Imperialismustheorie - Lise-Meitner

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Imperialismustheorie
Eine Imperialismustheorie ist bestrebt, die Bedingungen und den Prozess des Entstehens
sowie die Funktionsmechanismen von Imperialismus wissenschaftlich zu erklären. Eine jede
solche Theorie entfaltet einen eigenen Begriff des Imperialismus und macht Aussagen
darüber, welche Tendenzen aus einem entsprechenden sozialen System zu erwarten sind.
Imperialismustheorien wurden im 20. Jahrhundert entwickelt. Damit versuchten
Wissenschaftler wie auch revolutionäre Politiker, die Entstehung und den Verlauf kolonialer
oder anderer wirtschaftlicher und politischer Expansionen, vor allem europäischer Staaten,
später auch der USA oder seltener der Sowjetunion zu erklären. Im Selbstverständnis
sozialistischer Politikstrategie sollte die jeweilige Theorie zur Grundlage revolutionärer Praxis
dienen.
Anfänge der Imperialismustheorien
Die wohl erste Imperialismustheorie verfasste 1902 Hobson, der die Suche nach neuen
Kapitalanlagemöglichkeiten als Ursache des Imperialismus ansah. Diese Theorie analysiert
Imperialismus aus ökonomischer Sicht. Anlass für seine Imperialismustheorie waren wohl die
Burenkriege (1902); sie führten beim linksliberalen Demokraten Hobson zu einer
moralischen Verurteilung des Imperialismus.
In seiner volkswirtschaftlichen Analyse des Imperialismus knüpft er an Mill an, wonach die
Produktionsgesetze unveränderlich seien, die Distribution jedoch im Bereich des sozialen
Willens liege. Damit ließe sich dann auch das Problem der Unterkonsumtion beheben, indem
man den Arbeitern einfach mehr Geld gibt, damit sie mehr konsumieren können. Durch die
ideale Verteilung entfällt dann auch der Expansionszwang für den Kapitalismus. An seine
Vorarbeit knüpfen Rudolf Hilferding 1910 und W. I. Lenin 1916/1917 an, die den
Imperialismus jedoch an Marxens historischen Materialismus anzuschließen strebten.
Eine andere Theorie ist die so genannte Kontinuitätstheorie. Sie sieht den Imperialismus als
eine geradlinige Fortsetzung der Großmachtpolitik europäischer Staaten in den
vorangegangenen Jahrhunderten.
Die von Hans-Ulrich Wehler 1969 in "Bismarck und der Imperialismus" aufgestellte Theorie
ist eine Sozial-ökonomische Imperialismustheorie. Nach Wehler soll der Imperialismus des
Deutschen Reiches ab 1884 von den inneren Spannungen, wie etwa der "Sozialen Frage",
ablenken, denn zu dieser Zeit herrschte im Deutschen Reich eine wirtschaftliche Depression
und eine "Torschlusspanik". Die Kolonialpolitik sollte als nationaler Integrationsfaktor
dienen. Ebenso sollten die Wachstumsschwankungen der Industrie bekämpft werden. Die
Kolonialpolitik Bismarcks stand unter dem "Primat der Innenpolitik", aber er wollte auch
seine eigene Position mit Blick auf die Gefahr einer englisch-liberalen Regierung unter
Kronprinz Friedrich III nach dem Tod Wilhelms II. sichern. Die Kolonien sollten einen Konflikt
zwischen dem Reich und dem britischen Empire provozieren und eine anti-englische
Stimmung im deutschen Volk hervorrufen.
Historiker wie Walter Sulzbach ("Imperialismus und Nationalbewusstsein, 1959) und
Wolfgang J. Mommsen sehen den übersteigerten Nationalismus als Ursache für den
Imperialismus. In dieser 'sozialpsychologischen Sichtweise können auch der "Irrationalismus
und das Prestigebedürfniss" der an Macht verlierenden Herrschaftsschicht als Ursache für
den Imperialismus herangezogen werden (J. Schumpeter: "Zur Soziologie der
Imperialismen", 1919). Außerdem sind das kulturelle Sendungsbedürfnis einiger Nationen
und der aus dem Sozialdarwinismus resultierende Rassismus Gründe für den Imperialismus.
Wichtige Imperialismustheorien
Die politisch-soziologische Imperialismusdeutung nach Max Weber
Nach Max Weber hatte der Imperialismus drei Ursachen: 1. die Konkurrenz zwischen den
Großmächten 2. Profite aus den Kolonien 3. Interessen des Mittelstandes
Hätte sich ein Staat nicht am Imperialismus beteiligt, so Weber, wäre er von anderen
Industriestaaten abhängig geworden.
Die Imperialismustheorie Joseph Schumpeters (1919)
Der Ökonom und Sozialwissenschafter Joseph A. Schumpeter (1883-1950) entwickelte in
seinem Werk „Zur Soziologie der Imperialismen“ (1919) eine Imperialismustheorie mit der
Hauptthese, dass der Imperialismus „die objektlose Disposition eines Staates zu
gewaltsamer Expansion ohne angebbare Grenze“ sei.
Dieser These setzt Schumpeter folgende Prämissen voraus: 1) Krieg entsteht in der Mehrzahl
aller Fälle nicht aus rationalen Gründen, sondern aus einer triebhaften Neigung heraus. 2)
Dieser Wille zum Krieg ist durch die, in der menschlichen Psyche verankerte, jedoch nicht
mehr aktuelle, Lebensnotwendigkeit von zu Krieg führender Konkurrenz begründet. 3) Der
Kriegswille wird durch zwei Interessengruppen weiter angetrieben: Die herrschende Schicht,
die auf innenpolitischer Ebene durch den Krieg Vorteile erzielt und die Summe aller
Individuen, die durch kriegerische Politik einen sozialen oder wirtschaftlichen Gewinn
erhofft.
Imperialismus ist ein Atavismus, der als Übernahme verschiedener Merkmale und
Verhaltensweisen aus einer vorherigen Epoche und damit aus einem vorherigen
Entwicklungsstadium zu verstehen ist. Konkret ist die Konservierung absolutistischer
Denkmuster durch die vorkapitalistischen Führungsschichten wie Adel und Militär gemeint.
Aus einer Vielzahl besagter Muster -sozialer oder ökonomischer Natur- setzt sich nach
Schumpeter die soziale bzw. ökonomische Gegenwart zusammen: „Er (Imperialismus) ist ein
Atavismus der sozialen Struktur und ein Atavismus individualpsychologischer
Gefühlsgewohnheit.“ Der Imperialismus entsteht aus diesen beiden Atavismusformen.
Allerdings führt der soziale Strukturwandel, der im historischen Entwicklungsprozess der
Gesellschaft begründet ist, zu seinem Untergang. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen
(siehe Lenin, R. Luxemburg) betrachtet Schumpeter den Kapitalismus als antiimperialistisch,
da in einer kapitalistischen Gesellschaft die dem Menschen eigenen kriegerischen Energien
in die Anhäufung von Kapital investiert werden, nicht etwa in die gewaltsame und ziellose
Expansion. Dennoch kann man Kapitalismus und Imperialismus nicht als zwei voneinander
unabhängige Phänomene betrachten. Das Interesse der Kartelle und Trusts das hohe
Preisniveau im Landesinneren zu halten führt zum Verkauf der im Kapitalismus -durch
grundsätzliche Ausnutzung aller Produktionsmittel- überproduzierten Ware zu
Dumpingpreisen in den neu entstandenen Absatzmärkten der Kolonien. Trotz dieser
ökonomischen Faktoren ist der Imperialismus nicht aus Interesse an besagtem materiellen
Gewinn entstanden, er ist nur ein Nebeneffekt der an sich im Atavismus der Menschen
begründeten, nicht zweckgebundenen Expansion.
Nach: Josef A. Schumpeter: Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953 S.74 ff
Die marxistische Imperialismustheorie Lenins 1916
Lenins Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus will den Marxschen
Ansatz weiterführen und eine Strategie zur Umwandlung des Kapitalismus in den Sozialismus
anleiten. Die gesamte Politik werde durch das Finanz- und Monopolkapital beherrscht, d. h.,
dass die Produktion und das Kapital konzentriert sind und mit ihrer Wirtschaftskraft die
Politik lenken (Stamokap= staatsmonopolistischer Kapitalismus). Außerdem sei der
Imperialismus für die Großkonzerne lebensnotwendig, um das Sinken der Profitrate zu
verhindern. Er könne nur durch die Abschaffung des Kapitalismus beseitigt werden. Lenin
sah den Imperialismus als das fünfte und letzte Stadium des Kapitalismus an.
Lenins Kurzdefinition des Imperialismus lautet, dass der Imperialismus das monopolistische
Stadium des Kapitalismus ist. Eine solche Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der
einen Seite ist das Finanzkapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer
Großbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industriellenverbände verschmolzen ist,
und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik,
die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt,
zu einer Kolonialpolitik der monopolistischen Beherrschung des gesamten Territoriums der
restlos aufgeteilten Erde. Unmittelbaren Anlass für die imperialistischen Kriege bilden dabei,
dass ebenfalls erstmals von Lenin formulierte Gesetz der Ungleichmäßigkeit der
ökonomischen und politischen Entwicklung der kapitalistischen Länder, welches die
Aufteilung der Erde periodisch in Frage stellt.
In seiner ausführlicheren Begriffsbestimmung, die Lenin jedoch immer noch nicht für die
ausgeführte Theorie hält, führt er fünf Grundzüge an: "1. Konzentration der Produktion und
des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die
im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit
dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis des
'Finanzkapitals'; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt
besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische
Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der
Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet. Der Imperialismus ist der
Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des
Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen,
die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung
des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen
ist."[1]
Rosa Luxemburg
Luxemburgs 1913 in ihrem Hauptwerk "Die Akkumulation des Kapitals" veröffentlichte
Imperialismustheorie betont die Gefahr für den Weltfrieden durch den Konkurrenzkampf
der kapitalistisch verfassten Nationen untereinander. Nur die Ausdehnung der Ökonomie in
noch nicht kapitalistische Gebiete kann demnach den Niedergang des Kapitalismus
verzögern. Langfristig setzten sich weltweit kapitalistische Verhältnisse durch, die entweder
durch die sozialistische Revolution beendet werden oder krisengeschüttelt durch einen
ökonomischen und politischen Zusammenbruch, letztendlich immer im Krieg enden.
Wolfgang J. Mommsen
Wolfgang J. Mommsen gab hingegen 1969 einen pluralistischen und nicht-marxistischen
Erklärungsansatz. Er betonte die ideologische Komponente des Imperialismus ohne die
ökonomischen Antriebskräfte auszublenden. Mommsen sah den europäischen
Imperialismus als die äußerste Form nationalistischen Denkens an. Er stellte klar, dass die
Idee der "Nation" ursprünglich mit der Demokratie verbunden war. Ab 1885 sei dann ein
pathetischer Imperialismus hervorgetreten, so dass es zu einem antiliberalen Verständnis
von "Nation" gekommen sei. Als Gründe für den Imperialismus nannte er den
"Pseudohumanismus" und das religiöse Sendungsbewusstsein (z.B. Cecil Rhodes) der
Europäer und das Bestreben der Großmächte, Weltmachtstatus zu erlangen.
Sozialimperialismus nach Hans-Ulrich Wehler 1969
Hans-Ulrich Wehler formulierte 1969 ebenfalls eine nicht-marxistische Imperialismustheorie:
Seiner Meinung nach sind die außenpolitischen Absichten für den Imperialismus nur insofern
ausschlaggebend gewesen, als sie die innenpolitischen Herrschaftsverhältnisse einer
Minderheit über die Mehrheit aufrechterhalten sollten. Ziel war, die daraus erwachsenden
innenpolitischen Probleme – etwa Emanzipationsforderungen des Proletariats – durch
außenpolitische Ambitionen zu überspielen. Äußere Erfolge sollten die Arbeiterschaft an den
Staat binden, indem der Imperialismus die Soziale Frage lösen würde, und zwar durch die
Schaffung auswärtiger Märkte, die ein gleichmäßiges Wirtschaftswachstum gewährleisten
und die inneren sozialen Spannungen nach außen ablenken würden. Damit stellte Wehler
die Theorie des Sozialimperialismus auf.
„In der Expansion nach außen glaubte [der Sozialimperialismus] ein Heilmittel zu finden, das
den Markt erweiterte, die Wirtschaft sanierte, ihr weiteres Wachstum ermöglichte, die
Gesellschaftsverfassung damit ihrer Zerreißprobe entzog und die inneren Machtverhältnisse
aufs neue stabilisierte.“ [2]
Die ökonomische Imperialismustheorie John A. Hobsons 1902
Hobson vertrat die Ansicht, die theoretische Durchdringung dieser Epoche mangelhafter
Verteilung des Kapitals in der Gesellschaft hätte geführt zu:
1. Unterkonsumtion der breiten Masse (Produktion übersteigt die Konsumkraft wegen
mangelnder Kaufkraft)
2. Kapitalüberschuss bei einer kleinen Minderheit
aus 2.) folgt der Kapitalexport
 Investoren fordern zum Schutz ihrer Anlagen die Machtmittel des Staates
 Imperialistische Vergrößerung des Staatsgebietes
 Wettlauf rivalisierender Imperien
 Gefährdung des Friedens
Lösungsmöglichkeiten: Sozialreform - Lohnerhöhung der Arbeiter - Abschöpfung des
Kapitalüberschusses der Reichen
"Überall erscheinen übergroße Produktionskräfte, übergroße Kapitalien, die nach Investition
verlangen. Sämtliche Geschäftsleute geben zu, daß der Zuwachs an Produktionsmitteln in
ihrem Lande die Zunahme der Konsumption [des Verbrauchs] übertrifft, daß mehr Güter
hervorgebracht als mit Gewinn abgesetzt werden können, daß mehr Kapital vorhanden ist,
als lohnend angelegt werden kann. Diese ökonomische Sachlage bildet die Hauptwurzel des
Imperialismus ... . Imperialismus ist das Bestreben der großen Industriekapitäne [der
Großindustriellen], den Kanal für das Abfließen ihres überschüssigen Reichtums dadurch zu
verbreitern, daß sie für Waren und Kapitalien, die sie zu Hause nicht absetzen oder anlegen
können, Märkte und Anlagemöglichkeiten im Ausland suchen." [3]
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