Motive und Ziele imperialistischer Politik 97 1.2 Imperialismus-Theorien Auf dem Höhepunkt des Kolonialismus entstanden aus der kritischen Diskussion über Ursachen und Motive unterschiedliche Imperialismus-Theorien. Die Wirklichkeit dürfte sich jedoch am ehesten im Zusammenspiel aller Ansätze spiegeln, man spricht dann von einem multikausalen Erklärungs-Modell: • Die schon zeitgenössischen ökonomischen Imperialismus-Theorien (Hobson, Hilferding, Lenin, Schumpeter) erklärten die Expansion mit wirtschaftlichen Motiven wie der Suche nach Rohstoffen und Absatzmärkten für die Industrie und profitablen Investitionsmöglichkeiten für das Großkapital. • Sozial-ökonomische Theorien mit dem deutschen Hauptvertreter Wehler und seinem Entwurf des Sozialimperialismus sehen die Absicht, innere Spannungen nach außen abzulenken, als Hauptmotiv des Imperialismus und nennen die deutsche Weltpolitik als Beispiel: Sie sei eine Möglichkeit gewesen, das deutsche Bürgertum für die Monarchie und gegen den wachsenden Einfluss der Sozialdemokratie und ihren Wunsch nach einer Demokratisierung des Reichs zu mobilisieren. • Die Theorie des „peripheren Imperialismus“ spricht den Interessen der unmittelbar „vor Ort“ Handelnden (Kaufleute, Siedler, Missionare, Militärs, Beamte) eine entscheidende Rolle bei der Erweiterung und Durchdringung der Kolonien zu; diese Gruppen hätten die jeweiligen Regierungen angetrieben, um eigene wirtschaftliche oder Machtziele durchzusetzen. • Imperialistisches Handeln wurde aber nicht alleine durch ökonomische oder politische Strukturen und Prozesse erklärt. Hinzu kamen auch pseudowissenschaftliche Theorien, die der Rechtfertigung imperialistischer Politik dienten. Zu diesen Denkweisen gehören der Sozialdarwinismus (Recht des Stärkeren als Ersatz für das traditionelle Völkerrecht), Rassismus und männlicher Chauvinismus der Kolonisten. • Eine imperialistische Denkform war auch das zivilisatorische Überlegenheitsgefühl gegenüber den „wilden“ Kulturen Afrikas oder Asiens, deren jahrhundertealte kulturelle Traditionen (z. B. die 3 000-jährige Geschichte Chinas) dabei entweder übersehen oder gering geschätzt wurden. Eine wichtige Rolle spielte auch das religiöse und kulturelle Sendungsbewusstsein, mit dem ein Überlegenheitsgefühl entwickelt und die Europäisierung der Welt begründet wurde. Aufgabe 23 Erläutern Sie den Begriff und die Motive des Imperialismus. 98 Imperialismus Die Welt in der Epoche des Imperialismus