Der Mensch ist im Fluss – AN-ATMAN

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Der Mensch ist im Fluss –
AN-ATMAN:
In der hinduistischen Vorstellung besitzt der
Mensch ein Element, unwandelbar, mithin
göttlich, d.h. unsterblich – in Sanskrit ATMAN
(= Selbst). Gott/das Göttliche/Brahman sei in
allem, was existiert, in der Welt und im Menschen. Das Atman, der Odem, das Selbst, die
Seele, der Geist des Menschen sei mithin Teil des
Göttlichen/Brahman – so die indischen Religionen. Atman/das (göttliche) Selbst wandere von
Wiedergeburt zu Wiedergeburt (d.h. es handelt
sich in der hinduistischen Vorstellung eigentlich
um Wiederverkörperung).
Anders im Christentum: Es gibt eine Seele/einen
Wesenskern des Menschen, eine Art immaterielles Doppel des Körpers, das den Menschen
eigentlich ausmacht und das im Tod erhalten
bleibt und weiterlebt. Dieser Glaube ist bereits in
den ägyptischen Totenbüchern nachweisbar und
dann über Griechenland (v. a. Plato) nach Europa
gekommen. Die „unsterbliche Seele“, von der in
den Katechismen immer die Rede war, gehört –
obwohl davon nichts in der Bibel steht und ihre
Existenz auch kein Dogma ist – bis heute zum
populären Grundbestandteil abendländischen
Selbstverständnisses.
Auf den ersten Blick formuliert der BuddhaDharma das genaue Gegenteil dazu: Denn der
Buddhismus vertritt in allen seinen Schulen eine
Nicht-Ich-Lehre, das heißt, dass es keine feste
Substanz Ich gibt, sondern nur ein Agglomerat
von Körperlichem, von Empfi ndungen, Wahrnehmungen, Gestaltungsimpulsen und Denkvorgängen, die einen Menschen ausmachen, den
„Gruppen des Ergreifens“ (Sanskrit skandha).
Die Idee eines Selbst (atman) sei also trügerische
Illusion.
Man sollte aber, sagt der Buddha später, nicht
glauben, etwas müsse wirklich existieren, nur
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Buddhismus
weil man einen Namen dafür kennt. Den Namen
„Pegasus“ gibt es, das geflügelte Pferd aber gibt
es nur in der Phantasie. Zwei Ebenen sind zu
unterscheiden, sagt der Buddha: die des Alltags
und die der (religiösen) Erkenntnis. Ihnen entsprechen zwei Sprachen: Die Personalpronomen
„ich“, „mein“, „mir“ gehören der konventionellen
Sprache an und ermöglichen die Verständigung von Menschen untereinander. „Nicht-Ich“,
„Nicht-Mein“ usw. bezeichnen dagegen die Wirklichkeit, wie BuddhistInnen sie sehen.
Die Konsequenz aus An-Atman hört sich dann
klassisch formuliert so an: Das Leiden gibt es,
doch kein Leidender ist da. Die Taten gibt es,
doch kein Täter fi ndet sich. Erlösung gibt es,
doch nicht das erlöste Wesen. Den Pfad gibt es,
doch keinen Wanderer sieht man da. (VisuddhiMagga X VI)
Quelle: J. Mann, Der Weg des Buddha, Vortragsmanuskript Kloster Wernberg 2005)
Der Ursprung der „Nicht-Ich-Lehre“ dürfte
in den Erfahrungen der Meditationspraxis
liegen – in der Achtsamkeit, die Augenblick für
Augenblick den Prozessen folgt, die das Leben
ausmachen, und die sich unentwegt ändern. Die
„Nicht-Ich-Lehre“ ist, auf den Weg der Übung
bezogen, die Aufforderung, das Herz an nichts
zu hängen, auch an sich selbst und die eigene
Geschichte nicht, wenn man zu der Erfahrung
der Befreiung kommen möchte. In diesem Punkt
unterscheidet sich der Buddhismus nicht von
anderen spirituellen Wegen. Selbstlosigkeit ist
die Grundbedingung mystischer Erfahrung,
sagen z.B. die abrahamitischen Traditionen.
Angesichts der Komplexität und Veränderlichkeit von Lebensprozessen scheinen Worte wie
„Ich“, „Selbst“, „körperhaft“ oder „geistig“ nur
konventionelle Bezeichnungen zu sein, die auch
der Buddha zur Verständigung gebraucht – aber
sie nicht ernst, also für real existierend, nimmt.
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Daran knüpft das berühmte Wagengleichnis
an, das sich bereits sehr früh fi ndet und zu einer
Ontologie des Nicht-Ich führt, wie man etwa an
den „Fragen des Königs Milinda“, entstanden um
das 1. Jhdt. u. Z., sehen kann. Berichtet wird:
Als König Milinda (oder Menander), ein Grieche, der über Gebiete des heutigen Afghanistan, Pakistan und Nordindien herrschte, den
buddhistischen Mönch Nagasena nach seinem
Namen fragte, antwortete dieser, dass er zwar
Nagasena genannt werde, aber dies nur eine
Redeweise sei, „denn eine Persönlichkeit ist
hier nicht wahrzunehmen“. Es verhalte sich
mit ihm wie mit einem Wagen: Weder seien die
Achse noch die Deichsel noch die Räder etc. der
Wagen, und daher könne man hier nicht von
der Existenz eines Wagens sprechen, sondern
nur davon, dass alle diese Bestandteile zusammen etwas ergeben, das man Wagen nennt.
Ähnlich gelte das für einen Menschen: Haupthaar, Körperhaar, Nägel, Zähne, Haut, Fleisch,
Sehnen, Knochen usw. und alles, was sonst zum
Körperlichen, zur Empfi ndung, zur Wahrnehmung, zu den Impulsen und zum Bewusstsein
gehört, ergeben zusammen das, was man einen
Menschen nennt. Darüber hinaus, so Nagasena,
lasse sich nichts entdecken, kein unabhängiges, immaterielles Wesen, das einen Menschen
ausmacht. (U. Baatz, Buddhismus, Diederichs Kom-
Der Mensch, so heißt es, „ist“ nicht, er fl ießt, da
sich seine Bestandteile unaufhörlich verändern
und sich in jedem Augenblick anders zusammensetzen.
Die Person ist zusammengefügt aus den fünf
Gruppierungen/Aggregaten (Daseinsfaktoren): Körperlichkeit, Wahrnehmung/Empfi ndung, Gefühl, Geistformationen (Willensakte),
Bewusstsein.
Der Körper bildet die Basis. Durch die Wahrnehmung verbinden wir uns mit der Außenwelt.
Auf sie reagieren wir mit Gefühlen. Weiters wird
unser Verhalten durch Formationen/Gestaltungen (samskara) gesteuert. Das fünfte Aggregat ist
schließlich das Bewusstsein.
Mit dem Tod zerfällt der Mensch in diese fünf
Gruppierungen/Aggregate. Alle fünf vergehen.
Wiedergeburt ist ein neues sich Konstituieren
dieser Daseinsformen (nicht desselben Wesens).
Wenn ein Leben endet, bleibt von allen Gruppen
das Bewusstsein am längsten intakt. Nachdem
der Leib taub und kalt geworden ist und die
Sinne stumpf, wenn man nichts mehr fühlt, geht
das sogenannte Sterbebewusstsein auf einem
kürzeren oder längeren Weg hinüber in eine neue
Existenz.
pakt, 2002)
Wie funktioniert ein „ichloser“ Mensch? Die
fünf Daseinsfaktoren (skandhas)
Bei den brahmanischen und frühhinduistischen
Traditionen sind ewige Seelen das im Kreislauf
der Existenzen wandernde Subjekt. Die Auffassung der Buddhisten vom Subjekt des Kreislaufs
unterscheidet sich davon radikal: Sie anerkennen
den Kreislauf als solchen, aber kein in ihm wanderndes Subjekt. Die irdische Persönlichkeit ist
nichts als ein Konglomerat von fünf selbstständigen, in letzter Analyse nur für einen Augenblick
bestehenden psychischen und physischen Konstituenten/Gruppen/Aggregaten.
Die An-Atman-Lehre ist uns noch die Erklärung
schuldig, wie denn ein ichloser Mensch funktionieren soll. Wie das Wort Fahrrad, so benennt
auch das Wort Mensch ein Ensemble aus verschiedenen Bestandteilen/Gruppen/Aggregaten
(skandhas).
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Buddhismus
An-Atman, wie vom Buddha am Menschen
demonstriert, gilt für alles und jedes auf der
Erde, im Himmel und in der Hölle, für Menschen,
Tiere, Geister, Götter. Alles setzt sich aus Teilen
zusammen, aus materiellen und geistigen. Aber
alle wandeln sich ohne Unterlass. Ein unwandelbares Selbst ist in oder an nichts und niemandem
zu entdecken. Als ein Wesen dieser Welt ist der
Mensch weltlich, d.h. „leer“, ohne Atman, ohne
unwandelbaren Kern, und er ist bedingt. Für
BuddhistInnen folgt daraus, dass es nicht lohnt,
in die unbeständige Welt über das Lebensnotwendige hinaus zu investieren. 
Quelle: Josef Mann, Der Weg des Buddha, Vortragsmanuskript Kloster Wernberg 2005; U. Baatz,
Buddhismus, Diederichs Kompakt, 2002, S. 52 f.
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