BLICK 01 - 2009 forschung sechs Jahrhunderten erfasst sind. Diese Tempel sind — im Gegensatz etwa zu denen Griechenlands und Italiens — über und über mit religiösen Inschriften und Darstellungen versehen. Sie bieten damit die umfangreichste Sammlung religiöser Texte der Menschheit zu einer einzelnen Religion. Ein zentraler Bereich dieser Texte sind die sogenannten Ritualszenen, die den eigentlichen Gegenstand der Datensammlung bilden. 52 Der ägyptische König überreicht der Göttin Rat-taui zwei Spiegel. Zu sehen ist die Szene in et-Tôd im Tempel des Month. Sie stammt aus der spätptolemäischen Zeit, um 50 vor Christi Geburt. (Foto Projekt Ritualszenen) Ein Navi für den Pharao Würzburger Ägyptologen stellen interaktive Datenbank ins Netz, die bei der Suche nach Tempelinschriften behilflich ist D er Pharao im alten Ägypten hatte es nicht leicht. Er musste sich mit hunderten von Göttern gut stellen, damit sie ihm eine erfolgreiche Herrschaft gewährten, was sich unter anderem in ertragreichen Ernten und in sicheren Grenzen zeigte. Natürlich war es ihm, der nach der Staatsraison der einzig legitime Priester war, der den Kontakt zu den Göttern halten konnte, unmöglich, überall im Lande die Kulte persönlich zu vollziehen. So musste er diese Arbeit an Priester in den örtlichen Tempeln delegieren, aber die Darstellungen der Opferhandlungen zeigen immer den Herrscher als den eigentlichen Kultvollzieher. Zu den Aufgaben, die zum Dienst an den Göttern gehörten, zählte auch die Errichtung der Götterwohnungen, der Tempel, und ihre angemessene Ausstattung. Dies machte die Götter zufrieden und sicherte gleichzeitig die Loyalität der örtlichen Priester, aber auch der Bevölkerung. Gerade in der Zeit der griechischen und römischen Fremdherrschaft wurde dieses Mittel der Finanzspritzen zur Bewahrung des Friedens in der Provinz häufig angewendet. Das Ergebnis lässt sich noch heute an weit über hundert zum Teil riesigen Tempeln sehen. Ein Wegweiser durch die gigantische Informationsfülle Kein Mensch kann die riesige Informationsfülle, die uns mit diesen Tempeln, ihren Inschriften und Abbildungen überliefert sind, im Kopf haben. Allein die Übersetzung würde mehrere 10.000 Seiten füllen, dazu kämen Abbildungen und Kommentare. Selbst erfahrenste Wissenschaftler brauchen viele Monate, um sich durch die Menge der hieroglyphischen Texte hindurchzuarbeiten. Ein bisschen einfacher ist es nun aller- dings geworden, denn die Würzburger Ägyptologen können jetzt einen Wegweiser durch die Fülle an Material und Informationen anbieten. Mehr noch, sie haben ein Navigationsgerät entwickelt, das es ermöglicht, sich mit Hilfe diverser „Fahrpläne“ ans gewünschte Ziel lotsen zu lassen – zumindest für die Zeit der griechisch-römischen Herrschaft (ca. 332 vor Chr. bis 313 nach Chr.) ist dies möglich. Da diese Epoche der ägyptischen Geschichte allerdings ca. 600 Jahre umfasst, in denen gewaltige Tempelanlagen geschaffen wurden – unter anderem der Tempel von Edfu, der größte und am besten erhaltene Tempel der Antike überhaupt –, war eine immense Menge Vorarbeit nötig, bis es soweit war: Vor rund 15 Jahren machten sich die Forscher ans Werk. Zunächst erstellten sie eine Datenbank, in der sämtliche Tempel Ägyptens aus den genannten Ein dichtes Geflecht aus Darstellung, Raum und Funktion Eine Ritualszene stellt dar, wie der ägyptische Herrscher der Gottheit des Tempels ein Opfer darbringt, um so dessen Wohlwollen für sich und sein Land zu erringen. Die Weltordnung, ägyptisch „Maat“, wird durch dieses Wohlwollen der Götter aufrecht erhalten, so dass die chaotischen Mächte nicht Oberhand gewinnen können. Kompliziert zu verstehen wird eine Ritualszene für die Forscher durch eine Reihe von Faktoren: Es handelt sich keineswegs nur um einen Gott, sondern eine ganze Reihe von Gottheiten, denen man Opfer bringt, und auch auf Seiten des Herrschers agieren zahlreiche Personen mit. Hinzu kommt, dass die Texte nicht etwa beliebig angebracht wurden: Manche Darstellungen sind an die Funktion des jeweiligen Raums gebunden, in dem sie sich finden, andere gehören an ganz bestimmte Stellen einer Wand und haben dann eine Entsprechung auf der anderen Seite der Symmetrieachse eines Raumes – oder des Tempels. Die Regeln, nach denen die Darstellungen angebracht wurden, lassen sich nur erschließen, wenn man annähernd die Gesamtheit der Darstellungen kennt und die einzelnen Abbildungen dann mit einander vergleicht. Was allerdings ziemlich schwierig ist, denn man kann ja nicht einfach mal schnell um einen Tempel von über 100 Meter Länge herumlaufen, um nachzusehen, was sich auf der anderen Seite befindet. Da ist es schon einfacher, solche Bezüge auf einem Bildschirm in verkleinertem Maßstab zu überprüfen. Da die Ritualszenen etwa 90 Prozent des Bild- und Textumfanges eines Tempels ausmachen, wundert es nicht, dass ihre vollständige Erschließung erst jetzt, im Zeitalter der elektronischen Verarbeitung von Daten möglich ist. Im Detail gingen die Würzburger Forscher wie folgt vor: Zunächst wurden alle Ritualszenen, mehr als 10.000 an der Zahl, einzeln erfasst und nach den Namen (inklusive Titel und Beinamen) der dargestellten Akteure (insgesamt über 30.000) aufgeschlüsselt. Ebenfalls erfasst wurde, welche Geschenke den Göttern dargeboten werden, und was diese ihrerseits dafür als Gegengabe reichen. Dann wurden die Szenen zeitlich und räumlich eingeordnet: Sie wurden nach den Regierungszeiten der Herrscher Ägyptens datiert, und die Position einer jeden einzelnen Szene wurde genau festgehalten: auf welchen architektonischen Elementen (Türe, Säule, Wand usw.) befindet sie sich, welche anderen Szenen befinden sich links und rechts davon, welche darüber, darunter und gegenüber. Anschließend waren die ikonographischen Einzelheiten an der Reihe: Welche Krone trägt der Pharao, wie sehen die Götter aus, mit welcher Hand wird die Opfergabe überreicht und so weiter. Literaturangaben und Ort der Publikation wurden natürlich ebenfalls aufgezeichnet – sofern sie vorlagen. Denn bei zahlreichen Darstellungen musste die Erstpublikation zunächst noch von den Wissenschaftlern angefertigt werden. Die so gesammelten Angaben würden bei einer Darstellung mindestens zwei DIN-A4-Seiten füllen, eine gedruckte Version der gesamten Datenbank würde somit rund 20.000 Seiten umfassen (Abbildungen noch gar nicht inbegriffen). Auf ein solches Druckwerk hat sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft als fördernde Institution natürlich nicht einlassen können, so dass nur eine Publikation auf elektronischem Weg realistisch war. Allerdings wird diese Datenbank von einer wissenschaftlichen Reihe (SRaT – Studien zu den Ritualszenen altägyptischer Tempel) begleitet. Kaum vorstellbar, dass jemand bei einer solchen Informationsfülle den Überblick behält. Doch hier kommt nun das von den Wissenschaftlern entwickelte Navi zum Einsatz: Alle oben aufgeführten Details lassen sich über ein Datenbanksystem kombiniert suchen. Das Ergebnis kann dann entweder als reine Textinformation weiterverarbeitet oder in ein Navigationssystem übertragen werden. Mit dessen Hilfe wird man zunächst, begin- nend auf einer Ägyptenkarte – sozusagen im Zoom-Verfahren – über Detailkarten, Tempelgrundrisse, schließlich Raumgrundrisse und Wandaufrisse bis zu der Stelle geführt, an der das gesuchte Ergebnis nachgewiesen ist. Hier findet man dann auch die Abbildung und alle Information, die zu der betreffenden Ritualszene zusammengetragen wurden. Präsentation der Belegstellen in einer Dia-Show Dies ist allerdings nur eine der vielfältigen Möglichkeiten, die das Navigationssystem bietet: Es kann beispielsweise auch ohne vorherige Datenbankabfrage benutzt werden, wenn sich jemand „nur“ über Tempel, Räume usw. informieren will. Alternativ kann man sich auch eine Bilderfolge zeigen lassen. Wer etwa den Namen eines bestimmten Gottes sucht und eine Abbildung, auf der dieser mit Widderkopf dargestellt ist, der kann sich alle Belegstellen nacheinander zeigen lassen. Und wenn er will, muss er nicht einmal selbst „weiter blättern“, dann tut das Gerät auch das im einstellbaren Sekundentakt für ihn. Der altägyptische Priester, der die Beschriftung und Bebilderung eines Tempels zu planen hatte, musste sich dabei auf seinen Kopf verlassen. Häufig hat er Texte und Bilder aus anderen Tempeln herangezogen, kopiert und abgewandelt wiedergegeben. Der Informationsaustausch war dabei gewollt – etwa so wie bei kooperierenden Universitäten. Durch die jetzt mögliche Analyse eines großen Datenbestandes lassen sich solche Wege der Bild- und Texttradierung deutlich machen. Die hochkomplizierte Welt der ägyptischen Religion wird auf diese Weise wieder etwas transparenter, Gedankengänge, die zum letzten Mal vor über 2000 Jahren relevant waren, können wieder freigelegt werden, Intelligenzen können wiedergefunden werden, die nicht auf fernen Sternen beheimatet sind, sondern aus der Geschichte der Menschheit zu uns sprechen. Dr. Karin Sekora Die Datenbank der Ägyptologen der Universität Würzburg ist im Internet zu finden unter: www.serat.aegyptologie.uni-wuerzburg.de/ forschung BLICK 01 - 2009 53