachweismassiver Atrophie der Skelettmus- bar sind. Trotz der im Vordergrund
kulatur. Bei mehr als 60 Prozent der stehenden humoralen Mechanismen
Patienten manifestiert sich die Er- spielt das zelluläre Immunsystem
krankung vor dem 40. Lebensjahr, eine gleichermaßen wichtige Rolle.
vereinzelt bereits im Kindesalter T-Zellen wirken regulatorisch auf
oder als familiäre Form. Die dia- die Bildung pathogener Antikörper.
gnostischen Säulen sind neben der Eine T-Zell-selektive Immunsupklinischen Diagnostik der Nachweis pression ist ebenso therapeutisch
von Antikörpern gegen Acetylcho- wirksam wie die Reduktion autolin-Rezeptoren (AChR-AK) im Se- reaktiver T-Zellen durch die Thym-
ektomie. Eine Reihe von Argumenten spricht für eine Schlüsselrolle des
Thymus in der Pathogenese der Myasthenie.
Entfernung der
Thymusdrüse
Entsprechend ergab eine im Vorfeld des Workshops von R. W. C.
Janzen, Frankfurt, initiierte Umfrage,
daß 40 von 42 deutschen MyasthenieBehandlungszentren eine operative
Entfernung der Thymusdrüse bei Patienten unter 45 Jahren empfehlen. K.
Kunze, Hamburg, stellte klar, daß
die Thymektomie nicht als isolierte
Therapiemaßnahme, sondern nur im
Zusammenhang mit der Gesamttherapieplanung der Myasthenie unter Einbeziehung sowohl der Mestinon-Substitutionsbehandlung als
auch immunsuppressiver Therapiemaßnahmen gesehen werden kann.
Professor Kunze empfiehlt die Thymektomie bei Patienten mit immunologisch bedingter generalisierter Myasthenie mit möglichst kurzer Krankheitsdauer und deutlicher Progredienz in der Altersgruppe um 20 bis 40
Jahre, aber auch bei anderen Patienten, bei denen mit medikamentöser
Therapie keine Besserung erreichbar
ist. Wichtig ist die optimale therapeutische Einstellung des Patienten
vor der Operation und eine angepaßte
postoperative
Therapiesteuerung.
T. Kirchner, Erlangen, stellte die
Bandbreite
der
pathologischen
Thymusveränderungen und ihre moderne Klassifikation vor. Morphologisch faßbare, pathologische Thymusalterationen kommen bei über
80 Prozent der Patienten mit Myastenia gravis vor, meist als Thymitis
mit lymphofollikulärer Hyperplasie.
D. Kaiser, Berlin, berichtete über gute
Behandlungsergebnisse bei 16 Patienten, die in den letzten zwei Jahren
operativ mit der erweiterten trans-
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 17, 24. April 1998 (53) A-1033
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KONGRESSBERICHT/FÜR SIE REFERIERT
sternalen Thymektomie behandelt
wurden. Direkte operationsbedingte
Komplikationen sind bei dem elektiv
durchgeführten Eingriff selten. Eine
in geeigneten Fällen interessante Alternative zur offenen Operation stellt
die thoraskopische Thymektomie dar.
Nach K. Gellert, Berlin, bleibt diese
neue Therapiemöglichkeit vorerst auf
Patienten mit gut abgekapselten,
nicht invasiv wachsenden und maximal 2 Zentimeter großen Thymomen
beschränkt, da die Wertigkeit dieses
Operationsverfahrens durch Langzeitverläufe noch nicht hinreichend
abgesichert ist.
probte Therapieschemata zur Diskussion. Alle Referenten betonten
die Bedeutung einer intensiven Patient-Arzt-Interaktion über lange
Zeiträume, um das Ziel einer individuell optimal angepaßten, nebenwir-
Individuell angepaßtes
Behandlungskonzept
Den breitesten Raum während
des Workshops nahm die Diskussion
um die Therapie der Myasthenie ein.
H. G. Mertens faßte in seinem Referat die wesentlichen Entwicklungen
hin zur modernen Myasthenie-Behandlung zusammen. Mit Einführung differenzierter Immuntherapien, verbesserten intensivmedizinischen Möglichkeiten und bei individuell angepaßter Patientenbetreuung werden heute kaum noch schwere Defektzustände gesehen. In der
Basistherapie werden mit Erfolg
Acetylcholinesterasehemmer, vor allem Pyridostigmin, Kortikosteroide,
Azathioprin und andere Immunsuppressiva eingesetzt. R. W. C. Janzen,
Frankfurt, S. Endler, Erfurt, und U.
A. Besinger, Westerstede, stellten er-
W. Köhler, Berlin, zeigte, daß mit
den Plasmatherapien (Plasmaaustausch, Immunadsorption) effektive
Verfahren zur Behandlung der myasthenen Krise zur Verfügung stehen.
Bei Kombination mit immunsuppressiven oder immunmodulatorischen
Maßnahmen werden in der Regel bereits nach der dritten Austauschbehandlung im Verlauf einer Woche
deutliche Besserungen gesehen. In
weniger bedrohlichen Fällen steht
auch die Therapie mit hochdosierten
intravenösen Immunglobulinen zur
Verfügung, wie V. Schuchardt, Lahr,
berichtete. Die Therapie stellt somit
eine sehr gute Alternative zur komplikationsreichen Behandlung mit
Kortikoiden bei myasthenen Verschlechterungen, in Einzelfällen auch
als Langzeittherapie dar.
Anschrift der Verfasser
Abbildung 2: Nach intravenöser Gabe eines Cholinesterasehemmstoffes (Endrophoniumchlorid) ist die
zuvor deutliche Schwäche der Arme vollständig reversibel.
kungsarmen Therapie zu erreichen.
Die Gefahr einer Überdosierung ist
groß und führt regelmäßig zu erheblichen Problemen, zum Beispiel
cholinergen Krisen. Krisenhafte Verläufe sind bei adäquater Betreuung
selten und betreffen maximal 10 Prozent der Patienten.
OA Dr. med. Wolfgang Köhler
Prof. Dr. med. Günter Hertel
Neurologische Abteilung
Krankenhaus Moabit
Turmstraße 21
10559 Berlin
Prof. Dr. med. Rudolf W. C. Janzen
Neurologische Klinik
Krankenhaus Nordwest
Steinbacher Hohl 2–26
60488 Frankfurt
Prof. Dr. med. Klaus Kunze
Neurologische Klinik
Universitätsklinikum Eppendorf
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Überlebensdauer von Patienten nach AIDS-Diagnose
Patienten mit dem Vollbild von
AIDS haben heute eine größere
Chance, die Erstkrankheit zu überleben, die zur Diagnose der Immunschwäche führte, als vor zehn Jahren.
Die Wahrscheinlichkeit, daß sie drei
Monate nach der Diagnose noch leben, ist auch größer, wenn AIDS aufgrund einer Candidainfektion im Gastrointestinaltrakt oder eines KaposiSarkoms festgestellt wurde, als bei einer Infektion mit Pneumozystis carinii. Dies zeigte eine prospektive Studie mit 2 625 AIDS-Patienten aus den
Jahren 1982 bis 1995 an zwei großen
Londoner Kliniken. Innerhalb der ersten drei Monate nach Diagnosestellung sank das Sterberisiko der AIDSPatienten deutlich, wenn die Krankheit nach dem Jahr 1987 festgestellt
wurde (RR 0,44 95 Prozent CI
0,22–0,86, p=0,017). Die langfristige
Prognose blieb jedoch unverändert
schlecht, nach drei Monaten hatte
sich das Sterberisiko wieder weitgehend angeglichen. Die durchschnittliche Überlebenszeit lag mit 20 Monaten jedoch über dem vorher geschätz-
A-1034 (54) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 17, 24. April 1998
ten Wert. In den letzten Jahren wurde
ein Abfall der CD4-positiven Lymphozytenwerte zum Diagnosezeitpunkt beobachtet, der darauf hinweisen könnte, daß AIDS in immer späteren Stadien festgestellt wird.
silk
Mocroft A, Youle M et al.: Survival after
diagnosis of AIDS: a prospective observational study of 2 625 patients. Br Med J
1997; 314: 409–413.
A. Mocroft, HIV Research Unit, Department of Primary Care and Population
Sciences, Royal Free Hospital School of
Medicine, London NW3 2 PF, Großbritannien.
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