Können Infektionen das Diabetesrisiko erhöhen?

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FORSCHUNG
Können Infektionen das
Diabetesrisiko erhöhen?
Aktuelle prospektive Studien weisen auf einen Zusammenhang
von wiederholten Atemwegsinfektionen in den ersten 6 Lebensmonaten
und der späteren Entstehung von Inselautoimmunität/Typ-1-Diabetes.
D
ie Pathogenese der Autoimmunerkrankung
Typ-1-Diabetes ist immer noch nicht im Detail
verstanden. Neben einer genetischen Prädisposition
scheinen auch Umweltrisikofaktoren von Bedeutung
zu sein. Die erste Krankheitsphase, die durch die Entstehung von Inselautoantikörpern gekennzeichnet ist,
beginnt häufig schon im Alter von 1–2 Jahren. Somit
kommen insbesondere Umweltfaktoren in Betracht,
die bereits in früher Kindheit auftreten – wie beispielsweise die frühkindliche Ernährung oder frühe
Virusinfektionen. Infektionen könnten aber auch für
eine schnellere Progression von der meist noch symptomlosen Phase der Autoimmunität zur Manifestation
der ersten klinischen Symptome verantwortlich sein.
Ein möglicher Zusammenhang zwischen Virusinfektionen und Typ-1-Diabetes wird schon seit Jahrzehnten vermutet, unter anderem beruhend auf Beobachtungen, dass die Erkrankungsraten sowohl in
nördlichen Ländern als auch in den kalten Jahreszeiten etwas höher sind (1, 2). Interessanterweise sind
auch bestimmte mit einer Regulierung der Immunantwort verbundene Gene im Winter am aktivsten,
insbesondere bei Personen aus Gegenden mit deutlichen klimatischen Schwankungen im Jahreslauf (3).
Zudem existieren zahlreiche, teilweise auch schon
in Tierversuchen erprobte Erklärungsmodelle. Zum
einen können Virusinfektionen offenbar auf verschiedene Weise einen Autoimmunprozess auslösen,
der sich in der Folge gegen die insulinproduzierenden Betazellen in der Bauchspeicheldrüse richtet (4).
Andererseits scheinen aber bestimmte Viren – zum
Beispiel vom Typ Coxsackie B4 – auch eine direkte
Zerstörung der Betazellen verursachen zu können,
ohne eine adaptive Autoimmunantwort in Gang zu
bringen (5).
Die epidemiologische Evidenz für Infektionen als
mögliche Auslöser von Typ-1-Diabetes ist allerdings
noch vergleichsweise heterogen. Fall-Kontroll-Studien legen nahe, dass Enteroviren zum Zeitpunkt der
Diabetesmanifestation eine Rolle spielen könnten
(6), die Belastbarkeit dieser Befunde ist jedoch unter
anderem wegen des fehleranfälligen Studiendesigns
fragwürdig.
Entsprechende Ergebnisse aus prospektiven Kohortenstudien sind nicht konsistent. Während finni-
14
sche Daten auf einen möglichen Zusammenhang
zwischen Enteroviren und der Entstehung von Inselautoimmunität hindeuten (7, 8), konnte dieser in Daten aus den USA nicht bestätigt werden (9).
In der ebenfalls prospektiven internationalen Studie The Environmental Determinants of Diabetes in
The Young (TEDDY) wurden Blutproben von autoimmunen Studienteilnehmern kurz vor und nach
Auftreten der Autoimmunität mittels Next-Generation-Sequencing analysiert und mit Blut von gesunden
Teilnehmern verglichen. Hier wurden jedoch keine
spezifischen Viren identifiziert, die mit der Entstehung von Inselautoimmunität in Verbindung gebracht werden könnten (10). Weitere Ergebnisse dieses weltweit größten intensiv charakterisierten Kollektivs von Typ-1-Diabetes-Risikokindern sind in
Kürze zu erwarten.
Aktuelle Veröffentlichungen unseres Instituts liefern neue Evidenz für einen möglichen Zusammenhang von sehr frühen Infektionen und dem Entstehen
von Inselautoimmunität. Zunächst werteten wir DaGRAFIK 1
Hazardrate (95-%-Konfidenzintervall)
Hazardraten (HR) für die Entstehung von mit Typ-1-Diabetes
assoziierter Inselautoimmunität pro zusätzlicher Infektion in 100
dokumentierten Tagen in der BABYDIÄT-Studie, adjustiert für
Geschlecht, Geburtsmodus, Jahreszeit bei Geburt und Antibiotikagabe (modifiziert nach Beyerlein et al., JAMA Pediatrics 2013).
Perspektiven der Diabetologie 2/2016 | Deutsches Ärzteblatt
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ten von 148 Teilnehmern der BABYDIÄT-Studie
aus, die Angehörige mit Typ-1-Diabetes und damit
ein familiär erhöhtes Risiko hatten (11). In täglichen
Infektionsprotokollen hatten deren Eltern in den ersten 3 Lebensjahren insgesamt 1 680 Infektionen in
90 750 Personentagen dokumentiert. Unterschieden
wurde nach Infektionen des respiratorischen Trakts,
des gastrointestinalen Trakts sowie sonstigen Infektionen. Im 3-monatlichen Abstand wurde das Blut
der Kleinkinder auf die Bildung von Autoantikörpern
untersucht.
Dabei konnte im 1. Lebensjahr ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Atemwegsinfektionen und einem höheren Risiko für das spätere
Auftreten von Autoantikörpern festgestellt werden,
der für Infektionen in den ersten 6 Lebensmonaten
besonders stark ausgeprägt war (Grafik 1). Zudem
wurden antivirale Interferon-Immunantwortgene im
Blut der Kinder gemessen. Hier zeigte sich, dass die
Immunantwort in Kindern unmittelbar vor der Entwicklung von Autoimmunität signifikant erhöht und
gleichzeitig positiv mit kurz zuvor durchgemachten
Atemwegsinfektionen assoziiert war.
Die Immunantwort zeigte sich jedoch nur vorübergehend, und es fanden sich keine Unterschiede zwischen gesunden Kindern und schon seit einem längeren Zeitraum mit Typ-1-Diabetes diagnostizierten
Patienten (12).
Um die Relevanz dieser Befunde in einem bevölkerungsbasierten Kollektiv zu überprüfen, analysierten wir in der Folge anonymisierte Routinedaten von
fast 300 000 Kindern, die zwischen 2005 und 2007 in
Bayern geboren worden waren. Das Datenmaterial
wurde von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern
(KVB) für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt
und beinhaltete quartalsweise Diagnosen von Infektionen mit zugehörigen ICD-10-Codes. Auf dieser
Grundlage wurden die Infektionen nach der Lokalisation der Symptome (Atemwege, Magen-DarmTrakt oder andere), ihren Ursachen (hauptsächlich
Viren oder Bakterien) und dem Lebensalter (vierteljährlich ab Geburt) klassifiziert.
Erneut zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang
zwischen wiederholten – insbesondere viral bedingten – Atemwegsinfektionen in den ersten 6 Lebensmonaten und dem späteren Auftreten von Typ-1-Diabetes, jedoch nicht für die als Vergleichs-Outcome
betrachtete juvenile idiopathische Arthritis (Grafik
2). Für Infektionen, die später oder an anderen Organen auftraten, wurde hingegen kein signifikant erhöhtes Diabetesrisiko beobachtet (13).
Wenngleich aufgrund dieser neueren Ergebnisse
ein Zusammenhang zwischen Atemwegsinfektionen
speziell in den ersten 6 Lebensmonaten und einer
späteren Entstehung von mit Typ-1-Diabetes assoziierter Inselautoimmunität als zunehmend wahrscheinlicher angesehen werden kann, sind viele
wichtige Aspekte noch unklar. Zunächst erlaubt die
vorliegende Evidenz keinen eindeutigen Schluss,
dass es sich tatsächlich um kausale Zusammenhänge
GRAFIK 2
Atemwegsinfektionen
Virale Atemwegsinfektionen
Kumulatives Risiko für die Entstehung von Typ-1-Diabetes (T1D) und juveniler idiopathischer Arthritis (JIA) in Abhängigkeit von der Anzahl an Quartalen mit dokumentierten
Atemwegsinfektionen in den ersten 6 Lebensmonaten in Daten der Kassenärztlichen
Vereinigung Bayern (modifiziert nach Beyerlein et al., JAMA 2016).
handelt. So könnten manche Kinder einen angeborenen oder sehr früh erworbenen Immundefekt aufweisen, der sie sowohl für Infektionen im frühen Kindesalter als auch für die Entwicklung von Inselautoimmunität empfindlich macht.
Falls Infektionen tatsächlich kausal wirken, bleibt
weiterhin unbekannt, welche Krankheitserreger genau verantwortlich sind. Verschiedene Studien deuten zwar auf Enteroviren als mögliche Verursacher
hin, doch ist die Studienlage bei Weitem noch zu heterogen, um hieraus potenzielle Kandidaten für eine
Präventionsmaßnahme, beispielsweise eine gezielte
Impfung von Risikokindern, abzuleiten. Insbesondere besteht kein Anlass, Eltern zu verunsichern, deren
Kinder im 1. Lebensjahr Virusinfektionen bekommen.
Fazit
● Virusinfektionen
●
●
stehen im Verdacht, eine überschießende Immunantwort auszulösen, die in der
Folge zur Zerstörung der insulinproduzierenden
Betazellen führt.
Aktuelle prospektive Studien weisen auf einen
Zusammenhang von wiederholten Atemwegsinfektionen in den ersten 6 Lebensmonaten und der
späteren Entstehung von Inselautoimmunität/Typ1-Diabetes hin.
Es ist jedoch noch unklar, ob diese Zusammenhänge tatsächlich kausal sind und welche spezifischen
Erreger gegebenfalls verantwortlich sind.
DOI: 10.3238/PersDia.2016.10.28.03
Priv.-Doz. Dr. biol. hum. Andreas Beyerlein
Institut für Diabetesforschung, Helmholtz Zentrum München
Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
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Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4316
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FORSCHUNG
Können Infektionen das
Diabetesrisiko erhöhen?
Aktuelle prospektive Studien weisen auf einen Zusammenhang
von wiederholten Atemwegsinfektionen in den ersten 6 Lebensmonaten
und der späteren Entstehung von Inselautoimmunität/Typ-1-Diabetes.
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