Die Phänomenologie des Androiden - Ruhr

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Die Phänomenologie des Androiden
- Reflexionen des Körpers auf der Bühne
im 20. Jahrhundert
DISSERTATION
zur Erlangung
des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie
an der
Fakultät der Philologie
der Ruhr-Universität Bochum
vorgelegt
von
Min-Chor Wi
2
Gedruckt mit der Genehmigung der Fakultät für Philologie der
Ruhr-Universität Bochum
Referent:
Koreferent:
Prof. Dr. Ulrike Haß
Prof. Dr. Guido Hiß
Tag der mündlichen Prüfung (Disputation): 26. Mai 2006
3
Danksagungen
Für die Unterstützung, die ich beim Schreiben dieser Arbeit erhalten habe,
möchte ich hier stellvertretend einigen Menschen danken:
Ui-Hwan Wi, Gyi-Nam Paik, Joo-Ho Wi, Kyung-Nam Cho, Hyun-Joo Wi,
Nyambayar und Deegi Tsedenbal, Hee-Ra und Erdogan Üzer, In-Sun
Hwang, Sun-Ah Yim, Ellen Schulz, Ulrike Haß und Guido Hiß und meinen
Freundinnen und Freunden und Kolleginnen und Kollegen.
4
Inhaltsverzeichnis
Das Phänomen des Androiden: Einleitung
7
Die Auslegung des Androidenkörpers
- Kulturhistorische Diskurse über dem artifiziellen Körper oder Varianten
des künstlichen Menschen
1. Beginn des heidnischen Körpers: am Beispiel Kruzifixe
Körper ohne Leib/ Körper als Puppe
17
Exkurs:
Die Genealogie der Augen oder eine kurze Geschichte
des Sehens
23
2. Körper als Sutur: Anatomische Wachsfiguren
Körper in perfectio natura/ Körper zwischen Natur und Artefakt
27
3. En suite des Körpers : Automaten im 18. Jahrhundert
Die Mechanisierung des Leibes/ Die Kultivierung des Körpers
34
4. Biegsamer Körper: Marionetten und ‚Marionettentheater’ von
Heinrich v. Kleist
Künstlerischer Körper/ Graziöser Körper
40
5. Körper als Kleiderpuppe: Schaufensterpuppe
Körper der Authentizität/ Körper als Kleiderständer/ Körper der Moderne
46
Exkurs:
Androgynität des Schauspielkörpers
Dynamik des Phänomens: Fazit
53
58
5
Die Faszination des Androiden auf der Bühne
- Praxen der Puppenästhetik auf der Theaterbühne
Figürliche Dramatisierung: Fragestellung I
61
1. Androiden-Abhandlung
- Die Androiden an die Front der Historischen Theater-Avantgarde
1. 1. Artifizielles Überwesen in Trance
- Edward Gordon Craigs Übermarionetten-Theater
Die Ausgrenzung des Körpers/ Der Körper der Ferne/
Der erhabene Körper
66
1. 2. Aufstand der Dinge
- Die Bühnenästhetik der Futuristen
Der Körper in der ‚neuen Sensibilität’/ Serieller Körper/
‚Der Sieg über die Sonne’: die Oper
2. Soziale Automaten
- Wsewolod E. Meyerholds ‚Der großmütige Hahnrei’
77
88
2. 1. Der Stand der Dinge
Ausgang: Textauswahl/ Entfaltung: Stilisierung/
Orientierung: Sozialer Körper, kollektiver Leib
89
2. 2. Übungssache
Übung: der Körper als Material/ Die Darstellung bis in die Auflösung
oder Maschinelle Improvisation
96
2. 3. Verfahrensweise
Die Inszenierung: Die Bühne in Konstruktivismus/
Übertragung: Kostüme/ Erhebung in Egalitärisierung
3. Der Weg zum Stil über die Kunstfigur
- ‚Das Triadische Ballett’ von Oskar Schlemmer
103
112
3. 1. Tanz der Puppen oder die Verpuppung der Figuren
Die Aufführung: Rezensionen/ ‚Triadische Ballett’ und
die Bauhausbühne
3. 2. Die Annäherung - Mensch und Kunstfigur
Kosmischer Körper/ vom dualistischen Raumkörper zum Tänzer-
113
6
menschen/ mathematischer Körper
122
3. 3. Das Wesen der Kunstfigur
Der Begriff ‚Kunstfigur’
Die Wiederentdeckung der Puppen: Fragestellung II
4. Die mediale Funktion der Puppen
129
134
140
4. 1. Stille Geste der Puppen
- The Bread and Puppet Theatre
politische Abstrahierung durch den Körper/
Körper als Spektakel
141
4. 2. Die Verdoppelung des Puppenkörpers
- ‚Das Theater des Todes’ von Tadeusz Kantor
Körper in Tradition und Aufbruch/ Körper zwischen Wirklichkeit und
Illusion/ Der Metakörper
149
5. Das Theater der Effigies
- Robert Wilsons Bildertheater
162
5. 1. Stumme Beredsamkeit – The Deafmann Glance (1970)
Körper als Bedeutungsträger oder ‚the body doen’t lie’/
Zweierlei Körper/ Körper als Ding
163
5. 2. Narrative Homunkuli – Einstein On the Beach (1976)
Körper als Stimulans/ emphatischer Körper/
narrativer Körper
172
5. 3. Das Theater ohne Schauspieler – CIVIL warS (1983-1986)
Collage des Körperlichen/ Körper als Kunst-Werk
179
Zusammenfassung
188
Abbildungsverzeichnis
1 94
Quellen- und Literaturhinweise
216
7
Das Phänomen des Androiden: Einleitung
Der Schauspieler:
nacktes Bildnis des Menschen,
öffentlich zur Schau gestellt,
mit einem Gesicht, elastisch wie Gummi,
[…]
er simuliert seine Tränen
und sein Lachen,
das Funktionieren aller menschlichen Organe,
die Leidenschaften des Herzens, des Geistes,
die Exzesse des Magens
und des Penisses,
mit einem Körper, der
allen Reizen
und Gefahren
und Überraschungen
preisgegeben ist,
eine Attrappe des Menschen,
ein künstliches Modell seiner Anatomie
und seines Geistes,
das auf Würde und Prestige verzichtet,
am Pranger und zum Gespött zur Schau gestellt,
dem Abfallhaufen und der Ewigkeit nicht fremd.1
1 Kantor: Manuskript, zit. nach: Jan Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater, in: Harald
Xander (Hg.): Tadeusz Kantors Theater, Tübingen 1995, S. 28.
8
I
Die künstlichen Menschen sind en vogue. Ihre phantasievollen Erscheinungen sind via populärer Medien allgegenwärtig: Figuren wie die jugendliche Heldin
Lara Craft oder der quirlige Klempner Mario aus Videospielen, genauso wie
‚Terminatoren’ auf den Leinwänden, sind regelrechte Ikone einer Generation
geworden. Weniger unterhaltsamer, vielmehr spektakulär geht es dann zu bei den
Kreaturen aus dem Bereich ‚Biotechnologie’. Während noch die meisten von uns
die Vorstellung, dass Mensch und Maschine nahtlos miteinander verschmelzen,
für irreal halten, gehen führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Künstlichen
Intelligenz (Ray Kurzweil: The Age of Spiritual Machines, 1998) längst davon aus,
dass es in wenigen Jahrzehnten menschenähnliche Computerwesen durch die
Nanotechnologie geben wird. Von einem intelligenten Wesen ohne Fleisch und
Blut ist dabei die Rede. Es vergeht indes kaum ein Tag, an dem nicht über das
Klonen von Menschen berichtet wird, deren Erbgut mit der Analyse des menschlichen Genoms künstlich verändert werden und denkbar den neuen schönen,
gesunden und starken Menschen hervorbringen könnten. Im deutschsprachigen
Feuilleton ist es nachzulesen, wie dieses ‚Geschöpf nach Maß’ oder ‚die Zweite
Schöpfung’ die Welt in eine ‚Hypermoderne’ verwandeln wird, in der wir uns
selber entwerfen. Die Spielräume der künstlichen Menschen scheinen damit ins
Unendliche gewachsen zu sein.
Die Faszination, welche die künstlichen Menschen ausüben, liegt bei genauer
Betrachtung in ihrer widersprüchlichen Wahrnehmung begründet: Sie sind
einerseits die Artefakte, die sich im schöpferischen Akt als Alter Ego des
Künstlers widerspiegeln, sie sind aber andererseits eigenständige Wesen, die im
Auge des Betrachters lebendig erscheinen. Und zwar dient diese anthropomorphe
Kunstfigur als Beweis einer gestalterischen Potenz, die den Menschen, der sich
der ‚Schöpfungstätigkeit Gottes’ zu nähern versucht, über sich selbst hinaus zu
tragen scheint. Sie birgt aber Spuren animistischer Kraft, die sich zu verselbständigen und als eigenständiges Wesen lebendig zu werden droht. Ihre augenscheinliche Ähnlichkeit löst den Unterschied zwischen dem Original und der
Kopie auf, verleiht dem Künstlichen eine paradoxe Natürlichkeit und ruft
schließlich in der Phantasie des Betrachters einen permanenten Zweifel hervor,
ob sie Subjekt oder Objekt, das heißt, Mensch oder Ding ist.
9
Dabei hat die Körperlichkeit des ‚Dinges’ einen wesentlichen Anteil an diesem
Prozess. Denn in ihrer körperlichen Annäherung an dem Menschen tragen die
Kunstmenschen die Körper von der Schnittstelle zwischen dem Artifiziellen und
dem Einzigartigen; ihr künstlicher Körper ist höchst artifiziell, aber gleichzeitig
individuell. Die Glieder von einer Puppe sind immer eine Abbildung und Abdruck
vom Schöpfer, werden daher ewig mit dem ‚Puppenspieler’ verbunden. Zusammengesetzt aus einzelnen Teilen und gleich demontierbar sind sie außerdem nicht
imstande, autonom zu sein, bzw. in ihren Gesten, ihren Entscheidungen und
ihrem Auswahlverhalten unabhängig zu sein. Ein Puppenkörper ist aber
gleichzeitig unikal in seiner Beschaffenheit; die dreidimensionale Plastik besitzt
nämlich eigenes Aussehen, Gesten und somit persönliche Identität. Er steht nur
für sich selbst; für den Leib, den er verkörpert. Das Arkanum dieses Kunstkörpers
liegt insofern in seiner verdoppelten Illusion: Körperimitate sind nicht nur
Artefakte, die vorgeben, Lebewesen zu sein; es sind selbständige Zeichen, die
ebenfalls vormachen, keine zu sein. Sie nutzen die scheinbare Geistlosigkeit des
Kopierten, die Einfallslosigkeit des bloß Nachgeahmten, hinter deren vermeintlicher Objektivität ein Subjekt vermutet wird. Diese anscheinend magischen
Charakteristika verleihen der Kunstfigur eine totemische Bedeutung und erklären
die zentrale Rolle, die sie in der visuellen Kultur einnimmt.
Die Ambiguität des Puppenkörpers als eine sekundäre, aber verstärkende
Funktion findet sich bereits in dem alten Begräbniskult der effigy. Mit der Abbildung ganzer Körper oder Körperteile, als verallgemeinertes Bildnis oder
Portrait, standen die Effigien für Verstorbene. Ihre Aufgabe, den abwesenden,
bereits ‚vergangenen’ Körper als Objekt eines gewesenen Subjekts zu fixieren,
bzw. den Toten gleichzeitig durch naturalistische Ähnlichkeit zu ‚beglaubigen’,
entfaltete jedoch die irritierende Wirkung: Die Verdoppelung, deren Garant einer
energetischen Dementierung des Todes und Vergessens dient, stellt augenblicklich ein Anderes dar; die Ahnen greifen in dem Augenblick wirkungsvoll in
die Lebensumstände und Verhältnisse der Gegenwart ein. Als visuelle Medien der
Erinnerung halten Ahnmännchen alle den abwesenden Toten im Bild anwesend.
Die Herrscherpuppen vom Hochmittelalter bis zum beginnenden Absolutismus
hatten sogar die Funktion, nach dem physischen Tod des Machthabers dessen
Präsenz weiter zu bestätigen. Den sog. geistigen Körper, der das Wesen der
Monarchie vergegenwärtigen sollte, das niemals starb, schlief oder krank wurde,
stellte man mit Porträts und Statuen überall dar. Und dies ermöglichte zugleich,
den Moment der Erscheinung des lebenden, d. h. des neuen Herrschers zu
10
rechtfertigen. Die tatsächliche Herrschaftsunterbrechung wurde oft als zeremoniell überspielt. Damit wohnte den Herrschereffigien ein Vermögen inne, das
ein ‚Da-Gewesen-Sein’ wie auch ein ‚Hier und Jetzt’ indizierte. Sie konnten
Repräsentation und Präsenz gleichermaßen sein.
II
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tauchten immer häufiger Kunstfiguren in
Menschengestalt in Form von Marionetten und Automaten, Manichini und
Puppen, oder auch in Homunkuli und anthropomorphen Chimären in der Kunstszene auf. Sie alle faszinierten und agierten die künstlerischen Vorstellungswelten. Für die historischen Avantgardisten wie Surrealisten und Dadaisten
wurde die Anatomiefigur eines der beliebtesten Motive eines künstlerisch
sezierten und wieder frei zusammensetzbaren Körpers. Das Interesse an der unbelebten und sprachlosen Figur der Stummfilmgroteske aus den 20er Jahren
erweckte unter andrem die marionettenhafte Körperbewegung und der maskenhafte Gesichtsausdruck des künstlichen Körpers, neben der unpsychologischen
Darstellung, amoralischen Mechanik und der absurden Handlungsverläufe, die
das Publikum nicht selten bis zum Unheimlichen führten.
Dieses Phänomen fehlte auf der Theaterbühne nicht: E. G. Craig entwickelte
mit seinem ‚Übermarionetten-Projekt’ eine nicht aus Blut und Fleisch bestehende
Figur, die den menschlichen Schauspieler ersetzen sollte. Das Futuristische
Theater war begeistert von dem hybriden Körper bezüglich seinen Parallelen zur
neuen, technischen Industrialisierung und begründete dementsprechend neue
Bühnentypen. Der Regisseur Wsevolod Meyerhold erstrebte indessen, dass der
Schauspieler seinen Körper durch ein spezielles Training durchaus in eine
ökonomisch und effizient zu handhabende ‚Arbeitsmaschine’ umwandeln sollte,
die jede beliebige Bewegung sozusagen auf Abruf zu produzieren vermochte. Es
war das Experiment Oskar Schlemmers, welches die mechanischen Aspekte des
Körpers betonend durch die Umkleidung mit starren ‚Kostümbauten’ die
Annäherung des Menschen an die scheinbar mechanisch funktionierende Kunstfigur zu ermöglichen versuchte.
Wenn aber Theater, dessen conditio sine qua non die physische Präsenz der
Menschen darstellt, bzw. die tatsächliche Anwesenheit des lebendigen Körpers
11
verlangt, wie ist denn der leblose Körper im Theater zu erklären, der in der
historischen Theateravantgarde als Ausdrucksmittel auf der Bühne dominierte
und sie seitdem als Pendant zu dem menschlichen Körper zu bevölkern begann?
III
Eine künstliche Welt funktioniert bekanntermaßen im Sinne der Immersion;
sie ist zu erreichen, wenn man ihre virtuellen Räume nicht bloß von außen
beobachtet, sondern durch Projektion bzw. Identifikation eindeutig macht. Das
‚Eintauchen in die Illusion’ kann freilich nur bewerkstelligt werden, wenn man
sich von der Beschränktheit seiner bisherigen Körperidentität, das heißt, seinem
sozialen und geschlechtlichen Status loslöst und die künstliche Umgebung durch
seinen neuen Körper erkennt, wahrnimmt und handelt. Theater, dessen
unverkennbare Charakteristik ist, einen artifiziellen Ort zu schaffen, in den sich
der Zuschauer mit seinem leibhaftigen Körper hineinbegibt und dabei als ein
integrativer Bestandteil des ‚Spiels’ aufhält, ist insofern eine Kunstform par
exellence, die abhängig von dem Interface des beteiligten Körpers ist.
Um diese totale künstliche Umwelt auf der Bühne herzustellen, bzw. um den
Zuschauer in den Ort der Handlung stärker einzubeziehen, pariert dem sog.
‚virtuellen Körpertum’ ein weiterer Körper mit übernatürlichen Tugenden; der
schauspielende Körper. Im Unterschied zum Zuschauenden, der sich eine oder
mehre Figuren unter den Bühnengestalten aussucht, um sich zu identifizieren,
stellt ein Schauspielender selber etwas Künstliches und Konstruiertes dar, mithin
die artifizielle Simulation natürlichen menschlichen Verhaltens. Durch seine
bewussten Aktionsmechanismen soll es möglich sein, den Zuschauer auf Objekte
der Bühne einwirken zu lassen.
Bei der vollen körperlichen Gegenwart auf der Bühne besitzt der Schauspielkörper jedoch in sich einen Widerspruch. Auf der einen Seite strebt der Körper
nach einem Übergangsmedium zur Außenwelt im Sinne eines Erkenntnisobjekts;
durch Dramaturgie, andere optische Requisiten und nicht zuletzt Reflexionen
wird es dem Schauspielkörper ermöglicht sein, zu sterben und wieder zu
erwachen, zu altern und zu verjüngen. Er ist auf der anderen Seite aber ein
Hindernis, dem der Schauspieler für immer in seiner Haut verbunden bleibt. Sein
Körper ist für sich autonom, folgt dementsprechend seinen eigenen Regeln, bzw.
12
seiner Biologik. Gerade diese ambivalente Position des Schauspielkörpers als
vertraute und befremdende Natur wirft die Schlüsselfrage nach dem Wesen der
abendländischen Schauspielkunst auf. Der fiktive Körper in dem anwesenden
Schauspieler stellt das Vexierspiel von Künstlichem und Natürlichem dar. Durch
seinen so genannten theatralischen Körper mit der Fähigkeit, absolute Gegenwart
oder gar ‚Seele’ zu vermitteln, ist Sein und Schein, bzw. An- und Abwesenheit
identisch.
Ein Idealschauspieler wirkt also nur dann authentisch, lebendig, ja
künstlerisch, wenn er sich tatsächlich darauf beschränkt, eine fingierte Figur
darzustellen. Er verwandelt sich also in eine Rolle. Die Identität als Schauspieler,
das heißt der Schauspieler selbst, bleibt aber auf der Bühne explizit, so wie die
Identität der Rolle, die er spielt. Dem Zuschauer ist ohnedies die Tatsache
bewusst, dass die zwei Identifikationen, das Gespielte für die Rollenfigur und der
Spielende für den Schauspieler selbst, existieren. Diese zwei Subjekte können
sich, je nach den Konzeptionen der Schauspielkunst und Rezeptionshaltung des
Zuschauers, überschneiden oder voneinander unabhängig sein: Man nennt als
die erste die Stanislawskische Schauspielkonzeption in der restlosen Verwandlung des Schauspielers in die Rolle und als die letztere diejenige Bertolt
Brechts, deren Schauspieler kritischen Abstand zu seiner Rolle hält. In beiden
Konzepten ist der Verwandlungsprozess vom Schauspieler zur Rolle aber
jedenfalls transparent.
Wenn aber ein Schauspieler bewusst eine Maske aufsetzt, bzw. eine maskierte
Puppe spielt, ist dieser Prozess nicht mehr durchsichtig. Denn sein Gesicht, das
viele Merkmale seiner Identität zeigt, wird vom Zuschauer nicht sichtbar und
daher unerkennbar, an seiner Stelle setzt sich stattdessen das andere Gesicht, das
ausschließlich zur Rollenfigur gehört. Diese Darstellungsweise des Maskenspiels
veranschaulicht jedoch paradoxerweise den theatralischen Rollenvorgang par
excellence: Der Schauspieler spielt seine Rolle, die von seiner Identität offensichtlich getrennt ist, auf der Bühne wird dann Differenz und Distanz zwischen
der Identität des Schauspielers und der Rollenfigur evident und deutlich.
Komplexer wird es dann, wenn das Rollenspiel in der Verkörperung einer
Puppe stattfindet, das heißt wenn eine Puppe allein als Rollenfigur auf der Bühne
präsentiert wird. Im Unterschied zum Maskenspiel, in dem der Körper des
Spielers noch sichtbar, ja wahrnehmbar ist, verschwindet in der Puppengestalt
der ganze aktive, menschliche Körper auf der Bühne.
13
Hierzu hat es immer wieder kontroverse Argumente gegeben, die von
unterschiedlichen Positionen ausgingen. Die einen konstatieren, die Spiele mit
Puppen seien mehr mit Jahrmarktsästhetik verwandt, hätten daher mit der
grundsätzlichen Problematik zu tun, die nicht nur die gesamteuropäische
Schauspielkunst in Frage stellt, sondern auch die konstitutiven Grundlagen des
Theaters selbst erschüttert; der Schauspieler nähert sich der toten Materie, das
Theater der Puppen verursacht das Verschwinden des Körpers. Die anderen
plädieren dagegen, sie sei ohnedies das Resultat eines Verfahrens der Abstraktion
bzw. die Formalisierung, Typisierung und Stilisierung des naturalistischen
Körper, somit gleichsam der Zielpunkt des künstlerischen Prozesses: Das Theater
bilde den Makrokosmos im Mikrokosmos ab; der Schauspieler sei ein ‚Double’.
Die Tatsache, dass eine Puppe unbelebt ist, daher leicht demontierbar, mit
anderem Wort, beliebig für alles, bedeutet zunächst, eine Puppe auf der Bühne ist
im Grunde nichts anderes als purer Zeichenträger, so wie die anderen Requisiten. Andererseits ist aber eine Puppe Replikat des menschlichen Antlitzes,
ergreift somit den Anspruch, eine Rolle, bzw. dramatis personae zu verkörpern
oder mindestens zu assoziieren. War eine Puppe am Anfang noch ein Requisit, so
ist sie im Verlauf der Aufführung durch die ständige Präsenz oder Konfrontation
mit menschlichen Schauspieler aktiv handelnde ‚Bühnenfigur’. Der Zuschauer
rezipiert während der Aufführung ohne weiteres die in der Puppe geladenen
Informationen und reagiert darauf. Auf dieser Weise kommunizieren Puppen und
Zuschauer, daraufhin entsteht der Kommunikationsprozess. Damit ist eine Puppe
auf der Bühne ein Konglomerat von theatralischen Zeichen und ein Komplex von
Signifikanten.
Tritt zudem der bereits zwischen den beiden changierende Menschenimitatskörper in das Feld der Bühne ein, so steigert er sein Potential mehrfach. Fallen
nämlich die schöpferische Instanz, die das spielende Kunstobjekt kreiert, und die
wahrnehmende Instanz, die deren Täuschung erliegt, zusammen, so erfährt das
Bühnengeschehen eine Synergie, das Ganze entwickelt seine eigene Dynamik: Im
Vergleich zum theatralischen, d. h. realen Körper des Schauspielers verdoppelt
der künstliche Körper das ‚Spiel’ x-fach. Die Grenzen zwischen der Wahrnehmung realer Körper und der Konstruktion von Kunstkörpern verschwimmen
dabei ständig. Für ein herkömmliches Schauspiel, dessen Krönung durch die
menschliche Körperperformance eine totale Verwandlung in die künstliche Welt
bildet, ist dieses ‚Spiel mit den Puppen’ daher von entscheidender Bedeutung.
14
Der menschliche, reale Körper findet seinen wichtigsten Widersacher in dem
artifiziellen und leblosen Körper des Androiden.
IV
Die vorliegende Arbeit will den Versuch einer Phänomenologie des Androiden
auf der Theaterbühne unternehmen. Sie untersucht erstmals und umfassend, ob
und wie die Puppenästhetik als ein Paradigma zur Entwicklung einer Grundlagentheorie der modernen Schauspielkunst des 20. Jahrhunderts herangezogen
werden kann. Ihre Zielsetzung wird sein, sowohl theaterprogrammatische und praktische Anstrengungen über Schauspielkonzepte aus der historischen Theateravantgarde und Postmoderne bezüglich der Kunstfiguren grob einzuordnen, als
auch einen Überblick daran anzuschließen. Untersuchungsgegenstand ist dabei
der Körper des Schauspielers. Ein Kunstkörper, der die Natur umspielt oder
überdeckt, statt naturalistisch darstellen, mimetisch abbilden oder getreu
reproduzieren zu wollen.
Bis auf wenige Arbeiten innerhalb der Theaterwissenschaft, die die androidenhafte Bühnenfigur als eines unter vielen avantgardistischen Phänomenen
behandeln (u. a. Meike Wagner: Nähte am Puppenkörper. Der mediale Blick und
die Körperentwürfe des Theaters. Bielefeld 2003; Jochen Kiefer: Die Puppe als
Metapher den Schauspieler zu denken. Zur Ästhetik der theatralen Figur bei
Craig, Meyerhold, Schlemmer und Roland Barthes, Berlin 2004), existiert keine
dem Verfasser bekannte Arbeit, die deren Bedeutung als Mittel zur künstlerischen Darstellung mit der gesellschaftlichen, technischen und ideengeschichtlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts aufzeigt.
Es wird also gefragt: Wie haben die Künstler auf die Reize der künstlichen
Menschen reagiert? Wie wurde das Phänomen der Androiden sowohl von der
Theateravantgarde als auch Postmoderne wahrgenommen und reflektiert? Mit
welchen Strategien haben sie dabei ihre Gedanken verfolgt bzw. auf welche Weise
kommt die Kunstfigur auf die Bühne?
Schließlich kommen die Fragen bezüglich des Körpers des Schauspielers
hinzu: Wie wirkt das Phänomen des Androiden auf den Schauspielerkörper?
Bedeutet dies die Unterordnung des menschlichen Körpers als ästhetischen
Reflex auf die Entwicklung des technischen Fortschritts? Und nicht zuletzt, wie
15
verhält sich der Schauspieler in einer Welt, in der das Problem der Identität des
Subjekts bzw. das seiner Entgrenzung, Veränderung, Verdinglichung, Spaltung
und Auflösung als ein Zentrum zeitgenössischer Befindlichkeit benannt wird?
Solche Überlegungen bzw. Fragestellungen stützen sich dabei auf die Grundthese,
dass die mögliche Abwendung der Bühnenfiguren von der reinen natürlichen
Haltung und die Hinwendung zu einer mechanisch wirkenden Haltung einer
bestimmten gesellschaftlichen Wandlung der Subjekte bedürfe, die durch ein
verändertes Gesellschaftsbild unmittelbar die Neubestimmung des Körpers
fordert.
Die Arbeit beginnt mit einem kurzen Überblick über die Varianten des
künstlichen Menschen. Es geht um das kulturelle Phänomen, das in Europa als
das Phantasma der vollendeten Durchdringung des nachgebildeten Menschen
inauguriert wurde. Dabei liegt die Aufmerksamkeit weder auf der Genesis der
Androiden noch auf den historisch zurückliegenden Prototypen dieses Wesens,
genauso wenig geht es um Bildnisse im kunsthistorischen Verständnis. Diesem
ersten Kapitel geht es vielmehr um einen Versuch, diese wahrscheinlichen
Körperbilder, deren naturalistische Form und Ausstattung nicht einem bestimmten Vorbild folgen, aus kulturhistorischer und rezeptionsästhetischer Sicht
zu untersuchen, um dann in einem systematischen Teil die Annahme der
‚Ähnlichkeit’ vom theatralischen Körper und artifiziellen Körper zu überprüfen.
Die Auswahl ergibt sich deshalb aus der Tatsache, dass diese künstlichen
Menschenfiguren ‚theatralisch’ gleichermaßen als dramatischer, lebendiger
Anblick vor das Publikum traten.
Ebenso wichtig für die Konzeption dieses Kapitels sind die mit dem
Androidenkomplex in Zusammenhang stehenden Rezeptionsmöglichkeiten, bzw.
das Phänomen als Gegenstand systematischer Wahrnehmung aufzuzeigen, die
wir als Betrachter an die Androidenfiguren herantragen. Die Wechselwirkung
zwischen der Intention des Portraitierten und der Erwartung des Rezipienten ist
dabei die unerlässliche Frage, die sich stellen wird. Begriffe wie ‚natürlich’ oder
‚künstlich’, ‚eigen’ oder ‚fremd’ stoßen hier an ihre Grenzen, weil sie den Impetus
der Interessenanlagen nicht zu fassen vermögen.
Den Hauptteil der Arbeit bilden dann die Kapitel, die anhand ausgewählter
Beispiele die Etappen der Erscheinung des Phänomens sowohl auf der
historischen Avantgardebühne als auch Postmoderne nachzeichnen. Zunächst
werden unterschiedliche Theaterkonzepte vorgestellt, deren Resonanz weniger in
16
der Praxis stattgefunden hat als vielmehr in der Theoriebildung der Theatergeschichte: E. G. Craigs ‚Der Schauspieler als Übermarionette’ und die Manifeste
der Futuristen. Aus der Gemeinsamkeit zwischen der universellen Gültigkeit
abstrakter Kunst und einer Ästhetik des individuellen Erlebens, der die
Avantgardisten huldigten, eine Beziehung herzustellen, ist dabei Ziel dieses
Abschnitts.
Daran anschließend sollen die hierbei gewonnenen Erkenntnisse in einem
weiteren Teil überprüft und abgesichert werden. Als geeignetes Mittel bieten sich
zunächst die Theaterarbeiten zweier Künstler, Wsewolod E. Meyerhold und
Oskar Schlemmer, an. Die beiden Künstler traten aus den Theateravantgarden
hervor, da sie aus dem Phänomen ‚Androiden’ theaterpraktische Konsequenzen
zogen, wenngleich sie sich auch mit einem verschiedenartigen ästhetischen
Hintergrund beschäftigten. Ihre Arbeiten werden sowohl auf theoretischer als
auch auf praktischer Ebene analysiert.
In einem nächsten einleitenden Schritt setzt sich dann die Arbeit mit der
Phänomenologie des Androiden in der Nachkriegszeit fort. Es wird vor allen
Dingen der Frage nachgehen, ob die theatralischen Bemühungen der historischen
Avantgardekünstler abgebrochen wurden und in der Nachkriegsgeneration keine
Fortsetzung gefunden haben. Peter Schumann, Tadeusz Kantor und Robert
Wilson sind es, die diesen Weg beschreiten.
17
Die Auslegung des Androidenkörpers
- Kulturhistorische Diskurse über dem Artifiziellen Körper
oder Varianten des künstlichen Menschen
1. Beginn des heidnischen Körpers:
am Beispiel Kruzifixe
Es ist ein fast nackter Körper, der am Kreuz hängt.2 [Abb. 1] Er hat nur ein
Lendentuch um seine Hüfte und steht an der Wand, dem Betrachter frontal
gegenüber. Der entblößte Körper, dessen Kopf ein wenig zur rechten Seite neigt,
ist dabei vom Leiden gezeichnet und trägt das Anzeichen; seine asketisch dürren
Glieder - die bis in die Kopfhöhe angehobenen, überlang ausgebreiteten Arme
und die geknickten, übereinandergelegten Beinen - sind mit Nägeln durchbohrt
und befestigt; sein ausgezehrtes Gesicht, die klaffenden Wunden am Leib und
nicht zuletzt das befleckte Lendentuch weisen die Spuren dieser drastischen
Folterung auf. Die halb geschlossenen Augen verleihen dem Schmerzensmann
dabei höchste Dramatik dieses Leidens.
Der Kruzifixus gehört seit Jahrhunderten zu dem berühmtesten menschlich
modellierten Schaukörper des Abendlandes. Er ist das lieux de mémoire der über
tausendjährigen Epoche im Christentum, bzw. zentrales Erinnerungsmedium für
die Gläubigen; an ihm wurde das Leben und Opfer Christi zelebriert und
inszeniert, am Corpus Christi kreiert sich die heilige Bühne, deren liturgischer
Protagonist die leblose Körperplastik ist.
Körper ohne Leib
Kruzifixe wurden auf unterschiedlichste Art und Weise durch die Jahr
hunderte reproduziert. Die Darstellung Christi als Gekreuzigter variierte jedoch
2 Das 2,88 Meter hohe und 1,66 Meter breite Kruzifix aus Eichenholz ist die älteste
erhaltene Großplastik des Gekreuzigten nördlich der Alpen. Das sog. Gero-Kreuz im
Kölner Dom (um 970) galt als Wunder wirkend und hat das Bild des Gekreuzigten im
deutschsprachigen Kontext entscheidend mitbestimmt.
18
nicht wesentlich. Sie folgte mehr oder weniger demselben Typ. Die Christusgestalt erfährt gleichwohl im Lauf der Jahre eine Akzentverschiebung: Wurde
noch in der anfänglichen Christusstatue am Kreuz die leidenden Züge des
Christus nur andeutend gezeigt, bestimmt die Expression der Kreuzfolterung
mehr und mehr maßgeblich die Form. Die Betrachtung der arma christi wird
immer wichtiger.3 In diesem Zusammenhang reduzierten sich die vier Nägel der
Kreuzigung auf drei, was zu den Konsequenzen für Figurenhaltung und Körperauffassung führte. An die Stelle des romanischen Kronreifens trat die Dornenkrone und ebenso verzichtete man auf das Suppedaneum. Diese gestalterische
Modifikation des Gekreuzigten führte bald zur Darstellung körperlicher Verzerrungen: Die lebensähnlichere Darstellung trat hervor. Die Bemalung der
Plastik erhielt größere Bedeutung und näherte sich rein äußerlich zunehmend der
Physiologie des jungen nackten Mannes an. Damit scheint der menschliche
Körper als wichtiges Element einer neuen Wertigkeit der Gottesdarstellung.
Während man sie noch anfänglich dem Gottesleib annähernd zu erschaffen
versuchte, werden Kruzifixe nun im Zeichen des menschlichen Körpers inauguriert. Verletzlichkeit und somit Sterblichkeit des menschlichen Körpers
wurden dabei konzentriert, seine Gefährdung durch Gewalt und Schmerz
akzentuiert. Die blutende Seitenwunde ist gewissermaßen ad hoc sichtbarstes
Merkmal und steht häufig im Mittelpunkt der Darstellung. Früher sakramental
gemeint dient diese offene heilige Wunde am Körper Christi seit dem Spätmittelalter zur dramatischen Übersteigerung und mystischen Überhöhung. In
Verbindung mit anderen realistisch ausgeführten Details4 sollte sie sowohl als ein
Symbol für Christus in seiner Menschlichkeit als auch für den Zugang zu seinem
Herzen den Eindruck von körperlichem Leiden verstärken helfen, mithin
ausdrücklich eine direkte Beziehung zwischen dem Leidenden und den
Mitleidenden herstellen. So rinnt das Blut aus den Wunden, oft in langen, über
ganze Körperpartien hingezogenen Blutspuren.
Das aber wohl anschaulichste Beispiel für die physisch leidende Präsenz, die
diese dreidimensionale Menschenfigur hervorhebt, ist das Lendentuch. Das Tuch,
3 Eines der ältesten bekannten Kruzifixe (Bronzenkruzifixus, um 600 n. Chr., SchnütgenMuseum, Köln) zeigt beispielsweise Christus friedlich entschlafen in seiner Wohlleibigkeit, jenseits der Grausamkeit des Foltertodes. vgl. Christian Beutler: Der älteste
Kruzifixus. Der entschlafene Christus, Frankfurt a/M 1991.
4 Der Holzkruzifixus aus dem 14.Jh. in der Kathedrale von Burgos hat beispielsweise
echtes Haar, eine echte Dornenkrone und Kleider aus Stoff.
19
meistens vor dem Leib in der Mitte geknotet und lappenartig an beiden Körperseiten überhängend, akzentuiert die Plastizität des Körpers und verleiht der Figur
zugleich die Nacktheit als Ausdruck körperlichen Ausgeliefertseins des menschlichen Daseins. Das Perizoma hat aber neben dieser ästhetisch-fiktiven Funktion
eine weitere Aufgabe: Es bedeckt und verbirgt. Ohne die Verschleierung, ohne
jenes Stück Stoff wäre für jedermann das ‚heilige Glied’ sichtbar, zumal in der
Zeit die naturgetreue Darstellung am Kreuz seit Renaissance ihren Höhepunkt
erreichte.5 Das Augenmerk des Betrachters fällt nolens volens auf den Genitalbereich der Gestalt. Die ‚Darstellung des Undarstellbaren’ im Zeichen von
Opazität ist eng mit den Praktiken der Diaphanie verbunden; das Verschleiern
und das Enthüllen befinden sich in ständigem Wechselspiel. Was sich hier jedoch
über das Leichentuch ausbuchtet, ist kein männliches Glied; ‚es ist eine Form, die
das Geschlecht evoziert, aber ohne auf dessen Präsenz hinzuweisen. Eine
Anhäufung
von
Falten,
irgendetwas
wie
ein
‚Luft-Geschlecht’.’
6
Das
Geschlechtsteil, einerseits als das Merkmal der männlichen Physiognomie und
das Sinnbild der Geschlechtlichkeit des menschlichen Körpers andererseits, ist in
der Tat an keinem Kruzifix sichtbar. Vergleicht man sie etwa mit Jesus5 Unter dem Eindruck einer sich langsam durch Akt -und Perspektivstudien verändernden, nach Naturalismus strebenden Kunst des 15. Jahrhunderts verändert sich das Sakralbild und mit ihm sein Personal: Christus, Maria, biblische Gestalten und viele Heilige
nehmen nicht nur zunehmend ‚Fleisch’ an und werden anatomisch überzeugender
gestaltet, sondern auch ihre Körper werden in einer nicht nur sakral, sondern erotisch
aufgeladenen Dichotomie von Ver- und Enthüllung, Nacktheit und den Körper partiell
modellierender, partiell entblößender, oftmals luxuriöser, modischer Kleidung präsentiert.
Themen sind hier u. a. die ostentatio uberum stillender und fürbittender Madonnen und
der Körper Christi, dessen Darstellungen zwischen 1300 und 1500 eine große Variationsbreite (anscheinend asexueller, androgyner, athletisch-männlicher Entwürfe) und eine
komplizierte Entwicklungsgeschichte aufzuweisen haben. vgl. Leo Steinberg: The
Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion, New York 1983, 2.
Auflage 1996; Carolyn Walker Bynum: Fragmentation and Redemption: Essays on
Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1992/ dies.: Warum das
ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin, in: Historische
Anthropologie 4, 1996, 1-33/ dies.: The Body of Christ in the Later Middle Ages: a reply
to Leo Steinberg, in: Renaissance Quarterly 39, 1986, 399-439.
6 Schmitt, Jean-Claude und Jérôme Baschet: La sexualité du Christ, zit. nach: Monika
Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Zur Repräsentation des weiblichen Genitales, Frankfurt
am Main/Basel 2001, S. 156-160. In jüngster Zeit beginnen sich Kunsthistoriker mit dem
kontroversen Themen der Sexualität Christi zu beschäftigen und suchen nach einer
Erklärung für die zahlreichen Beispiele der Zurschaustellung von Genitalien und
‚Manipulation’ in religiösen Darstellungen. vgl. Hans Belting: Bild und Kult. Eine
Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990; Christoph Geissmar:
Das wahre Bild. Modelle zur Simulation Christi, in: Ilsebill Barta/ ders. (Hg.): Die
Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, Salzburg-Wien 1992, S. 4355.
20
kindreliefen, ist der Phallus Christi abwesend. Im markanten Unterschied zur
kindlichen ostentatio genitalium - der sichtbare Beweis dafür, dass der Sohn
Gottes ganz und gar Mensch geworden ist, und damit Sexualität und Sterblichkeit
auf sich genommen hat - , scheint es sich hier eher um eine ‚Ostentatio des
fehlenden Geschlechts’ zu handeln. Die Darstellung zeigt weder ‚Jesus’ als
geschlechtlich differentes Wesen noch beweist sie die Annahme der Geschlechterdifferenz als Symbol für die conditio humana. Die Aufhebung oder Transformation vom Geschlecht hat vielmehr allegorische Funktion: Jenseits der
anatomischen Funktionalität des männlichen Körpers symbolisiert sie die
Dispensierung des den irdischen Bedingungen anhaftenden Gesetzes des
physischen Geschlechts. Während der blutende Körper Zeichen der erlittenen
Versehrung und Sinnbild für die Menschlichkeit ist, ist das fehlende Genital
Inbild der Unversehrtheit und Überwindbarkeit des menschlichen Körpers,
mithin die Figuration der Übermenschlichkeit.7 Das gewölbte, ‚leere’ Lendentuch
am Kruzifix wird somit zum Medium bzw. zur absoluten Metapher, in der sich
eine Kommunikation der Blicke zwischen dem Gläubigen und dem Göttlichen
ereignet. Sie ermöglicht dem Gläubigen einen Blick durch jenen Schleier, der die
Welt vom Göttlichen trennt.
Körper als Puppe
Diese doppelte Konnotation des Kruzifixus als ‚körperloser Körper’ expliziert
dessen Funktion als heiligen Gegenstand für die Gläubigen. Als identifizierbarer
Humankörper dient Corpus Christi zur Simulation, zur Meditation, ja zur
Vermittlung des Glaubens. Den ornamentalen Interpretationen des Figürlichen
und spielerischen Verfremdungen des Motivs stehen bildnerische Verfahrensweisen gegenüber, die das Assoziationsvermögen des Betrachters über den
vorgefundenen Gegenstand ansprechen. So bedenken die Frommen das Objekt
im Blick auf sich selbst und sehen in ihm ein Erlösungsgeschehen. Zumal der
Gekreuzigte aber in erster Linie Puppengestalt ist, hat die Figur die Eigenschaft
7 Die Abwesenheit des Genitales am Körper Christi ist sogar gewöhnlich in der
historischen Gottesdarstellung und sogar wünschenswert: ‚Die Religionen, in denen der
Gottheit ein Geschlecht zugeschrieben werden konnte – und damit auch die
Zweigeschlechtlichkeit -, haben denjenigen das Feld räumen müssen, in denen der
Androgynismus höchstens noch spiritualisiert, gar oft in sein Gegenteil, die absolute
Geschlechtslosigkeit, verwandelt, Platz hat, oder gar ganz aufgehoben ist, weil jede
Beziehung der Geschlechtssphäre auf Gott abgelehnt wird.’ zit. nach: Ernst L. Dietrich:
Der Urmensch als Androgyn, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 58 (1939), S. 297-348,
S. 343f.
21
der Passivität inne, was eine aktive, handelnd voranschreitende Haltung ausschließt. Die Erlösungshoffnungen des Diesseits können bekanntlich allein von
dem schaustellenden leblosen Gegenstand nicht erfüllt werden und auch als
Vorbild für das eigene Leben kann das Objekt auf die Dauer nicht befriedigen.
Dieses spielerische Selbstverständnis zwischen Menschen und Dingen läuft trotz
oder gerade deshalb oft auf eine gegenseitige dreidimensionale Beziehung hinaus.
Bedingt durch das frontale Gegenüber des Gekreuzigten hat die Statue aus totem
Material in der Vorstellung der Frommen schon einen lebendigen Leib, bevor sie
durch die rituelle Handlung ‚dinghaft’ wird. Man stellt die Darstellung des
Körpers Christi mit allem Pathos in die reale Welt. Diese wird wiederum durch
den affektiven Kunstgriff eines narrativen Realismus, der sie in diesem Moment
selbst mit einbezog, in den imaginären Raum des Leidens Christi versetzt.8 Die
persönliche Passionsbetrachtung, in welcher der Betende seines persönlichen
Heils durch die künstliche Figur teilhaftig wird, nimmt ihren Anfang. In
zahlreichen Kirchen gab es deshalb vollplastisch modellierte Christipuppen, die
laufend in den Gemeinden in die Zeremonien einbezogen waren. Seit dem Mittelalter dienten es beispielsweise Kruzifixe aus Holz mit beweglichen Gliedern
besonderen Zwecken in der christlichen Liturgie; die Gliedmaßen der Christusfiguren ließen sich vom Kreuz abnehmen und in verschiedenen Stellungen
bringen, so dass die Figuren eine scheinbar regsame Rolle in der Liturgie
einnahmen. 9 Es entstand somit die Illusion, die Figur nähme aktiv an dem
liturgischen Tableau rund um den Gottesdienst teil. So fand ein regelrecht
künstliches, szenisches Arrangement auf einer mitgedachten liturgischen Bühne
statt, auf welcher der Gekreuzigte in seiner profanen Leiblichkeit rituell in Szene
gesetzt wurde. Mit der Aufhebung der Grenzen zwischen sakralen und profanen
Empfindungen wird er nun Teil jenes theatrum sacrum, das alle Sinne der
Zuschauer ansprechen will.
8 Vor diesem Hintergrund wird auch ein weiteres Axiom fragwürdig: Die Unterscheidung zwischen dem ‚Bildnis’ einer abbildbaren, das heißt real existierenden und
präsenten Person einerseits und dem ‚Bild’ einer Gottheit, einer lange verstorbenen
Person oder einer Personifikation, der eben kein greifbares materielles Vorbild entspricht.
Beide Gruppen von Bildwerken rücken vielmehr eng zusammen, wenn nach ihren
Funktionen gefragt wird. Das gilt insbesondere für die Statuen des gekreuzigten Christus,
denn Realismus meint ja ein überzeugendes Bemühen um Lebensechtheit und Wahrscheinlichkeit in der Personendarstellung, und zwar ganz unabhängig davon, ob es sich
um ein abbildendes Porträt oder um ein erfundenes, aber deshalb nicht weniger wahrscheinliches ‚Porträt’ handelt.
9 Einer davon ist der Kruzifix mit beweglichen Armen aus Grancia, Tessin, fr. 16. Jh.,
148 x 144 cm, Schweizerisches Museum, Zürich.
22
Diese Art von religiöser Inbrunst hat bald eine ganze magische und
fetischistische Praktik zur Folge. Das Erblicken eines berühmten Kruzifixus
verspricht bereits Heilung, wenn der Lebende den Leidenden erblickt. Die toten
Materien fallen aus dem Bereich des Memento mori heraus, werden zum Medium
für die Übertragung heidnischer Magier und verwandeln sich durch die
Einbildungskraft in den lebenden Körper. Aus dem Funktionszusammenhang
genommen löst der Gegenstand Erinnerungen, Wünsche, Ängste der Gläubigen
aus. Je nach Art der Beziehung, die zu ihm hergestellt wird, eröffnet seine
Kombination die Möglichkeit zu assoziativer Verknüpfung von Teilformen in
einem neuen Sinnzusammenhang. Der Blick bzw. das Auge ist aber bekanntlich
haptisch. Das Auge als Substitut des Tastsinns genügt bald nicht mehr. Es sollte
für den Betrachter nicht nur etwas von dem heilschaffenden Gegenstand zu sehen
sein, sondern ein Teil der heilsamen Gotteswirklichkeit ‚erlebt’, mit der Nase
gerochen und den Händen ertastet werden können. Den Kruzifixus stellte man
darauf ebenfalls in der Form eines kleinen Halsamuletts oder Anhänger her, als
Reservat privater Frömmigkeit und Meditationsobjekt des Einzelnen, indem es
selbst ein Fragment des Puppenkörpers bleibt.
Es wird zusammengefasst:
Am Kruzifixus wird ein menschlich erfassbares Bild des Gottessohnes
angestrebt, indem emphatisch der leidende Körper als die ursprüngliche und
einzige Basis von individueller Existenz hervorgehoben wird. Dadurch wird die
Gottesdarstellung zwar dem Menschen nahe gerückt, durch die Abgrenzung auf
derlei Körper wird das Menschenbild selbst aber in eine andere Sphäre erhoben.
In den Bereich des Menschlichkörperlichens dringt nichts Sakrales ein. Ein
Mensch definiert sich durch seinen Körper: Was verletzlich ist, ist menschlich.
Der Beginn, an dem man den menschlichen Körper nicht mehr als eigenen,
sondern fremden betrachtete. Damit tritt die an allen Kruzifixen eigentümliche
Doppeldeutigkeit zutage: Einerseits bildet ein Kruzifixus die Unüberwindbarkeit
des menschlichen Daseins mit seinem menschlichsterblichen Körper ab, lässt
somit den Glauben ‚leibhaftig’ werden und andererseits ist der Gekreuzigte in
effigie in seinem materiell nachgebildeten, auf Verwundbarkeit fixierten
künstlichen Körper der ‚Metakörper’, der nicht zerfällt und damit in der Ewigkeit
zu dem einen Vollkommenen wird. Der cartesianische Traum, das Bewusstsein
vom toten Gewicht des Organismus zu befreien, nahm bereits seinen Lauf.
23
Exkurs:
Die Genealogie der Augen oder eine kurze
Geschichte des Sehens
In der hellenistischen Kultur galt die bloße Betrachtung der Dinge bereits als
Eigenwert, der den Menschen besondere Erfüllung bot. Erst im Christentum
wurde die Schau der Welt allein um der Betrachtung willen als bloße Neugierde
herab- oder gar einer Sünde gleichgesetzt. Das Streben des Menschen nach dem
unbekannten, fremden, mithin anderen Körper ersetzten die sog. geistigen Augen
der Lebenden auf das unsichtbare, himmlische Jenseits, welche das Bewusstsein
für die Eitelkeit und Hinfälligkeit alles Irdischen niederhalten sollte. Um solch
eine Demonstration menschlicher Vergänglichkeit geht es der Schaustellung
heiliger Reliquien jedoch wenig. Vielmehr dient der jahrhundertealte christliche
Reliquienkult der Kompensation menschlicher Ohnmacht und Armseligkeit.
Während der eine im Reliquienkörper mehr die Erhabenheit, Größe und die
Schöpferkraft Gottes wie auch die metaphysischen Bedeutungslosigkeit des
Menschen zu erkennen glaubt, sieht der andere hingegen stärker die Erlösung
vom Elend und die bedrückende Vergänglichkeit des Menschen hervorscheinen.
Hierbei mögen sich disparate Wahrnehmungsgewohnheiten spalten, die
Augenlust der meisten Gläubigen vergeht dennoch nicht. Im Gegenteil: Seit
Anbeginn stand dieses spezielle christliche Schaubedürfnis maßgeblich im
Dienste der Sicherung persönlichen Seelenheils. Die kirchliche Verehrung von
Knochen und unverwesten Heiligenresten war ursprünglich eine Form frommer
Andacht, bei der sich die Augen an sonst eher unzugänglichen Gegenständen
ergötzen würden. Der menschliche Blick weidet sich jedoch gleichsam an heiligen
Totenstücken und glaubt an deren wundertätige Kraft, ihre Hilfe und Fürbitte bei
Gott, dessen Gnade er bereits durch das bloße Schauen dieser heiligen Gebeine
teilhaftig zu werden hofft. Dann spricht die Kirche von ‚himmlisch-irdischer
Bilokation’ 10 , der zweifachen Realpräsenz der Heiligen im Himmel und auf
Erden. Auf diese Weise dient das Anschauen des toten Körpers der
Wiederherstellung und Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, die jene zuvor
verletzt hatten. Das Schauritual, zu dem sich die Menschen sammelten, hat nicht
10 A. Legner: Reliquien in Kunst und Kult zwischen Antike und Aufklärung, Darmstadt
1997, S.7.
24
nur den Charakter eines Volksfestes, gleichermaßen dient dabei dem Staat die
Macht des Blicks als religiöse Kraft mit geradezu wundersamer Wirkung. Ein
Indiz dafür: Die toten Körper der Heiligen wurden im Verlauf der
Kirchengeschichte emsig gesammelt und teilweise für kostbarer als Gold und
Edelsteine gehalten.
Zu Beginn der Neuzeit wurde der reine Anblick des Gegenstandes wieder
rehabilitiert. Wie in der griechischen Antike bejahten die vor allem an Naturwissenschaft orientierten Philosophen und Wissenschaftler wie Petrarca, Galilei
oder auch Descartes die menschliche Neugierde, indem sie die Augenlust nicht
mehr unter religiösen oder existentiellen Vorbehalt stellten. Nach Descartes
reagiert der Körper auf die Umwelt und auf sensorische Wahrnehmungen,
während der Geist über diese nachdenkt und Entscheidungen trifft. So nimmt
etwa das Auge beispielsweise eine perspektivische Zeichnung als ‚real’ wahr,
während der Geist weiß, dass es sich um eine Illusion handelt. Dies bedeutete, die
dem Körper seit Jahrhunderten auf der Basis der Opposition ‚Seele vs. Leib’ oder
als Widerspiegelung der Seele zugunsten von ‚Vergeisterung’, Disziplinierung,
Produktivität und Effizienz sowie Makellosigkeit geraubte Materialität zurückzugeben; das Auge gilt nun als Triebfeder wissenschaftlicher Entwicklung und
alltäglicher Unterhaltung.
Der Reliquienkult der vergangenen Jahrhunderte und die gegenwärtige
Körperwelten-Sammlung 11 , deren öffentlichen Schaustellungen echte menschliche Toten versprechen, haben ein Weiteres gemeinsam. Der Blick in die anderen
Körper setzt immer auch Ansichten vom Anderen des Körpers frei. Es sind Blicke,
die sehen wollen, setzen Handlungen ins Werk, führen Seziermesser an die
Knochen, Haut, unter die Oberfläche.12 Es interessiert die Zuschauer vor allem
der Blick in die Tiefe bzw. ins Innere des Körpers, um so die Oberflächen des
Körpers vertiefter, das heißt näher ins Auge fassen zu können und um ihrem Tun
ein legitimiertes Fundament zu errichten. Solche Behandlung des Körpers durch
11 Im Zentrum der seit 1996 weltweit gezeigten und von dem Anatom Gunther von
Hagens organisierten Wanderausstellung ‚KÖRPERWELTEN’ stehen rund 180 echte
menschliche anatomische Präparate - 25 kunstvoll präparierte Ganzkörperplastinate sowie
einzelne Organe und transparente Quer- und Längsschnitte des Körpers.
12 Jedoch bestehen zwischen der Reliquienkult und der Leichen-Schau gravierende
Unterschiede: Bei ‚Körperwelten’ bleiben nicht nur die Plastinate anonym, im Gegensatz
zur Reliquienverehrung in Mittelalter; die Ausstellung umgibt weniger eine Aura des
Irrationalen, Dunkeln, Mythischen als vielmehr eine Atmosphäre lichtvoller Bekenntnis
zum ästhetischen Spektakel und Kommerz.
25
die Augen bezüglich Macht der Neugierde erweist sich im Rahmen der
Poststrukturalistischen Theoriebildung als zentraler Untersuchungsgegenstand.
In seinen Frühwerken befasste sich Michel Foucault mit dieser Frage, wie sich
der menschliche Blick den Mitmenschen durch ‚Verdinglichung’ unterwirft. 13
Dabei beschränkten sich seine Ausführungen zur Konstruktion des menschlichen
Subjekts als bloßen Objekts auf die klinische Psychologie und Medizin sowie auf
die Überwachung von Strafgefangenen in Gefängnissen. Beide - Patient und
Delinquent - würden unter den Blicken der Ärzte, Psychiater und Aufseher in
bestimmten Situationen reine Objekte: depersonalisierte Gegenstände. Dieser
nüchterne Blick der schonungslosen Erkenntnis kennt nach Foucault weder
moralische noch existenzielle Rücksichtnahme, der Blick sieht dann den Körper
als Medium, der die Krankheit als Text präsentiert. Das Arzt-Patient-Verhältnis
wird somit zum Aufeinandertreffen von Auge und stummen Körper.
Was Foucault hier als eine spezielle Wahrnehmungssituation beschrieb,
bezeichnet Sartre als charakteristisch für jeden Blick. Durch die Macht der Augen
würden die Menschen füreinander Objekte-Dinge, welche sich gegenseitig auf das
festlegten, als was sie einander sähen.14 Sartre nennt dieses Ereignis des GesehenWerdens ‚Versteinerung’, wodurch sich die Erblickten erst als Teile des Ganzen
oder als Weltstücke bewusst würden. Jeder erfahre hierbei die eigene Sichtbarkeit als Angreifbarkeit und Verwundbarkeit, weshalb nur derjenige vor den
Blicken seiner Mitmenschen sicher sei, der ihnen entkomme. Die Menschen
lassen sich also sehen, auch wenn sie unter den Blicken der anderen zu reinen
Objekten werden könnten. Sartre zeigt, dass der Blick, der sich auf den Körper als
etwas Vertrautes und stillschweigend Übergangenes zurückbezieht, den Vorgang
des Übergehens selbst fixiert. Damit vermag der Mensch zu sich selbst in ein
distanzierendes und distanziertes Verhältnis zu treten sowie sich selbst beim
Handeln und Verhalten wie einen anderen zu beobachten bzw. wie einem
anderen zuzuschauen. Er tritt sich selbst oder einem anderen gegenüber, um ein
Bild von sich als einem anderen zu entwerfen, das er mit den Augen eines
anderen reflektiert bzw. in den Augen eins anderen reflektiert sieht. Das heißt,
jedes Anschauen des anderen bzw. jeder Blick des anderen vermag insofern
Identität zu konstituieren und zu verwandeln.
13 vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969; ders.:
Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1978; ders.: Die Geburt der Klinik. Eine
Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main 1988.
14 vgl. Jean Paul Sartre: Der Blick, in: der.: Das Sein und das Nichts, Hamburg 1976,
S.338ff.
26
Beim diversen Diskurs, bei dem der Leib als Konstrukt der Augen im
Vordergrund steht, schob sich erstmals eine Maschine zwischen Realität und
Betrachter: Die Camera obscura. Die Erfindung der Vorläuferin der Fotokamera
war damit gleichzeitig die Erfindung maschineller Augen - ein Auge, bei dem die
Reproduktion der wahren Abbildung implizit mitgedacht und der Mensch nicht
erst durch den Blick der anderen zum Objekt wurde, sondern ein solches bereits
‚von Natur aus’. Sie stellte in der Folge den Menschen in eine Reihe mit den
übrigen Lebewesen, wodurch sie ihm seine jahrhundertelang geglaubte Ausnahmestellung als Höhepunkt der gesamten Naturentwicklung nahm. Die
Technik ordnet in Komplizenschaft mit dem menschlichen Auge das Subjekt als
abhängiges Objekt in den Zusammenhang der Dinge ein.
27
2. Körper als Sutur: Anatomische Wachsfiguren
Ein weiblicher Körper liegt auf einer violettseidenen Matratze mit einem
weißen Seidentuch.15 [Abb. 2] Die Haltung und Draperie der Figur erinnert an
klassische antike Marmorskulpturen; der Kopf, der ebenfalls auf einem
veilchenfarbenen Keilkissen ruht, dreht ein wenig nach links oben, die Augen
scheinen starr ins Leere zu blicken und der relativ kleine, leicht geöffnete Mund
lässt die obere Zahnreihe erahnen. Die Figur hat lange weißblonde Haare, ihre
Haut ist rosa-weiß, haar- und makellos. Sie trägt einen Goldreif über der Stirn
sowie eine doppelreihige Perlenkette um den Hals. Der Unterkörper der Figur
mit den leicht geöffneten Beinen gibt indes den Blick auf den Genitalbereich frei,
wobei das linke Bein, fast gerade und nur wenig nach links außen gedreht ist.
Die Faszination der anatomischen Wachsfigur ist trotz ihrer Materialverwandtschaft mit den Herrschereffigien einer völlig anderen Perspektive auf die
menschliche Physis zu verdanken; nicht das imaginäre ‚Hier und Jetzt’ eines
abwesenden Körpers gilt es zu gestalten, sondern der Blick der Neugier führt in
das Innere des Körpers. Die Inszenierung eines hyperrealistischen Makrokosmos
folgt demnach nicht der Imitatio, sondern zeigt in ihrer dramatischen Form
Ornamentales und Groteskes, worin Natur und Kunst changieren. Damit überschneiden sich in der Anatomiepuppe zwei unterschiedliche Felder, Anatomie
und Plastik, in denen Laboratorium und Atelier, Experiment und Darstellung,
Analyse und Inszenierung aufeinander treffen.
Der Körper in perfectio natura
Man begann bereits im 16. Jahrhundert für anatomische Lernzwecke
Substitut für echte Organe und Leiber aus verschiedenen Materialien herzustellen. Nachdem sich der frühneuzeitliche Wissensdrang um den menschlichen
Körperbau von den religiösen, mystischen Vorstellungen distanziert hatte und in
der Anatomie die tatsächliche Analyse und Reduktion des Körpers in funktionelle
Teilsysteme vollzog, begann man nach einem möglichst haltbaren und
15 Die lebensgroße Wachsfigur wurde 1782 von Clemente Susini modelliert. Diese sog.
Mediceische Venus des Wiener Josephinums wurde erstmals in der dem Imperial Regio
Museo di Fisica e Storia Naturale (La Specola) angegliederten Werkstatt für anatomische
Wachsmodelle ausgestellt.
28
naturalistisch geformten Äquivalent zu suchen, zumal die Öffnung von Leichen
trotz des wissenschaftlichen Vorwands noch kirchlichen und philosophischen
Tabus unterworfen oder nur unter besonderen ritualisierten Bedingungen überhaupt möglich war. Außerdem veranlasste die Anatomen das steigende Interesse,
bzw. zunehmender Bedarf am ‚toten Körper’ und ein erhöhter Anspruch an die
Anschaulichkeit anatomischer Detailstrukturen, neue Möglichkeiten zu bemühen. Denn gegenüber Abbildungen in Büchern besitzen die anatomischen
Modelle den Nutzen der Dreidimensionalität und die Möglichkeit des Auseinandernehmens einzelner Teile entsprechend dem Verlauf einer Sektion. Als
geeignete Stoffe wurden zuerst Holz, Ebenholz, Papiermaché, Gips und Kunstharz verwendet. Besonders Wachs, das ab dem 17. Jahrhundert verstärkt
produziert wurde, bot sich hier unmittelbar an. 16 Modelle aus Wachs hatten
ökonomische und technische Vorzüge: es war billig, überall herzustellen, leicht
modellierbar und durch direkte Einfärbungen im Material imstande, äußerst
naturalistische Duplikate des menschlichen Körpers und seiner Teile hervorzubringen. Sie waren oft ‚naturgetreuer’ als konservierte echte Präparate. Damit
schufen sich Wachsplastiken dank ihrer Plastizierbarkeit und Verfügbarkeit bald
europaweit einen Platz als bedeutendes Anschauungsmaterial in der Körperbaulehre. Dem toten Körper folgte dessen Double.
Parallel zur Zunahme der Produktion wächserner plastischer Körper
entwickelte sich gleichzeitig eine konstruktive Linie, deren eifriges Ziel die
Herstellung eines möglichst perfekt nachgebildeten Körpers war. Man gab sich
nämlich mit der rein anatomischen Aussage einer angefertigten Wachskopie
nicht mehr zufrieden. Es verknüpften sich anatomische Abbildungen und plastische Präparate, deren Oberflächengestaltung ohnehin der Widerschein der
darunter gelagerten physiologischen Verhältnisse war, mit Fragen der Ästhetik.17
So begann die Differenzierung der anatomischen Wachsplastiken.
16 In Italien gab es bereits eine lange Tradition der Wachsmodellierkunst zur Herstellung
von Reliquien- und Weihbildern. Als ihr Begründer - zu anatomischen Zwecken – gilt
aber der aus Syrakus stammende Priester Gaetano Zumbo (1656-1701), der 1691 von
Cosimo III. nach Florenz gerufen, von dort an die älteste Anatomieschule nach Bologna
ging, um sich auf die direkte Nachbildung anatomischer Körper und Körperteile in
farbigem Wachs zu spezialisieren. Er schuf eine Vielzahl religiöser Wachsplastiken wie
etwa die ‚Anbetung der Hirten’, das ‚Urteil der Verdammten’. vgl. Reinhard Büll: Das
Große Buch vom Wachs. Geschichte Kultur Technik, München 1977, S. 435-460; U.
Pfistermeister: Wachs. Volkskunst und Brauch. Ein Buch für Sammler und Liebhaber
alter Dinge. Bd. 2, Nürnberg 1983.
17 Die Geschichte der Anatomie ist daher seit ihren Anfängen immer auch die Kunstgeschichte.
29
Die Ästhetisierung der Anatomieplastik wurde besonders eindrucksvoll in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den ganzfigurigen Wachsstatuen demonstriert. Die Anatomen erkannten ‚durch Ultradetailismus der Injektions- und
Korrosionspräprarate’18 den Verlust der Ganzheit des anatomischen Objekts und
forderten eine neue anatomische Anschaulichkeit des Modells im Maßstab 1:1,
bzw. die lebensgroße Figur. Eine der berühmtesten Wachsfiguren aus dieser Zeit
ist die anatomische Venus des Wiener Josephinums. Das weibliche Modell in
einer Vitrine aus Rosenholz und venezianischem Glas unterliegt dem hochartifiziellen Modus einschließlich der makellosen Ausstattung der Plastik, deren
Konstruktion es ermöglichte, sie jederzeit zu intensiven Studien der Wachsmodelle zu öffnen. Unterhalb des Halses und der Schultern bis hin zur Scham
wurde der Körper mit einem glatten Schnitt dem Betrachter sein Innenleben
geöffnet und präsentiert. Gezeigt wurden die Lungenflügel, das Zwerchfell,
Magen und Darm, die Nieren, die großen Gefäße sowie die Gebärmutter, die
ebenfalls geöffnet war und den Blick auf einen Foetus im dritten bis vierten
Monat freigab. Die anatomisch nach dem damaligen Wissensstand exakt dargestellten Organe sind in verschiedenen Farben naturgetreu und mit großer
Sorgfalt ausgeführt.19
Neben der Verzierung der anatomischen Wachsfiguren vollzog sich deren
prozessuale Inszenierung in der Öffentlichkeit: in den Wachsfigurenmuseen.20 In
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden die ersten auf einem enzyklopädischen und ästhetischen Anspruch ausgerichteten anatomischen Wachssammlungen errichtet.21 Beispielhaft ist dafür die bis heute erhaltene Sammlung
18 Heike Kleindienst: Ästhetisierte Anatomie aus Wachs. Ursprung-Genese-Integration,
Marburg 1989, S. 25-31.
19 Anders als dieser merkwürdige morbide Reiz der weiblichen Wachspuppen versprechen die gehäuteten Muskelmänner des Wiener Josephinums in ihren imposanten
Posen Kraft und Lebendigkeit. Damit scheint es hier eher um die Geschlechtsspezifik des
menschlichen Körpers zu gehen, als um den Körper als Forschungsobjekt und Projektionsfolie. vgl. Susanne Greinke: Körper-Bild-Imagination: Über ein anatomisches
Modell, in: Stefanie Zaun / Daniela Watzke / Jörn Steigerwald (Hg.): Imagination und
Sexualität. Pathologien der Einbildungskraft im medizinischen Diskurs der frühen
Neuzeit, Analecta Romanica (Heft 71), Frankfurt/Main 2004.
20 Zeitgleich hatte man ebenfalls privat anatomische Wachsplastiken gesammelt, und
zwar für die sog. aristokratische Kunst- und Wunderkammer.
21 Um 1750 wurde erstmals in Florenz eine systematisch aufgebaute Sammlung anatomischer Wachsbildungen in großem Stil angelegt. Dort entstand dann 1775 im Palast der
Torrigiani das weltweit erste Museum für Physik und Naturkunde, La Specola genannt,
wo bis heute zahlreiche anatomische Objekte aus Wachs bestaunt werden können. Erster
30
anatomischer und geburtshilflicher Wachspräparate und -figuren im Wiener
Josephinum.22 Darin sollte die zeitgemäße Anthropologie optisch ‚im Lichte der
aufgeklärten Vernunft’ jedermann überzeugend vorgestellt werden, die anatomische Ceratheken zur Aufklärungsstätte über den menschlichen Organismus
werden.23
Solche anatomische Museen führten Besucher neben den wächsernen Ganzfiguren auch Nachbildungen einzelner Körperorgane vor Augen. Es waren
Aneinanderreihungen der geformten Plastiken und wurden als Block gezeigt.
Nachdem gegen Ende des 18. Jahrhunderts der gesamte menschliche Körperraum in allen Facetten modelliert war und sich die plastische Anatomie mit dem
‚anomalen Körper’ zu beschäftigen begann, wurden dann pathologische Körper,
historisch berühmte oder auch berüchtigte sowie phantastische bzw. märchenhafte Körper zum eigenständigen Schauwert. Es entstand folglich regelrecht eine
neue Form der curiositas; wo grenzlose Wissensausdehnung zur Tugend wurde,
dort herrschte curiositas, die den totalen Austausch von innen und außen
antizipiert: Indem der Körper zur Szene des Wissens wird, entwickelt er sich zum
Medium von Herstellung und Beherrschung. Insofern haben anatomische
Sammlungen aus dem 18. Jh. nicht primär mit dem Mythos des menschlichen
Körpers zu tun, sondern auch mit der spektakulären Zurschaustellung menschlicher Glieder. Ihre Protagonisten dienen nicht nur dem anfänglichen Einsatz an
den Fronten der Medizin, des Abwehrzaubers und der Jenseitsvorsorge, sondern
der Repräsentation, der Schaustellung, somit performativen Inszenierung. Die
Unheimlichkeit und Hybridität, den menschlichen Körper zu öffnen, um an ihm
das Geheimnis der Schöpfung zu studieren und in Wissen zu überführen,
mündete in einem Fasziosum, das auf die Schaulust und nicht unbedingt
aufklärerische Dialektik hinzielte. So wurden die anatomischen Plastikpuppen
zum Privileg eines am Theatralisch-Spektakulären interessierten Publikums.
Direktor des neuen Florenzer Museums war der Geistliche und Anatomiekünstler Felice
Fontana, dessen Nachfolger 1805 der berühmte Wachsbildner Clemente Sussini wurde.
22 Der Monarch, Joseph II. gründete die ‚Medico-chirugische Militair-Academie’ im Jahr
1785. Isidor Canevale baute für sie ein nobles und weitläufiges Schulgebäude, das
heutige Josephinum. Hier sollte der handwerklich ausgebildete Feldchirurg akademischen
Unterricht erhalten und das praktische durch theoretisches Wissen ergänzt werden.
23 Wobei das politische Kalkül nicht übersehen werden darf. In machtpolitischer
Hinsicht wurden diese Sammlungen zum denkmalhaften Statussymbol der Aufgeklärtheit
und konnte dem Repräsentationsbedürfnis des besitzenden Machthabers in angemessener
Weise gerecht werden.
31
Der Körper zwischen Natur und Artefakt
Indem der menschliche Körper in seiner materiellen Physis und fassbaren
Stellung sich selbst erstmals als dinghaftes, dreidimensionales Gebilde wahrzunehmen vermag, wurden ausgestellte anatomische Wachsmodelle einschließlich den Pathologischen und Kuriositäten sowie Monstergestalten nicht nur als
faszinierend empfunden, weil sie eine ‚neue Welt’ öffneten, sondern auch gleichzeitig als bedrohlich. Ganz nach Analogie der vertrauten ikonographischen Darstellung erschienen sie dem bürgerlichen Publikum wie ‚ein Theater der
Grausamkeit’. Insbesondere das Körperinnere erschien ihm in seiner Begrenztheit als Spektakel des Todes; die physiologischen Körperorgane offenbarten ihr
offenes Geheimnis - die Sterblichkeit. Das sichtbare Zeichen hierfür ist gewiss die
Nahtstelle zwischen dem Körper und seiner Inneren. [Abb. 3]
Die Sutur der anatomischen Wachsfigur hat als reale Naht in erster Linie
etwas mit Technik und dem Materiellen zu tun; sie schließt Wunden bzw. Risse,
sie fügt Getrenntes aneinander. Die Bindelinie auf der wächsernen Venus der
Wiener Sammlung, die. extra sauber und direkt wiedergegeben ist, scheint
beispielsweise dem Plastikkörper eine Markierung zwischen dem geschminkten
Antlitz und dem geöffneten, sezierten Rumpf mit seinen herausnehmbaren
Organen einzuzeichnen. In ihrer fragmentierten Form, wo die Trennungslinie
verstärkt und akzentuiert wird, gelingt es dem Zuschauenden, das Innere des
menschlichen Körpers direkt ins Auge zu fassen. Gleichzeitig stellt jedoch diese
Naht des naturwissenschaftlichen Schneidens die visuelle Übersetzung der
menschlichen Glieder als Medium dar. Mit der Sutur werden Vorstellungen
sichtbar und in Körperbilder transformiert, die im wissenschaftlichen Diskurs der
Wahrheit und Objektivität fluktuieren. Die Schnittstelle an der wächsernen Haut
unterstreicht somit immanentes Oszillieren zwischen Realem und Künstlichem
und in ihrer vollkommenen, ganzen Form, in der die Naht verdeckt oder indirekt
markiert, die Repräsentation einer Leerstelle, die unsichtbar bleiben soll, um das
Phantasma des Systems zu überdecken. Die Betrachtung einer Wachspuppe
bleibt auf diese Weise immer eine Instabilität des kontingenten visuellen
Systems. Möglicherweise ist dies ein erstes Anzeichen, dass die Abbildung des
Körpers immer eine Fiktion ist.
Dieser imitierte menschliche Körper zwischen Realem und Imaginärem dient
folglich den Lebenden als Vorbild und greift direkt in die Herstellung von Leben
32
ein, indem er sich selbst zur Anschauung bringt. Die Wachsplastiken stellen
damit einen Ort der Anschauung, Entgegnung her und liefern ein Spiel der
Blicke, bzw. einen Wechsel der Positionen, indem sie eine Art ritueller Annäherung an der Grenze von Ordnung und Chaos, Kontrolle und Angst versuchen. Distanzierung und Verweigerung, Achtung und Anziehung des Blicks der
Davorstehenden gehen mit einem sie kontrollierenden oder begehrenden Blick
einher. Vor allem der Blick des ‚normalen’ Publikums auf den ‚Anormalen’,
‚Mitleidigen’ oder ‚Phantastischen’ ermöglicht eine stabile, kohärente Identität als
der des gesunden, somit überlegenen Menschen. Der Anblick ist aber zugleich
beunruhigend, weil der beobachtete Blick plötzlich erwidert zu werden droht:
Wachspräparate als lebloses Objekt in materieller Erscheinung, die keineswegs
Subjektqualität besitzen, blicken selbst den Betrachter an, die Blicke zwischen
Dargestelltem und Zuschauenden wechseln auf der Ebene des Spiels, indem sie
das eventuell schwache Selbst des Betrachters potentiell in Frage stellen.24 Das
Groteske, seiner Form nach gekennzeichnet durch die grenzverletzende Mixtur
von Kunst, Natur und Ornament, von Organischem und Anorganischem, Mechanischem und Natürlichem, findet somit hier seine ästhetische Nobilitierung,
indem es die ästhetische Ambivalenzstruktur, die bei der Annäherung an Tabus
und Natur entsteht, erfüllt. Von dieser Ästhetik profitiert die Anatomieplastik, es
geht ausschließlich um die sinnliche Annäherung an Leichen und die unheimliche, zwischen Faszination und Schrecken pendelnde Anordnung des vertrauten und fremdartigen Körpers. Nachdem die Grenze zwischen naturwissenschaftlichem und künstlerischem Interesse verschwamm, trieben die Wachsplastikmuseen dieses Attribut auf die Spitze, so dass ästhetische Präsentation,
rituelle Inszenierung und rationale Erkenntnis zu konvenieren begannen.25
24 Man warnte deshalb bereits den ‚Betrachter der Betrachtenden’ aus sittlich moralischen Bedenken: ‚Schöne menschliche Körper in allen Stellungen mit allen seinen
Theilen zu zeigen ist gewiß lehrreich und gut, wenn nur der Zeiger ein Mensch von
Herzen und Sitten ist’. vgl. Ernst Moritz Arndt: Reisebericht durch einen Theil
Teutschlands, zit. nach: Kleindienst 1989, S. 78.
25 Diese Tradition findet nicht von ungefähr gerade im Panoptikum statt. Zunächst noch
als mobile ‚Raritätenkabinette’ auf den Jahrmärkten unterwegs wurden die Wachsfigurenkabinette mit dem beginnenden 19. Jh. in den großen Städten sesshaft. Sie bot unter dem
Signum der vollständigen Präsentation alles Menschlichen ein Sammelsurium von
Exponaten. So waren ausnahmslos alle Teile des menschlichen Körpers Objekt der Präsentation; Nachbildungen historischer Persönlichkeiten standen neben denjenigen
berühmter Verbrecher, Märchenfiguren neben anatomischen und pathologischen Wachsfiguren. Wie die aristokratischen Wunderkammern versprachen sie hier den Makrokosmos im Mikrokosmos abzubilden, blieben jedoch bloß Zitate.
33
Es wird zusammengefasst:
Anatomische Wachsfiguren, die als erste Androiden die ‚Wahrhaftigkeit’ des
menschlichen Körpers in einer Euphorie eines Glaubens an die Vereinigung von
Kunst und Naturwissenschaft ausstrahlen sollten und den Überblick des menschlichen Körper versprachen, wurden immer in doppelter Eifer angefertigt:
Einerseits in der künstlichen Ambition nach einer Vollendung der menschlichen
Glieder und andererseits in der Einbindung in die Todesikonographie. Als täuschend echte naturalistische Darstellung und unveränderlicher Ersatz für den
menschlichen Körper strebten die Wachsmodelle nach einem vollkommenen
Kunstwerk, gleichzeitig markierten die wächsernen Attrappen aber die Schnittstelle am veristisch nachgebildeten Wachskörper in seiner ganzheitlichen Oberfläche und damit verborgenen Tiefe eine imaginäre todesikonographische
Illusion, deren Übergang sich ‚an der abgezogenen Haut und netter Disponierung
der Glieder’26 in einem Akt ‚auf Leben und Tod’ drastisch akzentuiert wurde.
Anfänglich als ein Ort der Kontemplation sowie ein Schauplatz der Imagination
erfuhren anatomische Wachspräparaten damit eine Verkehrung: Wachsmodelle
lassen ihre Anfertigung in den alten totemischen Ritualen die Toten in der
Erinnerung der Hinterbliebenen weiterleben.
Die Wachsfiguren haben sich bald mit Automaten in der Erwartung durchdrungen, in diesen natürlich bekleideten, beweglichen und sprachbegabten
Kunstfiguren würde sich die höchste Lebendigkeit eines Kunstwerks finden. Eine
Illusion, welche die Automaten in äußerster Konsequenz leisten werden.
26 Johannes Heinrich Zedler: Grosses Vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, zit. nach: Kleindienst 1989, S. 29.
34
3. En suite des Körpers:
Automaten im 18. Jahrhundert
Ein Knabe im feudalen Kostüm, der mit nachdenklicher Miene an einem
Tisch sitzt, taucht seine Schreibfeder in ein Tintenglas, tropft überschüssige Tinte
über dem Glas ab und beginnt einen Text von etwa vierzig Buchstaben auf ein
Blatt Papier zu schreiben, wobei er zweimal absetzt, um den Tintenvorrat seiner
Feder aufzufrischen.27 [Abb. 4]
Die unheimliche, bis heute anhaltende Faszination der Automatenfiguren28
aus dem 18. Jahrhundert liegt bei genauem Hinsehen in dem Körper selbst. In
der Beherrschung und Kontrolle scheinbar natürlichen Körper verbergen sich die
künstlichen Spielformen menschlicher Erfindungsgabe. Ihre inszenatorische
Bannkraft bzw. die Irritation, dass hierbei Natur und Kunst ununterscheidbar
werden, ist dabei ästhetisches Programm. Damit haben menschliche Automaten
mit anatomischen Wachsfiguren eines gemeinsam: Die Ästhetik dient nicht
lediglich der Naturapotheose, sondern erweist sich als Moment einer Inszenierung der Kunst selbst.
Die Mechanisierung des Leibes
Mechanische Automaten machen bereits in der frühmaschinellen Zeit
künstlerische Karriere. 29 Neben Alltagsanwendungen tauchten sie auch in der
27 Der Schreiber (1774) von Pierre Jacquet-Droz und Henry Louis Jacquet-Droz aus
Musée d’Art et d’Histoire, Neuchâtel Schweiz.
28 Johann Heinrich Zedler, einer der wichtigsten Faktensammler im 18. Jh. und Begründer des ‚Universallexikons aller Wissenschaften und Künste’ definiert 1732 den
Automat als ‚eine Maschine, bei welcher die bewegende Kraft einen Teil derselben
ausmacht. Hierzu gehören alle Maschinen, welche durch Gewichte und Federn bewegt
werden, und solchergestalt das Ansehen gewinnen, als wenn sie sich selbst bewegen.’
Federantrieb und eigenständige Bewegung schienen Zedler also wichtigste Kriterien
seiner Definition. vgl. Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexikon
aller Wissenschaften und Künste, Bd. 2, Leipzig 1732, Sp. 2270 ff.
29 Der Begriff der Maschine, die Erfindung mit beweglichen Teilen, die Arbeitsgänge
selbständig verrichtet und dem Menschen von Nutzen ist, wurde in der Antike nicht im
heutigen Sinne mit der Arbeit verbunden, sondern mit der Kunst, insbesondere
unmittelbar mit dem Theater assoziiert. Bei der späteren Begriffsbildung des deus ex
machina ging es um ein dramaturgisches Phänomen. Hinter diesem Begriff steckt nichts
anderes als die Idee, als Überraschungsmoment während der Vorstellung, Schauspieler in
einem Korb über der Bühne herabzulassen, um sie damit göttergleich als maschinelle
35
Form von spielerisch angewandten Figuren auf. Eine von ihnen war die
mechanische Puppe aus dem Automatentheater. Das erste historisch überlieferte
szenische Automatentheater stammt von Heron von Alexandria (zweite Hälfte
des 1. Jh. u. Z.), der als der Geschickteste unter den Automatenkonstrukteuren
der Antike galt. Heron inszenierte unter anderem die Sage von König Nauplius,
der aus Rache die von Troja heimkehrenden griechischen Schiffe kentern ließ. In
seinem Traktat über die Kunst der Anfertigung von Automaten hielt Heron dabei
fest, wie er die Figuren auf die Bühne brachte. Figuren wie Nauplius, Ajax, Göttin
Athene und Delphine wurden durch hydraulische und pneumatische Kräfte
angetrieben. Zum Erstaunen des Publikums drehten sich diese ‚Apparate’, Blitze,
Feuerzeichen ertönten Trommelwirbel und Beckenschläge wie von selbst.30
Die Überlegungen und Darstellungen zum künstlichen Automaten in der
frühen Neuzeit waren im Vergleich dazu keineswegs auf die affektierte,
mystische, im Kern magische Ausdeutung beschränkt. Mittels neuster Erkenntnisse aus der aufstrebenden Naturwissenschaft‚ ein schlüssiges Bild des
menschlichen Organs zu rekonstruieren, beschäftigte man sich mehr und mehr
mit dem Thema als der technischen und intellektuellen Herausforderung. So
findet man nun Automaten in der ‚überformten’ Natur, welche ‚gewöhnlich in der
Figur eines Menschen oder Thieres, die eine Zeit lang, ohne Einwirkung von
außen, durch einen im Innern verborgenen Mechanism in Bewegung gesetzt, wie
ein belebtes Wesen selbsttätig [zu] wirken’31. Die technische Voraussetzung dafür
leistete der technologische Quantensprung, der sich mit der Entwicklung des
Federantriebs anstelle des raumgreifenden Gewichtantriebs vollzog und sehr bald
in der Folge ganze Produktionsweisen des künstlichen Menschen veränderte.
Simulation einer Schicksalsinstanz einzusetzen. vgl. Richard Emanuel Weihe: Die
Theatermaschine. Motion und Emotion, Zürich 1992.
30 Die Zusammenfassung einschließlich Regieanweisungen der Aufführung durch Diels
liest sich so: ‚I. Akt: Zwölf Griechen hantieren an den Schiffen, um sie vom Stapel zu
lassen. Allerlei Handwerker arbeiten im Hintergrunde: sägen, hämmern, bohren usw.,
ähnlich wie bei den Hellbrunner Automaten, nur dass dieses altgriechische Automatentheater nicht durch Wasserkraft, sondern durch starke Gewichte getrieben wird, die mit
Schnüren die Räder und Maschinen in Bewegung setzen. 2. Akt: Stapellauf der Schiffe. 3.
Akt: Fahrt der Schiffe. Delphine tauchen neben den Schiffen auf und nieder. 4. Akt:
Sturm. Nauplios errichtet das falsche Fanal. 5. Akt: Schiffbruch. Ajax schwimmt nach
dem Lande. Da erscheint oben auf der Theatermaschine (ganz wie im alten attische
Theater) die Göttin Athene, die den Blitz gegen ihn schleudert. Die Donnermaschine
besorgt den obligaten Gewitterlärm. Ajax verschwindet in den Fluten, indem ein Prospekt
sich verschiebt und den Schwimmer verdeckt.’ vgl. Hermann Diels: Antike Technik,
Leipzig 1914, S. 56-57.
31 Ersch/Gruber: Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, Leipzig
1820. Bd. I, S. 484.
36
Bedeutend leichter und kleiner als der bis dahin gebräuchliche Energiespeicher
und Motor, ermöglichte das Federwerk autarke Automaten mit verschiedenen,
dezentral gesteuerten Bewegungen. Auf diese Weise konnte man alle für die
Bewegung der mechanischen Androiden relevanten Teile integrieren. Dass
Federantriebe durchaus Figuren antreiben können, zeigt der bereits um 1560
geschaffene ‚Münchner Mönch’; der mit Schrauben, Metallbändern und
Scharnieren ausgestattete Automat konnte sowohl seine Arme auf- und abbewegen, als auch die Füße drehen, indem er den Kopf beugt und dabei den
Mund öffnet und schließt.
Der Bau des menschlichen Automaten erlebte dann in dem 18. Jh. seinen
Höhepunkt. Das Jahrhundert brachte Automaten hervor, die mehr und mehr
‚anspruchsvollere’ Bewegungsabläufe beherrschten. Zu den Meisterleistungen der
klassischen Automatenbaukunst, die in puncto Naturalismus und Leistungsfähigkeit gleichermaßen als Höhepunkt in der frühen Automatenentwicklung
bezeichnet werden können, gehörte der ‚Fluteur’, den Jacques de Vaucanson
(1709-1782) 1738 zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorstellte. Dieser knapp
lebensgroße Automat konnte durch sein federwerkgesteuertes Fingerspiel und die
Modulation sowohl der Zunge, seiner Lippenform und der Stärke seines Atemstroms die zwölf gespeicherten einfachen Melodien auf der Querflöte reproduzieren. Eine Lunge besaß der Flötenspieler dabei nicht, er wies auch weder ein
Muskelsystem für das Ein- und Ausatmen von Luft auf, noch das Herz für die
Zufuhr von Stoffen und keinen Blutkreislauf für den Transport von Gasmolekülen. Es handelt sich somit der Vaucansons Figur weniger um anatomisches Modell
eines menschlichen Körpers, sondern vielmehr um ein Maschinenmodell, das die
Komplexität einer Kunstfertigkeit zu bewerkstelligen suchte. Dadurch unterschied es ihn von den bis dahin gebauten Automaten, die gewöhnlich auf reine
Körperbewegungen fixiert waren. In diese Reihe gehörte auch der ‚Schreiber’,
einer der Automatikpuppen von Pierre Jacquet-Droz (1721-1790) und seinem
Sohn Henry Louis Jacquet-Droz (1752-1791). Berauscht wurde das Publikum
durch die technische Meisterleistung und Anmut dieser lebensechten Nachbildung eines Kindes. Die Konstrukteure legten besonderen Wert auf eine naturgetreue Nachbildung der Bewegungsabläufe bis hin zu den Augen, die dabei den
Schreibbewegungen der rechten Hand folgen. Die Federführung vermittels
mehrerer, miteinander verbundener Submaschinen, die ein kombiniertes Schreibprogramm ausführen lassen, besteht aus der Lenkung der Schreibband zum
Tintenfass, von Tintenfass zum Blatt Papier, auf dem Buchstabe und Buchstabe
37
bis zum letzten Zeichen hingeschrieben wird. Damit kann er eingegebene Sätze
‚mühelos’ reproduzieren und dies in jeder Sprache, die sich der lateinischen
Buchstaben bedient, wobei er, wenn er jedoch einen im Steuerungszentrum nicht
gespeicherten Satz schreiben soll, umprogrammiert werden muss.
Dank dieser Verfeinerung in der Automatenbaukunst wurden die mechanisch
angetriebenen Männchen bald Unterhaltungsgegenstand; als reine Kunstobjekts,
welche die Wirklichkeit täuschend echt kopieren und die lebensechte Kopie als
solche vorführen, dienten sie der Schaulust. Zu ihren Konsumenten gehörten die
gelehrten und aristokratischen Schichten in Kunst- und Wunderkammern, später
auch das bürgerliche Salonpublikum in der Öffentlichkeit gegen Entgelt. In einer
Zeit erwachenden Geschichtsbewusstseins fanden sowohl die Adligen als auch
Handwerker in den Automaten Zeugnisse ihrer Profession und griffen auf dem
Bau eines Automaten als Anfang und zugleich Höchstleistung ihres Könnens
zurück.
Die Kultivierung des Körpers
Bei der Verfeinerung der mechanischen Vorgänge der Automatenbaukunst im
18. Jh. wendeten die Mechaniker folglich nicht einfach mechanische Gesetze im
menschlichen Körper an, sie integrierten sie mehr und mehr in die künstlerische
Form. Dies zeigt besonders, dass die Automaten je nach Formen andere
Funktionen zur Verfügung stellten: Die Automaten in humaner Gestalt, anders
als Tierautomaten32, beschäftigten sich mit einer scheinbar zivilisierten Tätigkeit;
sie musizieren, schreiben oder spielen Instrumente. [Abb. 5] Die Automatikpuppen aus dieser Zeit besaßen in der Tat alle kulturellen Fähigkeiten, deren
Aneignung bekanntlich strenge Disziplinierung und Koordination von Bewegungsabläufen erfordern sollte. Die mechanische Modellbauten schienen diese
mühelos auszuführen und sogar ‚zu ermöglichen, alles Ideale und Schöne, wie das
32 Die Automaten, die zwischen Phantastik und Natur changieren, erfassen auch die
natürliche Haltung von Tieren. Vaucansons mechanische Ente beispielsweise, gebaut um
1733/1734‚ ‚streckt ihren Hals, um die auf der Hand liegenden Körner zu picken [...]; sie
schluckt, verdaut und scheidet sie völlig verdaut auf den üblichen Verdauungsbahnen
aus. [...] Alle Bewegungen einer Ente, die schlingt, um eifrig die Speise in den Magen zu
führen, wird naturgetreu kopiert.’ Der anatomisch-physiologische Kern der Ente besteht
also in der mechanischen Darstellung des Verdauungsapparats. Dazu gehört die
charakteristische Bewegung beim Verschlingen der Körner, dann eine mechanische
Zerkleinerung der Nahrung und deren chemische Auflösung, schließlich die Ausscheidung via Schließmuskel. vgl. Vaucanson in einem Brief an Pierre-François Guyot
Desfontaines, zit. nach: Alexandre Métraux: Marginalien zur Geschichte der Automaten,
in: Neue Rundschau 114. Jg. 2003 Heft 2, S. 76.
38
Musizieren oder das Denken, als bloße technische Verfeinerung des Mechanischen zu betrachten’ 33 . In ihnen scheint sich alles Mechanische und das
Kulturelle einander anzunähern. Hier liegt die Attraktion der Automaten,
weshalb die damaligen Automaten in aller Regel so konzipiert waren, dass das
Publikum auf Wunsch einen Blick in das Räderwerk des Mechanismus werfen
konnte. [Abb. 6]
Diese fortwährende, gleichmäßige, wenn nicht erzwungene Ausführung von
vermeintlich kulturellen Tätigkeiten der Automaten beinhaltet jedoch einen
subversiven Moment, der in sich verbirgt; nicht die einzigartige Fähigkeit des
Menschen scheint für die Differenz zum ‚Wilden’ verantwortlich zu sein, diese
konstituierte sich in der Tat durch die Nachahmung, bzw. Wiederholung.
Kulturelles Können nicht als ‚einmalige Leistung’, sondern als ritualisierter und
internalisierter Produktionsprozess. Weshalb dieser ästhetische Körper des
Automaten das damalige Publikum verblüffte, welches sich durch seine
kulturellen Leistungen als einzigartig von dem ‚Fremden’ zu unterscheiden
glaubte, aber diese offensichtlich leicht von automatischen ‚Dingen’ blenden ließ.
Die Faszination, die Automaten ausübten, mündete daher nicht immer in die
Bewunderung der neuen technischen Realisierung, sondern zunehmend in
Ängsten und libidinösen Phantasien; das Unheimliche artikulierte sich allmählich
als Gegenpol zum Wunderbaren.
In der Folge entwickelten sich Denkvorstellungen, im Kontext der anschwellenden Einbildungskräfte mechanischer Automaten, die Bewegung der
Natur, bzw. des menschlichen Körpers zu erklären.34 Ihre Bedeutung liegt vor
allem darin, die qualitative Veränderung der Wissenschaftskonstitution und des
neuen Naturverhältnisses exemplarisch darzustellen und das Verhältnis des
Erkenntnissubjektes, bzw. das Verhältnis zur Sinnlichkeit, zur äußeren Natur und
schließlich zum menschlichen Körper im methodischen Vorgehen zu untersuchen. Damit gewannen die Automaten die Konstruktion von Maschinen als
Menschen und gleichzeitig den philosophischen Entwurf des Menschen als
33 Leinhard Wawrzyn: Der Automatenmensch. E. T. A. Hoffmanns Erzählung vom
Sandmann, Berlin 1976, S. 100.
34 Die erste bedeutsame Ausprägung erhielten diese Denkrichtung durch den Philosoph
René Descartes (1596-1650) und Julien Offray de La Mettrie (1709-1751), die als erster
streng methodisch den menschlichen Körper rein quantitativ erfassten. vgl. René
Descartes: Traité de l’Homme (1633)/ ders.: Discours de la Méthode (1637); Julien
Offray de La Mettrie: L’Homme Machine – Die Maschine Mensch. (Übers. u. Hg. von
Claudia Becker). Hamburg 1990.
39
Maschine, das heißt, die Erklärung natürlicher Vorgänge im menschlichen
Körper aus den Prinzipien der Mechanik als Metapher für einen monistischen
Entwurf des Menschen als homme machine. Damit ist die technische
Reproduzierbarkeit der künstlichen Tätigkeit zweifach sichergestellt.
Es wird zusammengefasst:
Die Automaten im 18. Jh., die als erste größte Annäherung an die perfekten
Androiden gelten, lassen sich durch drei Ansprüche definieren. Äußerlich
ähnelten die Automaten mit ihrem mimetisch modellierten Körper Menschen in
Form und Gestalt. Sie bewegten sich mit ihren regelmäßigen, mechanischen
Gliedern von selbst. Und schließlich erregten die mechanischen Puppen das
Publikum durch ihre eigenständige Bewegung wie Musizieren, Schreiben, Kombinationsfähigkeit und auch Sprechen. Der Bau einer automatischen Kunstfigur
kann damit durchaus als Verbindung neuer, mechanischer Rationalität mit
traditionellen, altbekannten Formen gesehen werden: Automaten sind mechanische Strukturen, die menschlichen Wesen ähneln.
Die Automatikpuppen begeisterten ihren Zuschauer vor allem durch ihren
kultivierten Körper, der komplizierte kulturelle Tätigkeiten zu meistern wusste.
Die vorgeblich einzigartigen menschlichen Aktivitäten wurden damit den
Funktionen des Körpers untergeordnet und das Wissen um den menschlichen
Körper wiederum wurde auf die Wiederholbarkeit körperlicher Prozesse
reduziert. Trotz der Bewunderung für die Salon-Automaten und Spekulationen
über das Konstrukt eines künstlichen Wesens war man sich deshalb der
Maßlosigkeit und des schmählichen Ausgangs bewusst: Die ‚Apparatur’ trat in
Konkurrenz zu den Möglichkeiten des menschlichen Körpers, dieser muss sich in
die Schöpfung des Mikrokosmos einfügen. Nachdem die ‘natürliche’ Differenz
zwischen Mensch und Maschine schwand, blieb nichts anderes übrig als zu
trauern, in dem Nachfolger; Marionetten.
40
4. Biegsamer Körper :
Marionetten und ‚Marionettentheater’ von Heinrich v.
Kleist
‚Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu
streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche
Hemmung neu zu beleben; wir brauchen ihn, um darauf zu
ruhen, und uns von der Anstrengung des Tanzes zu erholen: ein
Moment, der offenbar selber kein Tanz ist, und mit dem sich
weiter nichts anfangen läßt, als ihn möglichst verschwinden zu
machen.’35
Marionetten sind mit den Automatenfiguren nahe verwandt. Wie die
mechanischen Puppen inszenieren sie die Ambivalenz von Kontrolle und
Unkontrollierbarkeit des menschlichen Körpers, hier wie dort zelebrieren sich die
Gegensätze. Der Unterschied ist es jedoch, dass der Automat mit einem eigenen
Aggregat aufgetreten ist, die Gliederpuppe aber mittels Fäden vorgeführt wird.
Die Faszination der Marionetten liegt folglich darin, dass sie mehr als andere
Kunstwesen erst durch menschliches unmittelbares Mittun lebendig werden.
Man hegt den Wunsch, einmal ‚die Puppen tanzen zu lassen’. [Abb. 7]
Heinrich von Kleist verbindet jedoch in seinem Aufsatz Über das
Marionettentheater diese alte Marionettenmetapher mit der neuzeitlichen
Entdeckung der universellen Gesetzmäßigkeiten der Mechanik, indem er
gleichzeitig die Deutung der Gliederpuppenmotive in die Dimension der
Überwindung des natürlichen Körpers überführt.
Künstlerischer Körper
Marionetten werden ‚dank der besonderen Beweglichkeit und der damit
verbundenen darstellerischen Möglichkeiten’36 seit jeher in der Bühnenillusion
verwendet. Insbesondere seit dem 16. Jahrhundert, dem Beginn einer ersten
Säkularisierungswelle, tauchten sie mit noch geistlichem Inhalt auf Jahrmärkten
auf, indem sie dann im Lauf der Zeit mehr und mehr Elemente des
Schauspielertheaters übernahmen. Ihre Typenhaftigkeit näherte sich etwa denen
35 Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, in: ders.: Sämtliche Werke und
Briefe. Helmut Sembdner (Hg.) Bd. 2, München 1965, S. 342.
36 Manfred Brauneck/ Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon, Hamburg 1992, S. 575.
41
der Commedia dell’Arte an, weckte damit als ein mögliches Gegenmodell zum
zeitgenössischen Schauspieltheater Interesse. Das Theater der Marionetten hat
vor allem den Vorteil: Im Spiel der Marionetten wird die Illusion von vornherein
vermittelt. Spielend lassen sie zwar eine eigene Welt erstehen, da aber die
Protagonisten aus Holz und Stoff sichtlich verkleinert sind, ist ihr Kunstcharakter stets offenkundig. Die Situation mag somit vergnüglich oder bedrohlich, von der Liebe zur Prinzessin oder vom Schrecken des Teufels geprägt
sein, immer kann sich aber Hanswurst oder Kasperl auf die für ihn typische
burlesk-zupackende Art über sie hinwegsetzten.
Dass die hölzernen Darsteller die Rollenvorgabe des Dramas unterlaufen,
bedeutet auf der anderen Seite, dass sie von Anfang an die totale Bereitschaft der
widerstandslosen Akzeptanz einer Rolle besitzen müssen. Mit anderem Wort:
Puppenspiele setzten immer Puppenspieler voraus. Erst durch die Ausblendung
der Spieler und das Verkennen der Fäden werden die Gliederpuppen als
autonome Bühnengestalt auf dem Brett gebilligt. Es verbindet sich deshalb die
Drahtpuppe immer schon mit der negativen Bedeutung eines am fremden Faden
geführten Subjekts: Die Marionette hat sich als Sinnbild für den ferngesteuerten,
manipulierten Menschen etabliert. Konnten die spielerischen Automaten mit
ihrer mechanisch-technischen Selbstgenügsamkeit als autonome menschliche
Subjekte betrachtet werden, wurde die Marionette zum Symbol der Fremdbestimmung schlechthin. Gerade aufgrund dieser widersprüchlichen Eigenschaften waren Marionetten im 18. Jh. das beliebte literarische Sujet in der Tradition
des künstlerischen Menschen. Zwischen dem Symbol einer bloß von außen bestimmten Existenz und dem fernen Ideal eines allegorischen Charakters
schwankt das Bild der Marionette. Das ganze Spektrum erstreckt sich stets
zwischen dem Wunderbaren und Unheimlichen.
Der kurze Aufsatz Über das Marionettentheater von Kleist hat in diesem
Zusammenhang verschiedene Deutungen erfahren: Als Parabel der romantischen
Ästhetik, als Allegorie der christlichen Rechtfertigungslehre, als eine Offenbarung
der hermetischen Gnosis, als Schlüssel zu Kleists anderen Werken und nicht
zuletzt als Satire aufs zeitgenössische ‚Ballett’.37 Reagierte Kleist sogar mit dem
37 vgl. Reiner Maria Rilke: Brief an Marie v. Thun und Taxis vom 16. Dez. 1913, in:
Briefe Bd.1, Wiesbaden 1950, S. 446; Hugo v. Hofmannsthal: Deutsches Lesebuch Bd. 1,
München 1922, S. XI; Helmut Sembdner (Hg.): Kleists Aufsatz über das
Marionettentheater. Studien und Interpretationen, Berlin 1967, S. 221; Hanna Hellman:
42
Essay auf die von der Mechanik formulierten Naturgesetze mit ihrer konsequenten Übersteigerung, die in der beunruhigenden Vermutung mündeten, dass
Menschen die Puppen sein könnten, deren Bewusstsein der Grazie der technisch
perfekten und damit quasi-natürlichen Gliederpuppe unterlegen sein könnte?
Solche Interpretationen sind doch wenig hilfreich, um auf die elementare Frage
antworten zu können, weshalb Kleist die leblose, mechanische Puppe als Beispiel
des absolut graziösen Wesens gewählt hat, welches Fasziosum Kleists von der
Kunstfigur ausgeht? Der folgende Überblick versucht, Kleists Gliederpuppen
weniger in ihren philologischen, gesellschaftskritischen, mithin philosophischen
Bedeutungszusammenhängen, vielmehr in ihrer besondern Natur nachzugehen;
dem Verhältnis der Marionetten zwischen künstlichem Körper und natürlicher
Schwerkraft im Bezug auf die Ausdrucksmöglichkeiten von Sprache, Verstummen
und Gebärde.
Graziöser Körper
Die Abhandlung fängt mit dem Lob der Drahtpuppe an. Herr C., der erste
Tänzer der Oper, stellt dem Ich-Erzähler gegenüber die Behauptung auf, ein
Tänzer, der sich ausbilden wolle, könne mancherlei von der Puppe lernen. Denn
die Gliederpuppen können viel graziöser als ein Mensch tanzen, weil jede ihrer
Bewegungen von einem inneren Schwerpunkt ausgehe und daher völlig von den
absoluten Gesetzen der Mechanik gelenkt werde: Dadurch, dass die Puppen von
innen her durch die von Maschinisten ausgeführten Manipulationen des
Schwerpunkts kontrolliert würden, seien die Puppenglieder nichts als Pendel und
folgten den Verschiebungen im Schwerpunkt des Körpers, die durch Stellungsveränderungen entständen. Der Vorteil, den diese Puppe lebendigen Tänzern
voraushaben würde, ist demzufolge, dass sie sich niemals ziere:
‚Denn Ziererei erscheint […], wenn sich die Seele (vis motrix) in
irgend einem anderen Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt
der Bewegung.’38
Heinrich von Kleist. Darstellungen des Problems, Heidelberg 1911, S. 13; Freidrich
Braig: Heinrich von Kleist, München 1925; Kurt Hohof: Heinrich von Kleist in
Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1958, S. 131.
38 Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, S. 341. Wenn Kleist hier die
aristotelische Definition der Seele als vis motrix, als bewegende Kraft, wörtlich nimmt,
hebt er die Zweiteilung von vermitteltem Inneren und vermittelndem Äußeren auf. Der
Aufsatz bricht somit mit der von achtzehnten Jahrhundert übernommenen Ausdrucksästhetik. Kleist Miniatur einer Tanzästhetik bildet einen in seiner mechanistischen Kühle
einen Gegenpol zu den um 1800 vorherrschenden Auffassungen, Tanz von seinen
43
Bühnenmarionette, deren Gliedmaßen, befestigt an einem Spielkreuz in der
Hand des Puppenspielers, sich bekanntlich mittels Fäden und Drähten bewegen,
sind nach Ansicht vom Herren C. dem physikalischen Gesetz der Schwerkraft
untergeordnet sind, weshalb ihre Bewegungstendenz ein Ausbalancieren ihres
Schwerpunkts ist, aus dem die einzelnen Glieder herausgehoben werden müssen.
Ihr seelenloses, unselbständiges und nur reagierendes Gebilde, das den Gesetzen
der Mechanik folgt, wird somit gerade aufgrund ihrer ‚Unbewusstheit’ zur
absoluten Verkörperung von Harmonie und Grazie. Die menschlichen Bewegungen, befürchtet Herr C., sind dagegen von allerlei Unordnungen abhängig,
da sie nicht von dem reinen und absoluten Gesetz der Mechanik, sondern von der
Wirkung des individuellen Geistes oder Bewusstseins gelenkt werden. 39 Die
Grazie ergäbe sich aus einer vollkommenen Integration des Geistes mit dem
Körper, das Fehlen einer solchen Integration führe hingegen zum Ungraziösen.
Seit der Mensch durch den Sündenfall der reflektierenden Erkenntnis seine
ursprüngliche Harmonie mit der göttlichen Schöpfung verloren habe, bzw. an
Uneinigkeiten zwischen Geist und Körper leide, wobei die Seele und der Körper
kein harmonisches Ganzes, sondern eine Serie von gegeneinander strebenden
Teilen bilden, zeige sich seine Unfähigkeit zu Anmut und Grazie der Bewegung.
Dieses ‚Bewusstsein’ könne die Einbeziehung in ein Ganzes des Körpers derartig
stören, dass sich menschliche Glieder oft in Disharmonie mitbewegen. Unter
solchen Zuständen befinde sich, fasst Herr C. zusammen, die Seele in
irgendeinem anderen Punkt als in dem Schwerpunkt der Bewegung und könne
man die resultierende Bewegung nicht mehr graziös nennen.
mimischen, mimetischen, und nicht zuletzt auch von seinen moralischen Qualitäten her
zu begründen. Während seine Zeitgenossen Anmut aus dem gestisch-mimetischen
Seelen-Ausdruck zu herleiten und sie moralisch im Konzept der schönen Seele zu fassen
wussten, erklärt Kleist Grazie als Bewegungslinie eines Körpers, dessen Seele als vis
motrix mit dem Körperschwerpunkt übereinstimmt. Die Grazie der tanzenden Marionette
– in Kleists Worten ‚Ebenmaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit’ – ist in erster Linie Resultat
des Spannungsspiels von Schwerkraft und Schwerelosigkeit. Nachzulesen etwa in
Schillers ästhetischen Schriften, oder auch in der ‚allgemeinen Theorie der schönen
Künste’ Johann Georg Sulzers. vgl. Matthias Sträßner: Tanzmeister und Dichter.
Literaturgeschichte(n) im Umkreis von Jean-Georges Noverre, Lessing, Wieland, Goethe,
Schiller, Berlin 1994; Roger Müller-Farguell: Tanz-Figuren. Zur metaphorischen
Konstitution von Bewegung in Texten, München 1995.
39 Aus diesem Grund bezeichnet Kleist die Marionette als ‚Gliedermann’, den sie
steuerten Menschen hingegen als ‚Maschinisten’. Das Humane wird somit zum Mechanischen und umgekehrt.
44
Durch die darauf folgenden beiden Binnentexte wird dieser menschliche
Körper zu veranschaulichen versucht. Sie handeln von der Abwesenheit des
Eigenlebens des Körpers, bzw. den Schwierigkeiten, ein lebendiges Bild des
Körpers zu erfassen, das sowohl den jeweiligen Anforderungen von außen
Genüge leisten, - als auch das ungezwungene Zeigen einer imaginierten
Natürlichkeit des Körpers ausführen muss. Beide Male wird ein Verlust des
Körpers thematisiert, beide Körper betrifft das Problem von intellektuellen
Selbstbewusstsein und körperlicher Selbstwahrnehmung. Der schöne Knabe,
‚dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut’ verbreitete und mit dem der
Ich-Erzähler gemeinsam kurz zuvor die antike Bronzestatue des ‚Dornausziehers’
im Louvre gesehen hatte, glaubte nach dem Besuch, mit seiner Bewegung des
Fußabtrocknens der Position des ‚Dornausziehers’ zu entsprechen, und suchte die
Bewunderung des älteren Freundes für die Schönheit seines nackten Körpers. Als
jedoch keine Bestätigung kam, verlor er die Fähigkeit, sich natürlich zu bewegen:
‚Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl
noch zehnmal: umsonst! er war außerstande, dieselbe Bewegung
wieder hervorzubringen […]’40
Die Reduktion der Grazie auf mechanische Bewegungen nährt die Gesten der
seriellen Bewegungen an. Die bewusste Wiederholung des Ausdrucks der Grazie
missglückt jedoch; sobald der Jüngling agiert, ist die Wiederholung des Immergleichen in Frage gestellt. Das Ergebnis: Er stand ‚tagelang vor dem Spiegel’ und
verlor endgültig den letzten Rest seiner Grazie. Herr C., der selber beim
Fechtkampf von einem Bären geschlagen wurde, erinnert sich indes, dass es dem
Vierfüßler gelang, dem Fechter ‚die Fassung zu rauben’ und in ihm die
Selbstreflexion zu erregen, als dieser merkte, dass der Bär gar nicht auf seine
‚Finten’ einging; er rührte sich nicht einmal. Die Kreatur rief dadurch in ihm eine
ganz besondere Reaktion hervor, die Eingebung, dass sie seine ‚Seele lesen
könnte’.
Im Gegensatz zu dem kampfunfähigen Fechter, dem sexuell unbestimmten
Jüngling und nicht zuletzt dem ungeschickten Balletttänzer, deren Körper wegen
ihrer Unzulänglichkeitsgefühle gelähmt und nach der Abweisung eines Anderen
zu unintegrierten, fragmentierten Gestalten geworden sind, ist nach Ansicht von
Herren C. die Gliederpuppe wieder einmal die starke Gestalt; sie ist ein besseres
40 ebd., S. 343.
45
Symbol für das integrierte, ganze Selbst. Denn die Marionetten können im
Vergleich zu beiden Körpern nur durch das Eingreifen eines Anderen, des
Marionettenspielers, ‚graziös’ werden. Ein idealer Körper also, dessen Glieder
‚tot’ sind und dessen Schwerpunkt vollständig dem Willen des Maschinisten
unterworfen ist. Diese empfindungs- und bewusstlose Marionette verkörpere, so
wiederholt Herr C. abschließend, auf einer künstlichen Ebene jene Absolutheit
und Vollkommenheit, die ansonsten nur dem höchsten Wesen, Gott, zukomme:
‚[…] so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein
Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu
gleicher Zeit, in demjenigen Körperbau am reinsten erscheint, der
entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in
dem Gliedermann, oder in dem Gott.’41
Es wird zusammengefasst:
In Kleist Ideengeflecht arbeitet ein doppelter Blick auf die Gliederpuppen:
Auch wenn Gliederpuppen als Bühnenakteure von einem Lenker oder Puppenspieler, dessen Idee und geistiger Gehalt die eigentliche Substanz der
Bühnenkunst ausmacht, abhängig bleiben, sind sie in der Lage, die reine, bzw.
perfekte Bewegung auszuführen. Die scheinbare Haltlosigkeit der Marionettenglieder, die sich bei Kleist geradezu als Vorzug im Vergleich zum brüchigen,
starren menschlichen Körper erweist, ist die Abwesenheit der Eitelkeit,
unbewusste Existenz, mithin Rückkehr zu einer Grazie. Der menschliche Körper
besitzt sich nach Kleist im Übermaß oder unvollständig.
Dieser Gedanke, dass es hier das Bewusstsein ist, welches zur Spaltung des
Menschen führt und seine natürliche, spontane Grazie in der Bewegung und
Tätigkeit verdirbt, indem es Überlegung zwischen Idee und Tat einschaltet, ist
Gemeingut der Romantik. Kleists Bewunderung der künstlichen Menschen ist
jedoch ein Widerspruch zur romantischen Ideologie der Zeit, in der das
Organische und Natürliche verehrt, das Mechanische und Leblose aber abgelehnt
wurde. Kleist erkennt im Menschen ein tragisches Bewusstsein, denn der Mensch
kann weder Gott noch Marionette werden. Obwohl er Akteur ist, bleibt der
Schauspieler gleichzeitig immer manipuliertes Wesen. Die ‚Rettung’ scheint bei
Kleist in dem artifiziellen Wesen zu liegen; in dem Ausdruck der planmäßigen,
maßvollen Bewegung des Kunstkörpers auf die Schöpfung der vollkommenen
und göttlichen Ur-Körper hin.
41 ebd., S. 345.
46
5. Körper als Kleiderpuppe42: Schaufensterpuppe
Sie stehen regungslos hinter einem Schaufenster, mit ihren anmutig geschwungenen Lippen, kleinen Nasen und perfekt modellierten Körpern. Die
Augen blicken dabei leer. Als wären sie soeben aus der Garderobe gekommen,
tragen sie mondäne Kleidungen und stehen dem Betrachter direkt oder schräg
gegenüber. [Abb. 8] Es sind durchaus ‚Personen’, zu denen man aufblicken kann.
So ähneln sie zuweilen der 30er-Jahre der Greta Garbo oder dem Herzog von
Windsor oder Twiggy aus den 60er-Jahren, deren Gesichter und Körper übertrieben lang und mager ausschauen.
Keine andere anthropomorphe Kunstfigur ist so eng verbunden mit der
Bühnenfigur wie die Schaufensterpuppe. Sie ist in ihrem öffentlichen Auftreten
das figurative Medium, die menschliche An- und Abwesenheit zu simulieren und
zu verkörpern. Ihr nackter somit scheinbar natürlicher Körper wird durch eine
gewollte Künstlichkeit, wie z.B. Schminke, Garderobe, Geste usw. ersetzt. Nicht
zuletzt tritt in ihr das klassische Verhältnis vom Schau-Stellen und der InsSzenierung vor dem Zu-Schauenden auf.
Körper der Authentizität
Dass das Theater eine zentrale Metapher für die Wahrnehmung des
Schaufensters und seiner Protagonisten innehat, registrierten bereits zu Beginn
des 20. Jh. einige Zeitgenossen:
‚Schauspiele angewandter Kunst genießt man jetzt nicht mehr
allein in den Ausstellungen unserer Salons, in den Inszenierungen
unserer Theater, sondern auch in den Straßen der großen Städte.
Die Wände der Straßen, in vergangenen Zeiten ein streng,
abschließendes Bollwerk, sind jetzt transparent geworden,
gläsern, lichtdurchflutet, bieten sie bunte Bühnen, changierende
Panoramen an.’43
42 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der
Intimität, in: Sylvia Bovenschen (Hg.): Die Listen der Mode. Frankfurt am Main 1986, S.
310.
43 Felix Poppenberg: Schaufenster-Regie, in: Arena, Dezember 1906, S. 963.
47
In der Großstadt wie Paris erwies sich das Schaufenster als besonders
spannend, so beschreibt ein anderer Flaneur:
‚Ich gehe jeden Tag spazieren […] Es ist meistens derselbe Weg
aber es ist nie dasselbe Paris. Meine Museen bewahren es vor
jeder Monotonie. Meine Museen sind deine Schaufenster, oh mein
Paris! […] Großartiges, wechselvolles Schauspiel […].’44
Die Laufbahn der Schaufensterpuppe bewährt sich folglich außerhalb der
etablierten Kulturinstitutionen bzw. innerhalb der Straße: in der Konsumkultur.45
Das Mannequin verdankt nämlich seine Existenz dem Entstehen des kommerziell
arrangierten Haut Couture, die um 1860 das Phänomen der Vorführkörper
hervorgebracht hatte. Als Stammvater dieser Entwickelung gilt der Pariser
Schneidermeister Lavigne, der um 1850 ein Verfahren entwickelte, Schneiderbüsten nach dem Wachsabdruck menschlicher Körper herzustellen. Der Erfolg
dieser bald darauf patentierten Schneiderpuppen veranlasste ihn zur Gründung
einer eigenen Serienfabrikation. Waren es zuvor noch Bühnenschauspielerinnen
46
oder Vorführdamen, welche die Nouveauté feilboten, treten nun
sukzessiv Schaufensterpuppen an ihrer Stelle. [Abb. 9]
Diese steigende Nachfrage nach Mannequins und die Industrialisierung der
Produktion, nachdem die Verzierung der Warenhäuser mit Mannequins zum
integralen Bestandteil der Schaufensterdekoration wurde, verlangte bald entsprechende Körper für Szenarien und Inszenierungen. Um sich als Ort des
Warentausches zu kreieren, reichte allein die Präsenz der menschlich modellierten Gestalt nicht aus, das indirekte Verführungspotential sollte sich von dem
mäßigen Vorführkörper auf ihren ‚arrangierten Gesamtkörper’ verlagern. Mit
anderen Worten: Ein Körper, der mehr als eine plumpe Schneiderbüste sein
sollte. Die neuartigsten mannequins articulés waren deshalb mit Sägespänen
44 Colette (1933), zit. nach: Nicole Parrot: Mannequins, Bern 1982, S. 129.
45 Die Veränderung der Lebensbedingungen der Zeit in Paris bot eine unmittelbare
Anschauung der Entwickelung der Konsumkultur und bezeugten sogar Veränderungen
der städtischen Topographie wie die sog. Haussmannisation, worunter die von Baron
Haussmann zwischen 1850-60 gebauten großen Boulevards und die Dezentralisierung der
alten Arbeiterviertel verstanden wurde. Dadurch wurden nicht nur dem Verkehr Tür und
Tor geöffnet, sondern auch für die Passanten und die Konsumkultur völlig neue
Dimensionen geschaffen.
46Die ersten Modemannequins waren Theaterschauspielerinnen. Modeaufnahmen in den
frühen Modefotografien zeigen dies deutlich; vor einer nachgebildeten Kulissen
inszenieren sich zeitgenössische Schauspielerinnen in einer höchst künstlichen – oder
auch künstlerischen Pose.
48
gefüllte Leiber, die über holzgeformte Arme und Beine samt Handschuhen
verfügten. [Abb. 10] Die Köpfe waren je nach Ausführungswunsch aus Pappmaché oder Wachs mit Echthaar oder aufgemalten Haaren versetzt. Es wurden
hinzu nicht nur in sich bewegliche, sondern auch bewegte Schaufensterpuppen
entworfen, unter anderem eine rotierende Halbbüste mit dem Kopf, die, auf
einem maschinellen Sockel befestigt, sich Stunden lang um ihre eigens Achse
drehte.47 Es tauchten auch, neben der ‚braven und aufrechten Bürgersfrau’, die
Reitende oder Radfahrerinnen, die mit goldenem Puder mattiert oder
silbrigglänzend lackiert waren. 48 Sobald am Schaufenster Repräsentation und
Präsentation eins werden, erhalten die Mannequins eigene Gesichtszüge und
Namen, schälen sich mehr und mehr erkennbar heraus. Bereits die
Schneiderbüste aus den Ateliers von Pierre Imans, denen man zu Beginn des 20.
Jh. in allen Modegeschäften begegnete, richteten sich beispielsweise nach dem
Zeitgeschmack bzw. den Namen wie Lucile, Linette, Roberte, Manon. 49 Einst
anonyme Kleiderständer rückten damit als eigenständige Persönlichkeiten in den
Mittelpunkt: Mit ihren unverwechselbaren Gesichtszügen wurden sie durch die
Namensgebung und würdige Umgebung endgültig zu ‚Einzelwesen’ erhoben. Die
bekleideten Kunstkörper aus der Vitrine waren auf dieser Weise nicht mehr
reiner Zulieferer der Produkte. Sie priesen nicht bloß die Ware Mode an, sondern
ein bestimmtes, längst selbst als Kunst zu verstehendes Bild – sich selbst. Der
anfängliche Vorbehalt der Kritiker, ob diese ‚dürftige Kleiderständer-Ikonen;
diese Simulakren weiblicher und männlicher Geschöpfe’, etwa im Konkurrenz
zur klassischen Kunst, ‚überhaupt über eine Geschichte verfügen, die es wert
wäre, erzählt zu werden’, ließen sie damit verstummen, indem die
Schaufensterpuppen mit ihrem Podest determiniert zu Ersatzmuseen für Mode
und Gegenstände, Kultur und Kitsch und, als ‚Spiegel der Wirklichkeit, als
47 Diese sog. Stockmanns-Mannequins haben den bedeutenden Impuls zu ihrer
Industrialisierung der Mannequinsproduktion gegeben. vgl. Parrot 1982, S. 43.
48 vgl. Elisabeth von Stephani-Hann: Schaufensterkunst. Lehrsätze und Erläuterungen.
Berlin 1926.
49 vgl. Parrot 1982, S. 24.
49
Spiegel der Passanten’ 50 darauf ‚ein Theater mit durchgehender Vorstellung’ 51
wurden.52
Körper als Kleiderpuppe
Im Lauf der Jahre avancierten die Schaufensterpuppen mit materieller
Erleichterung und technischer Perfektionierung zum Kunstwesen aus Realen und
Idealen, wurden endgültig Hauptakteure der Moderne. Die Mannequins sind
gleichwohl in erster Linie ein Kunstprodukt, dessen Bestehen erst und ausschließlich dem Vorführen mondäner Bekleidungen dient. Sie sind industrielle
Produkte in zeitgemäßer Gewandung, und zwar des stets Allerneuesten,
bedienten darin meist den Zeitgeschmack und überakzentuierten ihn oft. Ihr
artifizieller Körper ist reine Projektionsfläche, in der sich die Mode und ihre
flüchtige Existenz im Augenblick des Verkleidens durchqueren.
Menschlicher Körper und Kleidung stehen seit jeher in einem komplexen
Verhältnis zueinander. Da Bekleidung immer mit dem Körper verbunden ist,
bzw. nah auf der Hautoberfläche aufliegt, geht sie mit ihm im Tragen ein inniges
Verhältnis ein. Die beiden sind durch Abdruck und Nachahmung eng miteinander verknüpft und bringen sich wechselseitig als Plastik und Passform
hervor. So bilden sie sich gegenseitig als Positiv und Negativ, sie sind beide
immer Bildner und Objekt zugleich. Zu dieser engen Bindung zwischen Körper
und Kleid kontrastiert jedoch der Abstand, welcher das Paar voneinander trennt;
obwohl ihre konzeptuelle Verbindung den beiden die Autorität eines Trägers
verleiht, impliziert dieses Prinzip der Verbindlichkeit auch, dass ihre Berührung
nur eine flüchtige ist und immer dann stattfinden kann, wenn es sich das In-EinsSetzen von Kleid und Körper ereignet. Das Kleid bringt augenblicklich nur opake
Oberfläche eines dichten Korpus hervor. Es gibt daher kein ‚ewiges Gewand’, das
den Körper restlos identifizierbar machen würde und umgekehrt. Die Annährung
und Trennung zwischen dem Kleid und Körper evoziert die ewige Bewegung ihrer
Überbrückung. Und sie ist es, die immer wieder einen Handlungsspielraum
zwischen Identitätsfixierung und Identitätsentwurf eröffnet.
50 Tilman Osterword (Hg.): Schaufenster. Die Kulturgeschichte eines Massenmediums,
Stuttgart 1974, S.8.
51 Parrot 1982, S. 121.
52 zit. nach: Parrot 1982, S. 148; Berliner Tagblatt 1937, zit. nach: Wolfgang Brückner:
Mannequins. Von Modepuppen, Traggestellen, Scheinleibern, Schandbildern und
Wachsfiguren, in: Barbara Krafft (Hg.): Traumwelt der Puppen. München 1991, S. 10.
50
Diese ‚oberflächlichen Hüllen des Selbst’ 53 unterliegen derweil durch ihre
alltägliche Berührung bzw. den Gebrauch dem Prozess der Alterung. Einerseits
durch den materiellen Verschleiß von Textilien und andererseits die veränderlichen ästhetische Kriterien. Somit zeichnet die ‚zweite Haut’ die Erinnerung an
ihre imaginäre Geschichte des Trägers aus und weist auf seinen Geschmack
indirekt hin. Im Vergleich dazu weist die Garderobe aus der Vitrine keine
‚Erinnerung’ auf. Während das Kleid sich am menschlichen Körper den
wechselnden Bedürfnissen, Identitäten und Wünschen des Individuums anzunähern sucht, erstrebt es auf der artifiziellen Haut nichts davon. Das Wissen um
den künstlichen Körper, bzw. seine Vergangenheit, sein Alter und Sehnsüchte
sind rein in der Phantasie des Außenstehenden bzw. Fußgängers relevant. An der
Schaufensterpuppe amalgamieren stattdessen Körper und Kleid direkt. An ihr
wird die dekorative Schnittstelle zwischen Humangebilde und Industrieprodukt
unmittelbar angezeigt, die Differenz von menschlicher Gestalt und technischen
Gerät tendenziell getilgt. Mit der Aktualisierung der Mode und künstlerischen
Technik ist die Schaufensterpuppe ihrem Wesen nach ein Gleiten zwischen Sein
und Schein, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Dieses Oszillieren zwischen
Körperlichkeit und Dinghaftigkeit macht die anthropomorphen Kleiderständer
zum direkten Objekt des Ortes, an dem sich die Veränderungen von Körperformationen durch künstlerische Entwürfe und technische Konstruktionen
verflechten. Der Puppenkörper korrespondiert mit dem Erscheinungsbild der
Zeit, umgekehrt kommt die Idee der technischen Moderne in den einheitlichen
Körpern der Schaufensterpuppen zum Tragen. 54 Die Schaufensterpuppe wird
damit eine bessere Trägerin jeglicher Mode, keine körperliche Unzulänglichkeit
lenkt von der Kunstfertigkeit des Kleides ab. So entsteht eine scheinbare Einheit
zwischen Kleid und Träger, die in der Realität nie erreicht werden kann.
53 vgl. Birgit Richard: Die oberflächlichen Hüllen des Selbst. Mode als ästhetischmedialer Komplex, in: Kunstforum 1998, Bd. 141, S. 48-95.
54 ‚Das modische Schaufenster plagiiert das Leben, nur so kann es heute noch lehren,
was getragen wird und wie das getragen wird, nur so zum Kauf reizen, der die
Nachahmung ermöglicht. [...] es soll aber auch unterhalten. Also müssen die Puppen
interessant sein im Sinne des geltenden Schönheitsideals, interessant auch [...] in dem
Reiz, den sie atmen und ausströmen. Gewiss, sie sind bei aller Normung, die die
Produktion bedingt, Kopien nach irgendeiner individuellen Wirklichkeit [...]. Aber die
Menge sieht nur den Typ und meint, dass so auszusehen das Ideal sei – und bewusst oder
unbewusst, sie kopiert die Kopie. Die Schaufensterpuppe als Bildner, das Schaufenster
als schöpferisches Institut [...] so entstehen Zeitmenschen.’ zit. nach: Ludwig Sternaur:
Puppen wie Du und ich, in: Velhagen und Klasings Monatshefte, 47. Jg. 1932/33, Bd. I,
S. 522.
51
Körper der Moderne
Die Figuren im Schaufenster werden durch das Medium ‚Fenster’, hinter dem
sie stehen, stets von dem Passanten auf Abstand gehalten. Der Blick auf sie kann
daher ebenso identifikatorisch, im Sinne einer narzisstischen Projektion des
eigenen Selbst auf das schöne, perfekte Spiegelbild, wie ‚magisch’ sein. [Abb. 11]
Dieses besonders erotische, provozierende Moment der Schaufensterpuppe,
welches der Sublimierung, der Vergeistigung widersteht, ist aber vor allem durch
das Oszillieren des Wesens, durch das Verbergen und Erscheinenlassen des
Köpers bzw. Geschlechts, gekennzeichnet. Dem Idealen, das man sehen, aber
nicht berühren darf, fungiert das Geschlecht als Ersatz: es verkleidet den Körper,
indem die Kleidung das Geschlecht verbirgt bzw. zur Schau stellt. Denn an dem
Schaufensterkörper interessiert den Zuschauer das, was es zeigt, indem es das
Gezeigte jedoch nicht zeigt: Das künstliche Geschlecht als Körpermaske verdeckt
das reale Geschlecht und legt es zugleich frei. Diese ‚eindeutige Zweideutigkeit’
manifestiert sich bereits in der Sprache: Das Mannequin oder das Modell - ein
Neutrum benennt die beiden Geschlechter. Diese Angleichung im sprachlichen
Ausdruck, die sowohl das weibliche, als auch das männliche bezeichnet, wirft den
Schatten eines Zweifels auf den Ort, an dem der Blick so verführerisch zum
Verweilen eingeladen wird. Nicht bloß die Travestie, durch welche die binäre
Opposition der Geschlechter entlastet wird, ohne dass die Struktur des Binären
selbst zerstört würde, sondern die Mode als Maskerade - im Sinne eines
erweiterten Maskenbegriffs, wo das fiktive Geschlechts die Macht auszuüben
vermag.
Dass dieses Einverständnis des Geschlechts immer mehr an Bedeutung für
den Schaufensterpuppenkörper gewinnt, impliziert gleichzeitig die Artifizialisierung der Lebensräume der Moderne. Die Grenzen dessen, was früher als privat
oder intim galt, werden hier erstmals verschoben. ‚Authentizität’ meint ja bekanntlich die Wunschvorstellung von einer Sphäre, in der das Individuum
vorgeblich ganz es selbst ist, sich ohne Inszenierung als autonome Persönlichkeit
frei entfalten kann, frei von der Kontrolle durch die Öffentlichkeit, frei von der
Notwendigkeit zur Verstellung. Das Phänomen ‚Schaufensterpuppe’ macht aber
diese Sphäre der Intimität öffentlich und den damit einhergehenden Versuch,
Authentizität neu zu schaffen. Dabei lässt sich zwischen Trugbild und Bild,
zwischen Kopie und Original nicht mehr unterscheiden. Und mehr noch: die
Unterscheidung wird hinfällig, weil es auf sie einfach nicht mehr ankommt. Die
künstlichen Menschen strebten stattdessen das Credo der Moderne von der
52
universellen Machbarkeit an. Man kann jedes Kleid, jede Rolle annehmen, man
kann alles sein, alles tun, seinen Körper und sein Selbst buchstäblich zu dem
modeln, was man sein möchte. Man lebt vom Zitat mit dem Vorhandenen und
dessen Kombination dank Make-Up, Frisieren, Fotografien, Beleuchtung und
Blickwinkel zu etwas Neuem. Ein Grund, weshalb die besondere Ausprägung der
Verquickung von Warenkörper und Kultobjekt ihr Optimum aber erst in dem
Entwurf der gesichtlosen Schaufensterpuppe fand, die von ihrer Körperhaltung
und nicht von ihrem Antlitz profitiert. Mit der Auflösung der Gesichtszüge findet
eine Überblendung von Objekt und Subjekt statt. Wer keine Namen hat, bietet
sich an als ideale Projektionsfläche für jene Namen, die der Zuschauer
imaginieren will. Wer keine Namen hat, kann beliebige annehmen. Zu lebensnahe naturalistische Puppen lenken vor allem von der Präsentation der Mode ab.
Die Umgebung, die äußere Hülle, das Kleid sollen durch die ‚Entleerung’ belebt
werden und eine stärkere Aufmerksamkeit erfahren. Die Phantasie soll das
Fehlende ersetzen. Es sind z. B. die terrakottaähnlichen monochromen Skulpturen ohne Augenpartien mit abstrahierten Frisuren. Das gesichtslose Mannequin
erweist sich als Dernier cri, als ‚der Triumph des Geschmacks und der Raffinesse’
und wurde gleich von vielen andern Herstellern kopiert. Das Spezifische einer
technischen Moderne lässt sich in dieser Angleichung ans Gegenständliche, der
Vergabe eines industriellen Finishs, der Präsenz des Warencharakters lesen:
Schaufensterpuppen sind objet moderne, die perfekte Verkörperung des
modernen Bewusstseins.
Es wird zusammengefasst:
Die Schaufensterpuppe als die jüngste Ausprägung des Androiden des 20. Jh.
stellt zwei der bis dato grundlegenden Puppenästhetik in Frage: die erkennbare
Authentizität von Objekten einerseits und den Glauben an die schöpferische
Instanz des Herstellers andererseits. Die Puppe ist noch kein ideales Einzelwesen,
der ein für alle Mal fest steht, sondern hüllenlose Gestalt, die erst durch die
industriell-kommerzielle Bearbeitung bzw. modische Gewandung und Umgebung
‚an-ziehend’ gestaltet wird. So entsteht eine vermeintlich existente Persönlichkeit
hinter der Fassade, solange man sie als Modell-Dekorationen konzipiert. Der
Doppelgänger, also Schaufensterpuppe, ist damit nicht ein zweites Individuum
vom Hersteller, sondern erweist sich als generelles Mode-Bild: Ein Ausdruck der
ständig im Fluss befindlichen Wechselbeziehung zwischen Körper und Kleid,
53
Kunst und Kommerz, Intimität und Bekenntnis - der Körper als Tableaux vivants
in Permanenz.
Exkurs:
Androgynität des Schauspielkörpers
Die Frage nach dem künstlichen Menschen als anthropologischer Grundfigur
geht mit der Thematisierung des Geschlechts bzw. seiner Differenzierung und
Problematisierung einher. Denn dort spricht sich geschlechtsspezifisch Bewusstes
wie Unbewusstes besonders deutlich aus, dort erst werden Vorstellungen von
Geschlechtsdifferenz suggestiv imaginiert (Kruzifixus), mehr sichtig abgebildet
und neu gestaltet (Wachsfiguren, Automaten) und nicht zuletzt in Fiktionen
erprobt und inszeniert (Marionetten, Schaufensterpuppe). Die Beobachtung über
den artifiziellen Menschen lässt sich daher wie folgt festhalten. Androiden sind
asexuelle Figuren, deren Geschlecht formbar und oft zweigeschlechtlich, mithin
androgyn ist.
Der Begriff ‚Androgyn’ bezeichnet ein Kulturphänomen ersten Ranges: Er
weckt die Aufmerksamkeit für Kunstformen menschlicher Kultur, die im
Spannungsfeld von männlichem und weiblichem Körper einerseits und von
originalem und artifiziellem Körper andererseits changiert. Die zahlreichen
Konnotationen, die in dem Wort liegen und zwischen denen die Bedeutungsinhalte oszillieren, nämlich Doppelgeschlechtlichkeit und Geschlechtslosigkeit,
Asexualität und Intersexualität, Hermaphroditismus und Bisexualität, Homosexualität und Transsexualität, sind deshalb keineswegs durch eine simple
semantische Eingrenzung der Bedeutung zu bändigen. Bezüglich seiner Entstehungsmythen ist der Androgyne eher eine undefinierbare, aus uralten esoterischen Vorstellungen zusammengesetzte Imago. Ursprünglich bildete der
Androgyn den Ausdruck der Sehnsucht des Menschen nach harmonisierender
Vervollkommnung; der Wunsch nach Androgynie gehörte zu dem Verlangen
nach Aufhebung der Grenzen, bzw. nach Wiederaufhebung der Geschlechtergrenze. Der Androgyne besteht somit nicht zwischen männlich und weiblich
54
sondern zwischen Einheit und Differenz. Das Phänomen der Androgynen ist
vielmehr eine Kategorie, die dualistisches Denken anzweifelt und eine Krise
herbeiführt. Der Androgyne subvertiert, sei es als reale Gestalt in der Geschichte
oder als Kunstfigur in einem literarischen Kontext, die binäre Unterscheidung in
männlich und weiblich und zeigt im Zeichen der Überdeterminierung die
kulturelle Konstruiertheit von Geschlechterdifferenz auf. So übernimmt der
Androgyne die kulturelle Funktion, den Ort einer ‚category crisis’ zu bestimmen;
‚a failure of definitional distinction, a borderline that becomes permeable, that
permits of border crossings from one (apparently distinct) category to another’55.
Zur Zeit der Antike viel zitiert, in der Alchemie unverzichtbar und in der
Romantik eine erneute Blüte erfahrend, verändert sich die Gestalt des Androgynen im Wandel der Jahrhunderte mehrfach und nicht immer entspricht seiner
Charakterisierung der ursprünglichen Anlage einer im männlichen und weiblichen Anteil ausgewogenen Idealgestalt. Den jeweiligen Stand der Geschlechterbewertung seiner Zeit repräsentierend konnten die religiöse Doktrinen, verschiedene philosophische Vorstellungen, moralische Gesinnungsvorschriften und
die oft strikte Geschlechtercharakterisierung die Vorstellung vom Androgyn
zeitweise sogar unterdrücken. Je bigotter das Zeitalter, desto heftiger wird er
abgewertet, auf seine sexuellen Komponenten reduziert, mithin als abartig
deklariert.
Das Theater hat immer schon seinerseits diese Beschaffenheit der Androgynie
zu nutzten gewusst. Das Spiel der Ununterscheidbarkeit vom biologischen
Geschlecht und semantisch maskierten Geschlecht des spielenden Körpers ist
eine der häufig verwendeten Bühnenkunstformen. Männer in Frauenkleidern
oder Frauen in Männerhosen auf der Theaterbühne decken den illusionären
Charakter der Darbietung auf, und zwar auf zwei sich anscheinend widersprechende Arten, die aber eine doppelte Inversion darstellen. Einerseits beglaubigt beim Mann in Frauenkleidern das Äußere (die Kleidung des Trägers) das
Weibliche und das Innere (der Körper unter der Kleidung) das Männliche,
andererseits bekräftigt aber das Äußere (der Körper des Trägers) das Männliche
und das innere (die Bühnengestalt) das Weibliche. Der gleiche ‚Widerspruch’ gilt
im umgekehrten Fall auch für Frauen in Männerhosen. Diese Spannung zwischen
anatomischem Geschlecht, Geschlechter-Performance und Geschlechtsidentität
55 Majorie Gaber: Vested Interests. Cross-Dressing and Cultural Anxiety. New York
1993, S. 10.
55
ist es, die als eine Leseart der Doppeldeutigkeit repräsentiert. Für jede lesbare
Zeichen der Geschlechtszugehörigkeit umzudrehen bedeutet ein sichtbarer
Aktivismus von nicht zu unterschätzender kontroverser Kraft.
Solche offene Zurschaustellung auf der Bühne barg natürlich die Gefahr in
sich, das Klischee der beiden Geschlechter neu zu beleben. Eine Frau, gehüllt in
Männerkleider, etabliert z. B. eine allzu gern wahrgenommene Normalität, die
mit dem weiblichen Fetischismus einhergeht; die Unsichtbarkeit, damit NichtTheoretisierbarkeit des weiblichen Fetischismus, das sog. weibliche Begehren
nach dem Phallus in Bezug auf den männlichen Körper, wird auf der Bühne
visualisiert, zur Norm menschlicher Sexualität erhoben und somit einmal mehr
Heterosexualität mit Natur und Normalität gleichgesetzt. Die Substitution von
‚richtigen’ Schauspielerinnen für ‚falsche’ Knaben in Frauenrollen ist daher nicht
als Rückkehr zu einer ‚natürlichen’ Form der Mimesis zu sehen, sondern eher als
ein doppelter Tausch, ‚a re-recognition of ploy’.
Ein Schauspielkörper ist kein geschlechtlicher, realer Körper. Er ist weder
biologisch feststellbar noch sozial identifizierbar. Ihm fehlen sämtliche persönlich-gestische Register und existentielle Verklammerung zwischen dem
individuellen Körper und Sozialkörper. Vermeintlich natürliche Zeichen, etwa
wie Gesichtsmerkmale, Geste, Körperhaltung etc., die als typische Attribute bei
der Rollenverkörperung verwendet werden, erweisen sich deshalb als austauschbar, prothesenhaft, mithin künstlich. Der Schauspielkörper ist zudem
abstraktes Medium aus dem Bühnentext, das zwar durchaus körperliche
Attribute aufweist, aber erst in der Vorstellung des Zuschauers zum kognitiven
Konstrukt wird. Nicht individuelle Merkmale für ein bestimmtes Geschlecht
sondern die universelle soziale Bedeutung als charakteristisch begriffenes
Attribut trifft den Kern der Herstellung und Funktion dieses Kunstkörpers. Jeder
Rollenkörper an sich ist daher von Anfang an ‚androgyn’. Der zwittrige Charakter
des
Schauspielkörpers
ist
nicht
auf
eine
sog.
‚core
gender
identity’
zurückzuführen, d. h. auf eine identifizierbare, reale Geschlechtsidentität,
vielmehr ist die Identität eines Schauspielkörpers als ein komplexes ‚interplay’,
als eine parodische Rekontextualisierung von Geschlechtskategorien zu verstehen. Durch äußerliche Veränderungen des Körpers wird ein performatives
rhetorisches Spiel mit Kleidungscodes, Namensgebung und Darstellung in Gang
gesetzt, die Opposition zwischen Konstruktion und Essenz wird im theatralischen
Kontext in Frage gestellt. Unter diese Prämissen kann sich die Geschlechts-
56
performance auf der Bühne nicht als ontologisch fixierte Materialität verstehen,
sondern als Ergebnis einer prozessualen Genese von Form und Bedeutung. Der
dekonstruktive Effekt der Performance als solche liegt in dem Sich-zur-SchauStellen und dem Prozess des Sich-in-Frage-Stellens, der letztlich in einem
Infragestellen des/der Anderen kulminiert. Die Kategorie ‚Geschlecht’ wird dabei
Konstrukt, das in performativen Akten ständig reinszeniert werden muss.
Diese Annahme lässt sich mit der historisch gegebenen Situation prüfen, in
welcher das Theater, wo Männer Frauen spielen und das zeitlang als Norm galt,
verschwindet und Frauen daraufhin die vorher für Männer reservierten Rollen zu
spielen beginnen. Die Bühne als scheinbar sicherer Raum, die dem Schauspieler
in Bezug auf die ‚Re-Kostümierung’ einerseits den ‚falschen’ sozialen Rang und
andererseits das ‚andere’ Geschlecht legitimierte, wird von nun an fraglich. Mit
dem Verzicht auf das Geschlechtsneutrale des früheren Theaters sind der
Tendenz die Tore geöffnet worden, die theatralische Gemachtheit aus den Augen
zu verlieren. Das ‚Nicht-Reale’ vom ‚Realen’ getrennt, wird das ‚Geschlecht’
daraufhin anstelle des Standes zum dominanten Strukturmuster der Theaterbühne. Die Polarität der Geschlechterrollen prägt fortan stärker denn je zuvor
Wahrnehmungs- und Denkstrukturen; ein männlicher Schauspieler spielt eine
männliche Rolle, das heißt Männer-Darstellung durch Männer in übertriebener
Virilität und Frauen in Frauenrollen, was später im Naturalistischen Theater
seinen Höhepunkt erreichen wird.
Eine der radikalen Anliegen der Historischen Theateravantgarden war es,
solche binäre Geschlechterkonstruktionen ‚männlich und weiblich’ zu dekonstruieren: War überhaupt die Geschlechterrollenfixierung das Schauspielkunstmuster des vorigen Jahrhunderts gewesen, wurde die Aufhebung der
geschlechtsspezifischen Rollenverteilung modernes Darstellungsprinzip. Nicht
selten waren daher die literarischen Figuren von den Avantgardisten nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen, auch die Schauspieler selbst verweigerten
sich einer solchen Klassifizierung. Mehr noch: Die Figur der Androgynie war ein
Angelpunkt innerhalb der modernen Kultur, der soziale und politische Brüche
anzeigen sollte. Die Faszination der Androgynität lag nämlich in ihrer bis an die
Grenzen gehenden Inversion nicht nur der Geschlechterfrage, sondern auch des
kulturellen Textes überhaupt. Das so modellierte Konzept von Geschlechtern
wirkte sich, als wichtiges kulturelles Dispositiv, seinerseits erneut auf die
Wahrnehmung und Gestaltung der Lebenswelt aus. Die Destabilisierung der
geschlechtlich kategorialen Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht
57
und dem sozialen Geschlecht wurde zum politischen Akt, da sie die Diskussion
um Konstruktivismus und Essentialismus in Bezug auf die Genderfrage erneut
anfachte und Theater als Alternative dem binären System entgegenstellte. Ob
männlich oder weiblich, Outsider oder Insider, die androgynhafte Figur war ein
einziger crossover style, eine Parodie der Grenzziehung, mithin ein Universalmodell der Bühnenfiguren.
58
Dynamik des Phänomens: Fazit
Von der anfänglich mystischen Struktur als beseeltes Bild über wissenschaftliche Reproduktionen als das Schauobjekt bis die Mischform von natürlichem und industriellem Körper als fortschrittliches Schattenwesen ist das
Phänomen ‚Androiden’ in der Entfaltung der abendländischen Kultur konstant.
Die Dynamik des Phänomens richtet sich dabei sowohl auf das Materielle als
auch das Immaterielle. Sie ordnet sich nicht primär auf der realen, rationalen
Ebene, sondern auch auf der irrationalen, phantastischen Sphäre. Interessant ist
daher nicht so sehr die situative Dynamik, sondern der Bewegungsantrieb, in
dem kontingente Elemente innerhalb der Struktur immer wieder neu ersetzt
werden können. In der Dynamik der ‚Verpuppung’ vereinigt sich damit die widersprüchliche Disposition untrennbar, was vor allem mit der Herstellung des
künstlichen Menschen einhergeht. Die Androiden sind immer in zwei Schritten
konstruiert, einem ‚realen’ und einem ‚idealen’. Der Erste geschieht in der
Zusammensetzung einfacher Teile zu einer komplexen Gesamtheit, während sich
die Einrichtung der Letzteren nach der gewünschten Reihenfolge ereignet. Beide
Handlungen liegen miteinander in Widerstreit, gehen aber in den komplexen
Relationen zwischen Objekt und Subjekt auf. Menschlich modellierten Kunstgeschöpfe sind demzufolge, im Vergleich zu Kunstobjekten, keineswegs mechanische Nachbildung eines ‚Originals’, sondern Matrix, d. h. Ausgangspunkt für
unendlich viele weitere Abdrücke, die es selbst zu generieren imstande ist. In der
Abbildung sind sie nicht nur retrospektive stabilisierende Bestätigung eines fixen
Ur-Bildes, sondern prospektives Versprechen einer modifizierenden Wiederholung durch permanente Bildgenerierung. Die bildliche Emanzipation von
Schöpfer und Modell findet nicht mehr auf der ikonografischen Ebene der
verdoppelten Form statt, sondern in der Medialität der Reproduktion und des
damit verlorenen Originals. Einer leblosen Puppe jenen Subjektstatus zu verleihen, der längst mit dem Objekt des Begehrens zusammenfällt, scheint deshalb
denkbar, weil das, was wir vor unseren Augen haben, Artefakt ist, welches sich
zugleich als subjektiv ausweist. Die Androiden sind somit in Funktion und
Bedeutung, Realisierung und Vorstellung, Wirklichkeit und Mythos synthetisch.
Die Dynamik des Phänomens besteht aus einem ständigen Dialog zwischen
diesen beiden Positionen.
59
Körperlichkeit ist immer Dreidimensionalität. Dem Dreidimensionalen haftet
wiederum etwas Materielles von seinem Vorbild an. Es kann so stark sein, dass
eine Rückverwandlung vom Bild zum Lebewesen möglich scheint. Der Körper ist
schon da, es fehlt nur noch das Leben.
Die Tatsache, dass die anthropomorphe Kunstfigur aufgrund ihres dreidimensionalen Status in enger Beziehung zum menschlichen Körper steht, bzw.
sich auf vertraute Oberflächen und Verhaltensmuster stützt, fügt den Androiden
einen weitern Modus zu und bringt eine essentielle Ambivalenz zum Tragen:
Künstliche Menschen sind in ihrer Erscheinung ästhetisches Objekt und
Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Überlegungen zugleich. Eine Puppe
spiegelt das Phantasma des ‚ganzen’ Körpers wider, dessen Komplexität sich
jedoch möglicherweise nur als Leerstelle kennzeichnen lässt. Denn die Entsprechung für die ästhetische Dominanz eines Körperideals hat immer auch
soziale Konnotationen. Der sog. 'makellose Körper’ ist ein ästhetisches Zeichen,
das sich in besonderem Maße als Identitätssymbol eignet, in dessen Zeichen aber
zugleich um die Hegemonie in einer Gesellschaft gestritten werden kann. Mit
dem ästhetischen Zeichen des schönen Körpers wird ein soziales Wertesystem
aufgerufen, aktualisiert und dem Gedächtnis eingeprägt. Kunstgeschöpfe, denen
ästhetische Körpervorstellungen bewusst entsprechen, dienen somit in aller
Regel nicht nur dazu, Normen zu bieten, sondern auch soziale und weltanschauliche Differenzen zu artikulieren, zu schärfen oder gar zu polarisieren.
Kunstmenschen als überaus potente und wirksame Bedeutungsträger des idealen
Körpers transportieren insofern Konzepte über Körperlichkeit, Leben, Tod,
Sexualität, Kreativität, Wissen und viele andere existenzielle Themen, ohne dass
ihnen das auf den ersten Blick anzusehen wäre und dies immer in der Intention
ihrer Schöpfer gelegen hätte. Der artifizielle Körper hat darum trotz aller
Verkünstlichung im Lauf der Jahre keineswegs ausgedient und kann offenbar
immer neu semantisch aufgeladen werden.
Um einen artifiziellen Kunstkörper kreist das Theater schon seit seiner
Erfindung: den Schauspielkörper. Wie die künstlichen Geschöpfe schwankt der
der optisch hergerichtete Bühnenkörper im Zeichen des Natürlichen stets
zwischen Realität und Symbol, Präsentation und Repräsentation, Sein und
Schein. Die daraus resultierenden leibhaftigen Abbilder offerieren das
Abwesende als Anwesendes, sein Ziel ist dabei die körperliche Illusion, und sei sie
noch ‚einmalig’. Die nachfolgenden Kapitel haben die Ambition, das Phänomen
60
‚Androiden’ in Hinblick auf diesem Bühnenkörper zu erklären, dabei
Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszustellen. Es geht vor allem um den
Schauspielkörper, dessen Ziel keineswegs die Imitation eines natürlichen Körpers
ist und dessen Bühnenpräsenz eher an Kunstgeschöpfe erinnert.
61
Die Faszination des Androiden auf der Bühne
- Praxen der Puppenästhetik auf der Theaterbühne
Wiederentdeckung der Puppen: Fragestellung I
Die bildende Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war in vollem
Umfang von Androiden bevölkert. Zunächst fanden sie als künstlerisches
Ausdrucks-mittel und Bereicherung der bis dahin statischen menschlichen
Körper Eingang in die Kunstszene. Als kinetische Objekte findet man die
menschähnlichen Kunstwesen bei Man Ray, Marcel Duchamp, László MoholyNagy und Naum Gabo, deren konstruktivistische Figurenmodelle von den
Vertretern der holländischen Gruppe De Stijl vorbereitet worden waren. Mit der
sog. mechanisch tanzenden Figur aus den Jahren 1917-20 des De Stijl-Vertreters
Vimos Huszár wurde eine erste freistehende roboterähnliche Figur (102 cm) aus
Aluminium, Holz und Mica-Glimmer überliefert, deren Gliedmaßen ähnlich
denen eines Hampelmanns beweglich verbunden waren. Während sich diese
verrückbaren, auf den ersten Blick jedoch zwecklosen und sinnfreien Objekte von
der Illustration oder Nachahmung von bis dato vertrauten Bewegungsabläufen
lösen wollten sowie ironisch und hintergründig die moderne Gegenwart
befragten, bezogen sich die mechanoiden Körperbilder Giorgio de Chiricos, Carlo
Carràs, Max Ernsts und Francis Picabias auf das Modell des künstlichen
Menschen selbst und auf der Suche nach Innerem. [Abb. 12] Unter anderem
spielte das Sujet der Puppe, des Automaten, des Mannequins im Kreis der
Surrealisten eine besonders große Rolle; 1938 auf der Pariser SurrealistenAusstellung Exposition Internationale du Surréalisme in Form von einer von
Schaufensterpuppen bevölkerten surrealistischen Straße mit Kreationen von
Salvador Dalí, Marcel Duchamps, Max Ernst und andern an der Ausstellung
beteiligten Künstlern erlebte sie nicht von ungefähr die künstlerischen
Höhepunkte der Avantgardisten und markierte einen entscheidenden Schritt in
der europäischen Kunstgeschichte. [Abb. 13] Diese überaus intimen ‚PuppenFrauen’ und ihr inszenierter Anblick, die sich Surrealisten dort schafften, haben
durchaus Parallelen in der Beziehung Hans Bellmers zu Frauenmodellen und
seinen Photographien. [Abb. 14] Der in Kattowitz geborene Künstler, der gewiss
Oskar Kokoschkas ‚Blaue Frau’ [Abb. 15] kannte, jene lebensgroße Puppe, die sich
62
dieser von einer Stuttgarter Puppenmacherin 1919 anfertigen ließ, stellte in
seinen nackten, verstümmelten und fragmentarischen Puppenfiguren und diese
begleitenden Fotoserien wie La Poupée (1936) eine Intimzone des weiblichen
Körpers sichtbar und anatomisch vorstellbar dar. Für ihn war der Puppenkörper
das Sinnbild eines erotisch-begehrenden und eines medizinisch-sezierenden
Blicks
zugleich.
Theoretisch
einschlägige
Aufsätze,
die
Puppenthematik
behandelten, erschienen ebenfalls um diese Zeit. Sie wurden vor allem im
‚Minotaure’ gedruckt und zwar in rascher Folge. Es genügt, auf Benjamin Pérets
Essay Auf Paradis des Phantômes hinzuweisen, der im Doppelheft ¾ des Jahres
1933 erschien, oder auch auf André Bretons Beitrag Les Messages automatiques
in der gleichen Nummer.
Diese vermeintliche Hochkonjunktur der Puppenfiguren in der bildenden
Kunst, die so einer Handvoll von Künstlern zu verdanken war, hing in erster Linie
mit der damaligen Kunstszene zusammen. Die Sättigung des Marktes mit
abstrakter Malerei, die Umkehrung der Figuration, mithin die Ablehnung einer
erstarrten, reaktiven Moderne begünstigten eine Rückkehr zur figurativen
Darstellung und zu Strategien der Repräsentation. Die menschenähnlichen
Kunstfiguren, die der Moderne keineswegs verachtend gegenüberstanden, boten
mit ihren rückwärts gewandten Eigenschaften zum Handwerklichen und zur
figurativen Syntax den Erhalt eines paradoxen Gegenparts. Wenn aber diese
überholten Geschöpfe in der Avantgarde eine ‚Rolle’ fanden, so gerade aufgrund
ihres Verschleißes. Man besetzte ihre leere Form, diese tote Rhetorik mit neuen
Inhalten.
Ein Paradigmenwechsel zeichnete sich innerhalb aller Bereiche der
Gesellschaft in Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts ab: Die verstörende
Modernitätserfahrung und als deren Folge der neue Körperdiskurs. Diesem
verdankt sich wiederum die Infragestellung des Individuums, das sich angesichts
der rasant verändernden, beschleunigenden Sozialsphäre und technischen
Umwelt nicht mehr als substanzielle, in sich ruhende und mit sich identische
Person imaginieren konnte. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges geriet der
Fortschrittglaube in eine tiefe Krise. Das Menschenbild schwankt von nun an
zwischen der Projektion von Hoffnungen und Sehnsüchten, aber auch Zweifeln
und Ängsten. Dieser grundlegende Wandel führte dazu, dass der menschliche
Körper weder als naturhaftes Relikt noch als authentischer Ausdruck des Selbst
oder als soziale Utopie zu denken war. Der Körper ist nicht mehr die natürliche
Basis des Menschen, sondern längst zum Produkt des Menschen geworden: zu
63
seinem Artefakt. Diese Erkenntnis der Realität des individuellen Körpers verblieb
doch keineswegs im Stadium der Kulturkritik, die sich in den marionettenhaft
kostümierten Zeitgenossen in einigen zeitgenössischen Bildern grotesk verdichtete. Die gesellschaftliche Realität wurde als unhintergehbare Tatsache
angenommen, mit der man umzugehen hatte. Vor allem historische Avantgardisten reagierten auf die bereits von ihnen formulierte Überzeugung, bzw. auf
Friedrich Nietzsches Postulat eines selbst bewussten ‚Übermenschen’. Der
Mensch könne und werde sein Bewusstsein erweitern, ein ethisch besseres Leben
führen und sich demnach erneuern. Die Avantgardisten griffen diese philosophischen, teilweise mystischen Vorstellungen in ihren programmatischen
Arbeiten auf, bezogen sie auf den ihnen eigenen Bereich und entwickelten sie in
dem Kunstkonzept weiter. Die sowohl augenfällig exakte als auch ruppige
Imitatio des Menschen schien dies für sie augenscheinlich auszudrücken.
Einerseits
als
technologisch-naturwissenschaftlicher
Optimismus
und
andererseits als soziogesellschaftlich unterlegter Defätismus sind die künstlichen
Menschen die Verkörperung zwischen Verdinglichung und Auflösung des
modernen Körpers. Als Schatten seines Selbst konnte das Kunstwesen zu
unzähligen Strategien der Umkehrung benutzt werden. Sein Hang zum Zierbild,
Andenken oder gar Kitsch machte es von vornherein zu einem Objekt der
Nostalgie, zum Chiffrierschlüssel von Traum und Phantasie, mithin zum Werkzeug einer anderen Logik. So hofften die Avantgardisten durch die Wiederbelebung des trivialen Gegenstandes zugleich auf ein distinguiertes Publikum,
das derart auf vom Üblichen abweichende Lesarten versteht und durchtriebene
Strategien zu schätzen weiß.
Die Verkörperung des menschlichen Körpers unterliegt bis in die Gegenwart
dem Epochenwandel und wird durch sich auf vielfache Art und Weise
überschneidende oder entgegengesetzte Attitüden dokumentiert. Besonders das
Theater bietet sich als Hauptzeichensystem für diese Aufzeichnung an. Die
darstellende Kunst war und ist immer die Geschichte des räumlichen Ausdrucks
des menschlichen Körpers. Im Theater kann das Materialhafte des Körpers mehr
als in jeder anderen Kunst zur Geltung kommen. Als Einheitsform steht dabei die
‚Natürlichkeit’ im Zentrum dieses figurativen Unternehmens. Insbesondere seine
Protagonisten
‚Schauspieler’
setzen
Gegebenheit,
Wahrhaftigkeit,
somit
Unmittelbarkeit des Körpers in den Mittelpunkt der Bühnengeschehnisse und
64
werden gleichzeitig anhand dieser medialen Strategie als ‚echt’ und ‚unecht’ oder
‚Wahrheit’ und ‚Lüge’ betrachtet.
Der Schauspielkörper wurde allerdings lange Zeit rein als ikonisches Zeichen
eingesetzt bzw. auf ein sprachliches Zeichen verdichtet, lesbar doziert und als
kognitives Medium genutzt. Er war der Träger von Dialogen, Späher von
Geschehnissen und Botschafter von Thesen. Dies war vor allem in Werken des
literarischen Theaters der Fall, in dem die Sprache den Körper überwog, und
zwar derart, dass jene diesen räumlich und zeitlich sowie gestisch und klanglich
bis ins kleinste Detail bestimmte. Die dort sorgsam einstudierten Körpersprachen
einschließlich der pedantisch anmutenden Körperhaltungen wie Mimik, Akrobatik, Bewegungen begleiteten die Bühnenereignisse, existierten aber lediglich in
dem Augenblick, wo diese ihre metonymische und metaphorische Aufgabe
erfüllten. Hier ging es weniger um die Darstellung einer Subjekt- und Realitätsempirie als Folge der Konstruktion von Ursprung und Wahrheit, sondern
vielmehr um das genuine Interesse, den ‚sprachgebildeten’ Körper zu bilden. Dies
änderte sich rasch mit dem Phänomen der Sprachkrise zu Beginn des 20. Jh. bzw.
dem Zweifel an der Sprache als Medium der Wahrheitsfindung. Der seit der
Renaissance dramatische Produktion bestimmende Dialog als geeignetem Mittel
zur Darstellung des menschlichen Körper versagte in einem infiniten Prozess der
sinnstiftenden Synthetisierung, er verfügte bald nicht mehr über das Konzept
eines begrifflich Ganzen, das er beanspruchte, sondern die Sammlung eines
Additiven. Der neue Bühnenkörper widersetzte sich indes dem klassischen
Anspruch, zentrale Behausung der Sprache zu sein, und konzentriert sich auf
seine materielle Begebenheit.
Dieser Idee des ‚natürlichen Körpers’ lag jedoch ein Theaterverständnis
zugrunde, das die Bühnekunst seit alters her jenseits zivilisatorischer Ideologie
und kulturkritischer Perspektive ansiedelt. Theater ist per se eine multimediale
künstliche Form. Je nach Genre - Sprechtheater, Musiktheater, Tanztheater wirken dort Sprache, Gestik, Musik, Tanz, Bewegung, bildnerische Elemente wie
Maske, Kostüm, Bühnenbild, Licht zusammen. Als im weiteren Sinne technische
Unterstützung von Multimedialität wurden schon in antiken Kulturen aufwendige, zunächst architektonische und mechanische Hilfsmittel entwickelt und
eingesetzt, um z.B. die Wirkung akustischer Anteile der Aufführung zu verbessern, schnelle Szenenwechsel zu ermöglichen, mithin Illusionen zu erzeugen.
Nach den von Hand zu kontrollierenden modernen Beleuchtungssystemen sind
diese heutzutage programmierbar, im Sinne kybernetischer Systeme sogar
65
selbststeuernd. Angesichts solcher künstlichen Elemente wurde die Frage nach
der Grenze zwischen künstlich und natürlich im Theater absurd, die Schauspieler
fühlten sich durch die Durchmischung von künstlichen und natürlichen Elemente
ausgeliefert.
Damit wäre gleich ein zentrales Anliegen der vorliegenden Kapitel angesprochen, nämlich die Untersuchung der technischen Wirkungsmöglichkeit der
Schauspielkunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und des obsessiven Umgangs
des Schauspielers mit seinem Körper angesichts des aufkeimenden technischen
Wunderapparats. Es muss dabei herausgestellt werden, ob die ‚Puppenästhetik’
das ephemere Wesen der Schauspielkunst im zweifachen Sinne in sich aufhebt:
Setzte
die
animistische
Qualität
des
Puppenkörpers
die
‚erstklassige’
Schauspielkunst voraus, welche sich im Grunde durch die eigene raumzeitliche
Unzulänglichkeit und ausschnitthafte Flüchtigkeit auszeichnet? Ist ein der
äußeren Wirklichkeit abweisend gegenüberstehender, transzendenter Moment
der Puppenästhetik in der einen oder anderen Weise in die modernen
Konzeptionen eingegangen?
66
1. Androiden-Abhandlung
- Die Androiden an der Front der Historischen TheaterAvantgarde
1. 1. Artifizielles Überwesen in Trance
- Edward Gordon Craigs Übermarionetten-Theater
Craigs Theater- und Kostümentwürfen enthalten einige Szenenskizzen, worin
die Figuren abgebildet sind. 56 [Abb. 16] Die Physiognomien sind schwer zu
erkennen, zumal die gezeichneten Bühnenfiguren ein maskenhaftes, fast
stilisiertes Gesicht aufweisen. Sie stehen meistens dem Betrachter frontal
gegenüber. Die Arme sind enganliegend dargestellt, wodurch die Gestalten
bewegungslos an ihrem Ort zu verharren scheinen. Die Akteure tragen dabei, zum
Teil von einem hohen, massiven Turm umgeben, langwallende, bodenlange
Gewänder, die ohne Taillierung in einem Schwung von den Schultern fallen.
Diese reduzierte Haltung und die Kostüme der Figuren erinnern insgesamt an
alte ägyptische Marmorstatuen.
Der Gedanke, den Schauspieler auf der Bühne durch ein unbelebtes Wesen zu
ersetzen, wurde von Craig erstmals 1908 in seinem Aufsatz Der Schauspieler und
die Übermarionette formuliert. Verfolgt man jedoch seine Biographie und
Äußerungen andernorts, so trifft man auf einen interessanten Widerspruch.57 Er
56 Diese bewusst markierte Linie unterhalb der Bildfläche lässt deutlich erkennen, dass
es hier um eine Bühnenrampe handelt, die sich in Augenhöhe des Publikums befindet.
vgl. Bühnenskizzen von Craig, in: J. Michael Walton: Craig on Theatre, London 1983, S.
137-151.
57 In einem Brief schreibt Craig, dass ‘I’m not at work creating a work of theatrical art
... I shall make its shape and colour, its sound and sense, its movement and tone. I shall
not employ atcors nor pantomimists but what I shall call ‘figures’ (über-marionette is too
complicates)’ Dies lässt vermuten, dass Craigs Übermarionette tatsächlich eine mechanische Figur war. In der Folge war jedoch sein Gedanke nicht konsequent. Er verneinte
beispielsweise in einem 1912 publizierten Aufsatz einen mechanischen Charakter der
Übermarionette, er glaube nicht an das Mechanische; die Drähte, die Gott mit der Seele
des Poeten verbänden, müssten auch jene Drähte sein, welche die Übermarionette
bewegten: ‘What the wires of the Übermarionette shall be, what shall guide him, who can
say ? I do not believe in the mechanical, nor in the material. The wires which stretch
from divining to the soul of the poet are wires which might command him. Has God no
67
war selbst lange Jahre Schauspieler am Lyceum Theatre und lernte von dem
berühmten Henry Irving die Grundbegriffe seiner schauspielerischen Darstellung. Er bewunderte Schauspielerinnen und Schauspieler wie Elenora Duse,
Sarah Bernhardt oder Konstantin Stanislawski58. Hinzu arbeitete Craig an der
legendären ‚Hamlet’ Inszenierung von Stanislawski am Moskauer Künstlertheater, deren Darsteller sich aus dem Ensemble des Künstlertheaters
rekrutierten. Er schloss sich ebenso einem Projekt zur Inszenierung von Bachs
Matthäus-Passion ausschließlich mit menschlichen Sängern und Schauspielern
an. Dieser Widerspruch hat die bestehende Forschungsliteratur aus-führlich
beschäftigt. Sie zielt meist darauf ab, die Grundlage dafür zu schaffen, das Wesen
der Übermarionette zu erklären. Die einen gehen davon aus, die Übermarionette
sei tatsächlich ein mechanisches, unbelebtes Objekt 59 . Die anderen sprechen
dagegen, sie sei eine Metapher Craigs für einen perfekt disziplinierten
Schauspieler.60 Letztere findet sich in nahezu allen Arbeiten wieder und gilt als
allgemein etabliert. Um welche Marionette es sich in diesem Aufsatz handelt, d.
h. ob diese von Craig befürwortete Bühnenfigur ausgebildete oder mechanische
Figur sei, soll daher im Rahmen dieser Arbeit unbeantwortet bleiben. Im
Vordergrund steht vielmehr, wie Craig auf den Reiz der künstlichen Figur
reagiert und welche künstlerische Bedeutung ihr innerhalb Craigs Theater zu
eigen ist.
more such threads to speare for one more figure? I cannot doubt it. I will never believe
anything else.’ vgl. Craig: ein Brief an Martin Fellas Shaw, zit. nach: Thomas
Spieckermann: The worlds lacks and needs a Belief, Tübingen 1998, S. 161; Craig:
Gentleman, The Marionette! (1912), in: J. Michael Walton (Ed.): Craig on Theatre,
London 1983, S. 24-26.
58 Stanislawski beschrieb in seiner Autobiographie, wie Craig bei der Zusammenarbeit
echtes schauspielerisches Talent der Ensemblemitglieder bewunderte. vgl. Konstantin
Stanislawski: Mein Leben in der Kunst, übers. von Klaus Roose, Berlin 1951, S. 406.
59 Besonders war diese Interpretation zu der Zeit der ersten Veröffentlichung verbreitet.
60 So schreibt Bablet in seiner Monographie aus dem Jahre 1962: ‚Die Übermarionette,
das ist der Schauspieler, der sich durch die Aneignung bestimmter Eigenschaften der
Marionette von seinen Zwängen befreit hat.’ vgl. Denis Bablet: Edward Gordon Craig,
Köln und Berlin 1965, S. 134. Auch Brauneck vertritt diese Ansicht: ‘Die ÜberMarionette wurde zur programmatischen Metapher, in der der Gegensatz von Mensch
und Automat aufgehoben ist’. vgl. Manfred Brauneck: Klassiker der Schauspielregie,
Hamburg 1988, S. 82.
68
Die Ausgrenzung des Körpers
Craig resümiert in seiner Schrift Der schauspieler und die übermarionette
zur Kritik der gegenwärtigen Schauspielkunst folgendes:
‚Die schauspielkunst ist keine echte kunst. […] Denn alles zufällige
ist feind des künstlers. Kunst ist das genaue gegenteil des
chaotischen, und chaos entsteht aus dem zusammenprall vieler
zufälle. Kunst beruht auf plan. Es versteht sich daher von selbst,
dass zur erschaffung eines kunstwerks, nur mit den materialien
gearbeitet werden darf, über die man planend verfügen kann.’61
So führt dieser Gedanke schließlich zur Folge:
‚Der schauspieler muss das theater räumen, und seinen platz wird
die unbelebte figur einnehmen - wir nennen sie die übermarionette, bis sie sich selbst einen besseren namen erworben
hat.’62
Craig stellte bereits in Über die kunst des theaters fest, dass die Theaterkunst
weder die Schauspielkunst noch der Dramentext ist. Sie sei vielmehr die Ganzheit
der Elemente, aus denen diese einzelnen Bereiche zusammengesetzt sind: ‚Sie
besteht aus der bewegung, die der geist der schauspielkunst ist, aus den worten,
die den körper des stückes bilden, aus linie und farbe, welche die seele der
szenerie sind, und aus dem rhythmus, der das wesen des tanzes ist.’ 63 Die
Bühnenkunst, die sich durch solche beteiligten Einzelkünste definieren lasse,
entstehe aus der Reduktion der einzelnen Kunstgattungen auf ihre konstitutiven
Elemente, wie Bewegung, Linie, Farbe, Wort und Rhythmus, und deren
Zusammensetzung. Dieses Axiom enthält das Grundpostulat des Craigschen
Theaters. Es umreißt in seiner antimetaphysischen Stoßrichtung die Betonung
der Selbstwertigkeit eines Kunstwerkes gegenüber einer außerhalb befindlichen
Realität und zugleich die Konzeption von Bühnenkunst als die Kombination der
verschiedenen Materien faktisch als Gegenkonzept zum literarischen Theater.
Weder bezieht es sich mimetisch auf die Welt, noch hat es symbolischen
Verweischarakter auf eine immaterielle Sphäre. Demnach ist die Bühne für Craig
keine Widerspiegelung realer Gegebenheiten, sondern eine selbstwerte Realität.
Signifikat und Signifikant implodieren gleichermaßen, fallen ineinander und
61 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, in: ders.: Über die kunst des theaters,
Berlin 1969, S. 52.
62 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 66.
63 Craig: Über die kunst des theaters, S. 101.
69
werden identisch. Diese Kunstkonzeption schuf zugleich die Voraussetzung dafür,
dass im weiteren Verlauf das seines Signikats entledigte Bühnenwerk einer
außerhalb seiner selbst liegenden Notwendigkeit bzw. Sinnhaftigkeit unterworfen
werden konnte. Dabei fungiert nach Craigs Auffassung ebenfalls der Schauspieler
als das zu zerlegende Material, welches genau wie andere Bestandteile - Licht,
Raum, Musik etc. - an diesem künstlerischen Prozess teilnehmen soll. So, wie das
Kunstwerk in Analogie zur materiellen Produktion zum Ding erklärt wurde, galt
nun der Bühnenkünstler als ‚Künstler-Handwerker’ oder ‚Künstler-Apparat’.
Nach Craig ist der Bühnendarsteller aber von Anfang an als Bühnenmaterial
ungeeignet, denn ihr Instrument, also der Körper, ist von seiner eigenen
‚Emotion’ abhängig, somit von Akzidenzien gelenkt. Da Emotionen bekanntlich
das Denken manipulieren und dadurch den Körper befangen machen, gibt es auf
der Bühne nur eine gewisse unvollständige Perfektion, ja ein Produkt des Zufalls.
Der Zufall könne aber unmöglich eine Kunst beherrschen. Er muss im
Bühnengeschehen so weit wie möglich vermieden werden. Aus diesem Grund
lehnt Craig die Darstellung des menschlichen Körpers auf der Bühne ab.
Während seine Zeitgenossen die ideale Schauspielkunst ausschließlich in der
vollkommenen Verkörperung der darzustellenden Figur sehen, verurteilt Craig
dieses Schauspiel aufs schärfste. Es erscheint ihm nicht anders als ‚eine
Faksimile-Ansicht der Dinge’64 und ‚die plumpe Nachbildung des Lebens’65. Mehr
noch:
‚es ist eine folge vom zufall gelenkter bekenntnis. Ursprünglich
wurde der menschliche körper nicht als material für die
theaterkunst verwendet. Ursprünglich galt es als unschicklich, die
privaten menschlichen gefühle vor einer menge öffentlich zur
schau zu stellen.’66
64 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 55.
65 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 71.
66 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 53. Mit diesem Gedanken
kritisierte Craig indirekt den damaligen Kultstatus von Schauspieler-Persönlichkeiten, die
den Blick auf die integre Rolle im Grunde versperrten. Das grundlegende Spannungsfeld
der Zeit, das sich in der Kunst im Kampf um den Realismus spiegelte, fand sich auch im
Bereich der Schauspielkunst. In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts dominierte das
Illusionstheater, besonders der historische Realismus. Von den Melodramen über die
wiederentdeckten Stücken Shakespeares bis zu den ‘französischen Salonstücken’ fand er
überall sein begeistertes Publikum. Doch begann sich dort gleichzeitig auch Widerstand
gegen die realistische Darstellungsweise zu regen. Eine Gruppe, Symbolisten genannt,
wollte das Prinzip der Schönheit anders definieren und theatralische Geste jenseits des
Alltäglichen suchen: Die Welt der Seele, das Mysterium des Seins und der Dinge. Dieser
70
Je unpersönlicher der Schauspielkörper werde, das heißt je weiter er sich von
dem psychologisch kausal-logisch gestalteten Bühnencharakter entferne, umso
näher befände er sich dem Ursprung des Theaters.
Der Körper der Ferne
Die Diskussion, ob die emotionale Identifikation des Mimen mit seiner Rolle
die formale Perfektion des Spiels in Frage stelle und der menschliche Körper
durch ein Artefakt, ein künstliches Lebewesen ersetzt werden soll, wurde nicht
erst von Craig angestoßen, sondern war ein häufig anzutreffendes Thema im
europäischen Bühnenraum seit der Aufklärung.67
Der Theoretiker Riccoboni verteidigte beispielsweise in L’Art du Théâtre die
Dominanz der technischen Beherrschung des mimischen Ausdrucks über die
psychologische Einfühlung in die Rolle.68 Diese Position der Überlegenheit des
ästhetischen Aspekts über den psychologischen tauchte auch in Das Paradox
über den Schauspieler von Denis Diderot auf: ‚der große Schauspieler ist […]
eine Marionette, deren Fäden der Dichter in der Hände hält und der er mit jeder
Zeile die Gestalt vorschreibt, die die wahre ist und die sie anzunehmen hat’.69
Ansatz wurde in Großbritannien früh für ein neues Konzept des Theaters akzeptiert und
vertreten.
67 Der von Craig verwendete Begriff der ‚Über-Marionette’ nimmt außerdem zweifelsohne Bezug auf die Idee des ‚Über-Menschen’ bei Friedrich Nietzsche, wobei das Präfix
‚Über’ im Sinne der Präfixe von ‚Trans’ und ‚Meta’ auch auf die Überwindung des
allgemein üblichen Begriffs der Marionettentheaters oder des Puppenspiels zielt. Der
‘Über’-Gedanke von Nietzsche fand Eingang in die Literatur und in den Sprachgebrauch
des täglichen Lebens. Seine vehemente Ablehnung christlicher Moral, gesellschaftlicher
Konventionen und altruistischer Ethik, seine Verherrlichung des Individuums, das einzig
auf der Grundlage seines Willens zu einer neuen Menschen, dem ‘Übermenschen’, zu
werden imstande war, prägte die Künstler in Europa nachhaltig. Schon 1892 erschien ein
Aufsatz Camile Mauclairs, der einen ‘idealisierten’ Ansatz für Dramen forderte, in denen
eine superman figure Ideen und Gefühle verkörpern sollte. 1903 erschien dann George
Bernard Shaws ‘Man and Superman’. vgl. Günther K. Lehmann: Der Übermensch.
Friedrich Nietzsche und das Scheitern der Utopie, Berlin 1993; Sally Peters: Bernard
Shaw. The ascent of the superman, Yale Univ. Press 1996; George Bernard Shaw:
Mensch und Übermensch, Zürich 1946.
68 vgl. Francesco Riccoboni: L’Art du Théâtre (Paris 1750), in: Klaus Lazarowicz,
Christopher Balme (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart 1991, S. 144-149.
69 Denis Diderot: Das Paradox über den Schauspieler, in: ders.: Ästhetische Schriften.
Bd. 2, Frankfurt am Mein 1968, S. 514. Wobei Diderots Plädoyer, die Marionette sei der
bessere Darsteller, gewiss als eine These der vielen für ein von der Ratio geleitetes
Rollenspiel anzusehen ist. Diderot benutzte dabei bloß ein Bild der Marionette. Er
postulierte eine Aufspaltung des Schauspielers in die eigene Persönlichkeit und in die
Rollenfigur, wobei der eigene, bewusste Part den Rollenpart kontrollieren und steuern
71
Auch Kleist führte diesen Diskurs in seiner hier bereits erwähnten Schrift Über
das Marionettentheater fort. Die Verdrängung des Schauspielers durch die
Kunstfigur war zudem mehrfach im symbolistischen Kreis thematisiert worden.
Stéphane Mallarmé (1842-1898) war ein Befürworter eines Theaters ohne
Schauspieler. Er stellte die Forderung auf, dass die besondere symbolische
Dimension des Wortes nicht eingeengt werden dürfe. Dies erfolge in
exemplarischer Weise durch die Überwindung des Schauspielers, der nach
Mallarmés Auffassung in der bisherigen Bühnentradition eine zu große
Eigenfunktion aufwies.70 Gleiches forderte Maurice Maeterlinck (1862-1949) und
noch radikaler:
‚Vielleicht wäre es notwendig, alles Lebendige ganz von der
Bühne fern zu halten’, denn ‚jedes große Meisterwerk ist ein
Symbol, und Symbole ertragen keine aktive menschliche
Gegenwart’.71
Maeterlinck begriff in seinen frühen Bühnenwerken L’Intruse, Les Aveugles
und Intérieur den Menschen als durch seine Sterblichkeit determiniert. Er
erkannte, dass ‚hinter der täuschenden Ruhe des Daseins’ das unentrinnbare
Schicksal des Menschen lauert; der Tod. Maeterlinck verzichtete daher in seinen
Stücken auf die dynamisch-logische Handlung. Seiner Ansicht nach hat die
Bühne vielmehr das rational Nichtbestimmbare, das Atmosphärische, das
Erstaunliche des alltäglichen Lebens darzustellen, weshalb z. B. das im Dialog
Unausgesprochene auf der Bühne zum Entscheidenden würde und die weitgehend entindividualisierten Figuren, d. h. typisierte Gestalten ohne Namen
szenisch darstellungswürdig wären. Auf seiner Bühne dominierten die Figuren,
welche den Tod und dessen Gewalt als ihr Schicksal auf sich nehmen und völliger
Passivität sowie Fatalismus ausgesetzt sind. Denn diese Figuren hätten den
Vorteil, menschliche Fatalität auf der Bühne zu gestalten und zu ergründen,
während sich der menschliche Schauspieler ‚in einer, der passiven dichterischen
sollte, um eine totale Identifikation des Darstellers mit seiner Rolle zu vermeiden. Allein
der Zuschauer habe sich in die Emotionen des Charakters einzufühlen, nicht aber der
Mime. Dieser müsse vielmehr danach streben, seine Kunst zu vervollkommnen, ohne die
Natur zu imitieren, und dies gelinge ihm nur durch eine bewusste Steuerung seiner
Ausdrucksmittel. So stellt Diderot sich die Marionette als Lösung des Paradoxons vor.
70 Denis Bablet: The revolutions of stage design in the 20th century, New York 1977, S.
23.
71 vgl. Maurice Maeterlinck: Androidentheater. Ein Paar Überlegungen 1: Das Theater,
in: Stephan Gross (Hg.): Maurice Maeterlinck. Prosa und kritische Schriften, Bad
Wörrishofen 1983, S. 54-55.
72
Vorlage fundamental entgegengesetzten Richtung’
72
bewege. Wachsfiguren,
Marionetten, Puppen, mithin Androidenfiguren wären es, die den Schauspieler
ersetzen sollen, um durch diese Verfremdungstechnik neue anthropologische
Sichtweisen zu eröffnen:
‚Es geht ein seltsamer Reiz von den Figuren aus, die aus Wachs
gemacht sind. Vielleicht können sie uns den Weg zu einer neuen
Kunst weisen, in der Wesen ohne Existenz die Persönlichkeit des
Helden nicht länger bedrohen.’73
Diese symbolistischen Ansätze sind tatsächlich sichtbar in Craigs Aufsatz
‚Übermarionette’. Sie haben offenbar bei Craig theaterpraktische Konsequenzen
bewirkt. Dennoch gibt es zwischen dem Symbolisten und dem Engländer
unterschiedliche Ausgangspunkte, die festzustellen sind. Der von Maeterlinck als
‚unüberwindbares’ Schicksal des Menschen begriffene Tod wird bei Craig als
‚schöne imaginäre Welt’ positiv konnotiert: ‚Die vergessenen meister in Asien […]
haben jeden gedanken, jedes zeichen ihres werkes mit dem geist der stillen
bewegung durchdrungen, die dem tode verwandt ist, ihn feiernd und
grüssend.’74 Die Symbolisten sahen außerdem die Kunstfigur auf der Bühne eher
als ein Medium der Abstraktion an, das wegen seiner mechanischen Eingeschränktheit die dramatische Aktion auf ihren essentiellen Kern konzentriert.
Damit sind ihre ‚Marionetten’ noch einem ästhetischen Ideal verpflichtet.
Craigs Adaption der unpersönlichen Bühnenfigur geht aber weiter zurück.
Die Beschäftigung mit den Kunstfiguren sucht er in dem europäischen Theater
der Vergangenheit und in Formen der außereuropäischen Bühnenkunst. Es kann
daher kaum verwundern, dass Craig das ideale Theater in den alten Theaterformen wieder findet.75 So beginnt Craig in seinem Essay A note on Marionettes
mit dem Ursprung der Schauspielkunst im klassischen Altertum.76 Dort bemerkt
der Autor zunächst, dass es im alten Ägypten kein Theater im heutigen Sinn
72 ebd.
73 ebd.
74 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 68.
75 ‘Think of the great dramatic collaboration of the past. … religious ritual uniting
audience and performes in ecstatic worship … Mingle with the forty thousand people on
a Greek hillside, watching in the clear Attic sunshine a phallic procession; hear the
sublime words ‘when mortals have to do with more than man’ … In the nave of the
cathedral witness drama reborn as spectators kneel before a miracle enacted by their
priests.’, vgl. Craig, zit. nach: Spieckermann 1998, S. 49.
76 Craig veröffentlichte den Aufsatz unter dem Pseudom Adolf Furst in ‘The Mask’ im
Jahr 1909. vgl. Spieckermann 1998, S. 163-173.
73
gegeben habe, sondern religiöse Zeremonien, in der die beweglichen Figuren
wichtiger Bestandteil waren. Der Hohepriester hätte sich bei sakralen Ritualen
den goldenen, durch Magnete bewegten, zur Feier des Baccus-Festes von ihnen
selbst von Dorf zu Dorf getragenen Figuren genähert und ihnen eine Frage
gestellt, worauf diese Statuen durch eine Bewegung das Orakel verkündet hätten.
Dieser historische Befund sei von großer Bedeutung. Der Verfasser sah in den
‚steinbilder[n] in den alten tempeln’ direkte Vorfahren seiner Übermarionetten.
Indem Craig auf die Prozessionen Altägyptens eingeht, identifiziert er diese
monumentalen Gestalten mit seinen ‚Marionetten’, deren letzten großen
Nachkömmlinge die großen Figuren der maurischen Könige in Spanien wären,
welche noch im 17. Jahrhundert mit Hilfe von in ihren Innern verborgenen
Männern Tanzbewegungen ausübten. Solche Figuren sind aber nach Craig seit
der Neuzeit in ‚grobe und niedrige Hände’ gelangt, weshalb sie heute ‚nur noch
erbärmliche Komödianten’ sind; in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform seien
Marionetten als Spielzeug und Objekt zur Erheiterung der Zuschauer degeneriert.
Damit das Theater seinen ursprünglichen Charakter wieder findet, müsse diese
Figur deshalb so abgewandelt werden, dass sie ihre anfängliche Natur bewahre,
um sich in das stilisierte, mystische theatrale Ambiente der Aufführung
einzureihen und sich von der gewöhnlichen zeitgenössischen Marionette, der mit
Fäden manipulierten Gliederpuppe, abheben könne. Die neue alte Marionette sei
demzufolge keine Nachahmung aus Fleisch und Blut, sie sei ‚der körper in
trance’:
‚Die Übermarionette wird nicht mit dem leben wetteifern, sie wird
über das leben hinausgehen. […] sie wird sich in eine schönheit
hüllen, die dem tode ähnlich ist und doch lebendigen geist
ausstrahlen.’77
Anstatt menschliche Schauspieler oder zeitgenössische Gliederpuppen zu
verwenden, schlägt Craig auf der Bühne deshalb eine Figur vor, die sich durch
ihre Größe und Erhabenheit auszeichnet. Was ist aber denn mit dieser Figur
tatsächlich gemeint?
Der erhabene Körper
Auffallend an diesen von Craig zitierten ‚vergangenen’ Marionetten ist, dass
die Kunstfiguren offenbar eine Dimension übernatürlicher Mächte besitzen, die
77 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 67.
74
aktiv in das Geschehen eingreift, wenngleich durch die Interaktion mit
menschlicher Anwesenheit bzw. mit den Priestern. Dies vollzieht sich meistens
durch einfache, stilisierte Gesten, erzeugt von der scheinbar selbst ausgelösten
Bewegung der Kopfes oder des Armes der Figuren. 78 Craig versteht diese
‚unheimliche Bewegung’ auf seine Weise:
‚In der Marionette liegt mehr als ein genialer einfall, mehr als das
flüchtige aufblitzen der sich entfaltenden grossen persönlichkeit.
Die marionette ist für mich der letzte abglanz einer edlen und
schönen kunst vergangener kulturen.’79
Die Bewegung, beschrieben hier mehr als ein genialer Einfall einer großen
Persönlichkeit, nimmt im Craigschen Theater einen besonderen Stellenwert ein.
Innerhalb der theatralischen Darstellung sei sie kein Mittel, andere theatrale
Elemente in ihrer Aussage zu verstärken, sondern Mittelpunkt:
‚In gewisser hinsicht ist vielleicht die bewegung der wertvollste
bestandteil. Die bewegung verhält sich zur kunst des theaters
genauso, wie die zeichnung sich zur malerei, die melodie sich zur
musik verhält. Die kunst des theaters ist entstanden aus
bewegung: gebärde und tanz.’80
Craig sieht den Ursprung in der Bewegung, in der Musik und im Tanz. Sie sei
die konstituierende Kraft seines Theaters. Gemeint ist aber mit den Übermarionettenfiguren auch eine elementare, universelle Ausdrucksform; eine unbewusste Bewegung, die nicht durch die Spannung zwischen architektonischer
Statik und rhythmischer Dynamik, sondern durch die Balance zwischen der
Künstlichen und der Natürlichen entsteht. Sie impliziert damit zwei Forderungen: Zum einen nimmt die Bewegung einen absolut autonomen Status innerhalb
der theatralen Darstellung ein und zum anderen wird das Medium, das diese
Bewegung ausführt, unbelebt, mithin mechanisch sein müssen, damit die
Darbietung und die Funktion bzw. die Wirkung der Bewegung auf der Bühne
gleichermaßen bewerkstelligt werden können. Der stilisierte Auftritt einer
überdimensionalen, simplen Statue aus dem Altertum wirkte z. B. intensiv auf die
Emotionen der Zuschauer. War dies spontan gelungen, so erwies sich die
78 Die Prozessionen von ‘Götterstatuen’ waren ein entscheidendes Element in Religion
und Gesellschaft der alten Hochkultur. Die sog. ‘Orakelsprüche’ wurden während solcher
Prozessionen abgegeben, bei denen die Statuen eine Art deux ex machina übernahmen.
79 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 66.
80 Craig: Die kunst des theaters, S. 102.
75
Wirkung noch größer als man von dem berechneten Auftreten erwartet hätte.
Man kann also folgern, dass Craig auf der Basis stilistischer Abstraktion und
Reduktion zu einem expressiven Kanon einfacher Bewegungen zu finden glaubte,
die sich den Zuschauern auf symbolischen und rein ästhetischem Wege vermitteln. Wenn Craig in seinem Aufsatz gerade einen Reisenden aus dem alten
Griechenland berichten lässt, der angeblich das Marionettentheater besuchte,
führt er uns seine Gedanken vor Augen:
‚Ich sank auf mein ruhebett und beobachtete ihre [UrMarionetten] symbolischen bewegungen. Ihr rhythmus änderte
sich mit derselben leichtigkeit, mit der ihre bewegungen von glied
zu glied glitten, und mit denselben zeichen der ruhe offenbarte sie
uns die gedanken ihrer brust. So ernst und schön verharrte sie im
zustand ihres grams, dass es uns schien, als könne kein gram sie
angreifen. Keine verzerrung des körpers und gesichts liess ahnen,
dass sie ergriffen war […] Die ‘kunst des zeigens und verhüllens’
[…].’81
In der Tat blieb Craigs Forderung nach der Figur mit der absoluten Bewegung
auf der Bühne nicht bloß metaphysisch. Craig legte ein Notizbuch für Ideen zu
seinem Theater an, das er später ‚Notebook Puppets’ nannte.82 In diesem Buch
finden sich zahlreiche Skizzen, Entwürfe und Notizen zu Marionettenfiguren.
Auch in seinem Artikel ‚Rearangements’ aus dem Jahre 1915 hatte Craig die
artifiziellen Darstellungsmittel diskutiert und in einer Liste zunächst die
gegensätzlichen Ausdrucksmittel des Theaters aufgezählt, in einer weiteren Liste
kennzeichnet er jene Elemente mit einer Sigle, die verändert werden sollten, um
damit ihre Künstlichkeit zu betonen.83 Hier forderte Craig unter anderem eine
unnatürliche Art der Vermittlung durch den Schauspieler, der so verkleidet
werden sollte, dass dessen Bewegungen einem System formalisierter Bewegungen
folgen sollten und man ihn als Schauspieler nicht mehr erkennen würde. Der
Schauspieler, gekleidet wie eine Marionette, bedeutet letztlich eine Umkehrung
der Marionetten-Spezifik: Nicht die leblose Figur soll den lebendigen Menschen
ersetzen, sondern ein Mensch wie eine Marionette wirken, wobei Masken und
formalisierte
Bewegungen
den
Eindruck
unterstützen
sollten.
Ist
die
Übermarionette ein Bildungsideal einer neuen Schauspielkunst, welche die
81 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 67.
82 vgl. Craig: Notebook, Puppets (1905), The Craig-Duncan-Collection, New York
Public Library.
83 vgl. Craig: Rearrangments, in: Benjamin Blom (Ed.): The Theatre Advancing, New
York 1963, S. 201-209.
76
traditionelle Rolleninterpretation ersetzten sollte? Craig hätte wohl nie
geantwortet, bloß:
‚[…] ich sehe einen ausweg, wie die schauspieler ihrer jetzigen
knechtschaft entfliehen können. Sie mussen sich selbst eine neue
schauspielform schaffen, die im wesentlichen in einer neuen
symbolische gebärdensprache besteht.’84
84 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 54.
77
1. 2. Aufstand der Dinge
- Die Bühnenästhetik der Futuristen
Stürmischer Gott einer Rasse aus Stahl,
raumtrunkener, jagender Wagen,
du stampfst voll Unmut, den Biß in knirschenden Zähnen.
O furchtbarer Drache mit Augen wie Schmiedefeuer,
gespeist mit Erdöl und Flammennahrung,
gierig nach Horizonten und Sternenbeute,
Ich entfeßle dein Herz, das teuflisch pocht
Und deine gigantischen Reifen zum Tanz,
den du tanzt auf den weißen Straßen der Welt. […]85
Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944), der Begründer des Futurismus,
vermenschlicht in seiner Dichtung ein Auto. Der Rennwagen verfügt über ein
pochendes Herz, feurige Augen, eiserne Lungen und eine bellende Stimme, ist
hungrig, es brüllt und tanzt. Das lyrische Ich, beseelt vom Rausch der
Geschwindigkeit und fiebrigem Verlagen nach diesem Wesen, begibt sich mit ihm
auf die Fahrt. Ihr gemeinsames Ziel: bis ‚über die berauschende Fülle des
Sternenstromes im Großen Bette der Nacht’86 ins Unendliche.
Es war die Faszination des mechanischen Objekts, der sich keiner der
Futuristen entziehen konnte. Die Avantgardisten sahen in dem Maschinenwesen
nicht nur eine Inspirationsmöglichkeit für eine neue Ästhetik, in der ein Abbau
der Trennung von Kunst und Technik und dadurch eine Anknüpfung der Kunst
an die Ideen des Fortschritts und deren Anwendung zusammenfielen. Sie sahen
in der maschinellen Kreatur den neuen Menschentypus.
Der Körper in der ‚neuen Sensibilität’
Das Bild der Maschine und die Maschine selbst fanden vehementen Ausdruck
in der historischen Avantgarde. Das Motiv der Geschwindigkeit, bzw. das
Motorische und die zügige Aufeinanderfolge von Bewegungsabläufen der
85 Filippo Tommaso Marinetti: All’Automobile da corsa (An meinem Pegasus), übers.
von Christa Baumgarth, in: dies.: Geschichte des Futurismus, Hamburg 1966, S. 262 f.
86 ebd.
78
Maschine wurden als Errungenschaft des modernen Zeitalters charakterisiert
und visualisiert. Umberto Boccioni (1882-1916), eine der Schlüsselfiguren der
Moderne, schuf drei Jahre vor seinem Tod eine Bronzefigur mit dem Titel Forme
uniche della continuitá nello spazio (Urformen der Bewegung im Raum), welche
die zentralen Anliegen des damaligen Zeitalters umsetzen sollte. Als ein aus der
Fusion von Organischem und Technischem entstandener Körper, der Mensch als
im Raum bewegliche Maschine, lässt sich die Figur von Boccioni als Vorläufer des
Cyborg oder kybernetischen Organismus interpretieren. An dieser Zeitströmung
knüpft die futuristische Bewegung an, die nach Mitteln suchte, um die ‚verknöcherten, orthodoxen Strukturen der Akademien zu stürzen’ und an ihre Stelle
die neue dynamischen Modalitäten zu setzen, bejubelt die Maschine als Kraft der
Moderne und erhob zum Kernstück ihrer Ideologie.87 Ihre Manifeste spiegeln
dabei die provokative Grundeinstellung der Zeit wider, unüberhörbar ist darin
das zentrale Motiv der durch die moderne Technik erzeugten ‚allgegenwärtigen’
Geschwindigkeit, die als Quelle einer neuen technischen Schönheit dienen sollte.
Besonders die darstellende Kunst dient den Futuristen als besonders wirkungsvolles Medium zur Verkündigung ihrer künstlerischen Formulierungen, zugleich
auch als deren Experimentierstätte.
Die Futuristen sehen zunächst im Umbruch der Zeit ein Verständnis für die
‚Sensibilität der Maschine’, die gegen die Sentimentalität des menschlichen
Herzens ausgespielt werden sollte. Die gegenwärtige Ästhetik, schreibt Marinetti
in seiner futuristischen Programmatik Der multipizierte Mensch und das Reich
der Maschine, setze eine Umgestaltung des Menschen, die auf einer vollständigen
Erneuerung der menschlichen Sensibilität beruhen sollte, voraus. 88 Um die
Bildung dieser neuen Sensibilität zu verwirklichen, müsse jedes Bedürfnis nach
Gefühl, das man heute in den Adern spürt, vermindert oder gar vernichtet
werden. Es liege also in den Menschen selbst, den Fortschritt einer neuen
87 Gegenüber der Mechanisierung des Alltags und dem Einfluss der Technik auf die
Gesellschaft und Geschichte haben die Dadaisten aus der bildenden Kunst hingegen ihrer
tiefen Skepsis in ironisch grotesken Objekten, Collagen und mit Bühnenauftritten ihren
Ausdruck verliehen. Die Maschinenmetaphern wurden in den Werken von Max Ernst,
Francis Picabia, Marcel Duchamp und anderer Künstler zwischen Mechanisierung der
Menschlichen und Anthropomorphisierung der maschinellen Gestalt folglich negativ
angewendet. vgl. Eberhard Roters: fabricatio nihili oder Die Herstellung von Nichts.
Dada Meditationen, Berlin 1990.
88 Marinetti: Der multipizierte Mensch und das Reich der Maschine, in: Hansgeorg
Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Hamburg 1993, S.
107-110.
79
Lebensform zu aktivieren oder zu verzögern: Befreie man sich von der
Gefühlsduselei und Wollust, vergehe das moderne Krankheitsbild, das nichts
anderes ‚als ein Produkt dongiovannesker Eitelkeit’ 89 sei. Entlasse man die
‚Anspannung der Epidermen’ durch jedes erregende Geheimnis, durch jeden
‚appetitanregenden Pfeffer’90, verschwinde der ‚Dongiovanismo’ und die stereotype Figur des Gehörnten aus dem Leben, aus der Kunst und aus der kollektiven
Vorstellungswelt. Der ‚kränklichen Vergangenheit’ wird die Liebe des Autors zur
Gefahr gegenübergestellt, die romantische Liebe wird bloß auf die Erhaltung der
Art reduziert. Gegenwärtig, glaubt Marinetti zu kennen, gibt es bereits:
‚Menschen, die in schöner, strahlfarbener Stimmung beinahe
ohne Liebe durchs Leben schreiten. […] Anstatt abends eine süße
Geliebte aufzusuchen, lieben es diese energischen Wesen, morgens
mit liebender Sorgfalt dem perfekten Betriebsbeginn in ihrer
Werkstatt beizuwohnen.’91
Der erste Schritt wäre demzufolge die unvermeidliche Identifizierung mit der
Maschine, indem man sich gleichzeitig eine dauernde Wechselwirkung von
Intuition, Instinkt, Rhythmus und der metallischen Disziplin ins Bewusstsein
bringe. Dem menschlichen Körper verbleibe dann nur noch eine einfache
Körperfunktion wie Trinken und Essen:
‚Der zukünftiger Mensch wird sein Herz auf seine tatsächliche
Distributionsfunktion reduzieren. Auf irgend eine Weise muß das
Herz zu einer Art Magen fürs Gehirn werden, der sich methodisch
füllt, damit das Gehirn arbeiten kann.’92
Dies könne man allerdings nicht von einer unwissenschaftlichen Menge
erwarten, sondern nur von den erlesenen Geistern. Den Menschen, der keine
moralische Überladung kennt und sowohl Güte wie Liebe als ‚verderbliche Gifte’
wie auf Knopfdruck unterbrechen kann, gäbe es nicht. Marinetti erträumt sich
daher die Möglichkeit einer Transformation des menschlichen Wesens in den
‚multiplizierten Menschen’. Er, zugleich der Titel
Abhandlung,
wäre
mit
bisher
unbekannten
dieser futuristischen
‚überraschenden
Organen’
ausgestattet, welche den Erfordernissen eines Ambientes entsprechen würden,
89 ebd., S. 109.
90 ebd.
91 ebd.
92 ebd.
80
das sich aus dauernden Anstößen und Impulsen zusammensetzt. Dieses
mechanische transhumane Wesen werde mit einer Geschwindigkeit befähigt sein,
die ihm Allgegenwärtigkeit garantiere. Die Schöpfung des mechanischen
Menschen mit Ersatzteilen, so beschwört der Autor, bringe schließlich der
Menschheit die Befreiung vom Tode: Die Überwindung des Todes bestünde in
eine Transsubstantiation von Körperteilen durch maschinell funktionierende
Geräte. Schließlich fordert Marinetti seine Zeitgenossen auf:
‚Los, sagte ich, los, Freunde! Gehen wir! Endlich ist die
Mythologie, ist das mystische Ideal überwunden. Wir werden der
Geburt der Kentauren beiwohnen, und bald werden wir die ersten
Engel fliegen sehen! … Man muß an die Pforten des Lebens
rütteln, um ihre Angeln und Riegeln zu prüfen! … Gehen wir! Da,
seht auf der Erde, die erste aller Morgenröten! Nichts gleicht dem
Glanz des roten Sonnenschwertes, das zum erstenmal in unsere
tausend-jährige Finsternis hineinsticht! … .’93
Der ‚futuristische Mensch’ geht unmittelbar in die Künste über. Den
Futuristen zufolge dürfen die Künste von der mechanischen Schöpfung nicht
unberührt bleiben und sollen sich ihre Gesetze zu Eigen machen.
Serieller Körper
Marinetti formuliert in Das Varieté die Vorzüge des Varietés in 19 Thesen.
Auffallend an diesen Thesen ist ihre betont antinaturalistische Bühnenauffassung:
‚Während das heutige Theater das verinnerlichte Leben, die
schulmeisterliche Meditation, die Bibliothek, das Museum, die
monotonen Gewissenkämpfe, die dummen Analysen der Gefühle,
Kurzum die Psychologie […] verherrlicht, preist das Varieté die
Tat, den Heroismus, das Leben im Freien, die Geschicklichkeit, die
Autorität des Instinktes und der Intuition.’94
Nach Auffassung des Futuristen muss die Wirklichkeitsnachahmung des
gegenwärtigen Theaters durch eine neuschöpferische Originalität, die historische
Rekonstruktion durch die Darstellung des modernen Lebens abgelöst werden.
Das heutige Theater soll der ‚Veränderung der Psyche’ der Menschen Rechnung
tragen, denn an die Stelle der Psychologie trete ‚das Wesen der Materie’. Die
93 Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus (1909), in: Schmidt-Bergmann,
S. 75.
94 Marinetti: Das Varieté, in: Schmidt-Bergmann, S. 224.
81
Materie als Objekt dieser Bühnenkunst, deren Wesenheit weder fröhlich noch
traurig ist, sei:
‚Unsere höchst moderne, zerebrale Auffassung der Kunst,
derzufolge keine Logik, keine Tradition, keine Ästhetik, keine
Technik, keine Opportunität dem Genie des Künstlers auferlegt
werden darf, dessen einziges Anliegen es sein muss, synthetische
Ausdrucksformen zerebraler Energie zu schaffen, die einen
absoluten Neuheitswert besitzen.’95
Die wichtigste Voraussetzung für die Darstellung des Wesens der Materie
sieht Marinetti in der ‚Zerstörung der Syntax’. 96 Die aufgehobene Logik der
dramatischen Handlung, die mit der von der regelmäßigen Syntax und dem
lyrischen Ich befreiten Worte korrespondiert, ermögliche eine Art ‚drahtloser
Phantasie’. Es werden realistische Bilder oder Analogien durch entfernte und
scheinbar entgegengesetzte Analogiefelder- und Ketten substituiert mit dem Ziel,
das Flüchtige und Unfassbare in der Materie zu umfangen und in einem
orchestralen Stil, ‚der gleichzeitig polychrom, polyphon und polymorph ist’97, das
moderne Leben zu erfassen. Fasziniert vom Fehlen jeglicher Nachahmung der
Wirklichkeit und dem elementaren Darstellungsprinzip ist das Varieté für die
Futuristen deshalb formales Vorbild: Das Varieté, das auf der Ebene ‚der
Höchstgeschwindigkeit und höchsten Gleichgewichtsakrobatik’ den präzisen,
raschen Nummern- und Programmwechsel sowie die alogische Struktur der
szenischen Partikel bietet, ist für die Avantgardisten sogar ‚das hygienischste aller
Schauspiele’ 98 . Bei starker Betonung des artistischen Elements realisiert der
Akteur im Varieté keine literarisch fixierte Rolle oder Dramenfigur. Er agiert
nicht als Privatperson, sondern legt sich für seinen Auftritt ein bestimmtes
Aussehen und ein bestimmtes Verhaltens- und Handlungsmuster zurecht, was
dazu dient, seine ‚Kunststücke’ möglichst publikumswirksam zur Geltung zu
bringen. Um das Publikum anzulocken und zu unterhalten, muss er sich also auf
die Kunst verstehen, seinen eigenen Körper und Leistung auf eine möglichst
interessante und attraktive Art zu präsentieren. Kunst kommt vom körperlichen
Können, heißt es. Der individuelle Körper wird dabei verdrängt oder völlig
95 Marinetti: Das futuristische synthetische Theater, in: Schmidt-Bergmann, S. 229.
96 vgl. Marinetti: Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite Worte, in:
Schmitdt-Bergmann: Futurismus, S. 210-220.
97 Marinetti: Technisches Manifest der futuristischen Literatur, in: Schmidt-Bergmann,
S. 283.
98 Marinetti: Das Varieté, S. 222.
82
weggelassen. Er wird zur Serialität99. Die Lust am maschinellen Funktionieren
wird zum Index des Kollektivs. Die neuen ‚Akteure’ sind das Licht, das Kostüm,
die Maschine und andere Kunstobjekte. So wird das Varieté, ‚ohne Zerknirschtheit, wie eine x-beliebige Attraktion’ ein kurzweiliges, leicht konsumierbares und
optisch in jeder Hinsicht faszinierendes Amüsement, speziell zugeschnitten auf
die Bedürfnisse des Großstadtmenschen, der nach Entspannung und der
leichtesten Form der Zerstreuung verlangt.100
Diese extreme Dezentrierung des menschlichen Subjekts wird im ‚Theater der
Kürze’ noch einmal proklamiert. Die Futuristen bezeichneten diese Kurzform des
Theaters als ‚sintesi’. Darin soll das szenische Geschehen auf der Stufe absoluter
Reduktion und damit höchster Konzentration sowie Komplexität vorgestellt
werden. Aus diesen als kleinste dramatische Einheit verstandenen, für sich
selbständigen Elementen der ‚sintesi’ bauten sie dann durch Reihung größere
Zusammenhänge auf, die schließlich zum langen Schauspiel zurückführten. 101
Weder Motivation noch Erklärung werden dargestellt. Das Wort wird in
größtenteils improvisierten Dialogen herabgemindert und gleichzeitig der visuelle
Aspekt der Szene betont. Um den Einklang mit der raschen und lakonischen
futuristischen Sensibilität herzustellen, wird ‚in wenigen Minuten, in wenige
Worte und in wenige Gesten […] eine Unzahl von Situationen, Empfindungen,
Ideen,
Sinneswahrnehmungen,
gedrängt’ 102 .
Ereignissen
und
Symbolen
zusammen-
Das Prinzip beruht folglich auf einer scheinbar unmotivierten
Aktionskette clownischer, akrobatischer und exzentrischer Dar-bietungen. Ziel
des Theaters ist die extreme Überforderung des Publikums: Das Bühnengeschehen soll mit Hektik und Heftigkeit die Nerven der Zuschauer attackieren,
sie durch ein ‚Labyrinth der Sinneswahrnehmungen’ schleudern, mithin für die
99 Hier wird der Begriff ‚Serialität’ verwendet in Anlehnung an sog. ‚Ars Multiplicata’,
‘die Kunst in Serie’. In der ‚Ars Multiplicata’ geht es um ‚auf Vervielfältigung angelegter
Kunst, die zumeist ohne handwerklichen Zutun des Künstlers, der nur die Konzeption
liefert, durch Assistenten und an Maschinen hergestellt und in großer Zahl auf den
Kunstmarkt gebracht wird’. vgl. Katharina Sykora: Das Phänomen des Seriellen in der
Kunst. Aspekte einer künstlerischen Methode von Monet bis zur amerikanischen Pop Art,
Würzburg 1983, S. 4-5.
100 Marinetti schreibt weiter: ‚So billigen wir bedingungslos die Aufführung des Parsifal
in 40 Minuten, die in einem großen Varieté in London vorbereitet wird.’ Marinetti: Das
Varieté, S. 224.
101 vgl. Klaus Ley: F. T. Marinettis Einakter Elttricitá und die ‚sintesi’ als Theaterform
der Futuristen, in: Winfried Herget/ Brigitte Schultze (Hg.): Kurzformen des Dramas.
Gattungspoetische, epochenspezifische und funtionale Horizonte, Tübingen/ Basel 1996.
S. 187-214.
102 Marinetti: Das futuristische synthetische Theater, S. 227.
83
Reizüberflutung in der modernen Welt konditionieren. Auf diese Weise suchen
die Futuristen die dem Gag eigene und notwendig gedrängte Dramenstruktur,
durch die das Zuschauen aus seinen gewohnten Bezügen gerissen und auf andere
Bahnen gelenkt wird. Die unmittelbare, durchschlagende Betroffenheit des
Publikums manifestiert sich in der Mischung von Schrecken und Gelächter, die
aufgestaute Spannung löst sich in Irrwitz und Aufruhr, aber auch in plötzlicher
Orientierungslosigkeit und Stille. Solche unerwarteten Publikumsreaktionen
bilden dadurch für die futuristischen Dichter einen Teil der Inszenierung, die
ebenso wichtig ist wie die Textvorlage, nach der gespielt wird. Sie folgen dem
Programm eines offenen Kunstwerks, der Zuschauerraum wird dabei zum Forum
‚futuristischer Sensibilisierungsprozesse’ und zur Zielscheibe unvorhergesehener
Theatereffekte.103 Das Theater wird zum Ort der Utopie einer die Erstaunen und
Reaktionen erregenden ‚amüsanten Ideen’, reinen ‚Körpertollheiten’ und
vollkommen durch die Technik funktionierende Welt.104
103 Zuvor haben Marinetti und seine Gruppe in mehreren italienischen Städten Aufführungen aufgeführt, die sich aus der Praxis der serate ergeben hatten. Besonders die
unerwarteten Situationen in serate, in denen Künstler ihre wilden und aggressiven Reden
an die Menge richteten und durch die heftigen Reaktionen des Publikums dazu getrieben
wurden, ihre Antworten, ihre Haltung und ihre Gesten zu improvisieren, ermöglichten es
ihnen den neuen ästhetischen Begriff der Überraschung zu entwickeln.
104 Damit stehen die Futuristen und die Surrealisten in einem Gegensatz zueinander;
formal führten die beiden Gruppen zur Auflösung des individuellen Körpers, schufen
damit die Voraussetzung zu einer neuen Sehweise und Darstellung der Welt. Der
Futurismus, der zwar die Bildsprache revolutionierte, stellte aber den Abbildcharakter der
Kunst nicht infrage. Im Vergleich dazu bestand das Hauptanliegen der Surrealisten darin,
die Prozesse rationalen Verstehens zu destabilisieren. Sie glaubten ‚an die künftige
Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in
einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.’ (Breton, 1924) Mit
seinem Interesse für die Psychoanalyse Freudscher Prägung und seinem Vertrauen in den
Traum und den ‚reinen psychischen Automatismus’, der rationale Denken ausschaltet,
stellt der Surrealismus den Wendepunkt dar, an dem der Körper nicht mehr Gegenstand
einer bewusst geordneten Erforschung und Analyse ist. Das bedeutet aber nicht, dass der
Körper in der Kunst der Surrealisten ausgeschlossen war oder nicht mehr vorkam; er
spielte nach wie vor eine wesentliche Rolle als Träger unterbewusster Wünsche, Gefühle,
Phantasien und Ängste. Er war jedoch in den surrealistischen Werken meist unterschwellig - zwischen den Zeilen gegenwärtig -, eher angedeutet als ausgeformt. Der
Konflikt, wie man diese tief im Innern des Menschen verschlossenen unbewussten
Kräfte‚materialisieren’ könnte, ohne dass ihre spontane Wirkkraft durch die bildlichsprachliche Entschlüsselung verloren ginge, wurde von den Surrealisten über verschiedene künstlerische Vorgehensweisen anvisiert: den direkten Zugang zu den
schöpferischen Kapazitäten des Menschen bildete die authentische Erfahrung des
Traumes, der festgehalten in Traumprotokollen als natürliche Quelle des unbewussten
geistigen Flusses nutzbar gemacht werden konnte. Zudem wurde die Technik der écriture
automatique bzw. des ‚psychischen Automatismus’ in der Kunst angewandt, um in streng
authentischer Erfahrung die assoziativ fließenden Binnen-Energien des Menschen zu
84
‚Der Sieg über die Sonne’: Die Oper
Die futuristische Bühnenästhetik erlebt ihren Höhepunkt jedoch in der Oper
Der Sieg über die Sonne aus dem Jahre 1913.105 Dort wurde die Technik und
deren Sieg über die Natur, über Verstand, Sinn und Logik der technischen Welt
verherrlicht, die seit der Aufklärung, dem Zeitalter des Lichtes ihren Siegeszug
angetreten hatten. 106 Dort wurde die futuristische Bühnendarstellung von der
Dezentrierung des menschlichen Subjekts bis zur mimetischen Annäherung an
die Maschine demonstriert. Dabei boten die zergliederten und fragmentierten
menschlichen Körper der Darsteller unmittelbar den deutlichsten Vorschein auf
den Verlust der alten Weltordnung und die Orientierungsnot in der neuen Welt.
Die Oper folgte einer festgefügten Dramaturgie mit stark vereinfachten Typen.
Die Figuren waren keine Handlungsträger, sondern Verkörperungen, ja Personifizierungen, wie man den Namen der Figuren entnehmen konnte: ‚der Kraft-
erfassen. Die Surrealisten gingen davon aus, dass der Strom der Gedanken im Unbewussten ununterbrochen fließt, dass man sich in ihn sozusagen nur einschalten muss. In
der Folge wurde diese Methode des automatischen Schreibens oder Malens von den
Surrealisten experimentell erforscht, mit dem Ziel, sie systematisch anwenden zu können.
Im Verlauf dieser Experimente entwickelten sich einige von ihnen zu ‚Schlaf-Genies’, die
den Übergang vom wachen in den halbwachen ‚Schlafzustand’ des Automatismus nahtlos
vollzogen und augenblicklich zu schreiben oder ihren Gedankenfluss zu diktieren
begannen’. vgl. Holger Fock: Der psychische Automatismus, in: Fock: Antonin Artaud
und der surrealistische Bluff I, Berlin 1988.
105 Die Oper wurde am 3. Dezember 1913 im Lunapark-Theater in Petersburger uraufgeführt. Der Dichter Alexej Krutchonych und Wladimir Majakowski verfasste das
Libretto, der Komponist Michail Matjuschin schrieb die Musik. Kostüme, Bühnenentwürfe und Lichtregie stammen von Kasimir Malewitsch. Der Sieg über die Sonne war
ihre erste gemeinsame Arbeit, nachdem sie das erste russische-futuristische Manifest
herausgegeben hatten. Die erste russische futuristische Gruppierung, die das noch im
Zeichen des Realismus stehende Russland mit dem radikalen Rückgriff auf das Material
provozierte, schienen im Vergleich zu den Italienern jedoch weniger eine Gruppe zu sein,
sondern eher ein loser Zusammenschluss von Einzelgängern. Sie unterschrieben zwar
gemeinsam Manifeste, im Übrigen hingen sie aber ihren eigenen poetologischen Vorstellungen an. Die Manifeste bieten wenige Hilfestellungen zum Verständnis konkreter
Texte einzelner Futuristen.
106 Wobei einige Unterschiede festzustellen sind: Anders als die Italiener waren die
russischen Futuristen eher der marxistischen Lebensanschauung verpflichtet, die sie in
ihrem künstlerischen Schaffen zu verwirklichen suchten. Ihre Aufgabe war es, an der
dynamischen Weiterentwicklung der Gesellschaft mitzuarbeiten. Man hatte demnach die
Hoffnung, dass die Technik im Dienste der fortschrittlichen Klasse zu einer wahren
Selbstverwirklichung der Menschen führen würde. vgl.: Alexander Krutschonych:
Libretto der Oper ‚Sieg über die Sonne’, in: Ausstellungskatalog: Sieg über die Sonne.
Aspekte russischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Akademie der Künste Berlin,
1983.
85
mensch’, ‚der Feigling’, ‚der Totengräber’ und ‚der Neue’. 107 Die von Kasimir
Malewitsch (1879-1935) entworfenen Kostüme unterstützten dabei diesen
semantischen Charakter und trieben ihn auf die Spitze. [Abb. 17] Es waren:
‚die Figuren selbst […] durch die Klingen der Scheinwerfer
zerstückelt und abwechselnd der Hände, Füße und des Kopfes
beraubt [wurden] denn für Malewitsch waren sie lediglich
geometrische Körper, die nicht nur in der Zerlegung in ihre
Bestandteile, sondern auch in der völligen Auslösung im
malerischen Raum unterlagen.’108
Durch die geometrisierte, asymmetrische Verteilung stark farbiger und
scharfkantiger Flächen sowie durch kontrastreiche und anorganische Muster Dreiecken, Trapezen, Kreisen, Zacken - wurden die Glieder des Darstellers
vereinzelt und voneinander abgekoppelt. Die beiden futurististischen Übermenschen z. B. konnten ihre Arme nur nach oben bewegen. Sie führten ein
Eigenleben, das die organische Einheit und Achsensymmetrie der Körperganzheit
zerstörte. Das grelle Scheinwerferlicht, welches Malewitsch zum ersten Mal in der
Geschichte der Bühnenkunst als Gestaltungsmittel einsetzte, um die einzelnen
Figuren im dunklen Raum des zweiten Aktes herauszuheben, trug weiterhin dazu
bei, die Körperkonturen zu zerschneiden, die organische Einheit des Leibes zu
zergliedern, seine Bewegungen ruckartig und desintegriert erscheinen zu lassen.
Die Darsteller trugen dazu Masken, die den heutigen Gasmasken ähnlich waren.
Sie ‚wirkten wie laufende Maschinen’109, wobei ihre Bewegungen auf der Bühne
‚durch den Rhythmus des Ausstatters und Regisseurs gebunden und dirigiert
wurden’. Später wurden diese Figuren tatsächlich von El Lissitzky (1890-1941)
durch eine Art Roboter ersetzt.110
107 Diese plakativen Rollen entsprachen der vereinfachten politischen Botschaft des
Agit-Prop-Theaters um 1920, das mit ebenso plakativer Agitation die Massen für die
Ziele der russischen Revolution zu begeistern suchte.
108 Bededict Liwschitz, zit. nach: Evelyn Weiss (Hg.): Kasimir Malewitsch. Werk und
Wirkung. Köln, 1995, S. 29.
109 Alexander Krutschonych: Errinerungen, in: Ausstellungskatalog: Sieg über die
Sonne, S. 51.
110 El Lissitzky nahm zehn Jahre später diese Motive für seine Figurinenmappe wieder
auf. Seine Figurinen tragen zwar Namen wie ‚die Ängstlichen’, ‚die Totengräber’ oder
‚der Neue’; der Habitus jeder Figurine gibt den Charakter der jeweiligen Rolle wieder;
die Ängstlichen zeigen sich in gedruckter Haltung, der Alte krümmt seinen Rücken, und
die Aggressivität des Zankstifters ist an seinen scharfkantigen Formen ablesbar. Jedoch
hatte die Gestaltung dieser Figuren nur wenig mit Malewitschs Entwürfen zu tun:
Lissitzkys Figurinen führen nicht mehr Kostüme vor, sondern stellen die Schauspieler
selbst dar. Diese scheinen aber nicht mehr aus menschlichen Darstellern zu bestehen.
86
Diese ‚futuristische’ Vorstellung vollzieht sich in einer ‚Schaumaschinerie’, welche
sich nahtlos in die Projekte des zeitgenössischen russischen Theaters um 1922
eingliedern wird, bei denen insbesondere die Ideen der konstruktivistischen
Bühnenkünstler zum Tragen kommen.111
Es wird zusammengefasst:
Die Entindividualisierung oder Typisierung der Moderne zu Beginn des 20.
Jahrhundert zeugte von einer Beschädigung oder gar der Zerstörung des
Menschenbildes, wie anderswo vielfach beklagt wurde. Dieses Allgemeine wurde
aber von Craig und Futuristen auf ihre Weise auf der Bühne individualisiert,
vergegenwärtigt und veranschaulicht. Sie trennten dabei die Bühnengestalt von
der Ordnungsmacht des Theaters und zerlegten sie in ihre Elementarteile. Die
Folge: Die Befreiung der Figuren aus ihrer illusionistischen Funktion lässt Raum,
Licht und Bewegungen als eigenständige und eigensinnige theatrale Zeichensysteme wieder zu ihren Rechten kommen. Die Pluralisierung der theatralen
Codes löst die sukzessive Wahrnehmung aus der permanenten Rückbindung an
Einheit und Simultaneität der Gesamtgestalt der Darstellung. Das klassisch
geschlossene Körperbild des Schauspielers weicht der Marionette, Puppen,
Objekten und Maschinen. Craig glaubte nicht an die Persönlichkeiten des
menschlichen Darstellers, sondern an die Magie des Unpersönlichen des
Artefakts. Akzentuiert war dabei die Hoffnung auf Kontinuität des Subjekts:
Metaphorisch verdichtet in der Kunstfigur und deren künstlerischem Spannungsfeld zwischen Typisierung und Annäherung an die Ewigkeit. Der Mensch sucht
im ICH nach einem festen Ort in der Unübersichtlichkeit der Lebensumstände,
Vielmehr erinnern sie an Maschinen bzw. Roboter. vgl. Figurinenmappe ‚Sieg über die
Sonne’ (1923), in: Ausstellungskatalog: El Lissitzky 1890-1941, Sprengel Museum
Hannover, 1988, S. 180-183.
111 Die auf dem Titelblatt der Figurenmappe dargestellte Konstruktion des Spielgerüsts
erhebt sich über einem schwarzen Ring, der wie eine Arena gebildet ist. Zwei himmelwärts ausgefahrene Teleskopstangen halten einen Parabelbogen, der aus der Unendlichkeit zu kommen und in die Unendlichkeit zu führen scheint. Auf ihm ist der letzte, von
den ‚Kraftmenschen der Zukunft’ gesprochene Satz der Oper ‚Anfang gut, alles gut, was
ohne Ende ist’ in vier Sprachen dadaistisch verfremdet zu lesen. Der Satz und die Parabel
markieren den Standort der Schaumaschine als Geburtsort einer neuartigen offenen
Zukunft, die von anthropomorphen Spielautomaten bevölkert wird. Die Schaumaschinerie, in dem sich diese androidehaften Spielkörper bewegen, wächst aus dem schwarzen
Ring hervor, an dem die Totengräber’ der Sonne, d. h. der alten Welt, platziert sind. ‚Die
Sonne als Ausdruck der alten Weltenergie wird vom Himmel herabgerissen durch den
modernen Menschen, der Kraft seines technischen Herrentums sich eine eigene
Energiequelle schafft.’ vgl. El Lissitzky: Vorwort zur Mappe ‚Sieg über die Sonne’, in:
Ausst.Kat.: El Lissitzky.
87
vor der Unermesslichkeit von Raum und Zeit, die einstens durch mythische,
religiöse Bedeutung vermittelt wurden. Was bei Craig aber eine allgemeine
Utopie blieb, haben die Futuristen in ihren Manifesten lebhaft beschildert und in
ihrem Theater weiter verfolgt. Wie La Mettrie im 18. Jh. im Glauben an Vernunft,
Fortschritt und Wissenschaft die Welt aus den Prinzipien der Mechanik und den
Menschen als selbstbewegte Körpermaschine erklärt hatte, so blickten die
Futuristen voller Enthusiasmus auf die futuristischen Menschen, die zum Modell
des Funktionierens der gesamten Gesellschaft werden sollten. Als Vorbild des
zukünftigen Menschen diente den Avantgardisten der sog. multiplizierte Mensch,
dessen Synthetik durch erneuerte Theaterformen und kubistische Verkleidungen
angeregt werden sollte. Er wäre mit traditionellen Körper- und BewegungsStereotypen des Geschlechts nicht definierbar. Das Weibliche und das Männliche
erschienen ihm als pure Differenz-Struktur, die aus den althergebrachten
Gender-Symbolen
rekonstruiert
würde.
Maschinen-Mensch wurde damit proklamiert.
Ein
unsterblicher
androgyner
88
2. Soziale Automaten
- Wsewolod E. Meyerholds ‚Der großmütige Hahnrei’
‚Der in blaue Kombination gekleidete Schauspieler verwandelte
sich in einen mechanischen Roboter, ein bloßes Zubehör zu den
sich drehenden Rädern und Drehtüren der Konstruktion […].’112
So beschreibt ein Zuschauer verblüfft seinen unmittelbaren Eindruck von
einem Darsteller auf der Bühne. Ein anderer Zeuge sieht den Schauspieler und
sein Ensemble indes:
‚Sie [Darsteller] spielten exzentrisch, vor der ‚Maschine’, auf der
‚Maschine’, alles ist potenziert, das sind lautstarke Szenen, Salti
mortali, groteskes Tragen auf den Schultern, alles in den
karikierten Linien einer Zirkusvorstellung […] auch wenn nur
eine Physiognomie auf der Bühne ist, wirkt sie, als wären es
wenigstens ein Dutzend.’113
Geeignet sei daher für diese Aufführung ein Auditorium aus ‚neuen
Menschen’:
‚Hier werden die Nerven nicht eingeschläfert, sondern gepeitscht,
sie müssen stark sein, damit sie nicht zerreißen; überhaupt ist zu
erkennen, daß eine neue, gesündere Rasse die Voraussetzung für
dieses Theater ist.’114
Diese im wahrsten Sinne des Wortes höchst merkwürdigen Theatererlebnisse wurden am 25. April 1922 nach der uraufgeführten Inszenierung Der
großmütige Hahnrei von Wsewolod E. Meyerhold im Theater des Schauspielers
in Moskau aufgezeichnet. Was jedoch diese Rezeption herausarbeitete, scheint
kaum mit einem Theaterstück bzw. Bühnenfiguren zu tun haben.
112 zit. nach: Jelena Rakitin: Darüber, wie Meyerhold nicht mit Tatlin zusammenarbeitete, und was sich daraus ergab. Zum Theater der Avantgarde, in: Ausst.Kat.: Die
große Utopie. Die russische Avantgarde 1915-1932, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 1992,
S. 225.
113 Aleksander Flaker: Kroatische Zeugnisse über Mejerchol’ds Theater, in: Herta
Schmid/ Hedwig Král (Hg.): Drama und Theater. Theorie - Methode - Geschichte,
München 1991, S. 399.
114 ebd.
89
Im Zentrum von Meyerholds gesamtem künstlerischen Schaffen steht der
spielende Kunstmensch: Im Streben nach einem nichtnaturalistischen, kunsthaften, damit plastischen Theater experimentierte der ehemalige Schauspieler
von Stanislawski mit einer Bühnenfigur, deren Aufgabe statt der zufälligen,
ungeformten, auf lebensechte Abbildung zielenden Körperlichkeit eine bewusst
geformte Bildhaftigkeit sein sollte. So provozierte Meyerhold, durch die
deutschen Romantiker, die Symbolisten und nicht zuletzt Craig mit ihren
Kunstfiguren und deren modellhaftem Bewegungsprinzip vertraut, seine Zeitgenossen mit seiner Schauspieler in ihrer hölzernen Plastizität und damit
Puppenhaftigkeit. Der Regisseur träumte dabei von einer Wiedergeburt der
Antike, deren rhythmisch gegliederte Spielweise an das statuarische, reliefhafte
Ausdrucksprinzip gebunden war.
Als wichtigste Inszenierung Meyerholds gilt Der großmütige Hahnrei. Das
folgende Kapitel untersucht, wie nah seine Inszenierung diesem Zusammenhang
steht, mit welchen Methoden er diesen Gedanken verfolgt.
1. Der Stand der Dinge
Ausgang: Textauswahl
Die Handlung des Fernand Crommelyncks Farce Le cocu Magnifique (UA
Paris 20. Dez. 1920) ist bekannt, schon der Titel lässt sich als Replik auf den Titel
von Molières Komödie Sganarell ou le Cocu imaginaire (der Hahnrei in der
Einbildung, 1660) verstehen. Man findet hier ebenfalls
‚einen pathetischen Hahnrei, der sich, um nicht mehr an der
Treue der geliebten Frau zweifeln zu müssen, von ihrer Untreue
überzeugen will. Trotz all ihrer Reinheit, trotz ihrer Liebe muß
Stella seine Forderungen erhören, sie ist gezwungen, mit seinem
Neffen Petrus zu schlafen [...] und dann muß sie mit allen
Dorfburschen schlafen - im Glauben, sie werde damit zur Heilung
ihres Mannes von seiner Krankheit beitragen’115.
115 J. Pillement, zit. nach: Alexander Flaker: Die erotische Farce und das revolutionäre
Theater, Theater (Krommelynck-Meyerhold-Cesarec), in: Herta Schmid/ Jurij Striedter
(Hg.): Dramatische und theatralische Kommunikation. Beiträge zur Geschichte und
Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert. Forum Modernes Theater Bd. 8,
Tübingen 1992, S. 262-263.
90
Der Text ist demzufolge konventionell. Die Handlung führt zwar zum
Paroxysmus, doch löst er sie mit einer traditionellen Wendung: Als Bruno, der
Hahnrei, in Verkleidung selbst zum Karneval geht und seine Frau Stella verführt,
nimmt er dies als Beweis und Grund, sie dem Mob der lynchwütigen Dorfweiber
zu überlassen. Nur der tumbe Ochsenhirte kann sie retten und nimmt die
schließlich Einwilligende mit. Es sind folglich repräsentative Themen der
etablierten Dramen: Liebe und ihre Verwicklungen, mithin Liebeskummer,
Eifersucht, Kampf der Geschlechter und melodramatischem Mord bzw.
Selbstmord. Anlässlich der Wiederaufführung des Stückes schrieb der Kritiker
Boris Kusmann in der Prawda 1926 unterdessen:
‚Das Thema, das Liebe und Eifersucht, die aus den Besitzerinstinkten des Mannes entspringt, und die aufopfernde Liebe der
Frau behandelt’, wurde hier, ‚unerhört zugespitzt […] Gerade
diese thematische Zuspitzung, die dialektische Schärfe, die
äußerste Anspannung war notwendig, um dem Theater zu helfen,
neue Formen der Bühnenkunst zu finden.’ 116
Kusmann fand es ferner ‚unmöglich’, ein für den Anbeginn der erneuerten
Theaterkunst passenderes Stück zu finden.
Um ein neues Theater, wenn nicht ein revolutionäres zu schaffen, braucht
man ein Stück mit einem konservativen Wert und ohne Belang? Ein Stück
mithin, das kleinbürgerlicher Ästhetik huldigt und seine Form jeder Vulgarität
und Trivialität aussetzt?
Wenn man von Meyerhold und seiner Inszenierung spricht, muss man
unbedingt die Theatersituation in Russland am Anfang des 20. Jahrhunderts
berücksichtigen. Denn Russland erfährt in den zwanziger Jahren noch einmal
eine kräftige Veränderung. Während sie vor der Revolution den herrschenden
Realismus bekämpften, sich aber von der Kunst als eine Form sozialen
Engagements noch distanziert hatten, stellten die Avantgardisten in der 20er
Jahren den gesamten ‚Ästhetizismus’ selbst in Frage. Der sog. auratische Mythos
des Künstlers, welcher aus seinem ‚Innern’ schöpft und als der unteilbare Kern
des Individuums galt, wurde angesichts der Zerrissenheit und der Ungewissheit
dieses ‚Inneren’ radikal in Frage gestellt und mit ihm der bürgerliche
116 zit. nach: Bernd Vogelsang: ‘Popova’ in Raumkonzepte, in: Ausst.Kat.:
Konstruktivische Tendenzen in Bühnen- und Bildkunst 1910-1930, Städtische Galerie im
Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt am Main 1986, S. 55.
91
Subjektbegriff sowie seine Erscheinung als subjektiv-psychologisches Konstrukt.
An dessen Stelle tritt das Material eines Kunstwerkes in den Mittelpunkt: Linien,
Farben und Formen in der Malerei, Wortwurzeln und Worte in der Dichtung,
Bewegungen und Laute in der Musik. Jenes wurde bald im Theater aktiviert und
laut. Statt auf ‚intuitive’, mystische Schauspielerpersönlichkeit oder den psychologisch feinen Charakterdarsteller, wurde auf allgemeingültige, erkennbare
Prinzipien gesetzt, der Schauspieler nur noch über sein Material, seinen Körper
erfahrbar und bestimmbar. Für dieses Theater suchten die Bühnenkünstler in der
Folge nach einem passenden Pendant, um es auf dem Weg rein formaler
Experimente an einem Repertoire zu verwirklichen.
Der Verzicht einer Kunst, die aus der Psyche des Individuums schöpft, war
ebenfalls die generelle Ausrichtung von Meyerhold. Schon seit seiner Trennung
von
MChAt
(Moskauer
Künstlertheater)
spiegelt
seine
Ablehnung
der
‚neurasthenischen Zuckungen des Naturalismus’, der Zufälligkeiten des Erlebens
und des Innerlichen sein prinzipielle Misstrauen in die ‚Subjektivität der
Bühnenfiguren’ wider. Bei der Entfaltung seiner Auslegung geht Meyerhold
zunächst von der ‚Stilisierung’ der Bühnenfiguren aus. Das seit seiner Tätigkeit
am Studio-Theater beim MChAt (1905) entwickelte Konzept eines ‚bedingten
Theaters’ sollte dies systematisieren.
Entfaltung: Stilisierung
Der Begriff uslowny teatr117 (wörtlich übersetzt: bedingtes Theater) stammt
ursprünglich von Waleri J. Brjussow (1874-1924). Nach Brjussow ist das Theater
Kunst der Schauspieler, insofern er als lebender Mensch konstitutiv für die
Bühnenkunst ist. Die Aufgabe des Theaters bestehe folglich darin, ‚alle
Bedingungen zu schaffen, damit sich das Schaffen des Schauspielers so frei wie
möglich entfalten’118 kann. An sich ist jedoch der lebende Mensch auf der Bühne
noch kein Kunstwerk. Er wird es erst durch die stilisierende, das heißt abstrahierende Formierung seiner selbst und der Dinge in seiner räumlichen
Umgebung. Ein Schauspieler müsse also
117 Ein Theater, das die ‚Bedingtheit’ bzw. den Spielcharakter bewusst als Prinzip der
Bühnenkunst setzt. vgl. Rosemarie Tietze: Vsevolod Meyerhold. Theaterarbeit 19171930, München 1974, S.11; Brjusov: Realism and convention on the stage, in: Laurence
Senelick: Sammelband Russian dramatic theory from Pushkin to the Symbolists,
University of Texas Press1981, S. 171-182; Meyerhold: Zur Geschichte und Technik des
Theaters (1907), in: ders.: Schriften (Bd.1), Berlin 1979, S. 118-120.
118 Brjussow, zit. nach: Meyerhold: Zur Geschichte und Technik des Theaters, S. 119.
92
,wie der Bildhauer, in einer sinnlich wahrnehmbaren Form den
gleichen Inhalt verkörpern: die Erlebnisse seiner Seele, ihre
Gefühlsregungen. Was dem Pianisten die Töne seines
Instrumentes sind, ist dem Sänger die Stimme und dem
Schauspieler der Körper, die Sprache, Mimik und Gestik. Das
Werk, das der Schauspieler aufführt, dient für sein Schaffen als
Form’119.
Meyerhold formuliert diese brjussowische Stilisierung auf seine Weise um:
‚Nicht für diese schablonhafte, sinnlose, kunstfeindliche Stilisierung, […] sondern für die mit A b s i c h t g e s c h a f f e n e S t i l i
s i e r u n g als künstlerische Methode, einem eigenen reizvollen
Kunstgriff der Inszenierung.’120
Denn die Schauspielkunst ist, und hier spricht Meyerhold mit den Worten
Andrej Belys,
‚nicht imstande, die Fülle der Wirklichkeit wiederzugeben, das
heißt die Vorstellungen und ihren Wechsel in der Zeit. Sie zerlegt
[bloß] die Wirklichkeit, indem sie diese bald in räumlichen, bald
in zeitlichen Formen darstellt. Deshalb verweilt sie entweder bei
der Vorstellung oder beim Wechsel von Vorstellungen: Im ersten
Fall entstehen räumliche Kunstformen, im zweiten zeitliche’121.
Die Stilisierung ist für Meyerhold demnach eine künstlerische Methode, bzw.
die Tätigkeit der ‚Analyse’, indem sie die ‚Fülle der Wirklichkeit’ mit Hilfe der
sinnlichen Erscheinung des Körpers hervorbringt. Da aber der menschliche
Körper stets von beiden Kategorien, bzw. Zeit und Raum beeinflusst wird, gilt
dann Schematisierung, das heißt Konturierung, wobei oft eine Kategorie
dominant gesetzt wird. Diese formale Schematisierung geht dann einher mit der
Typisierung. Darin werden die identitätsbestimmenden, einheitlichen Dominanzphänomene der wahrgenommenen dramatischen Person nicht nur auf dieser
Ebene, sondern auch auf der Ebene der Psychologie erfasst.
119 ebd.
120 ebd., S. 120.
121 Andrej Bely: Der Symbolismus, zit. nach: Meyerhold: Balagan (1912), in: ders.:
Schriften (Bd.1), Berlin 1979, S. 215. Bely lehnt aber überzogene Stilisierung, die von
der russischen Symbolisten praktizierte, ab: ‚Die Stilisierung verwandelt die Persönlichkeit in eine Gliederpuppe. Diese Verwandlung ist der erste und entscheidende Schritt
zur Zerstörung des Theaters. Was bliebt...die Schauspieler von der Bühne des
‚Balagantschik’ zu verbannen und sie durch Marionetten zu ersetzen [...].’ zit. nach: Jörg
Bochow: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin 1997, S. 26.
93
Diese ‚analytische Stilisierung’ trägt nach Meyerholds Auffassung allerdings
‚noch einer gewissen Wahrscheinlichkeit Rechnung’122; sie verbinde sich noch mit
dem Realismus. Die ästhetische Groteske sei daher ‚die zweite Etappe auf dem
Wege der Stilisierung’123. Sie ist, so Meyerhold, keine ‚Synthese’ des stilisierten
Analysierten nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit, sondern nach dem eines
freien künstlerischen ‚Reichtums’:
‚Die Groteske kennt nicht nur das Niedrige oder nur das Höhe. Sie
vermischt die Gegenstände, spitzt die Widersprüche bewußt zu
und läßt mit ihrer Originalität spielen […] Die Groteske vertieft
das Alltagsleben bis zu der Grenze, wo es aufhört, das nur
Natürliche zu sein.’124
Groteske, derzeit oftmals adjektivisch für das Irritierende, Fremde, mithin
nicht Beschreibbare verwendet, äußert sich bei Meyerhold als ernst zu
nehmendes Bühnenelement. Im Sinne eines historischen und ästhetischen
Phänomens zeigt sie sich bei Meyerhold als Medium künstlerischer Vermittlung
gesellschaftlich relevanter Themen und bekräftigt dessen Funktion als Mittel der
Verfremdung im Prozess künstlerischer Gestaltung. Groteske meint folglich
‚Trennmittel’ zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und einer künstlerischen Bühnenrealität. Es geht um das Moment der Verfremdung, das heißt um
ein Mittel der beschriebenen Stilisierung, mit dem aus der gesellschaftlichen
Realität entlehnte Sujets in ein ‚nach der künstlerischen Vision erstelltes Ganzes
integriert’ werden:
‚Die Groteske, die das Übernatürliche sucht, verbindet in einer
Synthese die Extrakte der Gegensätze, schafft ein Bild des
Phänomenalen und lässt den Zuschauer das Rätsel des
Unbegreiflichen erraten.’125
Die Methode der Kontrastierung und Pointierung sei dabei explizites Mittel
der Groteske. In einem breiten Spektrum von feinsten Verschiebungen bis hin zur
Hyperbolisierung und Vulgärisierung lassen sich ihre verschiedenen Spielarten
feststellen. All diese Aspekte nehmen die Schlüsselposition in Meyerholds
Bühnenkonzept ein. Die Darstellung und der Bühnenraum werden ihrerseits in
122 Meyerhold: Balagan, S. 215.
123 ebd.
124 ebd., S. 215-216.
125 ebd., S.216.
94
ein rein künstliches, nach der künstlerischen Vision erstelltes Ganzes integriert.
Der Bühnenraum wird verfremdet, der Schauspieler wird zur Kunstfigur.
Orientierung: Sozialer Körper, kollektiver Leib
Nach 1917 versuchte Meyerhold, dieses Abstraktum der stilisierten Bedingtheit in der konkreten Form zu überwinden. Wie die ‚linken’ Künstler seiner Zeit
hoffte auch er, Leben und Kunst nach den gleichen wissenschaftlichen Prinzipien
neu zu gestalten. 126 Dieser Versuch korrespondierte einerseits mit dem Aufkommen der neuen Kombination von Massenkultur und Militärisierung vieler
Lebensbereiche, andererseits mit der Vision einer neuen Körperkultur 127 des
Landes, die sowohl im Ästhetischen als auch im Sozialen allgegenwärtig war.
Maßgebend für Meyerhold war jedoch Gastews Theorie, deren proletarischer
Maschinismus auf die folgende nachrevolutionäre Avantgarde in Russland einen
großen Einfluss ausgeübt hatte.
Der Metallarbeiter und Dichter Aleksej K. Gastew gründete 1920 im Auftrag
der Metallarbeitergewerkschaft das ZIT, das Zentrale Institut für Arbeit und
entwickelte dort eine Konzeption, in der ein Arbeiter über die perfekte Beherrschung einfachster Arbeitsgeräte in die Lage versetzt werden sollte, komplexe
Maschinen zu beherrschen. Er sah zunächst in der ‚Metallurgie der neuen Welt,
Automobil- und Flugzeugfabriken Amerikas und Europas und schließlich Kriegsindustrie der westlichen Heimsphäre’ die ‚gigantischen neuen Laboratorien, in
denen die Psychologie und die Kultur des Proletariats geschaffen werden’. 128
Diese gewaltige Maschinisierung, so Gastew, ‚normt sich nicht nur die Gesten,
nicht nur die Produktionsmethoden, sondern auch die täglichen Gedanken und
126 Die revolutionäre Umgestaltung im Jahr 1917 wurde auch vom Theater erwartet. Das
Theater als ‚experimentelles Laboratorium’, als ‚Werkzeug zur Umgestaltung des
Lebens’ soll mit der sozialen Praxis kooperieren, indem die Kluft zwischen Leben und
Kunst geschlossen wird. Das Theater verliert demnach seine künstlerische Autonomie,
wird medialisiert und instrumentalisiert für das gesamtgesellschaftliche Experiment. In
Meyerholds Frühphase der ‚stilisierten Bedingtheit’ blieb dieser soziale Aspekt noch
außer Betracht. vgl. Joachim Paech: Das Theater der russischen Revolution. Theorie und
Praxis des proletarisch-kulturrevoutionären Theaters in Rußland 1917-1924, Kronberg/
Ts. 1974.
127 Zur jenen Hinwendung zu einer neuen Kultur des Körpers und damit zur Projektion
eines neuen Menschen gehört die Dalcroze-Bewegung, wie sie in den ersten Jahrzehnten
des 20. Jh. in Russland vor allem im Theater sichtbar wird. Sie erstrebt die Erlösung von
der Zerrissenheit des Bewusstseins durch eine neue Erfahrung des Körpers und entwickelt
eine ‚transzendentale’ Tendenz; der Körper des Menschen spiegelt als Mikrokosmos den
Makrokosmos.
128 A. K. Gastev: Über die Tendenzen der proletarischen Kultur, vgl. Paech 1974, S.
303.
95
die Psychologie des Proletariats in der auffälligsten Weise und vereinigt alles in
einem äußeren Objektivismus.’ 129 Daraus entwickelte er die Vorstellung einer
absehbaren Gesellschaft und ersehnt die neue gesellschaftliche Tendenz, in der
alle Lebensbereiche durch exakte wissenschaftliche Kenntnis bestimmbar
gemacht werden können. Dies verlange eine objektiv-wissenschaftliche Theorie,
eine mathematisch verifizierbare These. So entwickelte Gastew das Konzept einer
‚Kultur der Arbeit’, die kulturelle Leistung als ‚technische und soziale Geübtheit’,
‚als Organisationsfertigkeit von Material und Menschen’ begreifen soll. 130 Er
schrieb aus diesem Zusammenhang: ‚Die Menschheit hat gelernt, Dinge zu
bearbeiten. Nun hat die Zeit der sorgfältigen Bearbeitung des Menschen
begonnen. Es wird so viel von vergeudeten Kräften und von der Ökonomie der
Arbeit geredet. Jedoch besteht unsere erste Aufgabe darin, uns mit der
wunderbaren Maschine zu befassen, die uns so nahe ist – mit dem menschlichen
Organismus.’ 131 Er kennzeichnet dies als ‚mechanisierten Kollektivismus’ und
summiert:
‚Die Erscheinung dieses mechanisierten Kollektivismus ist jeder
Personalität derartig fremd, ist derart anonym, daß die
Bewegungen dieser Kollektivkomplexe sich der Bewegung von
Dingen annähern, in denen es schon keine menschliche
Individualität mehr gibt, sondern nur gleichförmige, normierte
Schritte, Gesichter ohne Ausdruck und ohne Seele, die keine Lyrik,
keine Emotionen mehr kennen und nicht durch Geschrei oder
Gelächter bewegt, sondern mit Manometer und Taxometer
gemessen werden. […] der neue Massen-Ingenierismus verwandelt das Proletariat in einen sozialen Automaten.’132
Dies führte zu einer Art Neuorientierung in Meyerholds Theaterarbeit: Das
Prinzip des Proletkult fand Eingang in seine Bühnenarbeit und leitete zusammen
mit der Übernahme der produktivistischen Konzepte eine Neubestimmung der
Rolle des Schauspielers ein. Die in das Gesellschaftsexperiment der realisierten,
sozialistischen Utopie integrierte Ideologie des Neuen Menschen, der nicht mehr
Individuum, sondern Teil eines sozialen, kollektiven Körpers ist, soll in die
konstruktive Ausdrucksform der theatralischen Aufführung eingehen. Es geht
129 ebd.
130 vgl. Hannelore Kersting: Raumkonzepte, in: Ausst.Kat.: Konstruktivistische Tendenzen in Bühnen- und Bildkunst 1910-1930, Städtische Galerie in Städelschen Kunstinstitut: Frankfurt 1986, S. 56.
131 Gastew, zit. nach: Kersting 1986, S. 56.
132 Gastew, zit. nach: Paech 1974, S. 303.
96
dem Theater nicht mehr um die Gestaltung einzelner Rollen, zumal sie für das
Kollektiv keine nützlichen Erkenntnisse liefern, sondern um den Zusammenschluss der Einzelkräfte zu einem reibungslosen Gesamtablauf. Meyerhold
verwandelte damit das Theater in eine Art Produktionsstätte, seine Arbeit
betrachtete er ‚als eine Produktion’133. Er verließ zunächst das Theatergebäude,
verlagerte das Geschehen in Fabriken der Werktätigen und an historische Schauplätze der ‚realen Revolution’. Dieser Ortswechsel implizierte zugleich Veränderungen des Schauspielkonzepts: Die von den Kulissen befreiten Schauspieler
bilden für sich einen betont dreidimensionalen Aktionsraum. An der Stelle der
statisch wirkenden Schauspielerkörper steht die plastische Dreidimensionalität.
Dies erforderte ebenso wichtige Umgestaltungen des Bühnenraumes. Neben der
Senkung der Bühnenplattform auf das Niveau des Zuschauerraums, welche das
Publikum aktiv in das szenische Geschehen mit einbeziehen sollte, entstand ein
architektonisch konstruierter Bühnenraum. Die Theatertechnik wurde auf das
Notwendigste reduziert und die Rampe abgeschafft, so dass sich Akteure und
Zuschauer in einem einzigen durchgehenden Raum befanden. Bald experimentierte Meyerhold mit Pantomimen und Etüden nach der Commedia dell’Arte
sowie dem Kabuki-Theater, er trat selbst in einem Studio-Ballett Fokins als
Pierrot auf.
All diese Erkenntnisse seiner bisherigen Experimente ermöglichten es ihm,
eine neue Dimension der Schauspielkunst zu entwickeln, die nach der Revolution
Bestandteil seines Schauspielkonzeptes und seiner Regiepraxis werden sollte.
1. 2. Übungssache
Übung: der Körper als Material
‚Wahrscheinlich hält das naturalistische Theater das Gesicht für
das wichtigste Ausdrucksmittel einer schauspielerischen Absicht.
Die Folge davon ist, daß es die übrigen Ausdrucksmittel aus dem
Blick verliert. Das naturalistische Theater kennt die Vorzüge der
Plastik nicht, zwingt den Schauspieler nicht, seinen Körper zu
trainieren, und in den Theaterschulen begreift man nicht, daß
physischer Sport das Grundfach sein muß […].’134
133 Meyerhold: Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik (1922), in: ders.:
Schriften (Bd.2), S. 478.
134 Meyerhold: Zur Geschichte und Technik des Theaters, S. 106f.
97
Meyerholds Kritik an der psychologischen Rollenauffassung des Naturalismus tritt noch einmal in diesem Satz als Inversion der Beziehung Psyche/Physis,
Innen/Außen zutage. Auch hier wiederum mit dem Hinweis auf die Unproduktivität einer derartigen Charakterverkörperung und der impliziten Unkontrolliertheit der herkömmlichen Darstellungsvorgehensweise. Man könne
kein Theater auf den ‚Lehrsätzen der Psychologie aufbauen’. Psychologische
Zustände seien allein das Resultat physiologischer Prozesse, die Entstehung von
Gefühlen habe immer physische Ursachen. Erforderlich wird deshalb für jeden
Schauspieler die ‚Mechanik seines Körpers’; eine Ausbildung des Körpers im
Sinne eines elementaren Materials und einer physiologischen Komponente.
Dieses Primat des Körperlich-Äußeren gegenüber dem Psychologisch-Inneren
zeigt sich in der von Meyerhold selbst geprägten Formel für Schauspieltechnik
fassbar: N = A1+ A2. Im Schauspieler säßen immer zwei: A1 erteile den Auftrag,
A2 nehme die Rolle des Materials ein. In Bezug auf die Arbeit des Organisators
gibt A1 das formale Bewegungsparadigma für das Element A2 vor; er stellt
choreogra-phisches Zusammenspiel im Bühnenraum und zeitlichen Ablauf der
Aufführung als Gestaltungsaufgabe. A2, der Körper, arbeitet eine zunächst
bewegungs-haft-pantomimische plastische Form des szenischen Rollenbildes aus,
bringt dann die visuell wahrnehmbare Form hervor. Ein Schauspieler hat somit
eine Doppelaufgabe zu erledigen; als Organisator des vorgegebenen Materials
bzw. seines Körpers und als organisiertes Objekt selbst. Er ist Kommittent und
Material, Subjekt und Objekt zugleich. Auf diese Weise
‚vereinigen sich der Organisator und Organisierter (also der
Künstler und Material) […] Der Schauspieler muß sein Material,
den Körper, so trainieren, daß er augenblicklich alle von außen
erhaltenen Aufgabe (vom Schauspieler, vom Regisseur)
ausführen kann’135.
Bereits bei dem französischen Schauspieler und Theoretiker Constant
Coquelin (1841-1909) ist von dem Doppelcharakter eines Schauspielers
nachzulesen: ‚Das Instrument des Schauspielers ist er selbst. Die Materie seiner
Kunst, die er bearbeitet und sich gefügig macht, um ihr seine Figur zu entlocken,
ist sein eigenes Gesicht, sein Körper, seine Existenz. Daraus folgt, dass der
135 Meyerhold: Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik, S. 479.
98
Schauspieler ein Doppelwesen sein muss. Er besteht aus dem einen, dem Spieler,
und dem zweiten, der als Instrument fungiert.’136 Bei Coquelin folgt daraus:
‚dass beim Schauspieler der eine der Meister des zweiten sein
muss: Derjenige, der sieht (Einsicht hat), muss denjenigen, der
(die Anweisung des ersten) ausführt, wenn irgend möglich
absolut beherrschen. […] Mit andern Worten: Der Schauspieler
muss immer Herr seiner selbst sein. Sogar dann, wenn das von
seiner Darstellung hingerissene Publikum glaubt, er sei außer
sich, muss er sehen, was er macht, muss sich selbst beurteilen und
beherrschen; kurz: Er darf Gefühle, die er ausdrückt, nicht
erleiden, selbst dann nicht, wenn er sie mit größtmöglicher
Wahrheit und Ausdruckskraft spielt. […] Kunst ist, ich wiederhole
es, nicht Identifikation, sondern Darstellung (représentation).’137
In dieser Traditionslinie steht ebenfalls Meyerholds krtisch-distanzierte,
politisch-sozial wertende Spielweise, bei welcher der Schauspieler seine Haltung
zur Figur mitspielt. Im Vergleich zu Coquelin betont aber Meyerhold zudem die
Differenz zwischen Darsteller und dargestellter Figur und hebt die Bedeutung der
Ausbildung des Materials des Schauspielers, seiner physiologischen Komponente
hervor. Der Körper des Schauspielers wird dabei von Meyerhold dem Stein oder
Marmor der bildhauerischen Plastik gleichgesetzt. Er steht als fügsames Material
dem ‚Organisators’ stets zur Verfügung. Er ist damit die ‚mechanische Puppe’.
Meyerhold begründet dies damit:
‚[…] auch jedes beliebige in Freiheit lebende Tier können, insoweit
ihre Bewegungen organisiert und mechanisiert sind, als Objekt
für ein Schema der puppenartigen Bewegungen dienen. Das ist es
ja gerade, daß im Menschen (wie auch im Tier – die Glieder aller
Tiere sind sich ja ähnlich) nebeneinander existieren: Körperbewegungen, die manchmal anarchisch frei erscheinen, und jenes
[…] System, das den sich im Raum Bewegenden in die Situation
einer mechanischen Puppe versetzt.’138
Schauspielkörper als ‚mechanische Puppe’ ist der entscheidende Ansatz der
Meyerholdschen Schauspielkunst. Nicht nur überwindet er die Dualität des
Schauspielkörpers, die ‚Verpuppung des Körpers’ befähigt darüber hinaus die
Verdoppelung bzw. Vervielfachung eines Bühnencharakters. Diese artifizielle
136 Constant Coquelin: Die Kunst des Schauspielers, in: Klaus Lazarowicz, Christopher
Balme (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart 1991, S. 217.
137 ebd., S. 218.
138 Meyerhold: Über Aufzeichnungen eines Regisseurs von A. J. Tairow (1921-1922),
in: ders.: Schriften (Bd.2), S. 33.
99
Körperlichkeit der Schauspieler und den kodierten, symbolhaften Charakter
dieses Theaters entdeckte Meyerhold unter anderem im traditionellen asiatischen
Theater. Er beruft sich dabei auf die Marionetten im japanischen Theater:
‚Im japanischen Theater gelten bis heute die Bewegungen und
Posen der Marionetten als Ideal, dem die Schauspieler folgen
sollen. Ich bin überzeugt, dass man das liebevolle Verhältnis zur
Marionette im weisen Weltempfinden der Japaner suchen
muss.’139
Das Paradox, mit der Verleugnung der Individualität die Möglichkeiten des
Schauspielers zu erweitern und ihn zu einer überindividuellen Darstellung zu
führen, entlehnt Meyerhold auch den europäischen Formen des traditionellen
und zeitgenössischen Theaters.140 Er entdeckte beispielsweise in der Figur des
Harlekins den Träger idealen Schauspieltypus. Meyerhold setzt dabei den
manierierten Spielcharakter des Harlekins als Grundhaltung seiner Schauspieler
dem ‚Erlebenskonzept’ gegenüber und rühmt die Figur in seiner überrealen
Dimension; er sei dualistisch, einerseits ein harmloser Tropf, andererseits ‚ein
mächtiger Magier, ein Zauberer und Hexenkünstler; er ist Repräsentant
infernalischer Kräfte’141. Nicht für eine Rekonstruktion der historischen Theaterfigur, sondern eine neue Körperlichkeit sei der Harlekin wichtig.
Um diese Schauspieler-Puppe in eine perfekt funktionierende Bühnengestalt
umzugestalten, entwickelt Meyerhold eine neue Trainingsmethode. Erreicht
werden sollten Grazie und Harmonie des Körpers in allen szenischen Situationen,
unerwünscht sind Emotionen und ‚Stimmungen’ oder gedankliche Interpretationen der Rolle und des Stücks. Statt ‚Einleben’ und ‚Verkörperung’ wird
ein ‚exzentrisches’ Verhältnis des Schauspielers zur Rolle verlangt.
139 Meyerhold, zit. nach: Bochow 1997, S. 30.
140 Im Bezug auf den Schauspieler als Material für eine antinaturalistische Darstellung
formulierte der ehemalige Student am Meyerholds Laboratorium Sergej M. Eisenstein
(1898-1948) den Zusammenhang von Kleists Marionettentheorie, Craigs ÜberMarionette und der Biomechanik: ‚Kleists Worte über die richtige organische Bewegung
werden gerade hier gefühlsmäßig erfasst, wo er sagt, dass eine echte organische
Bewegung nur der Marionette und dem Halbgott erreichbar sei (organisch im Sinne der
Mechanik, die den Naturgesetzen und vor allem dem Gesetzte der Schwerkraft gerecht
wird). Die Lehre von der ‚Hypermarionette’ von Craig oder die ersten zwei, drei Leitsätze
der Biomechanik werden den von Kleist eingeschlagenen Weg weiterfolgen.’ vgl. Sergej
Eisenstein: Yo-Ich selbst. Memoiren, Bd.1. Frankfurt/M. 1988, S.464.
141 vgl. Meyerhold: Balagan, S. 208.
100
Die Darstellung bis in die Auflösung oder Maschinelle Improvisation
Bereits vor der Revolution hat Meyerhold begonnen, sich für die systematische Ausbildung von Schauspielern zu interessieren. Seit seinem Petersburger
Studio entwickelte er eine Reihe von Übungen; sportliche, akrobatische und
tänzerische Bewegungsübung, Übungen des isolierten Körpers und solche des
Zusammenspiels mit anderen Körpern sowie mit Gegenständen. Die Aufgaben
beschäftigten sich unter anderem mit den geometrischen Formen wie Kreis,
Rechteck und Dreieck, dem Körper im Verhältnis zu den Grenzen und
Umrissformen des Bühnenraums und schließlich dem Zusammenspiel von
körperlichen Aktionen mit Musik, Schrei, Geräusch, Atem usw. Diese Übungen
lehnten sich dabei an das asiatische Theater und die Zirkus- und Clownssphäre
an. Sie zielten auf die Einübung konzentrierter Rhythmik, bzw. der Zeitlupenbewegung und anderer Techniken wie der mechanikähnlichen Unterbrechung und Zerlegung von Gesten in einzelne Abschnitte ab. Aus ihnen entstanden die berühmten Etüden, aus welchen sich Pantomimen entwickelten.142
Solcher Übungsentwurf wäre aber ohne ein wissenschaftlich-physiologisch
durchkonstruiertes System und darauf basierende, theoretisch fundierte Erklärungen undenkbar. Auf der Suche nach einer objektiven, wissenschaftlichen
Grundlage kam Meyerhold einerseits zum Taylorsystem und andererseits zur
objektiven Physiologie allgemein und speziell zur Reflexologie.143
142 Die Etüden bilden das Kernstück der Ausbildung in Biomechanik. In ihnen sind alle
Prinzipien der Biomechanik konzentriert. Sie werden in einzelne Bewegungsphasen
aufgelöst, ihre einzelnen Phasen werden dann nach dem Schema: Otkas (Absicht oder
vorbereitende Gegenbewegung), Posyl (Ausführung), Stoika (Stand oder Reaktion)
einstudiert bzw. aufgeführt, um dann zur Gesamtetüde zusammengesetzt zu werden. Eine
der wichtigsten der Biomechanik gehörten Etüde ist Der Bogenschütze. Die Etüden
bilden gleichzeitig auch den Abschluss des Trainings. Danach beginnt die Arbeit an der
Rolle. vgl. Gennadi Nikolajewitz Bogdanow: Die Biomechanik des Theaters – Ziele und
Aufgaben. Analyse der biomechanischen Grundprinzipien und ihrer wichtigsten Etüden,
in: Mime Centrum Berlin (Hg.): Das Theater Meyerholds und die Biomechanik.
143 Sergej M. Eisenstein führte Biomechanik seinerseits auf wissenschaftliche Grundlagen zurück und kennzeichnet in drei Prinzipien: ‚1. Das Prinzip der ‚Totalität’, nach
welchem der Körper als Ganzes an der Realisierung einer jeden Bewegung teilnimmt. 2.
Das Prinzip des ‚Schwerpunkts’. Entsprechend der anorganischen Natur des Prozesses
der Übertragung von Anstrengungen auf einzelne Muskeln kann nur der Schwerpunkt
einziger Kraftangriffspunkt des gesamten Systems sein. Hieraus ergibt sich, dass die
Bewegungen der Extremitäten nicht selbstständig sind, sondern, mechanisch betrachtet,
lediglich das Resultat einer Bewegung des Körpers insgesamt. 3. Das Prinzip der ‚Entspannung’. Das heißt, bei allgemeiner Arbeitskonzentration werden entsprechende
Muskelentspannungen einer Extremität, mehrerer Gliedmaßen oder des ganzen Körpers
periodisch den rein mechanischen Wirkungsweisen der Gravitations- und Trägheitskräfte
überlassen’. Damit lieferte Eisenstein dazu noch eine physiologische Erklärung für
101
Das amerikanische Taylorsystem wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg in
Russland praktiziert. 144 Das System bestand darin, durch Segmentierung der
Arbeitsbewegungen in kleinste Einheiten aus diesen eine minimale Arbeitsbewegung zu entwickeln. Aus dieser Theorie eines mechanischen Materialismus
leitete Meyerhold seinerseits ein ‚Taylorsystem der Schauspieler’ ab. Das System
sollte unter optimaler Nutzung der Zeit und der perfekten Beherrschung des
körperlichen Materials dem Darsteller einen Weg zur Rationalisierung der
gestischen Ausdrucksmittel bieten.145 Allein der ‚taylorisierte Mensch’, d. h. die
Ökonomie der theatralen Bühnengeste genügt es jedoch nach Meyerhold nicht,
wenn man ‚vom Äußeren zum Inneren’ gelangen will. So bezieht er sich auf die
Reflexologie, welche in Russland unter anderem von Iwan Pawlows und
Wladimir Bechterews entwickelt wurde und für die ‚linke’ Künstler der Zeit zu
einer der populärsten Theorien gehörte. Schwerpunkt dieser Methode war vor
allem die Entfaltung der ‚Fähigkeit zur reflektorischen Erregbarkeit’. Um in
kürzester Zeit verschiedene Rollenfächer bewältigen zu können, die sich aus dem
‚Prinzip der Transformation’ ergeben, sieht Meyerhold diese Methode als
besonders geeignet an.146 Er expliziert direkt das berühmte Beispiel nach dem
wesentliche Elemente der Biomechanik nach. vgl. Sergej M. Eisenstein: Das Dynamische
Quadrat, Leipzig 1988, S. 35.
144 Das Konzept einer rationalisierten, restfreien Organisation der Arbeit bzw. des
Arbeitsprozesses wurde von dem Amerikaner Frederik Winslow Taylor in seinem Buch
The Principles of Scientific Management (1911) entwickelt. Sein Konzept wurde in
Russland intensiv rezipiert und von den Leninisten in die Politik überführt. In der
russischen Variante wurde die Taylorisierung jedoch zu einem gesellschaftswissenschaftlichen und technischen Konzept. Dass diese letztendlich auf verstärkende
Ausbeutung und Erhöhung des Profits ausgerichtete Methode gerade in der Sowjetunion
zu solcher Bedeutung gelangte, lässt sich nur aus der historischen Situation des Landes
erklären, das möglichst schnell an den Standard des Westens herangeführt werden sollte.
Das System wurde nicht nur als Mittel der industriellen Rationalisierung verstanden,
sondern ganz allgemein als Instrument zur Ausbildung der Körperkultur und damit des
‚Neuen Menschen’.
145 ‚Das Taylor-System des Theaters ermöglicht uns, in einer Stunde so viel zu spielen,
wie wir jetzt in vier Stunde geben können.’ Meyerhold: Der Schauspieler der Zukunft
und die Biomechanik, S. 479.
146 Das von Meyerhold vorgeschlagene ‚Prinzip der Transformation’, das einem
Schauspieler während der Aufführung mehrere Rollen zuwies, um ‚zu zeigen, wie man
die Maske wechselt, wie man mit einfachen Mitteln die Gestalt wechselt’, wollte die
gewöhnlich einer Aufführung vorausgehende oder die sie insgeheim begleitende
Theaterarbeit selbst ins ‚Rampenlicht’ rücken; die Arbeit des Schauspielers, seine sog.
‚Verwandlungskunst’. Dazu ist zu bemerken, dass dieses ‚Transformationsprinzip’
keineswegs neu ist. Es wurde jedoch bislang verschleiert, um das Publikum in dem
Glauben zu belassen, es handle sich hier um verschiedene Rolleninterpreten. Meyerhold
hingegen wollte das Publikum schon auf den Programmzetteln über den wahren
102
amerikanischen Philosoph und Mitbegründer des Funktionalismus in der
Psychologie William James (1842-1910):
‚Ein Mann tut so, als laufe er erschrocken vor einem Hund davon.
Es ist kein Hund da, aber er läuft, als ob er ein Hund hinter ihm
her wäre. Beim Laufen entsteht in dem Mann tatsächlich ein
Angstgefühl. So ist die Natur des Reflexes. Ein Reflex erregt den
andren. […] Wenn ich mich wie ein betrübter Mensch hinsetze,
kann ich betrübt werden. Lassen Sie uns nicht in der Weise
suchen, wie es das Künstlertheater eine Zeitlang hat – etwa so:
Wir spielen ein trauriges Stück, seien Sie so liebenswürdig und
schlendern Sie durch dunkle, abgelegene Gassen, sammeln Sie
Material und konzentrieren Sie Ihr inneres Leben. Wir sagen
einfacher: Bitte grübeln Sie nicht nach, machen Sie sich keine
Sorgen, wir werden die szenischen Arrangements so aufbauen,
dass diese Sie in die Stimmung bringen, die den physischen
Situationen entsprechen, in die wir Sie versetzen wollen.’147
Ein ‚betrübter Mensch’ löst nach Meyerhold noch keine betrübte Stimmung
aus. Er muss die Vorstellung von Kummer durch Wiederholen eine
Reflexbindung von Sitzhaltung und betrübter Stimmung herstellen. Diese
Verbindung müsste so lange trainiert werden, bis der Weg vom äußeren Reiz
nicht mehr über das Gehirn, sondern direkt zum Zentralnervensystem führt und
die Reaktion auslöst. Meyerhold forderte aus diesem Grund auf der Bühne einen
dem Fabrikarbeiter ähnlichen Schauspieler auf: ‚Beobachten wir einen
erfahrenen Arbeiter, bemerken wir an seinen Bewegungen: 1. das Fehlen
überflüssiger, unproduktiver Bewegungen; 2. Rhythmik; 3. das richtiges Gefühl
für den Körperschwerpunkt; 4. Ausdauer.’148
Die Formen und Wirkungsweisen, die Meyerhold hier als theoretische Grundlage seines Theaters aufzählt, einerseits die ökonomischen Bewegung und deren
‚reflektierten Erregbarkeit’ andererseits, entsprechen zentralen Termini aus der
Arbeit der Maschine. In ihren produktiven Bewegungen sei jenes gesuchte
rhythmische Moment zu erkennen, das aus dem Unbewusstsein des Schwergewichtszentrums zu resultieren schien. Sein Schauspielerideal ist somit eine Art
Maschine.
Sachverhalt aufklären. Was er damit sichtbar machte, war die bisher ununterscheidbare
Einheit des Produktionsmittels und des Produktionsmaterials.
147 Meyerhold: Ideologie und Technologie im Theater, in: ders.: Schriften (Bd.2), S.
274-275.
148 Meyerhold: Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik, S. 478.
103
‚Der moderne Schauspieler muss von der Bühne wie ein
vollkommener Auto-Motor gezeigt werden können. In der Epoche
der Biomechanik arbeitet der Körper des SchauspielerBiomechanikers wie eine Maschine. Jede Bewegung einzelner
Muskelgruppen muss vom Zuschauer wie ein motorischer Reflex
der Arbeit des ganzen Körper-Apparats wahrgenommen werden.
Die Schaffung der Biomechanik wird die Erschaffung eines
Menschen sein […].’149
Öffentliche Demonstrationen der Biomechanik finden erst mit der
Inszenierung von Crommelyncks Theaterstück Der Großmütige Hahnrei statt.
1. 3. Verfahrensweise
Die Inszenierung: Die Bühne in Konstruktivismus
Nach einigen Versuchen der politischen und ästhetischen Neuorientierung
seiner Regiearbeit gelang Meyerhold erst durch die Verbindung mit der
bildenden Kunst die Kreation eines neuen und originären Theatermodells.
Besonders wichtig für sein Theater waren die dynamischen Elemente des
Bühnenbildes, die ihm erlauben sollten, den Rhythmus der Bewegungen der
Schauspieler zu koordinieren und zu unterstreichen. In diesem Zusammenhang
bedeutet die konstruktivistische Bühne eine pragmatische Lösung des Bühnenraumes.150 Seine programmatischen Ansichten bzw. sein proklamierter Taylorismus, seine Definition des Theaters als Produktion, sowie seine Ambition, die
Arbeitsteilung aufzuheben und den Schauspieler mit dem Arbeiter gemeinsam
arbeiten zu lassen, scheinen den Forderungen der zeitgenössischen Konstruktivisten sehr nahe zu sein.151
149 Meyerhold: Der Moderne Schauspieler (Aus einem Gespräch mit Laboranten). in:
Bochow 1997, S. 13.
150 Meyerhold hatte bereits die konstruktionsartige Elemente in Morgenröte und der
zweiten Inszenierung von Misterium Buffo (1918) eingebaut, doch diese Bühnen
verblieben noch in weiten Teilen im Dekorativen und damit ‚Nicht-Konstruktivisten’.
151 Den Konstruktivisten ihrerseits bot das Theater die Möglichkeit, ihre utopischen
Vorstellungen von der idealen Gesellschaft und einem Gesamtkunstwerk, das alle
Lebensbereiche miteinschloss, zu realisieren. Zieht man noch die politisch-kulturelle
Bewusstseinsbildung in Betracht, dann schien für die Künstler das Theater der geeigneteste Ort, direkt durch ihre Arbeit entsprechend auf die Bevölkerung einzuwirken.
Im Theater konnten die utopischen Vorstellungen von der idealen Gesellschaft am besten
realisiert und die erarbeiteten Konzepte am einfachsten verwirklicht werden. Alexej
Gwosdew schreibt in seinem Artikel Konstruktivismus und die Überwindung der
Theaterästhetik der Renaissance: ‚Der moderne Konstruktivismus im Theater ist die
104
Die Bühne besteht aus zwei verschiedenen hohen Gerüsten mit Stufen, die
jeweils zu einer Plattform führen. [Abb. 18] Auch eine Rutschbahn und Drehtüren sind vorgesehen. Die Räder, davon eines eine große schwarze Scheibe mit
den Buchstaben CR, ML, NCK, und die anderen weiß und rot, drehen sich im
Uhrzeigersinn oder ihm entgegengesetzt in willkürlichen Geschwindigkeiten,
welche die ‚kinetische Bedeutung jedes einzelnen Augenblicks der Handlung
unterstreichen und steigern sollte’152. Das Stützgerüst ist dabei mit Schuhcreme
geschwärzt, die Leitern und die Treppe sind mit Schminke rot angemalt worden.
Das übrige Bühnenbild besteht aus unbemaltem Holz. Die Theaterkulisse
reduziert sich demnach auf ein absolutes Minimum. Durch ein funktionelles
Design, echte Materialien und einen strukturell geringfügigen Aufbau entsteht
ein reales Forum, das szenische Handlung unterstreicht und artikuliert. Diese
Bühnenkonstruktion schafft damit eine sog. ‚Werkbank’, deren Spiel von der
ästhetischen Ebene auf die Ebene der materiellen Produktion verlagern sollte. So
könnte das Bühnenbild gleichsam das Innere einer Windmühle, ein Schlafzimmer, einen Balkon oder eine Rutsche für Mehlsäcke andeuten. Das
Bühnenbild ist im Großen und Ganzen ‚kein Bild, das man bewundert. Es ist eher
eine Art Maschine, die im Verlauf einer Inszenierung Leben annimmt’153. Es ist
mehr eine konstruktivistische kinetische Bühnenplastik als ein Bühnenbild, ein
Raum szenischer Architektur, der nicht abbildend, sondern zeichenhaft auf die
Realitäten des Stücks verweist.154
Reaktion auf einen gewaltigen historischen Prozess, genannt das Theater in der Epoche
der Renaissance. Dieses italienische Theater der Bühnenattrappe hat im Laufe der
Jahrhunderte ein anderes Theatersystem verdrängt ... das aus dem mittelalterlichen
Jahrmarktsbalagan hervorgegangen war, das seine Lebensfähigkeit im ShakespeareTheater bestens unter Beweis stellte (und teilweise im spanischen Theater), das ohne
Dekoration und ohne Bühnenattrappen auskam, das die Bewegung im Drama an die erste
Stelle setzte – nicht nur in horizontalen, sondern auch in vertikalen Ebenen der Bühne.’
Alexej A. Gwosdew. zit. nach: Bochow 1997, S. 76.
152 Ljbow Popowa: Einführung zur InChuk-Diskussion über die Inszenierung von ‘der
großmütige Hahnrei’, zit. nach: Magdalena Dabrowski (Hg.): Ljubow Popowa 18891924, München 1991, S. 160.
153 E. Rakitina, zit. nach: Zander Rudeustine (Hg.): Russische Avantgarde Kunst. 19101930. Die Sammlung George Costakis, Köln 1982, S. 399.
154 Meyerhold selbst äußert in einem Brief über das Bühnenbild von Popowa: ‘I
consider it my duty to point out that in the creation of the performance the work of
Professor L S Popowa was significant, ... that the model of the construction was accepted
by me before the beginning of the planning of the play, and that much in the tone of the
performance was taken from the constructive set.’ Meyerhold: ein Brief an Izvestia, 9.
Mai 1922, zit. nach: Edward Braun: Meyerhold. A revolution in theatre, London 1988, S.
180.
105
Auf dieser konstruktivistischen Bühne bringen die Bühnendarsteller
ihrerseits eine kollektive, vollkommen synchronisierte Bewegung hervor. Sie
behalten ihre individuellen Eigenheiten der Bewegung bei, setzten sie jedoch als
Teil eines übergeordneten Ganzen ein, in das sie sich einfügten. So ist ein
ausgestreckter Arm oder Bein nie als isolierte Geste zu sehen, sondern als
Wiederholung bestimmte Merkmale der Bühnenarchitektur: Menschlicher
Körper und Apparatur greifen ineinander, so dass sie zusammen eine sich ständig
verändernde Struktur zu konstituieren scheinen. [Abb. 19] Über die Spielweise
der Hauptdarstellerin Stella schreibt eine Kritikerin beeindruckt folgendes:
‚Her performance is based on rhythmus, precise and economical
like a construction. Not the rhythmus of speech, of words and
pauses. No, the rhythmus of steps, surfaces and space. Few words
to speak of. The part ist built on movement, and the words are
thrown at the audience with unusual power, like a ball hitting a
target. No modulation, no crescendo or piano. No psychology
[…].’155
Ein Anderer preist ihre mechanische Darbietung sogar als ‚wahrhaftig’:
‚Auf der kahlen Bühne, vor dem Hintergrund der skelettartigen
Konstruktion, unter Halbmenschen/ Halbautomaten, wurde ein
reales menschliches Drama von betrogenem Vertrauen und
beschmutzter Reinheit gespielt. Es ist schwer zu erfassen, mit
welchen Mitteln die Schauspielerin eine solche psychologische
Tiefe der Figur erzielen konnte. In ihrem ganzen Spiel blieb sie in
den Grenzen der präzis-physischen Aktion, die detailliert von der
Regie vorgezeichnet war.’156
Ähnliches gilt auch für das Spiel der anderen Darsteller. Die Geste der
Schauspieler erfüllt die Funktion, Beziehungen herzustellen: zwischen dem
Schauspieler und anderen Schauspielern, dem Schauspieler und der Rollenfigur,
zwischen der Rollenfigur und Objekten, der Rollenfigur und der Bühnenarchitektur etc. Die Bewegungen der Schauspieler werden dabei nicht als Zeichen
eingesetzt, denen eine bestimmte Bedeutung zugeordnet ist, sondern als
Zeichenträger, dem je nach der Beziehung, in die er gerade eingetreten ist, jeweils
eine andere Bedeutung beigelegt werden kann. Besonders auffallend ist es bei
den großen Mühlflügeln: Ein Entführer packt auf der Bühne Brunos Frau Stella;
aber als er sie hochhebt, beginnen die Räder sich protestierend zu drehen, bis er
155 zit. nach: Edward Braun 1988, S. 182.
156 B. W. Alpers, zit. nach: Bochow 1997, S. 170.
106
wieder von ihr ablässt. Der Mensch, der auf diese Weise auf der Bühne
präsentiert wird, erscheint daher als ein Wesen, das sich ausschließlich aus den
Beziehungen heraus definiert, in die es eintritt oder gestoßen wird. Da diese sich
jedoch ständig ändern, wandelt sich auch der Mensch: Ihm eine individuelle,
bestimmbare Identität zu geben, ist daher unmöglich. Sie sind Automaten, die
sozial bedingt sind. Dieser Spielcharakter findet seinen optischen Ausdruck
zusätzlich in den Bühnenkostümen.
Übertragung: Kostüme
Die Darsteller tragen jeweils lose blaue Kostüme mit einheitlichem
Grundschnitt, die sich voneinander lediglich durch kleine Zeichen bzw. durch die
Hinzufügung einfacher Details wie eine rote Quaste, eine Cape, ein Monokel, ein
weißes Taschentuch, eine Schürze, oder eine kurze Reitpeitsche unterscheiden.
Sie stellen dabei bestimmte typisierte Charaktere dar, so z. B. den Bürgermeister,
den Soldaten usw. Die Kostüme werden aus dem zu jener Zeit einzig verfügbaren
Material – Sackleinwand – hergestellt. Insgesamt erinnern die Bühnenkostüme
in ihrer Form an stilisierte Monteuranzüge, wie sie die damalige Arbeiter in
gleicher Weise in den Fabriken tragen.
Diese Kostüme des ‚Hahnrei’ wurden in verschiedenster Weise rezipiert und
stoßen dabei auf recht unterschiedliche Standpunkte. Über die ‚Bühnenarbeitskleidung’ war Alexandra Exter z. B der Ansicht, dass der Schauspieler
‚produktionsmäßig keinerlei Bedarf an einem Kostüm, das wie Arbeitskleidung
wirkt, oder an einer Schürze hat. Schließlich arbeitet er nicht und macht sich
folglich auch nicht schmutzig; und wenn es überhaupt eine Arbeitskleidung für
den Schauspieler geben sollte, dann wäre es ein Trikot’157. Der Regisseur Waleri
Bebutow veröffentlichte einen Artikel, in dem er den Regisseur aufforderte, dem
Schauspieler nicht Maske und Kostüm zu nehmen, denn das seien Werkzeuge
und Produktionsmittel. Die Kostümbildnerin Ljubow Popowa158, die ebenfalls die
Bühnenausstattung entwarf, verteidigte aber ihrerseits:
157 Chr. Hamon: Die bildenden Künstler und der Konstruktivismus im Theater, in:
Ausst.Kat.: Die Maler und das Theater im 20. Jahrhundert. Schirn Kunsthalle Frankfurt
am Main 1986, S. 82.
158 Bevor sie als Kommunikations- und Textdesignerin zur Produktion von ‚nützlichen
Dingen’ überging, entwarf Ljubow Popowa (1889-1924) eine Serie der ‚Figurenbilder’
(1919/1921) - geometrisch schematisierte menschliche Gestalten in zumeist heftig
bewegten Posen: Tänzer, Musikanten, Sportler; stehende, sitzende, schreitende und
laufende mechanoide Körper, die sich im Tanz, im Spiel, im Sprung, im Gespräch
bewegen. Mit ihren auf Rechtecke, Dreiecke und Kreise reduzierten Körpergliedern
107
‚Wir lösten uns von den ästhetischen Prinzipien der historischen,
nationalen, psychologischen oder alltäglichen Kostüme. Wir
wollten für diese besondere Aufgabe ein allgemeines Prinzip der
Arbeitskleidung für Schauspieler finden, das seinen beruflichen
Bedürfnissen unter einem zeitgenössischen Aspekt entsprach.’159
Bei Theaterkostümen gehe man im Sinne der Produktionskunst ebenso von
der Überlegung aus, die ästhetische Reflexion ordne sich dem funktionalen
Gesichtspunkt des Designs unter. Ähnlich wie der Bühnenaufbau seien die
Kostüme eine für vorgegebene Handlungen streng nach rein nützlichen Kriterien
erarbeitete Form von Hilfsmittel, so dass die Produktionsvoraussetzungen sowie
die praktischen Bedürfnisse des Trägers beachtet werden müssen. Dabei
formulieren sich Bühnenkostüme, zusammen mit dem Bühnenbild und Darsteller, zu einem in sich geschlossenen, vollkommen organisierten System, in dem
jedes Element seine festgelegte Funktion zugewiesen bekommt. Diese Betonung
des rein utilitaristischen Charakters der Bühnenkostüme konstruiert einen völlig
neuen Stil, der mit den bisherigen Bildern von Kleid und Körper bricht:
Ausgehend von den elementaren, geometrischen Formen des menschlichen
Körpers unterstreichen Kleider in ihren einheitlichen Schnitten und Mustern die
physischen Bewegungsabläufe der Träger und Trägerinnen. Sie weisen in erster
Linie auf den Menschen im Produktionsprozess hin, der selber wiederum durch
seine Tätigkeit mit dem Prozess verbunden ist. Dadurch wird der industrielle
Arbeitsvorgang - hier durch die Kleidung - zu einem schöpferischen Prozess. Die
Entblößung der Funktion eines Gegenstandes lässt den Körper hingegen zu
einem Teil der inneren Organisation des Produktionsprozesses werden. Auf diese
organisieren die Figuren die Bildfläche wie ein oranamentales Fries mit stark dekorativer
und dynamischer Wirkung. In den Bildern kündigen sich schon jene Flächenmuster an,
die von Popowa seit 1921 für die Kleidungsindustrie entwickelt werden. vgl. Dabrowski
1991.
159 Popowa umriss dort die Gestaltungsgrundsätze der Kostüme, bestimmt dabei drei
elementare Grundprinzipien, die sie als äußerst wichtige Elemente des Kleiddesigns auf
der Bühne begreift: das technische, das analytische und das weltanschauliche Prinzip.
Diese drei Prinzipien entsprachen offenbar den konstruktivistischen Arbeitsbegriffen
Tektonik, Faktur und Konstruktion. Der technische Aspekt umfasse das Materialstudium
und die Produktionsart, der analytische Grundsatz zeige sich in der Untersuchung des
Kostüms als formbares Objekt in seinen konstituierenden Elementen – der Konstruktion,
der Linie, der volumetrischen und räumlichen Form, der Farbe, der Textur, des Rhythmus
und der Bewegung. Der ideologische Aspekt schließlich bestehe darin, dass die Kostüme
als materielle Elemente in Beziehung zu der gesamten Theaterproduktion, für unser
Interesse, zu den biomechanischen Gesetzten zu sehen waren und damit als Produkt den
utilitaristischen Prinzipien folgen. vgl. Rowell 1984. S. 326.
108
Weise fügen sich die Bühnenkostüme im ‚Hahnrei’ einerseits als funktionale
Komponenten in den absoluten konstruktivistischen Mikrokosmos ein, auf der
anderen Seite nähern sie sich den Prototypen einer Produktionskleidung der
Massen. Die Kostüme werden als Objekte innerhalb des speziellen Kontextes des
Theaters angesehen, das wiederum Auswirkungen auf die reale Umwelt haben
sollte. Sie sind beispielsweise so ausgerichtet, dass die Schauspieler sie nicht nur
auf der Bühne sondern auch in gleicher Weise im Alltag tragen können.160 Das
Publikum selbst, direkt vom Arbeitsplatz in die Aufführung kommend, sollte sich
in den Schauspielern wieder erkennen. Die Bühnenakteure und Publikum sind
dadurch in ihrer äußeren Erscheinung einander angeglichen und somit identifizierbar in ihrer ‚professionellen Kluft’161. Dieser ‚Annäherungsversuch’ wird besonders in dem geschlechtsindifferenten Kleidentwurf deutlich. Popowa
formuliert:
‚Ich suche jeden Unterschied zwischen Männer- und Frauenkleidung zu vermeiden; im Endeffekt wurden nur Hosen in Röcke
oder Hosenröcke umgewandelt.’162
Die ‚Hosenröcke’, besser gesagt, Monteuranzüge der Schauspieler seien nur
noch ein Zugeständnis an die Figuren bzw. an die Zuschauer. In der Vereinheitlichung des äußeren Erscheinungsbildes spielt das Geschlecht keine Rolle. Es
ist von seinen individuellen Merkmalen entlassen und nur noch in klar definierte
160 Für die Konstruktivisten ist die Arbeitskleidung überhaupt das bevorzugte und
eigentlich einzige tolerierbare Kleidungsstück, weil sie den menschlichen Körper vor
allem als Werkzeug in einem allumfassenden Pruduktionsprozess sehen, dessen
Funktionen vervielfacht und dessen Arbeitseffektivität optimiert werden soll. Eine
Serienfertigung von Alltags- und Arbeitskleidern konnte jedoch wegen der so gut wie
nicht existierenden Industrie für textile Erzeugnisse der damaligen Zeit nicht realisiert
werden. Die gesamten Industrien waren unterentwickelt. Daher verlagerten die Künstler
ihre Aktivitäten auf das Theater, um über das Bühnenkostüm ihre Ideen von neuer
Kleidung zu einem Ort, an dem sie Versuche und Experimente durchführen, und ihre
theoretischen Ziele dem Publikum vorstellen konnten. Ada Raev konstatiert in ihrem
Artikel Varvara Stepanova. Konstruktivisten aus Überzeugung, dass ‚das Theater sich als
eine Art Sprungbrett und Experimentierfeld [erwies], von dem aus der Schritt in die
Dreidimensionalität und damit in die Lebensrealität vollzogen werden konnte, ohne dass
gleich die theoretisch geforderte Bindung an die Industrie nötig gewesen wäre.’ vgl.
Raev, in: Sykora/Dorgerloh/Noell-Rumpeltes/Raev (Hg.): Die neue Frau. Herausforderungen für die Bildmedien der Zwangziger Jahre, Marburg 1993, S. 78/ Hubertus
Gaßner: Konstruktivisten. Die Moderne auf dem Weg in die Modernisierung, in:
Ausst.Kat.: Die große Utopie. Die russische Avantgarde 1915-1932, Frankfurt am Main
1992, S. 109-149.
161 Dabrowski 1991, S. 41.
162 Dabrowski 1991, S. 160.
109
Funktionen aufgelöst bzw. auf seine Funktionalbeziehungen in Raum und Zeit
konzentriert. Die Kleidungen lösen sich in der trennenden Divergenz zwischen
Mann und Frau auf, während der Körper die geschlechtliche, damit ‚natürlichorganischen’ Polaritäten aufgibt.163
Erhebung in Egalitärisierung
Dabei sind die Figuren in Der großmütige Hahnrei weder geschlechtslos,
noch vereinen sie beide Geschlechter. Im Gegenteil: Das Thema Geschlecht
scheint sowohl bei dem Theaterstück als auch der Inszenierung eine große Rolle
zu spielen. Die Liebeseifersucht, Sexualtrieb der beiden Geschlechter sowie deren
Schmerzen und Tragödien sind im Text als charakteristische Bedingtheit der
menschlichen Affekte abgebildet. Um den Menschen von seinen Unzulänglichkeiten der Geschlechter, bzw. seinen seelischen Qualen und leiblichen Leiden
zu erlösen und ein freieres Verhältnis der menschlichen Beziehung zu experimentieren und zu ausprobieren, ist das Auswahl des Stückes für den
Regisseur entscheidend. Das Geschlecht lässt dennoch Meyerholds Inszenierung
unbestimmt. Das biologische Geschlecht ist hier nur ein Aspekt unter vielen, in
der die ästhetische Vision von den Kleinlichkeiten der Geschlechterrollenidentität
befreit wird und sich folgerichtig der Raum für ein, zwei oder viele Geschlechter
öffnen kann. Das Geschlecht ist von Meyerhold als Kategorie eingesetzt, in das
jede eingeordnet werden kann. Diese Metapher vom geschlechtsneutralen
Körper, die hier anklingt, weist zum einen die Maschine als Kunstprinzip der
Konstruktivisten aus, zum anderen expliziert sie das wesentliche Charakter163 In die konstruktivistischen Einheitskleidung floss damit die ‚Imagination von der
Utopie egalitärer Geschlechtsverhältnisse’ mit ein. Der Kunsthistoriker Andreas Haus,
der sich mit dem Frauenbild in der russischen Avantgarde auseinandersetzte, zeigt in
seinem Artikel am Beispiel eines Plakates von EL Lissitzky von 1929 auf, dass der
Künstler von einem ‚einheitlichen, geschlechtssolidarisch zusammengewachsenen
Wesen’ ausging. Haus Formuliert: ‚Beide [Mann und Frau] sind gleichermaßen an der
Produktion, am Aufbau, an der Konstruktion der neuen Gesellschaft beteiligt. Rollenunterschiede sind nicht mehr vorhanden. Die tiefe Kluft zwischen den menschlichen
Wesen beiderlei Geschlechts, [...] ist behoben, die Heimat der Seeelen, die schon Platon
beschrieben hat: die Sehnsucht der männlichen und der weiblichen Hälfte des Menschen,
wieder zusammenzuwachsen, scheint gefunden, die menschliche Natur mit sich selbst
versöhnt und wieder in sich selbst beheimatet.’ Diese von Haus in Bezug auf die
‚utopische Geschlechts-Indifferenz der neuen Gesellschaft’ beschriebene Intention El
Lissitzky’s könnte schon im Kern in den Kleidmodellen von Popowa enthalten sein. vgl.
Andreas Haus: Mütterchen Russland und Proletarier aller Länder. Transformation des
Frauenbildes in der russischen Kunstmoderne, in: kritische berichte 4/1992, S. 38.;
Schmidt-Linsenhoff: Die Ikonographie der Gleichheit und die Künstlerinnen der
russischen Avantgarde, in: Kritische Berichte 4/1992, S.18.
110
istikum der Theaterarbeit Meyerholds nach der Revolution, damit der neuen
gesellschaftlichen Realität und der neuen sozialen Ordnung. Seine Ansicht, dass
der Preis der Vereinigung, damit der Egalitarisierung auf der Bühne nur über den
Antiindividualismus zu erreichen sei, ist dem Verständnis der Maschine entlehnt.
Sie ist aus einzelnen Teilen zusammengesetzt, auf diese Weise gleich demontierbar. Die einzelnen Teile fügen sich zu einem Ganzen wieder zusammen. Die
Gesamtheit hat somit Priorität vor dem Einzelnen, so dass der anonyme Teil zur
Erzeugung eines homogenen Kollektives beiträgt. Dieses ‚überindividuelle’
Ordnungsdenken mit Hilfe der Maschinen, jede Idee der Subordination, wird in
der aufkeimenden sozialistischen Kultur der 20er Jahre als fortschrittlich und
humangemäß begriffen. Das Axiom geht mit der Utopie der Naturbeherrschung
einher. Wenn die Natur mittels der Maschinisierung durch die Menschen
beherrscht werden könnte, wie es Trotzki formuliert, so würde gleichfalls der
natürliche
Körper
des
Menschen
durch
die
Produktionsästhetik
und
Maschinenkunst beherrscht sein. Ein Grundgedanke, der in der Kontinuität der
frühen Utopisten steht, die in der Unterordnung des Einzelnen unter die
Gesamtheit die beinahe einzige Möglichkeit für die Schaffung einer harmonischen Gesellschaft sahen: Indem er als Einzelner sich dem Ganzen unterordne,
befreie sich der Mensch aus der vorangegangenen Isolierung von Natur und
sozialer Gemeinschaft. Damit ist die Vorstellung vom Menschen als Maschinenwesen im prometheischen Denken der revolutionären Intelligenzija verwurzelt,
welche in sich die widerstreitenden und doch miteinander verbundenen
Tendenzen der russischen Kultur und des russischen Denkens zusammenfasst.
Sie hat folgendes im Sinn: keineswegs Anpassung an das industrielle Zeitalter,
sondern Überbrückung der bürgerlichen Trennung von Maschinen als Berechnung. Der Umbau des Menschen in seiner Psyche und sinnlichen Wahrnehmung, Sprache und Habitus, sowie seiner Bewegung und von Gewohnheiten
geprägten Alltagsleben in all seinen Aspekten ist ihr Ausgang. Sie hat daher mit
den Automatenmechanikern des 18. Jahrhunderts eines gemeinsam: Den
Menschen auf künstliche Weise neu zu erschaffen, auch wenn diese Neuschöpfung keine rein technische Konstruktion ist, sondern aus der psychophysischen Umformung des vorhandenen ‚Menschenmaterials’ nach technoiden
Parametern erfolgen sollte.
111
Es wird zusammengefasst:
Der großmütige Hahnrei irritierte die Zeitgenossen durch seine auf
Automaten reduzierten Bühnenfiguren. Die Schauspielmarionetten erzeugten im
Rezipienten eine Grundemotion des grotesken Schauders, hervorgerufen durch
die Zweiheit von lebendem Menschen und toter Maschinerie auf der Bühne.
Meyerhold erreichte damit eine Irritation konventionalisierter Wahrnehmungseinstellungen, indem er mit seiner schematisierten Darstellung der nüchtern
fortschreitenden Technisierung aller Lebensbereiche in den zwanziger Jahren
einen angemessenen Ausdruck zu verleihen sucht. Im Theater sollte der letzte
Rest von Lebenswahrscheinlichkeit beseitigt werden und die ‚konventionelle
Unwahrscheinlichkeit’ der Theatergroteske erreicht werden. Seine SchauspielAutomaten stellten dabei Träger einer alten und einer neuen Ordnung dar. Da sie
‚das Gesetz der Welt’ als ‚Änderung der Welt’ bereits in sich tragen, werden sie
einem entpersönlichenden Abstraktionsprozess untergeordnet, der dem Ausdruck des revolutionären Kollektivs entsprechen sollte. Diese Darstellungsweise
lag vor allem darin, dass die Figuren in Arbeitsanzügen nicht nur utopische
Dimensionen verkörpern, sondern zugleich von Persönlichkeitsverlust gezeichnetes, ausgebeutetes ‚Menschenmaterial’ sind. Diese gespensterartige Wirkung
der blauen Arbeitskleidung wurde ebenso in den schwarzen Bühnengerüsten
wiederaufgenommen. So vermischte sich die Verkörperung einer unterdrückten
Natur mit der schemenhaften Darstellung der Utopie einer ‚geschlechtslosen
Gesellschaft’. Die Bewertung der durchtechnisierten Welt hing von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, unter denen die ‚Arbeitsmänner’ leben. Indem
Meyerhold diese Darstellung in ein programmatisches Orientierungssystem
einband, abstrahierte er sie auf ‚kollektive Verständigungszeichen’: Die Utopie
von einer idealen, kollektiven Gemeinschaft.
112
3. Der Weg zum Stil über die Puppe
- ‚Das Triadische Ballett’ von Oskar Schlemmer
‚Zwei die Bühnenhöhe einnehmende Monumentalgestalten,
Personifikationen pathetischer Begriffe wie Kraft und Mut,
Wahrheit und Schönheit, Gesetze und Freiheit. Ihr Dialog: die
durch Schalltrichter proportional der Figurengröße verstärkten
Stimme, ein Auf und Ab der Rede, gegebenenfalls der Figuren
orchestral unterstützt. Die Gestalten - auf Rollwagen schiebbar sind reliefplastisch gedacht: Stoffröcke, die beim Auftritt
schleppend nachziehen; cachierte Metallmasken und - leiber, die
Arme beweglich zu sparsamen gewichtigen Gesten. Dazu konstrastierend und Maß gebend - der natürliche Mensch mit
natürlicher Stimme, in den drei Zonen der Bühnenausdehnung
sich bewegend, die Dimensionen stimmlich und bewegungsmäßig
fixierend.’164
So beschreibt Oskar Schlemmer seine beiden Puppengestalten aus einer
Werkzeichnung im Jahr 1923, die den Titel Die beiden Pathetiker trägt. [Abb. 20]
Schlemmers Erläuterung zu den Figuren befremdet den Leser insofern, das er
diese als Bühnenfiguren identifiziert. Obgleich sie keinerlei individualisierenden
Merkmale oder psychologische Erkundung, mimische Gegenwärtigkeit oder auch
nur Hinweise zeigen, vermag der Zeichner sie als Bühnenakteure zu bestimmen.
Während der Betrachter an den Kunstfiguren die bloße Ähnlichkeitsrelation mit
einer humanen Physiognomie zugunsten eines Formgebildes wahrnimmt, sieht
Schlemmer darin, konfrontiert mit ‚natürlichen’ Menschengestalten, die hier im
Vergleich zu den monumentalen Figuren zwergenhaft klein erscheinen, die
Anwesenheit von etwas Unbekanntem, das gleichwohl nicht präsent ist.
Die Puppe, Marionette, mithin Kunstfiguren tauchen im gesamten Oeuvre
Oskar Schlemmers auf; von den ersten Anfängen der Malerei an der Stuttgarter
Akademie, wo der Künstler eine Schneiderbüste und eine kopflose Gliederpuppe
in seinem Atelierbild darstellte 165 [Abb. 21], bis zu dem Bemühen um einen
164 Oskar Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, in: Hans M. Wingler (Hg.): Die Bühne
im Bauhaus (Oskar Schlemmer. Laszlo Moholy-Nagy. Farkas Molnar) Nachwort von
Walter Gropius (3. Aufl.), Mainz und Berlin 1985, S. 22.
165 Das Bild ‚Kopflose, Atelier mit Gliederpuppe’ stammt aus dem Jahre 1909 (Öl auf
Pappe; 48.3 x 29.5 cm). Mitten im Bild scheint ein weiblicher Akt zu sein, der jedoch
durch das Fehlen des Kopfes fast wie eine Puppe wirkt. Neben dem Akt steht eine
Kleiderpuppe. Sie wendet sich, den Akt nachahmend, zu dem Fenster links. Das Gemälde
zeichnet sich besonders durch eine geglätterte, objektivierende Malweise aus; die
113
malerischen Stil Ende der zwanziger Jahre steht Schlemmers Entwurf eines
neuen Menschenbildes stets im Zeichen des künstlichen Menschen. Die puppenähnlichen Figuren erweisen sich dort als Integrationspunkte seines vielgestaltigen, auf den menschlichen Körper konzentrierten künstlerischen Schaffens.
Schlemmers Hang zur Puppe erreicht aber erstmals durch seine Bühneninszenierung Das Triadische Ballett ihr Optimum, in der seine gesamte Idee
verwirklicht werden sollte.
3. 1. Tanz der Puppen oder die Verpuppung der
Figuren
Die Aufführung: Rezensionen
Das Ballett, uraufgeführt am 30. September 1922, besteht aus insgesamt 12
Tanzszenen, in denen die drei Akteure wechselweise einzeln oder zu Paaren auf
der Bühne agieren, deren Auftritte wiederum auf die drei übergeordneten
‚Reihen’ aufgeteilt sind; Gelb, Rosa und Schwarz. 166 Die Tanzoper folgt dabei
nicht logischen Handlungssträngen, erzählt keine Geschichte. Der Inhalt ist
lediglich ‚reine Lust am Fabulieren […], ein Fest in Form und Farbe’167. Es ist
demzufolge eine Aufeinanderreihung elementarer Grundformen wie Gerade,
Diagonale, Kreis, Ellipse etc. Über den Verlauf und die Resonanz der Aufführung
gibt Schlemmer einen ausführlichen Bericht an seine Freunde: ‚es war - man
kann sagen - ein Erfolg. […] Die Urteile sind zum Teil von Bauhäuslern, deren
über zwanzig gekommen waren (einschließlich Gropius) und sich, wie sie
sagten, wie Sieger fühlten, dem Ganzen gegenüber. Es war eine Begeisterung
[…].’168 Der ‚Erfolg’ seines Balletts verdankt er aber offenbar den Tänzern. Ein
Zeitungsartikel berichtet über die Leistung der Akteure: ‚es gehört schon
Bildfiguren werden durch harte und präzise Konturen begrenzt und in die Fläche bzw.
den geometrisch definierten Bildraum gebannt. Das Gemälde erscheint bewusst artifiziell
und stilisierend. vgl. Karin von Maur: Oskar Schlemmer, München 1982, S. 43.
166 Das Programmheft zu Uraufführung gibt detailliert Auskunft über die Abfolge der
Tänze, die Verteilung der Kostüme, die Musik, die teils von einem Orchester, teils von
einem Pianisten gespielt wird. vgl. Programm der Uraufführung des Triadischen Balletts,
in: Dirk Scheper: Oskar Schlemmer. Das Triadische Ballett und die Baushausbühne,
Berlin 1988, S. 52-53.
167 Das Stuttgarter Neue Tageblatt (29. September 1922), zit. nach: Scheper 1988, S. 33.
168 Schlemmer: Brief an O. M. [Otto Meyer-Amden], 25.Okober 1922, in: ders.: Briefe
und Tagebücher, Tut Schlemmer (Hg.), München 1958, S. 136-137.
114
Selbstentäußerung und nicht geringes Können dazu, um so wie unser bekanntes
Tänzerpaar Marionette zu werden […] Die Glieder wie losgelöst, frei.’169 Darin
wurde also nicht der körperliche Ausdruck als tänzerische Leistung der Akteure
gepriesen, sondern ihre marionettenhafte Darbietung, welche durch eine
Beobachtung eines anderen Zeitgenossen bestätigt wird. Dieser schreibt in Bezug
auf den Körper der Tänzer:
‚Der menschliche Körper [der Tänzer] ist nicht mehr Instrument
individuellen Ausdrucks, sondern Beauftragter des Typischen. Die
Bewegung dient nicht Stimmungskomplexen und pantomimischen Assoziationen, sondern formaler Spannung. So steht hier
überall Gesetzmäßigkeit gegen Improvisation. Präzis Festgelegtes
gegen die Überraschungen des momentanen Einfalls. Persönliches wird aufgehoben, mediatisiert durch die Mechanisierung
[…] nicht stumpf und steril, sondern überall durchleuchtet vom
Geist der Form.’170
Diese entpersönlichte Bewegung auf der Bühne sei aber offenbar durch das
Bühnenkostüm erreicht worden [Abb. 22], erfährt man von einem andern
Zeitungsbericht:
‚Das Kostüm des Tänzers war bisher mehr oder minder nur
dekorative Zutat: Schlemmer gibt ihm gleichsam konstruktive
Bedeutung […] seine einzige Funktion ist die Ermöglichung, ja
Erzwingung eines bestimmten Tanzes. Schlemmer hat das
fließende, ständig die Form wechselnde Gewand beseitigt und
meist durch starre Hüllen aus Papiermasse ersetzt […] Diese
Hüllen wandeln nur ihre Lage zu den bewegten Gliedern, ihre
Stellung im Raum, zu dem sie stets in klarer, eindeutiger
Beziehung stehen […].’171
Gerade dieser kostümierte Körper als ‚Träger von formaler Spannung’ soll
jedoch nicht alle Zeitgenossen begeistert haben. Als Exponent der Gegenposition
erklärt ein anderer Zuschauer, der das Ballett von Schlemmer als formalistische
Spielerei ablehnt:
‚Die exakt funktionierende Konstruktion triumphiert oder möchte
triumphieren. Kann jedoch nicht über den Menschenkörper und
seine organischen Bedingnisse hinaus. Es gibt für ihn eine Grenze
des künstlichen Verhaltens. Die erweitert Schlemmer (scheinbar)
169 Schwäbische Mercur vom 2. Oktober 1922, zit. nach: Scheper1988, S. 54.
170 ebd., S. 55.
171 ebd.
115
durch mechanischer Behilf […] Es gibt einen aparten Augenschmaus, dieses Bewegungsspiel absonderlicher Figurinen in den
rhythmischen Kurven einer schwerelosen Musik […] Zu Gunsten
einer Schaubild-Idee ist die Bewegungsmöglichkeit des
menschlichen Körpers unterbunden und verkümmert.’172
Für diejenigen, welche den Tanz als einen durch den lebendigen Körper
unmittelbar übertragenen Ausdruck individueller seelischer Regungen definieren, scheint Schlemmers mechanisch abstrakte Choreographie ziemlich fremd
gewesen zu sein. So bezeichnet der Tanzkritiker John Schikowski in seiner 1926
erschienen Geschichte des Tanzes das Ballett vom Stuttgarter Theater als
Versuch, ‚den abstrakten Stil der rhythmischen Körperbewegungen bis zu seinen
letzten denkbaren Konsequenzen durchzuführen’, und folgert daraus:
‚Auf diese Weise wurde freilich jede Spur von akrobatischen,
sinnlich-dekorativen
und
naturalistisch-pantomimischen
Elementen aus dem Tanz getilgt. Zugleich aber verzichtete dieser
extremste Tanzstil auch auf ein Fülle künstlerisch wertvoller
Ausdrucksmöglichkeiten, die nur der bewegte menschliche Körper
mit seinen wechselnden Konturen, den An- und Abschwellungen
seiner Muskeln, dem Spiel seiner Gedanken besitzt.’173
Trotz dieser unterschiedlichen Resonanzen bleibt festzuhalten: 1. Die Tänzer
im Triadischen Ballett bewegen sich auf der Bühne marionettenhaft, sie sind
noch wahrnehmbar, allerdings nicht in ihrer Individualität, sondern unpersönlich
als ein zum Wesenhaften abstrahierter Typus. 2. Die Figuren des Balletts sind
Ganzmasken, das heißt, sie tragen teilweise eine Gesichtsmaske, sind aber
allesamt durch ihre Kostüme ‚kaschiert’. Ihre einzelnen Glieder sind dementsprechend bewegungsmäßig behindert, da ihre Tanzschritte der plastischabstrakten Formung ihrer Kostüme folgen. 3. Die Bühnenfiguren sind darum
nicht nur Träger von plastischen Kostümen, sondern auch selbst bewegte
Plastiken.
‚Triadisches Ballett’ und die Bauhausbühne
Schlemmers Beschäftigung mit seinem ‚Puppentanz’ geht bereits zurück auf
das Jahr 1912. Am 30. November 1912 teilte er diese erste Idee seinem Freund
Otto Meyer-Amden in einem Brief mit.
174
Der dort niedergeschriebene
172 ebd., S. 55-56.
173 John Schikowski: Geschichte des Tanzes, Berlin 1926, S. 148.
174 Schlemmer, zit. nach: Scheper 1988, S. 18-19.
116
Handlungsentwurf konzentrierte sich auf ‚die Entwicklung vom alten zum neuen
Tanz’, worin er auch ein zusammen mit dem Tänzerpaar Albert Burger und Elsa
Hötzel entwickeltes Tanzprojekt andeutete. Schlemmer plante nämlich bereits
mit ihnen ein Tanzstück, bei dem zwei Liebende ins Zentrum rücken, die von
einem Dämon gejagt werden, wobei die Liebenden rhythmisch zur Erlösung
geführt werden sollten. Er selbst fügte diesem inhaltlichen Plan noch eine Farbund Formsymbolik hinzu, die sowohl vom Entwurf eines abstrakten Theaters
Kandinskys Der Gelbe Klang als auch von der synästhetischen Farboper
Prometheus Aleksander Skrjabins inspiriert wurde.
175
Dadurch nahmen
Schlemmers erste Pläne bereits die Tendenz zur Abstraktion an, welche jedoch
vorerst nicht weitergeführt und erst nach dem Weltkrieg im Jahr 1919
vorangetrieben werden konnten. Schlemmer verließ die Stuttgarter Akademie
und zog sich mit den Burgers nach Cannstatt zurück, baute mit seinem Bruder
Carl ab 1920 die Dekoration, wählte die Musik aus und entwickelte anhand der
Kostüme und der Musik die Tanzbewegungen.176 Am 20. September 1922 wurde
das Stück im Württembergischen Landestheater uraufgeführt. Von den
ursprünglichen Plänen des Jahres 1912 blieben in der endgültigen Fassung nur
noch die Dreizahl der Tänzer, die Dreiheit von Tanz, Farbe und Klang und die
Dreiheit der Stufen des ehemaligen Themas erhalten.177
175 Der Gelbe Klang erschien 1912 erstmals im Almnach ‚Der Blaue Reiter’. Das Stück
enthält kaum Dialoge, hingegen ausführliche Szenenanweisungen. Es folgt keiner
narrativen Handlung und besteht nur noch aus einer Reihung von bewegten Bildern. Die
Farben sind die eigentlichen Protagonisten des Stückes, und die szenischen
Gegenüberstellungen und Auseinandersetzungen sind der Versuch, eine Kandinskys
Farbtheorie räumlich-dynamisch zu gestalten und zu choreographieren. Auch Skrjabin
träumte davon, farbiges Licht und Musik in den Zusammenhang einer gemeinsamen
Ausdrucksform zu bringen. Dies führte zu seiner Prometheus-Symphonie (UA 1915 in
der New Yorker Carnegie Hall). vgl. Richard Sheppard: Kandinsky’s Abstract Drama
‚Der Gelbe Klang’, An Interpretation, in: Forum for Modern Language Studies. 11, 1975,
S. 165-176.
176 In der Entwicklung des Triadischen Balletts folgt nach dem Herstellen der Kostüme
und der Auswahl der Musik die Fixierung der Schritte, Gesten und Bewegungen, die aber
wieder selbst vom Kostüm bestimmt sind. Die genaue Fixierung der Weglinien der
Tänzer, von Schlemmer als ‚Bodengeometrie’ bezeichnete, steht in Analogie zur
Kostümform. Beispielsweise stellt die Bodengeometrie des sog. ‚Spiralenkostüms’, das
das zweite Kostüm der ‚Schwarzen Reihe’ ist, analog hierzu ebenfalls eine sich auf dem
Boden abzeichnende Spirale dar.
177 Nach der Uraufführung kommt es zum Streit zwischen den Burgers und Schlemmer.
Die Kostüme werden per Gerichtsverfahren aufgeteilt. Zu Lebzeiten Schlemmers kommt
das Triadische Ballett nur noch zweimal vollständig - 1923 in Weimar und 1932 beim
Tanzfestival in Paris - zur Aufführung. Desweiteren finden die Kostüme 1926 bei der
Grossen Frankfurter Brückenrevue sowie bei einer Revue im Metropoltheater in Berlin
Verwendung. Einzelne Tänze werden 1927 auf der Dessauer Bühne gezeigt.
117
Schlemmers Das Triadische Ballett entstand also unabhängig von der
Bauhausbühne, wurde jedoch allgemein als ein Synonym für deren Theaterarbeit
betrachtet. Dies lässt sich nicht nur damit begründen, dass er die hier
gesammelten Erfahrungen in seiner Bühnenwerkstatt im Bauhaus konsequent
weiter entwickelt, sowie diese Arbeit den Grundelementen und Voraussetzungen
seines Theaters gewidmet hat. Es schließt apart auch damit zusammen, dass
Schlemmers Bühnenfigurenkonzept eng mit der Idee der Bühnenwerkstatt des
Bauhauses verknüpft war.
Das Leitfaden des ‚Stattlichen Bauhaus in Weimar’, errichtet im Jahr 1919 aus
dem Zusammenschluss zwischen der Großherzoglich Sächsische Kunstgewerbeschule und der Großherzoglich Sächsische Hochschule für bildende
Kunst, war die Zusammenführung aller Künste unter dem Leitbild des Bauwerks
sowie die Rückkehr zum Handwerk, wobei ‚das Einheitskunstwerk - der große
Bau -, in dem es keine Grenze gibt zwischen monumentaler und angewandter
Kunst’178, angestrebt wurde. Das Erlernen eines Handwerks wurde aufgrund der
Annahme, wahre Kunst könne nur daraus entstehen, als unbedingt erforderlich
erachtet. Das 1923 von Walter Gropius, dem Gründer und ersten Direktor des
Bauhaus, formulierte Motto fasst diese Konzeption summarisch als ‚eine neue
Synthese von Kunst und Technik’ 179 zusammen. In diesem Zusammenhang
konstituierte sich die Bauhausbühne im Jahr 1921, deren Theaterarbeit in erster
Linie in architektonischer Hinsicht stattfand: Gropius begründete die Errichtung
der Bühne am Bauhaus durch die inneren Affinitäten zwischen Bau und Theater
und stellte folgende Richtlinien heraus:
‚Klare Neufassung des verzwickten Gesamtproblems der Bühne
und ihrer Herleitung von dem Urgrund ihrer Entstehung bildet
den Ausgangspunkt unserer Bühnenarbeit. Wir erforschen die
einzelnen Probleme des Raumes, des Körpers, der Bewegung, der
Form, des Lichtes, der Farbe und des Tones. Wir bilden die
Bewegung des organischen und des mechanischen Körpers, den
Sprachton und den Musikton und bauen den Bühnenraum und die
Bühnenfiguren. Die bewußte Anwendung der Gesetze der
Mechanik, der Optik und der Akustik ist entscheidend für unsere
Bühnengestalt.’180
178 Walter Gropius: Programm des Staatlichen Bauhaus Weimar, in: Hans M. Wingler
(Hg.): Das Bauhaus 1919-1933, Weimar/ Dessau/ Berlin 1962, S. 40.
179 Walter Gropius: Die Aufgaben der Bühne im Bauhaus, in: Wingler 1985, S. 87.
180 Walter Gropius: Die Bauhausbühne - Erste Mitteilung - Dezember 1922, zit. nach:
Scheper 1988, S. 65.
118
Damit wurden die wichtigsten Aufgaben der Theaterarbeit am Bauhaus
angesprochen: Das Verhältnis von Figur und Raum, die Synthese von Farbe,
Licht, Musik, Klang, Raum, Figur und Bewegung, die Erforschung der
geometrisch-mathematischen Gesetze des Bühnenraumes und nicht zuletzt das
Wesen der Körpermechanik. Dabei war die Bauhausbühne eine Art ‚Theaterlabor’
in Sachen Tanz, Theater und Bühne, in dem bei ständig wechselnder Besetzung
szenische Grundlagenforschung betrieben wurde.181
Als Schlemmer 1925 zum Bühnenwerkstattleiter berufen wurde, stand die
Theaterarbeit am Bauhaus noch ganz im Zeichen des bühnenmäßigen
Expressionismus.182 Gedanklich beruhte seine Theaterkonzeption zwar ebenfalls
auf dem expressionistischen Ideengut: Mit den zentralen Begriffen der ‚Abstraktion’ und der ‚Metaphysik’ sind durchaus auch Übereinstimmungen in der
Theaterkonzeption der beiden Bühnenleiter, sowohl für Lothar Schreyer, den
ersten Leiter der Bauhausbühne, als auch für Schlemmer gegeben. Im Vergleich
zu Schreyer ‚bleibt aber in Schlemmers tänzerischen Pantomimen und Sketchen
stets Platz für den Scherz, für das Komödiantische und vor allem für das
bildnerische Experiment’ 183 . Unter der Leitung Schlemmers setzt sich die
Bauhausbühne nun zum Ziel, die Problematik der Bühnengestaltung umfassend
anzugehen. Es sollten keine begabten Bühnenbildner ausgebildet werden,
181 vgl. Jochen Krüger: Die Bühne als Laboratorium. Bemerkungen zu Oskar
Schlemmers Bauhaustänzen, in: tanzdrama 4. 1988, S. 7.
182 Lothar Schreyer (1886-1966)‚ der Leiter der Bühnenwerkstatt, war in erster Linie
Maler und Dichter, dessen kultischen ‚expressionistischen Wortkunstwerke’ am Bauhaus
zunehmend auf Kritik stieß. Für ihn hat das Theater religiöse bzw. ethische Bedeutung.
Das Ziel eines Bühnenkunstwerks ist seiner Ansicht nach nichts Geringeres als die
Erschaffung eines Ortes der Reinigung und Erlösung des Menschen. Das Wort ist dabei
das Bühnenelement, dem Schreyer die größte Bedeutung beimisst. Das Mondspiel, seine
erste und einzige Inszenierung für die Bauhausbühne, ist ein kurzes Maskenspiel, welches
in der Druckfassung des Sturms aus 364 Versen besteht. Eine inhaltliche Logik oder eine
auf ein Spiel zu beziehende Intentionalität sind nicht erkennbar. Auch eine dramatische
Handlung findet nicht statt: Zwei Spieler verbergen sich hinter zwei an der Rückseite
geöffneten, halbplastischen und bemalten Ganzmasken aus Pappmaché und Gips. Die
überlebensgroße Figur der ‚Maria im Mond’, der Mittelpunkt des Spiels, ist während der
gesamten Spieldauer völlig unbewegt, die bedeutend kleinere Figur des ‚Tänzers mit dem
Tanzschild’, eine aus verstärkter Pappe bestehende, mit dem ‚Mondauge’ bemalte ovale
‚Ganzmasken’ hockt zu Füßen der ‚Maria’ und wird von Zeit und zu Zeit durch ‚Drehen
um den Mittelpunkt und Heben und Senken in der Vertikalen’, Hin- und Herbewegen in
der Horizontalen, Kreisen lassen oder sanftes Schwenken bewegt. Die Figur ‚Maria’
weist im Gegensatz zum ‚Tanzschild’ trotz geometrischer Abstraktion noch vage
Grundformen des menschlichen Körpers auf. vgl. Scheper 1988, S. 69
183 Wingler 1974, 32.
119
sondern
innovativ
arbeitende,
allseitig
interessierte
Theatermacher.
Im
Studienplan der Bühnenabteilung heißt es dazu:
‚sie [die Aufgaben] beziehen sich vor allem auf die bühnenelemente der form, der farbe, der raumes und der bewegung. […]
im weiteren auch auf sprache und ton: ferner auf theatralische
idee und komposition. alle diese gebiete sollen in ihren
elementaren formen und erscheinungsarten erforscht, erprobt
und angewandt werden mit dem ziel, zu einer neuen
bühnengemäßen darstellungsweise zu gelangen.’184
Der Unterricht konzentriert sich folglich auf die handwerkliche und
theoretische Erforschung vor allem der nonverbalen Mittel des Theaters. Damit
wendet sich der Bühnewerkstattleiter entschieden gegen eine Hierarchisierung
der Ausdrucksmittel, die seiner Ansicht nach in der herkömmlichen Bühnenkunst, im Schauspiel oder in der Oper, der Literatur bzw. Musik existiert. Das
Theater am Bauhaus soll das Gegenteil anstreben: Eine Unabhängigkeit der
Ausdrucksmittel, bzw. die präzise, gesetzmäßige Zusammenführung und
Synthetisierung der einzelnen Bühnenelemente. Den entscheidenden Impuls für
die Erneuerung des Theaters erhofft sich Schlemmer von den stummen Formen,
bzw. dem Tanz, dessen praktische Umsetzung in den Bauhausfesten erfolgt.185
So wie die Avantgardekünstler seiner Zeit ist Schlemmer Gegner des
bürgerlichen Theaters, wo das ‚Dichterwort’ als bedeutendste Ausdrucksmöglichkeit erkannt wurde. Dort nehme der Schauspieler die Funktion des
Vermittlers der Literatur oder Dichters des Textes ein, wobei der Letztere
heutzutage ‚der Edeltyp ist’.186 Doch wenn ‚das Wort verstummt, wo allein der
Körper spricht und dessen Spiel zur Schau getragen wird’ 187 , also der
Schauspieler seine Existenz nicht mehr auf das Wort des Dichters gründet,
verschwinde diese Funktion. Schlemmer interessiert der Schauspieler damit als
dynamische Figur:
184 Schlemmer: Bauhaus, zit. nach: Andreas Bossmann: Theaterreform-Lebensreform,
in: Ausst.Kat.: oskar schlemmer tanz theater bühne, Stuttgart 1994, S. 25.
185 In einem Gespräch erinnert sich der ehemaliger Schüler Albert Mentzel; ‚ich muß das
Schlemmer-Theater immer wieder in Verbindung setzen mit den Bauhausfesten [...] die
Festvorbereitungen dauerten 14 Tage, da wurde viel gearbeitet, und das alles, glaube
ich, gehörte ein bißchen zu den Schlemmerschen Initiativen’. vgl. Albert Mentzel Floch
im Gespräch mit C. Raman Schlemmer, in: Ausst.Kat.: Düsseldorf, S. 66.
186 vgl. Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 10.
187 ebd.
120
‚Vom Standpunkt des Materials aus gesehen, hat der Schauspieler
den Vorzug der Unmittelbarkeit und Unabhängigkeit. Sein
Material ist er selbst; sein Körper, seine Stimme, Geste,
Bewegung.’188
In dem menschlichen Körper bzw. in Stimme, Geste, Bewegung sieht
Schlemmer die entscheidende Möglichkeit der Erneuerung des Theaters. Dieses
Interesse an den Bewegungsgesetzen des menschlichen Körpers führt ihn bald
zum Tanz: Nach seiner Ansicht kann gerade diese Kunstform ohne Worte ‚seiner
Herkunft nach dionysisch und ganz Gefühl, apollinisch-streng in seiner endlichen
Gestalt, Sinnbild des Ausgleichs von Polaritäten’ 189 zwischen Organik und
Mechanik, zwischen Natur und Geist, zum Ausgleich führen, denn
‚ in dem schweigsamen Bühnentanz, dieser unverbindlichen Muse,
die nichts sagt und alles nur bedeutet, Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten liegen, wie sie in solcher Reinheit Oper und
Schauspiel nicht gestatten’, und weil der theatralische Tanz, einst
die Urform für Oper und Schauspiel, zufolge seiner Freiheit und
Bindungen prädestiniert ist, immer wieder zu Keimzelle und
Ausgangspunkt für eine allgemeine theatralische Wiederkunft zu
werden.’190.
Für den Schauspieler bedeutet dies: ‚als Tänzer ist er frei und der Gesetzgeber
seiner selbst.’191
Während der Bauhausfestwochen werden in der Folge Formen-, Gesten- und
Kulissentänze aufgeführt. [Abb. 23] Schlemmer, welcher mit der Übernahme der
Bühnenwerkstatt der bestehenden Aufgabe distanziert entgegnete, sah in den
Bauhaus-Tanzstücken seine bisherigen, unabhängig vom Bauhaus durchgeführten Theaterarbeiten bestätigt. Gemäß der utopischen Idee einer Synthese von
Kunst und Technik wird innerhalb des Programms ebenfalls die mechanische
Bühne ausprobiert. Schlemmers erste Arbeit, die im Rahmen dieser Bauhausbühne entstand, sollte sein Theaterkonzept visualisieren: Das Figurale Kabinett.
Das ‚Kabinett’ besteht aus einem ca. 4 Meter hohen und 5 Meter breiten
schwarzen Bühnenraum von relativ geringer Tiefe. Zwischen den 3 Meter hohen
Seitenteilen sind Drähte befestigt, an die diverse mechanisch hin- und
herbewegte reliefmäßig aneinandergereihte abstrakte Figuren in bunten und
188 ebd.
189 Schlemmer: Tagebuch, September 1922, S. 135.
190 Schlemmer: Tagebuch, 5. Juli 1926, S. 202.
191 Schlemmer: Tagebuch, September 1922, S. 135.
121
metallischen Farben gehängt sind. Das sind die Ganz-, Halb- und auch
Viertelfiguren, die eine Viertelstunde lang gehen, stehen, schweben, rutschen,
rollen und tollen. [Abb. 24] Am rechten Kulissenteil ist ein Band angebracht,
welches mit Zeichen und Aufschriften bemalt ist und eine Art filmischer
Einblendungen zu adaptieren scheint. Dieses ‚Triebrad’, womit die Apparatur in
Gang gesetzt wird, bedient der das Spiel leitende ‚Magister’, begleitet von
Lichteffekten und Geräuschen. 192 Das Stück wird in fragmentarischer Form
anlässlich der Bauhaus-Fassnacht im Jahr 1922 uraufgeführt. Schlemmer selber
beschreibt es wie folgt:
‚Es sind […] Spiele zu denken, deren Geschehen lediglich in der
Bewegung von Formen, Farben und Licht besteht. Geschieht die
Bewegung auf mechanische Weise, unter gänzlicher Ausschaltung
des Menschen, so erfordert dies eine technische Einrichtung gleich
dem Präzisionswerk eines grandiosen Automaten.’193
Gedacht als eine Art Zerrbild des Maschinenkultes der zeitgenössischen
Vorwärtsbewegung und die sich auch am Bauhaus abzeichnenden Tendenzen zur
Verherrlichung des Mechanischen, Konstruktiven und Funktionalen sollte das
Stück ein ‚mechanisches Kabarett’ 194 aufstellen, in dem der hohe Stellenwert,
welcher der Technik zugewiesen wird, die Beschäftigung mit dem Aspekt des
Mechanischen an der Bauhausbühne begünstigt.
Im Zusammenhang mit den praktischen Resultaten der Bauhausbühnenarbeit formuliert Schlemmer eine in zahlreichen Schriften und Vortragsmanuskripten niedergelegte Grammatik der Bühnenelemente und seine Bühnentheorie. Im Mittelpunkt eines solchen Theaters steht der menschliche Körper.
192 Anlässlich der Magdeburger Theater-Ausstellung 1927 erarbeitet Schlemmer eine
zweite Fassung des ‚Figuralen Kabinetts’. Es werden hierfür weitere Figuren angefertigt.
Diese werden, wie im ‚Mechanischen Ballett’, von sich dahinter befindlichen schwarz
gekleideten Spielern getragen. Zusätzlich wird eine ‚eine Begleitmusik für ein
Instrumentalensemble [...], die – unter reichlicher Verwendung musikalischer Zitate – im
Pseudo-Jazzstil auf parodistische Effekte hingearbeitet ist’, komponiert. vgl. Scheper
1988, S. 149.
193 Schlemmer, 1927, S. 3.
194 Scheper 1988, S. 74
122
3. 2. Die Annäherung - Mensch und Kunstfigur
Kosmischer Körper
Wie viele Zeitgenossen war sich auch Schlemmer der Erneuerung des
Menschenbildes auf der Bühne bewusst. Ausgangspunkt sind dabei die
menschlichen Körperformen und Bewegungen. Er schreibt seinen Gedanken
erstmals in dem Aufsatz über Mensch und Kunstfigur (1925) nieder.
Schlemmer bestimmt dort die Theatergeschichte als ‚die Geschichte des
Gestaltwandels des Menschen; der Mensch als Darsteller körperlicher und
seelischer Geschehnisse im Wechsel von Naivität und Reflexion, von Natürlichkeit und Künstlichkeit’195. Der Mensch ist, so Schlemmer, ‚Anfang und Ende
des theatralischen Geschehens’ 196 . Schlemmer sieht aber den Menschen nicht
bloß als gegenständliches Motiv für das Theater, er betrachtet ihn vielmehr ‚als
kosmisches Wesen’, als die Einheit von Körper, Geist, Seele, Gesellschaft und
Natur. Er schrieb in seiner Programmschrift unterrichtsgebiet: der mensch
folgendes:
‚Für das neue Leben, das sich als modernes Welt- und Lebensgefühl darstellen soll, ist die Kenntnis des Menschen als
kosmisches Wesen unerläßlich. Seine Existenzbedingungen, seine
Beziehungen zur natürlichen und künstlichen Umwelt, sein
Mechanismus und Organismus, seine materielle, spirituelle und
intellektuelle Erscheinungsform […].’197
Er beruft sich dabei auf das Wort von Ricarda Huch (1864-1947), die den
Kosmos eine Dreiheit aus Geist, Natur und Seele definiert hat. 198 Der bloße
Gegenstand ‚Mensch’ sei also nichts, wenn er nur eine vereinzelte Sache sein soll.
Erst als kosmisches Wesen in einem universalen Bezugssystem gewinnt er im
195 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, in: Die Bühne im Bauhaus, S. 7. Schlemmer
unterscheidet dabei die Sprachbühne (die Bühne des Autors, der Autorin), die Spielbühne
(die Bühne des Schauspielers, der Schauspielerin) und die Schaubühne (die Bühne des
Bühnenbildners, der Bühnenbildnerin).
196 Schlemmer: Zum Problem des Theaters, zit. nach: Scheper 1988, S. 262.
197 Oskar Schlemmer: unterrichtsgebiet: der mensch, in: Oskar Schlemmer. Der Mensch.
Unterricht am Bauhaus, redigiert, eingeleitet und kommentiert von Heimo Kuchling,
hrsg. von Hans M. Wingler, Mainz/ Berlin 1969, S. 28.
198 ‚[…] diese drei Wesenheiten bestehen nur miteinander verbunden. Die Natur ist
körperlich und erscheint in der Sphäre des Raumes, der Geist ist das Innere der Natur
und ist zeit- und raumlos, die Seele ist das Verbindende und bewegt sich in der Sphäre
der Zeit’. vgl. Ricarda Huch: Vom Wesen des Menschen, Natur und Geist, zit. nach:
Bossmann 1994, S. 23.
123
Theater Bedeutung. Für Schlemmer ist dies zu erreichen vor allem durch die
Vereinfachung, bzw. die Reduzierung auf das Wesentliche, auf das Elementare
und auf das Primäre, denn
‚in der Einfachheit eine Kraft liegt, in der jede wesenhafte
Neuerung verwurzelt ist. Einfachheit […] daraus sich organisch
das Vielfältige, Eigentümliche entwickelt, Einfachheit verstanden
als tabula rasa und Generalreinigung von allem eklektizistischen
Beiwerk aller Stile und Zeiten, müßte einen Weg verbürgen, der
Zukunft heißt!’199.
Die Zeichen seiner Zeit sei deshalb:
‚die Abstraktion, die einerseits wirkt als Loslösung der Teile von
einem bestehenden Ganzen, um diese für sich ad absurdum zu
führen oder aber zu ihrem Höchstmaß zu steigern, die sich
andererseits auswirkt in Verallgemeinerung und Zusammenfassung, um in großem Umriß ein neues Ganzes zu bilden.’200
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Schlemmers künstlerisches
Denken des Menschenbildes von der Spannung zwischen Metaphysik und
Abstraktion geprägt ist. Durch die Schematisierung des menschlichen Körpers
gelangt Schlemmer zu einer Auffassung, die auf die mittelalterliche Beziehung
von Mikro- und Makrokosmos zurückgeht: Mensch und Raum, Akteur und
Bühnenraum sind von einer Reihe gesetzmäßiger Analogien bestimmt. War
früher der Mensch Abbild der im Makrokosmos waltenden göttlichen Kräfte, so
ist Schlemmers Blick des einen neuen Menschen des 20. Jahrhunderts ein
kosmisches Wesen, ein ‚Hochbild’ des Menschen. Dies auf der Bühne zu
entwerfen, ist sein Ziel.201
Vom dualistischen Raumkörper zum Tänzermenschen
199 Schlemmer: Tagebuch, April 1926, S. 199.
200 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 7.
201 Diese Einheit einer ‚rationalistisch’ definierten künstlerischen Praxis einerseits und
eines ‚transzendentalen’ Bewusstseins vom Menschen andererseits kommt in Schlemmers
Texten oft zum Ausdruck, dessen ‚metaphysische Sehnsucht’ Walter Gropius als
charakteristisch für die an der Bauhausbühne wirkenden Künstler bezeichnete: ‚In ihrem
Urgrund entstammt die Bühne einer metaphysischen Sehnsucht, sie dient also dem
Sinnfälligmachen einer übersinnlichen Idee. Die Kraft ihrer Wirkung auf die Seele des
Zuschauers und Zuhörers ist also abhängig von dem Gelingen einer Umsetzung der Idee
in sinnfällig-optisch und akustisch wahrnehmbaren Raum. Das Bauhaus arbeitet an der
Entwicklung dieser Bühne.’ vgl. Paul Pörtner: Experiment Theater. Chronik und
Dokumente, Zürich 1960, S. 60-61.
124
Der Mensch als kosmisches Wesen ist für Schlemmer folglich einerseits ein
Repräsentant
einer
höheren
Ordnung,
andererseits
ein
mathematisch-
geometrisch bestimmter Typus. Er ist, so Schlemmer, ‚gegenüber der
rationalistisch bestimmten Raum-, Form- und Farbenwelt das Gefäß des
Unbewußten, Unmittelbaren, Transzendentalen; Organismus aus Fleisch und
Blut sowohl als ein maß- und zeitbedingtes Fänomen’202. Ein Wesen, verstanden
als Maß und Zahl aller Dinge, gleichnishaft eine Synthese von Organismus und
Mechanismus. ‚Dieser dualistische Grundzug des Menschen’, beobachtet
Schlemmer,
‚diese Zwiefalt, die häufig zum Zwiespalt wird, tritt in den
verschiedensten Formen in Erscheinung. Sein Verhalten kann ein
exzentrisches sein, nach außen gerichtet, von außen bestimmt;
oder ein konzentrisches oder egozentrisches, nach innen verlegt,
innerlich bestimmt. Er kann ‚Sender’ und ‚Empfänger’ sein;
Strahlen senden oder empfangen’203.
In welcher Form oder Gattung sich auch immer der Mensch auf der Bühne
darstellt, gelte es daher, das Problem zu lösen, wie dieser dualistische Körper und
sein Umraum aufeinander zu beziehen sind. Schlemmer selbst fragt sich darauf:
‚Der Organismus Mensch steht in einem kubischen, abstrakten Raum der Bühne.
Mensch und Raum sind gesetzerfüllt. Wessen Gesetz soll gelten?’204
Ein (Bühnen)Raum wird, nach Ansicht Schlemmers, stets durch die
Bewegung einer Figur in diesem geschaffen. Die dem Raum innewohnenden
Gesetzmäßigkeiten wirken ihrerseits auf die Figur selbst zurück. Es gibt daher, so
Schlemmer, zwei grundsätzliche Möglichkeiten, in der sich diese beiden
Konfigurationen ‚Raum-Körper’ aufeinander beziehen können: Entweder der
Raum wird mit Rücksicht auf den Organismus Mensch umgebildet, oder
umgekehrt der Mensch selbst wird in Bezug auf den Raum umgestaltet. Dort, wo
eine ‚naturillusionistische Bühne’ entsteht, richtet sich die Bühnengestaltung
nach dem ersten Prinzip, d. h., nach den natürlichen Gegebenheiten und
Bedürfnissen des Menschen. Die abstrakte Bühne hingegen orientiert sich an
dem zweiten. Letzteres hält Schlemmer für den organischen Körper des
Menschen für idealistisch, denn:
202 Schlemmer: Bühne, zit. nach: Scheper 1988, S. 262.
203 ebd., S. 263.
204 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 13.
125
‚Die Gesetze des kubischen Raumes sind das unsichtbaren
Liniennetz der planimetrischen und stereometrischen Beziehungen. Dieser Mathematik entspricht die dem menschlichen Körper
innewohnende Mathematik und schafft Ausgleich durch Bewegungen, die ihrem Wesen nach mechanisch und vom Verstand
bestimmt sind.’205
Das interferierende Verhältnis von Mensch und Raum erlaubt nach
Schlemmer, den Menschen als ein Wesen zu begreifen, das zum einen von den
körperlich-biologischen Gesetzen des Körpers und zum anderen von den
mathematisch-geometrischen Vorgaben des Raumes bestimmt ist. Die Bewegung
der Figur im Raum macht dabei die Beziehung dieser beiden ‚Welten’ sichtbar.
Der sich bewegende Darsteller schafft selbst mit seinen Schritten, Gesten und
Handlungen den Aktions-Raum, der seinerseits auf die Figur zurückwirkt.
Schlemmer stellt sich daher einen sog. ‚Tänzermensch’ vor, der diese beiden
Aspekte, Raum – Figur, vermitteln und die Gesetzmäßigkeiten vereinen soll: Eine
Instanz, die ‚sowohl dem Gesetz des Körpers als dem Gesetz des Raums und als
auch dem Gefühl seiner selbst wie dem Gefühl vom Raum’ 206 folgt. Der
Tänzermensch führt, nach Schlemmer, die Vermittlung zwischen Figur und
Raum zunächst durch das Abschreiten der auf dem Bühnenboden gezeichneten
Linien aus, indem er letztere ‚verräumlicht’. Hervorgehoben wird dann dieses
geometrisch-räumliche Ereignis bzw. die Verbindung des Organischen mit
mechanischen ‚Gesetzmäßigkeiten’ des Raumes durch die Gesten und das Tragen
von Masken und Kostümen, wobei insbesondere die Maskierung und
Kostümierung der Tänzermenschen eine unverzichtbare Voraussetzung für die
erwünschte Abstraktion darstellt. Schlemmer entwickelt darauf Grundtypen der
Tänzermenschen und unterscheidet dabei vier grundsätzliche Möglichkeiten für
die Umwandlung des menschlichen Körpers durch das Bühnenkostüm: 1. Sind
die Gesetze des kubischen Raumes bestimmend, so entsteht ein räumlichkubisches Kostümgebilde, das als ‚wandelnde Architektur’ bezeichnet wird [Abb.
25]; 2. werden die Bewegungsgesetze des menschlichen Körpers im Raum in
einen Kostümtyp übersetzt, führt das zu einem ‚technischen Organismus’ [Abb.
26]; 3. die Anwendung der Funktionsgesetze des menschlichen Körpers in
Beziehung zum Raum führt zur Typisierung der Körperformen und ergibt die
sogenannte ‚Gliederpuppe’ [Abb. 27]; 4. legt man die ‚metaphysische Anatomie’
205 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 13.
206 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 15.
126
des Menschen zugrunde, z. B. die verschlungenen Arme, die das Unendlichkeitszeichen symbolisieren, so bringt dieser Kostümtyp den Begriff der ‚Entmaterialisierung’ zum Ausdruck.207 [Abb. 28] Die letzten drei Verwandlungsmethoden
dienen ganz dem Zweck, das ‚Wesen’ des Menschen zum Ausdruck zu bringen.
‚Wesen’ wird hier aber nicht im Sinne allgemeiner Charaktertypen oder Urbilder,
sondern hauptsächlich im Sinne des allgemeinen organischen und mechanischen
Körpers verstanden. Sie dienen in erster Linie zur Demonstration der Körpermechanik. Soweit aber die Kostüme die Funktion haben, den menschlichen
Körper weitgehend verdecken oder zumindest optisch zurückzudrängen, wird der
Mensch als Individuum nicht durchschaubar. Schlemmer bewertet dies in Bezug
auf das Theater positiv:
‚Kostüm und Maske unterstützen die Erscheinung oder verändern
sie, bringen das Wesen zum Ausdruck oder täuschen über
dasselbe, verstärken seine organische oder mechanische
Gesetzmäßigkeit oder heben sie auf.’208
Um die Eindeutigkeit der Figur, um die Reduktion auf einen klar erkennbaren
Typus hervorzuheben, löst sich der ‚natürliche’ Körper des Schauspielers auf,
dadurch dass er von dem ‚imaginären’ Körper, dem Kostüm, stark eingeengt und
beschränkt wird. Aus diesem Grund ist der Schauspielkörper nicht mehr
geschlechtlich natürlicher Körper, sondern dreidimensionaler Raumkörper. Die
Kostüme verdeutlichen, worum es Schlemmer in seinem Theater geht: Um die
Erkundung des Raumes mit Hilfe von dreidimensionalen Kleiderkörpern, die
traditionellen Sehgewohnheiten radikal widersprechen. Sie folgen nicht dem
anatomischen Körper oder versuchen, ein gerade als schön geltendes Körperideal
zu erzeugen, sondern sie sind eigenständige Gebilde, die den menschlichen
Körpern zwar nicht widersprechen, aber zugleich dem Auge den Reiz des völlig
Eigenartigen, Unerwarteten bieten. Damit wird nicht nur ein künstlerisches
Bedürfnis nach visuellen Reizen befriedigt, sondern zugleich werden herkömmliche Wahrnehmungs- und Denkweisen in Frage gestellt. Nach Schlemmer
kann offenbar die strenge Geometrisierung der Kostüme, wie Kreisel, Kugel und
Spirale, dies erleichtern, bis zu dem Punkt, an dem ‚Alles Mechanisierbare
mechanisiert [wird]. Resultat: die Erkenntnis des Unmechanisierbaren’209. Der
207 vgl. Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 16-17
208 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 15.
209 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 7.
127
Körper des Tänzers wird somit zur scheinbar mechanisch funktionierenden
Figur, die Schlemmer später als die letzte und endgültige Kunstform auf der
Bühne erklären wird.210
Mathematischer Körper
Die Begründung für die Wahl der Mechanisierung des menschlichen Körpers,
der Bewegungen und der entindividualisierten Darstellung durch Kostüme als
Mittel liegt für Schlemmer in deren mathematisch-geometrischer Präzision.
Seiner Meinung nach sind diese Elemente nicht imstande, die Bedingtheit der
menschlichen Gestalt, das Gesetz der Schwere, dem sie unterworfen ist,
aufzuheben. Schlemmer sieht daher die zweite Möglichkeit für den Instanz des
autonomen Bühnenraumes in den Zahlen: in der Mathematik.
Die Bezeichnung ‚triadisch’, die erst kurz vor der Uraufführung gefunden
wurde, leitet sich aus dem griechischen Wort ‚triade’ für Dreiheit ab und steht für
das Ordnungsprinzip des Balletts. Ganz der romantischen Vorstellung der
Zahlenmystik verhaftet, behauptet Schlemmer, die Drei sei eine ‚eminent
wichtige, beherrschende Zahl […], bei der das monomane Ich und der
dualistische Gegensatz überwunden sind und das Kollektive beginnt’ 211 . Die
Bedeutung der Zahl ‚Drei’ sei ferner
‚Form, Farbe, Raum; die drei Dimensionen des Raumes: Höhe,
Tiefe, Breite; die Grundformen: Kugel, Kubus, Pyramide; die
Grundfarben: Rot, Blau, Gelb. Die Dreiheit von Tanz, Kostüm und
Musik, und so weiter.’212
Die Dreiheit von Kostüm, Tanz und Musik setzt sich in Raum, Farbe und
Form weiter fort, die wiederum in die drei Dimensionen des Raums, die drei
geometrischen Grundformen und die drei Grundfarben aufgeschlüsselt werden.
Nach Schlemmers Überzeugung bezieht die Kunst aus der formstrengen
210 Bei der Uraufführung ist das Ballett mit traditioneller Musik unterlegt, zumeist
Partituren von Haydn oder Mozart, später schrieb aber Paul Hindemith anlässlich der
Wiederaufführung in Donaueschingen Musik für mechanische Orgel dazu. Eine
mechanische Orgel sei besser geeignet, meint Schlemmer, ‚weil der mechanische
Spielapparat der Stereotypie der Tanzweise [...] entgegenkommt, andererseits die
Parallele bildet zu den körpermechanischen, mathematischen Kostümen. Zudem wird das
etwas Puppenhafte der Tänze mit dem spieldosenähnlichen Musikalischen konform gehen
oder aller Voraussicht nach eine Einheit schaffen, die dem Begriff Stil entspricht’.
Schlemmer: Tagebuch, 5. Juli 1926, S. 202.
211 Schlemmer: Tagebuch, 5. Juli 1926, S. 202.
212 ebd.
128
Abstraktion ihre Kraft, die Ordnung des Universums sichtbar zu machen: ‚Alle
große Kunst enthält ebensoviel Konstruktives, Konstruiertes, in Form von realer
und metaphysischer Mathematik.’ Schlemmer beruft sich dabei das Wort von
Novalis und preist Mathematik als höchste Kunstform: Das höchste Leben ist
Mathematik (Novalis, Fragmente). 213 Es ist daher nicht überraschend, wenn
Schlemmer immer wieder Philipp Otto Runge (1777-1810) zitiert:
‚Die strenge Regularität sei gerade bei den Kunstwerken, die
recht aus der Imagination und der Mystik unserer Seele entspringen, ohne äußeren Stoff oder Geschichte, am allernothwendigsten.’214
Schlemmers künstlerische Seelenverwandtschaften zu Runge zeigt sich
besonders in dessen Komposition ‚Mystische Kreisfiguration’. [Abb. 29] Anfang
April 1803 begleitete Runge seinen Brief an Ludwig Tieck (1773-1853) mit einer
von dem Mystiker und Naturphilosoph Jakob Böhme (1575-1624) inspirierten
geo-metrischen Figuration aus sechs gleichen Kreisen, deren Mittelpunkte im
Abstand ihrer Radien auf einem ebenso großen, siebten Kreis in der Mittel liegen.
Die Verbindungslinien der sechs Kreismittelpunkte ergeben ein regelmäßiges
Sechseck, das dem siebten Kreis zusammen mit einem gleichseitigen Dreieck
einbeschrieben ist. Die zentrale Kreisfigur ist identisch mit der geometrischen
Figur, aus der Runge später seinen sechsteiligen Farbenkreis entwickelte. Die
briefliche Erklärung der mystischen Figuration lautet:
‚Das ist die erste Figur der Schöpfung. Die 6 ist nach dem
Sündenfall nicht verstanden, und wird nicht verstanden, bis der
Tag kömmt, wo alles zum Licht zurückkehrt, das ist der siebente
Tag. – Die Welt hat sich gesondert in Ich und Du, in Cirkel und
Linie, da ist die 3 in die Welt gekommen, und durch Gutes und
Böses, die 5; in 7 ist alles wieder vereinigt: Das ist das
allerheiligste; der Punct hat sich ausgebreitet im Cirkel […]’.215
213 Schlemmers Stellung zu dieser ‚künstlerischen Mathematik’: ‚Nicht Jammer über
Mechanisierung, sondern Freude über Mathematik! Und wiederum nicht über jene, die
man auf der Schulbank schwitzt, sondern über jene künstlerische Metaphysische
Mathematik, die sich notwendigerweise einstellt, wo, wie in der Kunst, das Gefühl am
Anfang steht und sich zur Form verdichtet, wo das Unter- und Unbewußte zur Klarheit
des Bewußtseins wird. ‚Mathematik ist Religion’ (Novalis), weil sie das Letzte, Feinste,
Zarteste ist [...].’ Schlemmer: Tänzerische Mathematik, in: Musikblätter des ‚Anbruchs’.
Sonderheft ‚Tanz in dieser Zeit’. 8. Jg. Nr. ¾, Wien 1926, S. 123.
214 Philip Otto Runge, zit. nach: Schlemmer: Tagebuch, November 1924, S. 163.
215 zit. nach: Jörg Traeger: Phillip Otto Runge und sein Werk. Monographie und
kritischer Katalog, München 1975, S. 339-340.
129
Die Überwindung der dualistischen Schärfe des Menschenbildes sucht
Schlemmer demgemäß in der Kunstfigur. Die Einheit einer rationalistisch definierten künstlerischen Praxis einerseits und eines transzendentalen Bewusstseins
andererseits spiegelt sich darin wider:
‚Das Bestreben den Menschen aus seiner Gebundenheit zu lösen
und seine Bewegungsfreiheit über das natürliche Maß zu steigern,
setzte an Stelle des Organismus die mechanische Kunstfigur:
Automat und Marionette.’216
3. 3. Das Wesen der Kunstfigur
Der Begriff ‚Kunstfigur’
Oskar Schlemmer schreibt in seinem Aufsatz ‚Mensch und Kunstfigur’
folgendes:
‚Die Kunstfigur erlaubt jegliche Bewegung, jegliche Lage in beliebiger Zeitdauer, sie erlaubt – ein bildkünstlerisches Mittel aus
Zeiten bester Kunst – die verschiedenartigen Größenverhältnisse
der Figuren: Bedeutende groß, Unbedeutend klein. Ein ähnliches
sehr gewichtiges Phänomen bedeutet das In-Beziehung-setzen des
natürlichen >nackten< Menschen zur abstrakten Figur, die beide
aus dieser Gegenüberstellung eine Steigerung der Besonderheit
ihres Wesens erfahren. Dem Übersinnlichen wie dem Unsinn, dem
Pathetischen wie dem Komischen eröffnen sich ungeahnte
Perspektiven. Vorläufer sind im Pathetischen die durch Maske,
Kothurn und Stelzen monumentalisierten Sprechen der antiken
Tragödie, im Komischen die Riesenfiguren von Karneval und
Jahrmarkt. Wunderfiguren dieser Art, Personifikation höchster
Vorstellungen und Begriffe, ausgeführt in edelstem Material,
werden auch einem neuen Glauben wertvolles Sinnbild zu sein
vermögen […].217
Die Kunstfigur ermöglicht nach Schlemmer auf der Bühne jede beliebige
Bewegung, und jede beliebige Position kann dadurch so lange wie gewünscht
erhalten werden. Dabei tun sich erstmals die Perspektiven auf, vom Übernatürlichen zum Unsinnigen, vom Tiefsinnigen zum Grotesken. Diese bizarren
Figuren einer neuen Art seien damit Personifikationen hochkonzentrierter
Konzepte sowie Ideen und geeignet, auch symbolisch einen neuen ‚Glauben’ zu
216 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 18.
217 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 18-19.
130
verkörpern. Aus dieser Sicht gesehen kann Schlemmer folgend sogar vorausgesagt werden, dass die Bühnensituation sich vollständig umkehren wird: Das
Theater mit Kunstfiguren wird optische Ereignisse entwickeln und sich dann
einen neuen ‚Dichter’ suchen, der diese Ereignissen in der passenden Sprache mit
‚Wort- und Tonideen’ wiedergibt.
Der Begriff der ‚Kunstfigur’ als Verkörperung einer künstlichen Gestalt und
nachgemachtes Bild eines lebenden Wesens wurde erstmals von Clemens Bretano
1811 in seinem Märchen Gockel, Hinkel und Gackeleia verwendet. Schlemmer
selbst bezieht sich oft in seinen Tagebüchern und Schriften auf die literarischen
Schöpfungen der Romantik. Im Programm der Uraufführung des Triadischen
Balletts formuliert er dazu: ‚Heinrich von Kleists ‚Über das Marionettentheater’
ist die überzeugende Mahnung an das Künstliche, und vollends sind es E.T.A
Hoffmanns Phantasiestücke.’218 Mit dieser Aussage steht Schlemmer gewissermaßen in Einklang mit Craigs Schrift ‚Übermarionetten’. Schlemmer setzt aber
seine Kunstfigur gegen den ‚cultischen Seelentanz’, der die Nacktheit des Körpers
und den Tempel als Spielort fordere. Er wirbt stattdessen für einen ‚ästhetischen
Mummenschanz’, der die Vermummung durch das Kostüm und die Bretter des
Theaters voraussetzt. 219 Die Verkleidung des Körpers öffne dann, über die
Bewusstwerdung der körperlichen Gebundenheit hinaus, die symbolische Transzendierung der Bindung durch Raum und Zeit. Die ästhetische Besonderheit der
Kunstfiguren Schlemmers liegt somit im totalen Kunstcharakter. Sie sind Inbegriff des Naturfernen, Unorganischen, ja Künstlichen. Ihre zentrale Positionierung gleicht deshalb einem programmatischen Bekenntnis zur Artifizialität von
Kunst: ‚Die Mittel jeder Kunst sind künstliche, und jede Kunst gewinnt durch das
Erkennen und Bekennen ihrer Mittel.’ 220 Diese Kunstauffassung zeigt sich
deutlich an Schlemmers Verbindung zum symbolischen Denken der Goethezeit;
besonders Goethes Begriff des Gestaltsymbols muss als Folie für Schlemmers
ideelle Bestimmung der Kunstfigur vorausgesetzt werden:
‚Es werden immer Formungen sein, die im goetheschen Sinne
‚antikisch’ sind: Schöpfungen, entsprungen aus der Verbindung
218 Schlemmer: Ballett?. Programm der Uraufführung des Triadischen Balletts, in:
Scheper 1988, S. 53.
219 ebd.
220 Schlemmer: Tagebuch, September 1922, S. 134.
131
und dem Idealen gleichmaß von Abstraktion, Messung, Gesetz
einerseits, andererseits aus Natur, Gefühl, Idee.’221
Die klassische Version des Symbolbegriffs in der Ästhetik um 1800 geht
davon aus, das Kunstwerk müsse sich selbst aussprechen und deuten. Das
Symbol wird als autonomes, ‚in sich ruhendes Zeichen’ charakterisiert, bei dem
Außen und Innen, Zeichen und Bedeutung notwendig und unauflöslich miteinander verbunden sind. Die griechische Plastik galt daher als Vorbild des
organischen, sich selbst aussprechenden und von einem inneren Ausdruckswert
getragenen Symbols. Diese Bindung der Kunst an eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit begeisterte Schlemmer ebenfalls für Goethes Stil-Begriff:
‚Seine [Goethes] einfache und doch so grundlegende Einteilung in
die Gattungen der Naturnachahmung, der Manier und des Stils
verdiente […] wieder in Erinnerung gebracht zu werden […]
(Goethes Schlußwort jener Abhandlung lautet: Wie die einfache
‚Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen
Gegenwart beruht; - die Manier eine Erscheinung mit dem
leichten, fähigen Gemüt ergreift; - so ruht der Stil auf den tiefsten
Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern
uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu
erkennen.).’222
All diese Bestimmungen der Goethe-Zeit finden sich in Schlemmers Entwurf
einer idealen Kunstfigur wieder. Seine Aneignung des Goetheschen Symbol- und
Stilbegriffs für die avancierte Kunst der zwanziger Jahre funktioniert jedoch nur
über eine paradoxe Konstruktion, für die der Vexierbildcharakter der Puppe die
notwendige Voraussetzung ist: Indem die Puppe auf das Naturvorbild des
Menschen anspielt, treibt sie für Schlemmer ein Bewusstsein ihrer ausgeprägten
Künstlichkeit hervor. Ihre ‚gefährliche Nähe’ zur menschlichen Gestalt wird
damit zum Garanten für die angestrebte Künstlichkeit von Kunst. Jene Qualität,
im 19. Jahrhundert allzu oft als Argument für die ästhetische Abwertung der
Puppe eingesetzt wurde223, wird bei Schlemmer damit zum zentralen Argument
für ihre Aufwertung. Sie ist einerseits als Versinnbildlichung des Allgemeinen im
Besonderen, als Schöpfung aus ‚dem idealen Gleichmaß von Abstraktion,
Messung und Gesetzen, andererseits aus Natur, Gefühlen, Idee’ zu betrachten. In
221 Schlemmer: Tagebuch, April 1929, S. 244.
222 Oskar Schlemmer: Vortrag ‚Perspeiktiven’ (1932), in: Karin von Maur: Oskar
Schlemmer. Band I: Monographie, München 1979, S. 340.
223 vgl. Karina Türr: Farbe und Naturalismus in der Skulptur des 19. und 20. Jh., Mainz
1994, S. 95-142.
132
dem absoluten, mit sich selbst identischen Mechanismus der Kunstfigur realisiert
sich die Synthese von Unnatürlichem und Übernatürlichem, von Idee und
Wirklichkeit, von Freiheit und Notwendigkeit. Die Versöhnung dieser Polaritäten
entsprach Schlemmers eigenem Anliegen, die Signaturen der reflektierenden,
disharmonischen Moderne im Bild einer zugleich zeitlosen und zeitgemäßen
Kunstfigur aufzuheben. Die Marionette als ästhetisches Modell dient ihm letztlich
dazu, eine metaphysische Dimension im Bild des Menschen zu restaurieren. So
präsentiert sich Schlemmers Das Triadische Ballett als die Tendenz zur
Typisierung, zur Mechanisierung und zur tektonischen Umbildung und Abstraktion am Beginn von Bewegungen, welche die europäische Avantgarde in
allen Bereichen der Kunst, in der Malerei und in der Literatur, in Theater und
Tanz auszeichnen:
‚Ich habe die Überzeugung, daß die Quelle alles Neuen, einerlei
auf welchen Gebiet es auch sei, das elementare und damit auch
das originale Erfassen des Wesentlichen ist. Jede Sache hat einen
Wesensursprung, einen Ursinn, der im Lauf der Entwicklung
zumeist in Vergessenheit gerät, aber immer der Keim bleibt für
alle weiteren Neubildungen. Freilich darf es kein wissenschaftliches Sezieren sein, sondern es muß gefühlt und voll
empfunden sein. Das ABC kann sozusagen immer wieder neu
erlebt werden.’224
Es ist verständlich, dass Schlemmer den Stilbegriff wiederum über die Puppe
als höchste und letzte Objektivation des Künstlerischen bestimmt. In einem
Aufsatz mit dem Titel Holzpuppenmalerei von 1930 schreibt er, offenbar reagiert
auf ein Kritikerwort:
‚Holzpuppen! Puppenmalerei! Das Schlagwort ist geprägt und
einer sagt’s dem anderen. Keiner aber sagt dem anderen, daß
immer, wo es um diese Probleme ging, zu allen Zeiten des großen
figürlichen Stils, es ein leichtes ist, die mehr oder weniger nahe
Verwandtschaft mit dem Puppenhaften festzustellen. Sind die
indischen, ägyptischen, frühgriechischen Plastiken und Malereien
etwa nicht in dieser gefährlichen Nähe des menschlichen
Ebenbildes, das, da es Kunst ist und nicht Natur und da es mit den
Mitteln der Kunst erzeugt ist, notwendigerweise eine Abstraktion
bedeutet: Puppe, Reflexgestalt, Symbol.’225
224 Schlemmer: Neue Formen der Bühne. Eine Unterhaltung von Oskar Schlemmer, in:
Schünemanns-Monatshefte (H. 10) 1928, S. 1072.
225 Schlemmer: Tagebuch, 23. August 1930, S. 267-268.
133
Schlemmers Artikel endet mit dem emphatischen Ausruf: ‚Der Weg zum Stil
führt über die Puppe!’226
Es wird zusammengefasst:
Das Triadische Ballett bzw. seine bewegten Bühnenfiguren weckten im
Zuschauer eine weite Skala von Empfindungen: Staunen, Lächeln oder auch
Ablehnung. So wie bei Meyerhold geht es in Schlemmers ‚Triadischen Ballett’ um
die Suche nach einer radikalen Künstlichkeit der visuellen und auditiven Zeichen,
die in ihrer Reduktion und Präzision das Wirkliche erst erkennbar machen und
als Zeichen nicht abstrakt, sondern emotional verständlich sind. Schlemmer
setzte die Sinnlosigkeit hinter alltägliche Zweckgebärden und entdeckte zugleich
Sinn und Gesetz im zweckfreien Spiel. Damit schaffte er die Symbiose zwischen
Tänzer und Bühne nicht nur als Instrument, sondern in der Bewegungs- und
Raumerfindung als Schritt zur Ganzheit. Puppen übernahmen in diesem
Zusammenhang eine Vorbildfunktion. Die künstlichen Menschen sind die ‚Idee’
in ihrer skulpturalen Ausformung und in ihrer mechanischen Funktionalität.
Dort werden charakteristische Merkmale stilisiert und menschliche Körper zu
Skulpturen geführt. Als Raum dient dabei ein zweidimensional wirkender
Grundraum mit sich verändernden Dimensionen, mit minimalen Zeichen. So
verschwindet der Körper im Triadischen Ballett völlig in den skulpturalen
Kostümen, wird zum anonymen, austauschbaren Motor lebender Kunstfiguren
und damit zur vollkommenen Synthese von Mensch und Kunst. Schlemmer
möchte zwar nicht wie Craig oder Futuristen den Schauspieler durch eine
Übermarionette oder mechanisierte Puppen ersetzen, doch erkennt er in der
Kunstfigur die Möglichkeit einer Erweiterung des künstlerischen Spektrums.
226 ebd.
134
Die Wiederentdeckung der Puppen: Fragestellung II
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurden die Kunstfiguren in der bildenden
Kunst einem zunehmenden Angriff ausgesetzt. Der Bruch mit der historischen
Avantgarde in den Nachkriegsjahren zugunsten eines realistischen und politisch
engagierten Individuums, welches das menschliche Subjekt und seine alten
Werte restaurieren wollte, trug vorläufig dazu bei, den künstlichen Körper als
ästhetisch eigenständiges Zeichen, als Signifikant zu verdrängen. Für den großen
Teil des Kunstestablishments der Nachkriegsjahre war das synthetische Geschöpf
doppelt verdächtig. Es verstieß einerseits die Anschauung, dass ‚das Ursprüngliche’ wiederherstellt werden muss und andererseits gegen den modernistischen
Widerstand, Realität abzubilden sei. Viele Künstler dieser Zeit hatten das Ziel,
dem humanen Körper wieder einen Primat zu geben, beispielsweise durch
Präsentationen innerhalb konventioneller Kunsteinrichtungen. Während demzufolge die Kunstszene überwiegend geometrische, abstrakte Tendenzen des
Körpers dominierten, bezogen auf die konkrete Wahrnehmung von Fläche, Raum
und Licht, finden sich die künstlichen Menschen nun in gewandelter Form
wieder; teils belustigend, teils spielerisch, aber auch Befremden und Ängste
auslösend wirken die Figuren. So waren Puppenfiguren abermals mit dem
Realismus gegangen oder mit jenen Formen der gegenständlichen Kunst, die das
Dekorative betonten, damit insbesondere die Affekte. Der Anspruch der
Avantgardisten auf die Desemantisierung des Körpers wurde somit vorerst
aufgegeben.
Trotz solcher zeitgenössischer Abneigungen fühlten sich einige Künstler
weiterhin zu Puppenfiguren hingezogen, und zwar besonders zu einer sozialrealistischen Darstellung des menschlichen Körpers. Dabei handelte es sich
jedoch zum Teil um eine Reaktion auf die dominierende formalistische, abstrakte
Ästhetik, zum Teil um ein zeitgemäßes Bedürfnis. Im Hinblick auf seinen
Environment-Charakter entsprachen die Puppen mit ihrer Betonung dinglicher
Objekte im realen Raum ganz dem mondänen Stil in der Kunst der sechziger
Jahre.
135
In den siebziger und achtziger Jahren kam es zu einem deutlich auffallenden
Zuwachs des künstlichen Menschen in der Kunstszene, was in erster Linie auf die
kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen Krisenerfahrungen des Subjekts
zurückzuführen war. Das vorläufige Ende der politisch relevanten Kunst - die
Frustration des Vietnamkriegs, das Wunschbild und dessen Entfremdung der
68er Bewegung und Terrorismus in Deutschland sowie die Verfolgung der RAF
stellen ihre bekanntesten Wegmarken dar -, eine Abkehr vom sozialen Engagement und Rückkehr des Archetypischen führten zu dem Verschwinden der
pikturalen und ikonischen Differenz als Charakter eines energischen Körpers,
beziehungsweise
zur
Wiederbelebung
des
komplementären
Körpers
als
ästhetische Methode in den avancierten Kunstformen und Ereignissen. Hinzu
schloss sich der neue Zeitstil dieser Tendenz an; die Postmoderne.
Die auch als Postavantgarde benannte kulturelle Bewegung stellt wie ihren
Namensgeber den Anspruch des Kunstwerks auf die Dauerhaftigkeit in Frage.
Indem sie an der Bedeutung von musealen Werken zweifelte, fordert die frisch
gekürte Zeitströmung die radikale Aufhebung der Trennung von Kunst und
Leben. Gleichzeitig rückt das Spiel mit der Kunstgeschichte, mit dem Zitieren und
Paraphrasieren vergangener ‚Meisterwerke’ in den Vordergrund. Während die
vorangegangene Epoche das ‚Neue’ dominierte, steht in der Postmoderne jedoch
nicht primär die Realisierung des Neuen im Mittelpunkt des künstlerischen
Interesses, sondern eine Rekombination oder neue Anwendung vorhandener
Ideen. Allein die begriffliche Aus-, und Indifferenzierung weist auf die Absichten
und Funktionsbestimmungen hin: Kopie, Replik, Remake, Surrogat, Modellbildung, Paraphrase, Nachbildung oder Imitation.227 Dem liegt das Hinterfragen
der Bedeutung des Originalen zugrunde, das bis dahin stets als das ‚Ursprüngliche’, ‚Eigentliche’ und ‚Echte’ beschworen wurde. Diese Spiele könnten bis zur
Simulation getrieben werden, bei der es keine Vorbilder mehr geben muss.
Austauschbarkeit der Rollen und Verhaltensmuster ist dabei ein typisches
Zeichen, das alles verfügbar und kaum etwas bindend ist. Das Zitat auf der
Grundlage dieser Haltung wird damit auf der Folie einer postmodernen Welt zu
einem bestimmenden Prinzip in der Kunst.
227 vgl. Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren.
München 1995, S. 186
136
Die Wiederkehr des Androiden in der Postmoderne war folglich nicht als
Abkehr von der Vorigen zu verstehen, sondern als deren Konsequenz und
Radikalisierung: Gerade durch die Aufhebung des Signifikats im Signifikant
wurde letzterer freigesetzt und aufgrund seiner Gleichsetzung mit außerästhetischen Phänomenen auch für außerästhetischen Funktionen einsetzbar. Mit
anderen Worten: Wenn ein Kunstwerk ein reales Ding gleichwertig mit anderen
realen Dingen gleichstellt, kann es auch vergleichbare Funktion erfüllen. Die
utilitäre Funktionalisierung der Kunst fällt zusammen mit einem Übergriff des
Ästhetischen in die Sphäre des realen Lebens. Die ‚Durchschnittsmenschen’ des
amerikanischen Bildhauers Duane Hanson vertreten diese Kunstauffassung par
exellence. [Abb. 30] In seinem Photorealismus arrangierte der Künstler
lebensgroße, photorealistisch nachgebildete Figuren aus von realen Menschen
abgenommenen Formen mit charakterisierender Kleidung und Objekten zu
Darstellungen der US-amerikanischen Alltagswelt: Individuen auf der Straße
(Bowery Relicts, 1969), beim Konsum (Florida Shopper, 1973) oder Putzen und
Einkaufen (Putzfrau, 1972, Frau mit Umhängetasche, 1974).
Diese spielerische Hybridisierung des Alltags und die Befragung des Körpers
durch Kunstmenschen, wie sie etwa in der Popart auftauchte, wurden aber
vielfach über die neuen Medien der Photographie, des Videos, des Films oder
auch der Musik vermittelt, im Kino von den Helden des Film Noir oder in
Science-Fiction-Filmen. In einer Zeit, in der Computersimulation und elektronische Zaubereien den Glauben an Wirklichkeit und Abbild, an Reality und Virtual
Reality durcheinander gebracht haben, wirken die Kunstkörper noch eindringlicher, noch stärker und nachhaltiger, zumal die dreidimensionale Präsenz der
künstlichen Mitmenschen die gewohnten Reaktionen auf zweidimensionale,
flache Bilder an emotionaler Stärke bei Weitem übertreffen.
Viele Plattencovers aus diesem Zeitraum präsentierten beispielsweise die
Tonkünstler hinter Sonnenbrillen im Halbdunkel versteckt wie Nachtwesen,
Maskenfiguren, ja Menschmaschinen. Ihre morbide Romantik wagte mit
Aussehen, Auftreten und Werkthematik eine beliebte Neuinterpretation der
schwarzen Romantik des 19. Jh. Es waren ästhetische Figuren, deren Leben in
der Nacht immer ein wenig nach Kostümball aussah und deren vorgestellten
Gefühle einen überdeutlichen Zug hin zum Kitschigen besaßen. Die Apathie
solcher solipsistische Haltung, die offensichtlich stoischen Hang vorführen sollte,
war aber auch von den 20er Jahre beeinflusst. Die Futuristen jener Zeit sehnten
sich wie ihre Vorläufer nach ihrer Maschinenwerdung, um das Seelenleben
137
zugunsten einer mechanisch-elektronischen Funktionsregelung aufgeben zu
dürfen: ‚I want to be a machine’.
Der Aufstieg des Androiden war hier jedoch etwas anderes, so dass sich nur
unter Vorbehalt von der ‚Wiederauferstehung’ sprechen lässt. Dem erneuten
Interesse in den neuen Medien fehlte nämlich der unmittelbare Erscheinungsmodus, der in den historischen Avantgarden maßgeblich war. Das Faible für die
Kunstfigur war vielmehr mit dem künstlerischen Anspruch der Zeit verbunden.
Das ästhetische Prinzip der Kunstfiguren war eine suggestive Vereinigung von
Mensch und Kunstwerk, daher ideal für die Unnahbaren, Coolen, ja OberFlächlichen des zeitgenössischen Künstlerstatus, dessen ästhetische Grenzen und
traditionelle Gattungen überschritten werden sollten. Wenn die Künstler in ihren
Arbeiten den Puppenkörper thematisierten, so stellten sie weniger den menschlichen Körper an sich in Frage, sondern vielmehr deren Auswirkungen auf das
Selbstbild. Es ging dabei um die funktionale Umbestimmung: Sie erprobten am
Kunstkörper die sog. Reinkarnation durch mediale Wiedergeburt. Gleichzeitig
nahmen die Künstler Kritik an der medialen Konstruktion von Identität, Rassen,
Geschlecht des Körpers vorweg, dort illustrierten sie mit visueller Überzeugungskraft der Puppe Theoriekonzepte wie die Feministische Theorie. Die amerikanische Künstlerin Cindy Sherman, die seit Mitte der 80er Jahre vor allem in
der Reihe der ‚Modefotos’ oder in den nachgestellten ‚Historischen Portraits’
reüssierte, beleuchtete z. B. kritisch mit Puppen das Bild der Frauen. [Abb. 31]
Ihre Objekte sind Puppenkörper, vornehmlich Schaufensterpuppen, ungelenke,
sperrige Kunststoffmenschen. Jenseits der Schönheit suggerieren Shermans
Puppenbilder Abstoßendes, Widerwärtiges, Ekelgefühle. Während der menschliche Körper in ihren Arbeiten als absichtsvoll inszeniertes Ideal angesehen wird,
ist der Puppenkörper dem Schrecken, der sexuellen Perversion und der Angst
einer ausschließlich sozialen Topik ausgesetzt und kann argwöhnisch hinterfragt
werden: Der künstliche Leib als eine subtile Metapher für den schutzlosen Körper
und gleichzeitig das Medium seiner Botschaft.
Seit den 70er Jahren weist das Theater eine Tendenz zur Selbstreflexion und
Selbstthematisierung auf, nachdem es sich als funktioneller Apparat dem sozialen
Auftrag unterstellt hat.228 In der Literatur werden Merkmale dieser Zeit genannt
228 Von den zahlreichen, in der allgemeinen Theatertheoriebildung von Körperperformance im zweiten Hälfte des 20. Jh. seien exemplarisch Eugenio Barbas Konzept
des ‚pre-expressive body’ und Richard Schechners ‚restored behaviour’ angeführt. vgl.
138
wie das Theater als Prozess, das Postmoderne Theater, das Postavantgardistische
Theater oder auch das ‚Postdramtische Theater’
229
, die allesamt durch
Destruktion, Pluralität, Zusammensetzung der Gesten und Bewegung geprägt
sind. Ihr Prinzip ist die Dissoziation, die Zerrissenheit von individueller
Erfahrung und Wahrnehmung steht im Mittelpunkt der Stücke. Eine Reaktion
darauf, dass unmittelbare Sinneserfahrung, Wahrnehmung der Welt und des
Selbst kontaminiert scheinen, nicht zuletzt wegen der Beanspruchung der Sinne
durch den Bilder-Overkill, das geforderte Tempo des Sehens und die
Verflüchtigung des Körpers. War das Theater also in den 50er und 60er Jahren
Ort von Selbstdarstellung, -entwurf oder -entfaltung, so geht es jetzt um
Selbstverzweiflung und -erkundung der eigenen leibsinnlichen Befindlichkeit.
Viele Theaterformen dieser Zeit haben daher eher investigativen Charakter, das
heißt, sprechen mehr intellektuelle, kognitive Fähigkeiten an, als dass sie rein
körperliche Sinnlichkeit vermitteln. Eine Flut von Zitaten wird in ihrer
collagenhaften Art auf der Bühne gesprochen, deren Strukturprinzipien sich
obstinat dem Zugriff des Rezipienten entziehen. Postmodern oder auch
postdramatisch ist hierbei das Spiel mit Intertexten und Zitaten, die dazu
beitragen, dass die Zeichenstruktur mit zusätzlichen Sinnbezügen und
Assoziationen aufgeladen wird, die zugleich zu einer Störung der Kontinuität bei
der Perzeption der repräsentativen Vorgänge führen. Das überdimensionierte
Zeigen des Körpers mit den Mitteln der Betonung und Isolierung von
Körperteilen sind konstitutive Elemente der zeitgenössischen Inszenierungen auf
der Bühne.
Das folgende Kapitel untersucht drei der Repräsentanten des zeitgenössischen Theaters aus jener Zeit, die auf den ersten Blick paradigmatischen
Beispiele auffallender Gegensätzlichkeit hervorzuheben scheinen, was Inszenierung und Inhalte angeht; das Bread and Puppet Theatre, Tadeusz Kantors
‚Theater des Todes’ und das sog. ‚Bildertheater’ von Robert Wilson. Sie haben
jedoch eines gemeinsam. Die Puppen zählen für ihre Bühne zu den wichtigsten
Eugenio Barbar/ Nicola Savarese (ebd.): The Secret Art of the Performer, London 1991,
S. 203; Richard Schechner: Between Theatre and Anthropology, Philadelphia 1985, S.
35.
229 Postdramatisches Theater ist das ‚Theater nach dem Drama’ und die Kernaussage der
aktuellen Forschung zum Theater der 70er bis 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Ein entschiedener Vertreter dieser Auffassung ist Hans-Thies Lehmann; dort bezeichnet
Er das Theater der Antike ‚prä-dramatisch’ und die gegenwärtigen Formen ‚postdramatisch’. vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main
1999.
139
Bühnenelementen, die künstlichen Geschöpfe sind für die Künstler Plattform für
die intensive Auseinandersetzung mit dem menschlichen Schauspieler. Ausgehend vom Vergleich der Programmatik und Ästhetik der Ensembles wird daher
jeweils eine repräsentative Inszenierung beschrieben und analysiert, um am
Beispiel dieser konträren Modelle einige zentrale Fragen zur Dialektik von
Puppenfiguren und Schauspieler sowie zum Verhältnis von Wort und Bild im
Theater der Postmoderne zu diskutieren. Und nicht zuletzt soll die Frage
beantwortet werden, ob die theatralischen Bemühungen Ende der zwanziger
Jahre abgebrochen wurden und in der Nachkriegszeit keine Fortsetzung
gefunden haben.
140
4. Die mediale Funktion der Puppen
Die Schauspielgruppe ‚The Bread and Puppet Theatre’ und Tadeusz Kantor
haben die Puppe stets mit großer Aufmerksamkeit betrachtet. Für sie war das
künstliche Geschöpf wesentliches Medium der dramaturgischen Funktion im
Theater, das zugleich der darstellenden Kunst ästhetische Bedeutung gewährleistet. Ausgehend vom traditionellen Puppentheater und auf der Suche nach den
passenden Ausdrucksmitteln der neuen, grenzüberschreitenden Spielformen
zwischen bildender und darstellender Kunst fanden sowohl die experimentelle
Theatertruppe aus New York als auch der polnische Bühnenregisseur, die auf den
ersten Blick sehr unterschiedliche Formen für verschiedene ästhetische Ansätze
zu pflegen scheinen, in den Kunstfiguren die Erneuerung ihrer Bühne und beeindruckten dabei die Zuschauer durch die vermeintlich zufälligen Begegnungen
zwischen den leblosen Gestalten und lebendigen Schauspielern. Somit entwarfen
sie beide ein ‚Puppen-Theater’, welches mit dem traditionellen Image der
Gliederpuppen unvereinbar scheint. In den Bildnissen vom Bread and Puppet
Theatre und den Gliederpuppen von Kantor zeichnet sich ein Wandel im
artifiziellen Bewusstsein ab.
Die vorliegende Studie befasst sich mit den unterschiedlichen Erscheinungsweisen des künstlichen Körpers auf der Bühne und versucht eine Annäherung an
das Spezifikum der beiden Theater im Hinblick auf die praktische und theoretische Aussage einschließlich ihrer Essays, Manuskripts und Aufzeichnungen,
in denen sie ihre Aktivitäten, Überlegungen und auch kritisch die Erfahrungen
ihrer Werke resümierten. Ziel der Studie ist es dabei, herauszuarbeiten, inwiefern
dieser anagrammatische Körper den natürlichen (Schauspiel)Körper beeinflusst
und welche mediale Konstruktion bzw. Funktion dieses Wesen sowie die
theatrale Vermittlung innerhalb des Schauspieler-Theater hat.
141
4. 1. Stille Geste der Puppen
- The Bread and Puppet Theatre
Politische Abstrahierung durch den Körper
Die auffälligsten Bühnenelemente des Bread and Puppet Theatre sind
offenkundig Puppen und Masken, die seit der Gründung der Truppe als das
neben Licht und Klang einflussreiche Bühnenmaterial der Gruppe die Straßenparaden, politischen Demonstrationen sowie alltägliche Theatersäle bevölkern.
[Abb. 32] Die Ausdrucksskala der Puppengestalten ist dabei breit. Die durch sie
erzeugten Bilder und Symbole bleiben jedoch dieselben. Sie alle verkörpern
menschliche Themen und Regungen, wie Geburt und Tod, Freude und Leiden,
Liebe und Hass, Leben und Tod. So verleihen die künstlichen Menschen in ihrer
Abstraktheit und Spektakula den jeweiligen Vorstellungen Sinnesreiz, Emotion,
somit magische Ausdruckskraft.
Auf der schwach beleuchteten Bühne ist ein knapp vier Meter großer Hahn
erkennbar. Zu einzelnen, voneinander abgesetzten Paukenschlägen hebt er den
Kopf und lässt laute Hahnenschreie hören. Unterdessen wird eine zwei Meter
große Figur aus dem Schnürboden langsam auf die Bühne abgesenkt: Es ist die
Gestalt eines Gekreuzigten, dessen Ärmel, welche ohne Hände enden, an den
Querbalken eines Kreuzes gebunden sind. Die Bühne wird langsam ein wenig
heller. Rechts ist ein schwarz bekleideter Mann mit einer Kopfmaske in der Form
eines großen Eselskopfes zu erkennen. Der Mann hält zwei an Stangen fixierte
disproportional riesige Hände mit ausgestreckten Fingern. Synchron zum Ton
gestikuliert er mit ihnen. Sobald der Gekreuzigte wieder hochgezogen ist,
erscheint nun auf der Bühne die zweite Puppe in der nicht ganz lebensgroßen
Gestalt eines alten Mannes in nachdenklicher Pose. Es überqueren bald ein
buckliger Gnom, eine Tiergestalt und noch andere Puppenfiguren die Bühne.
In der nächsten Szene steht eine kleine Hütte am linken Bühnenrand. Im
Inneren des Hauses sitzt eine alte Frau. Sie hält ein Papierschild, das mit Why
und Nobody knows beschriftet ist, bis die zwei schwarz gekleideten Schauspieler
in das Haus reingehen und es wegnehmen. Die Männer zünden dieses Schild an.
Auf der Bühne erscheint danach ein Ehepaar, das ein überdimensionales
Puppengesicht trägt. Der Mann und die Frau wenden sich aneinander zu,
142
begrüßen sich und küssen sich. Sie wiederholen sich diese Bewegung drei Mal.
Abrupter Stimmungswechsel. Es folgen etliche Szenen von Kriegs- und Folterbildern mit Soldaten in einer bedrohlichen Stimmung.
Die Inszenierung ‚Goya’ wurde erstmals im Jahre 1981 aufgeführt.230 Sie ist
eine szenische Realisierung, für die der Regisseur und Gründer des Bread and
Puppet Theatre Peter Schumann 231 sich durch Goyas Caprichos (1799) und
Desastres del Guerra (1810-1815) inspirieren ließ, angeregt von einer kurzen
Zeitungsnotiz über einen Guerillaführer in El Salvador, der unter den Namen
Goya bekannt war und sich den Rebellen angeschlossen hatte, nachdem
Regierungssoldaten seine Familie ermordet hatten.232 Obwohl der Kontext der
Bürgerrechts- und Antikriegsgeste in dieser Aufführung mitzudenken ist, gibt es
aber in dem Stück keine direkte semantische Aufteilung zwischen den einzelnen
Episoden, die einer linearen Erzählstruktur folgen würden. Es gibt auch keine
dramatischen Zuspitzungen, weder was das Figuren- und Zeichenarsenal noch
was die Bewegungschoreographie oder die Squenzierung der Szenarios anbelangt. Jede Szene steht für sich, alles scheint beiläufig zu geschehen. Der
Handlungsaufbau des Stückes liegt stattdessen in den affektiven Szenenbildern,
die so aufgebaut sind, dass sich der Zuschauer direkt in seiner Betroffenheit
angesprochen fühlt. Die Thematik der Inszenierung löst sich von der vordergründig einfachen Fabel in einer bewusst nicht argumentativen Vorgehensweise
und emotionalen Intensität der Bilder auf. Ohne Kausalität oder unmittelbare
Implikationen des Sujets anzudeuten, dringen die allegorischen Bühnengestalten
direkt ins Bewusstsein des Zuschauenden, wo der stumme Ausdruck von
keinerlei Rationalisierung abgefangen wird, sondern sich umso tiefer festkrallt.
Der Zuschauer sieht sich folglich konfrontiert mit mehreren Einzelbildern, die
semantisch relevant sein könnten, einer Abfolge verschiedener Sequenzen von
Bildtableaus, deren tiefere Bedeutungsebenen sich letztlich zusammen mit der
Musik, Bewegung und Farbe erschließen. Durch solche affektive und appellative
Ausrichtung des Szenenaufbaus ist die sozial- und gesellschaftskritische
Komponente gerade charakteristisch für das Bread and Puppet Theatre. Die so
230 vgl. Stefan Brecht: The Bread and Puppet Theatre. Band II, New York/ London
1988, S. 557-562.
231 Das Bread & Puppet Theatre gründete Peter Schumann 1961 in New York, nachdem
er bereits in München mit Masken und Puppen in Tanzaufführungen u. a. gearbeitet hatte.
232 vgl. Brecht 1988.
143
genannte pazifistische Aussage korrespondiert mit den empirischen Elementen
wie etwa der antitraditionellen und antirationalistischen Konzeption.
Das Bread and Puppet Theatre zählt zu jenen politisch motivierten Theaterensembles aus den USA, die seit den sechziger Jahren der radikalen
Gesellschaftskritik alternative Modelle der Neubelebung und Weiterentwicklung
eines engagierten Theaters entwickelt hatten. Die sog. aufklärerischen Theater
aus dieser Zeit boten den nachdrücklichen wie ebenso verhaltenen Appell zum
Umdenken und Umschauen, indem sie die Zuschauer mit ihren Vereinfachungen,
Zuspitzungen oder auch Aufreizungen emotional zu berühren versuchten. Sie
lehnten vor allem die Trennung zwischen Leben und Kunst ab und standen für
die Formen des ‚Theaters der Erfahrung’, welche sich an den Visionen von
historischen Avantgardisten, u. a. Antonin Artaud orientierten, dessen ‚Theater
der Grausamkeit’ auf einer radikalen Veränderung des Theatererlebnisses
basierte. Ihre Theateraufführungen wurden somit im Sinne der Theateranthropologie zu rituellen Festen, in denen es weniger um Vorführen als um das
Erleben ging.233
In dieser Hinsicht ist das Bread and Puppet Theatre sowohl inhaltlich als
auch formal die prägnanteste Form des politischen Theaters aus der zweiten
Hälfte des 20. Jh.234 Zeigten die anderen alternativen Theatergruppen, wie Living
Theatre oder San Francisco Mime Troupe überwiegend radikale konkrete Aussagen und eventuell auch Lösungen für die Situation im Sinne eines anarchischen
Pazifismus, bzw. ein mit viel Wort, Witz und Musik agierendes Revuetheater der
ideologiekritischen Demontage aktueller Sujets der Tagespolitik, steht das Bread
and Puppet Theatre für eine nahezu völlig auf Sprache verzichtende Plattform,
233 Wofür ebenfalls der Name ‚Bread & Puppet’ steht. Für Schumann ist die Kunst ‚as
important to life as bread’. vgl. Peter Schumann: Puppen und Masken. Das Bread and
Puppet Theatre, Frankfurt am Main 1973.
234 Die andere Bezeichnung des politischen Theaters ist das Straßentheater. Das
alternative Theater oder auch freies Theater, entstanden aus der 68er Bewegungen mit
einem eindeutigen Aufklärungsinteresse, ist eine Form des Theaters, die die Gegensätzlichkeit zum ‚Theater Theater’ mit dem Verweis auf die andere Spielart manifestiert.
Ästhetische Fragen waren ihm unwichtig, eher verpönt, gar tabuisiert. Die Gruppen
spielen nur kurze, aktualitätsbezogene, improvisierte Szene und Stücke. Eine weitere
radikale Form des politischen Theaters ist dann Guerilla Theatre. Der Name wurde von
der Strategie des Befreiungskampfes des vietnamesischen Volkes auf das Theater
übertragen. Die Theatergruppe versteht sich als radikale Antwort auf die Gleichgültigkeit
der US-Bevölkerung angesichts der Gräuel des Vietnamkrieges. In seiner strengsten
Form bedeutet das Guerilla Theater eine inszenierte Aktion, die sich als Theater nicht
mehr zu erkennen gibt; es geht schlicht in Realität über, statt Stücken spielen die Theatergruppen ‚Versuchsanordnungen zu den Themen’.
144
die allein mittels des universalen Charakters der Bilder und deren visuelle Kraft
argumentiert. Die meisten Inszenierungen des Bread and Puppet Theaters
bestehen aus Abfolgen von Handlungsfragmenten und Bildertableaus, die ohne
Narration aneinander montiert sind. Akteure tragen oft Masken und Kostüme,
verhalten sich daher schematischer als die auf physiognomische Eigenheiten und
gewissermaßen auch auf ‚Charakter’ getrimmten Figuren. Letztere sind zwar
nicht im mimischen und psychologischen Verständnis narrativ, wohl aber im
künstlerischen Sinne rhetorischer.
‚The Story is all pictures and the actors (the word simply does not
apply) merely present the images. There is no playing of emotions
and no character portrayals, actors are simply the mechanisms
which convey the moving sculpture through which the story is
unfolded. It is thoroughly unhuman, even spectral, but this
reinforces the nightmarish quality of what is being depicted. This
theatrical form is more closely related to effigy and sculpture
than to the performing arts.’235
Diese undurchdringliche und spirituelle Komponente im Bread and Puppet
Theatre fließt vor allem in die Auffassung vom Theater als Ort der Begegnung
und politischen Öffentlichkeit mit ein. Schon das gemeinsame Verzehrritual des
selbst gebackenen Brotes während und nach einer jeden Vorstellung visualisiert
das Theater als der Instanz des Kommunizierens. Für solche nicht minder
ungewöhnliche Verknüpfung von religiöser Kontemplation und volkstümlichen
Impetus fand das Bread and Puppet Theatre in den mittelalterlichen Mysterienspielen sowie in den Pageants des Renaissancetheaters und den allegorischen
Maskenaufzüge und höfischen Trionfi des Barock seine Vorbilder. Schaut man
das Gesamtspektakel der Straßenfeste der Truppe genau an, so kann man
Anklänge karnevalesken Treibens von Markttagen, Kirchfesten und sonstigen
Festlichkeiten feudalistischer Epochen als prägende Einflüsse ableiten. Und was
‚kleinere’ Inszenierungen angeht, so sind hier ebenso Vorbilder bürgerlicher
Theatertraditionen aufzuzählen; etwa der Moritatenstil, Echos des barocken
Kuriositätenkabinetts oder auch Anlehnungen ans japanische Bunraku. Solche
konträren Einflüsse tragen zur Aufhebung dramaturgischer Konventionen von
Raum und Zeit bei, bringen die Originalität des Ensembles in seiner eigenwilligen
Form hervor und rücken damit das Bread and Puppet Theatre konzeptionell
235 Charles Marowitz, Village Voice vom 23. 3. 1968, zit. nach: Robert C. Hamilton:
The Bread & Puppet Theatre of Peter Schumann. History and Analysis, Indiana
University 1978, S. 100.
145
vielmehr in die Nähe der Performance Art und des Happenings. Eine Synthese
verschiedener Gattungen und Genres korrespondiert darin mit der Skulptur,
Tanz, Musik, Pantomime etc.
In diesen universalen, aber sperrig verschlüsselten Parabeln nimmt die Puppe
einen zentralen Platz in den Inszenierungen von Bread and Puppet Theatre ein.
Wo es den andern alternativen Theatern ums Detail, um Tempo, ja Können der
menschlichen Darsteller geht, steht für die Truppe das bisweilen geradezu steif zu
nennenden Vorzeigen allegorischer Bildsymbole der Puppengestalten im Vordergrund.
Körper als Spektakel
Schon seit seiner Gründung versteht das Bread and Puppet Theatre die
menschlichen Kunstfiguren bei zahllosen Beteiligungen an Demonstrationen und
Festumzügen zu nutzen. Dabei handelt es sich um Hand-, Stab- oder Stockpuppen, die überlebensgroß zum Teil bis vier Meter hoch auf Stelzen oder an
Stöcken gehalten mitgetragen werden. Diese monumentalen Puppen werden
während des Umzuges vor Stellen innegehalten, auf die man die Aufmerksamkeit
lenken will. Sie deuten wiederholt mit ihrer Riesenhand oder festgebundenen
Requisiten auf einem Objekt, das dabei weder ironisch noch anklagend
kommentiert wird. Das Puppenspektakel des Bread and Puppet Theatre baut
dabei auf zwei Elemente: Einmal auf die figurale Ausdruckskraft der riesigen
Puppengestalten bzw. die von ihnen erzeugten Bilder, zum zweiten auf die
Bewegungschoreographie, ausgeführt durch die Spieler, die sich hinter den
Puppen verbergen, in der Regel aber offen bzw. unversteckt zeigen, wie die
Puppen von ihnen manipuliert, unterstrichen werden. Die Verdoppelung von
Puppe und Puppenspieler wird erst dann aufgegeben, wenn sich der Spieler am
Ende der Aufführung von der Vortragepuppe löst, die sonst nicht sofort als solche
zu erkennen gewesen wäre. Diese von den Puppen bzw. Puppenspielern
gewählten Gesten und Symbole verstärken diejenige Mechanik, welche einzelne
Puppengestalten hinterlassen. Für das Publikum selbst ist dieser stumpfsinnig
wirkende Bewegungsrhythmus der Puppenfiguren das Markenzeichen des Bread
and Puppen Theatre schlechthin. Unter dem assoziativen Eigennamen der
Truppe identifiziert der Zuschauer solche Affinitäten mit der Originalität der
Truppe. Das Bread and Puppet Theatre bewegt sich allerdings an diesem Punkt in
einem Dilemma, liegt im Widerstreit mit sich selbst: Einerseits will es das
Theater als Medium konkreter Stellungnahme nutzen, doch auf der anderen Seite
146
versucht es, die aktuellen Ereignisse unkommentiert bis zum Passiven hin zu
lassen.
Die Puppe, die sich bekanntlich durch plastische Bildhaftigkeit und
nonverbale Beredtheit auszeichnet, ist vom Beginn an Inbegriff des Bread and
Puppet Theatre und Hauptidiom gleichzeitig. Schumann spricht von seinem
Theater sogar als ‚an extension of sculpture’ 236 . Die Puppen besitzen, so
Schumann, ‚ungeheuer intensive Kraft’; sie können z. B. über Dinge sprechen,
über die menschliche Schauspieler nicht reden können. Bei den künstlichen
Menschen werde die Aussagekraft durch Einfachheit, Unkompliziertheit und
daraus resultierende sparsame Details für den Zuschauer gesteigert:
‚in a puppet theatre [there] is movement that is simple and
uncomplicated – there isn’t so much detail, and so there seems to
be increased size and power.’237
Puppen wären deswegen ‚just by their size’ im Stande, auf Worte zu
verzichten. Ihre ureigene Stärke ist die starre Skulpturierung der Mimik, mithin
die ins Überlebensgroße oder auch Überlebenskleine verzerrte Geste. Gerade in
dieser Stummheit und Starrheit entwickeln die menschenähnlichen Kunstfiguren
ihre eigene Sprache, kreieren den universellen Anspruch und erzeugen die hohe
Intensivierung der Realität. Dieses Spezifikum der Puppengestalten verleiht nach
Schumann der darstellenden Kunst selbst enormes Potential, was den
Verfremdungseffekt betrifft:
‘Puppetry is admitting that we do ‚theatre’ … Actors want you to
believe them, but you needn’t believe Puppets. You see them move
and you listen to them. It is a strange relationship. You don’t
waste time believing they are real.’238
Ein Grund, weshalb das Bread Puppet Theatre prinzipiell den menschlichen
Schauspieler mit Puppenfiguren arbeiten ließ, dessen Alleingang schlimmstenfalls schlechte Imitationen der Wirklichkeit, billige Zerrbilder wirklicher Gefühle
236 zt. nach: Brecht 1988, S. 35.
237 Schumann, zit. nach: Helen Brown/ Jane Seitz: With the Bread and Puppet Theatre.
An Interview with Peter Schumann, in: The Drama Review (12/ 2) 1968, S. 70.
238 Schumann, zit. nach: William Rough: The Bread and Puppet Theatre. Interview with
Peter Schumann, in: Dramatics, December 1973, S. 25.
147
und Handlungen produzieren würde. Jahre später bringt Schumann die Ästhetik
des Puppentheaters auf die Formel: ‚Alienation is automatic with puppets.’239
Die Puppen des Bread and Puppet Theatre sind demzufolge von Anfang an
mehrdeutig konzipiert. Manche von ihnen bleiben schlechterdings rätselhaft,
andere lassen einzelne oder eine ganze Reihe von Themensträngen erkennen. In
der zumeist befremdlich langsamen und steifen Bewegungschoreographie verstärkt sich diese Mehrdeutigkeit, welche dann in Bühnenarrangements, die in
aller Regel mit zusätzlichen und ebenso befremdlich unheimlichen Klangebenen
akustisch angereichert sind, äußerst konzentriert zur Wirkung kommt. Die
modellierten Kunstgeschöpfe sind aber keineswegs die Wiedergabe realer Personen, sozialer oder psychologischer Typen mit mimetischem Anspruch, sie sind
vielmehr Phantasiefiguren, deren Stellung darin liegt, dass sie in ihrer
Abstraktion gleichzeitig anschauliche Bildsymbole hervorrufen. Die Multivalenz
der Kunstfiguren ist damit eine grundsätzliche Ablehnung und Hinterfragung
vertrauter Sehgewohnheiten. Die ungeschlachte Fremdheit der jenseits aller
gewohnten Proportion modellierten Körper, dazu das unvermittelte Neben- und
Gegeneinander der verschiedenen theatralen Zeichensysteme – all dies verunsichert jede Interpretation, die auf bündig formulierbare Aussagen erpicht ist,
sorgt letztendlich für ständige Irritation beim Zuschauen. Das Bühnengeschehen
unterläuft systematisch alle Deutungen, die sich auf eine einzige szenische oder
inhaltliche Aussage festlegen wollen, der Betrachter bleibt seinerseits auf
vorläufige Deutungen unter Vorbehalt angewiesen, kann sich jedoch mit dem
gefällten Urteil nie in Sicherheit wiegen. Über ästhetische Forderungen und
politische Parolen hinaus wird der Zuschauende folglich mit diesen von den
künstlichen Figuren fingierten Sinnbildern konfrontiert und zu einer geistigen
Reaktion herausgefordert. Die bewusste Vieldeutigkeit und Fremdheit der
Puppenfiguren bedeuten somit, dass jede Inszenierung ein hohes Maß an
Ambiguität aufweist; ein Gegeneinanderführen von Auge und Ohr, die radikale
Dissoziationen von Geste und Wort, die sich einst in den archaischen Bildern
visualisierten. In diesem Sinne betrachtet Schumann sein ‚Puppenspiel’ als:
,the employment and dance of dolls, effigies and puppets, [it] is
not only historically obscure and unable to shake off its ties to
shamanistic healing and other inherently strange and hard to
prove social services. It is also … an anarchic art, subversive and
untameable by nature, an art which is easier researched in police
239 Schumann, zit. nach: Helen Brown/ Jane Seitz 1968, S. 70.
148
records than in theatre chronicles, an art which by fate and spirit
does not aspire to represent governments or civilizations, but
prefers its own secret and demeaning stature in society,
representing, more or less, the demons of that society an
definitely not its institutions.’240
Das Bread and Puppet Theatre sei das Theater, das versucht, die Erinnerung
an den uralten und ureigenen Zauber symbolischen Spiels lebendig zu halten und
in der mehrdeutig bleibenden Aura seiner Aufführungen ein Echo ehemaliger
Funktionen von Theater anklingen zu lassen, als jenes einst noch der Ort
schamanistischer Praktiken und ein Medium transzendenter und metaphysischer
Welterfahrung, eben ein ‚self-sufficient ritual’ war.
‘What is the purpose of a puppet show? To make the world plain, I
guess, to speak simple language that everybody can understand.
[…] They [die Puppenspieler] have to learn to speak very slowly,
to touch people cautiously in order to move them. […] The
importance of story-telling and puppetry is little in the face of
hunger and multilation. That little importance is important. The
masterplan of all the little importances together has a name:
liberation, light and life.’241
Die Inszenierungen des Bread and Puppet Theatre sind also geprägt von
diesem Widerstreit zwischen einerseits dem Bekenntnis zum politischen Engagement von Theater und andererseits der Reklamierung einer höheren und nonutilitaristischen Rolle, welche die Puppengestalten kraft ihrer Vielschichtigkeit
und der Verwurzelung ihrer Bilder und Metaphern im Archetypischen spielen. In
diesem archetypischen Gegensatz von Gut und Böse umfasst das Theater im
gleichen Augenblick das älteste Motiv der Menschheit wie exemplarisch die
aktuellen Konflikte, beschwört es in seinen eindringlichen Bebilderungen des
Motivs das Prinzip Hoffnung. Dass sich Schumanns Konzept der Agitation von
dem unterschied, was die Mehrzahl der Gruppen des damaligen politischen
Theaters praktizierte, war gerade dieses Puppentableau: Was das Bread and
240 Peter Schumann: The Radicality of the Puppet Theatre, zit. nach: Gerd Burger:
Agitation und Argumentation im politischen Theater. Die San Francisco Mime Troupe
und Peter Schumanns Bread and Puppet Theater als zwei komplementäre Modelle
aufklärerischen Theaters, Bremen 1992, S. 53.
241 Randy Bolton: Peter Schumann’s Creative Method Used in Making Plays with the
Bread and Puppet Theatre, Florida 1981, S. 127.
149
Puppet Theater betreibt, ist eine ‚Agitation der Stille’242 – Das Bread and Puppet
Theatre verkörpert eine Art von aufklärerischem Obskurantismus. Die ungeschminkte und ungelenke Künstlichkeit der Puppen, erst ihre absolute und
unmißverständliche Lebensferne ermöglicht die besondere Wirksamkeit als
beredtes Medium stummer Kritik: Puppe als eine vergrößerte Spielfläche,
während Reaktion und Urteil allein dem Zuschauer überlassen bleiben. Das
Medium, das die Puppe hier überbringt, ist seine eigene Botschaft. Medium und
Botschaft sind eins, nicht Maske von und für etwas, sondern selbst.
4. 2. Die Verdoppelung des Puppenkörpers
- ‚Das Theater des Todes’ von Tadeusz Kantor
Körper in Tradition und Aufbruch
Kantors Bühne bevölkern die Gliederpuppe, Wachsfiguren, oder wie er sie
nennt, Mannequins. Immer wieder verwendet der polnische Regisseur, Zeichner,
Bühnenbildner und nicht zuletzt Kunsttheoretiker Tadeusz Kantor (1915–1990)
in seinen Inszenierungen die menschenähnlichen Kunstfiguren, welche Schauspielern in Größe und Aussehen nachgebildet sind und von ihnen getragen,
hingesetzt oder hingestellt werden, und platziert diese dabei inmitten des
Bühnengeschehens. Die Bühne wird so zur zum Leben erwachten FigurenAssemblage, artikuliert gleichzeitig Geheimnisvolles und Mystisches, weniger
durch den Diskurs der Sprache, vielmehr durch das Medium der Bilder.
Die Bühne ist eine leere Schulklasse mit alten Holzbankreihen. Auf den
Bänken stehen und sitzen etwa zwölf Schauspieler im schwarzen Anzug, die in die
Ferne starren. [Abb. 33] Rechts am Rande sitzt auf einem Stuhl eine ebenfalls
schwarz gekleidete und greisenhafte Wachspuppe, die während der ganzen
Aufführung inmitten der herumalbernden Darsteller still und unverändert bleibt.
In der nächsten Szene treten dann die Schauspieler mit Puppen auf, die ihnen im
Nacken sitzen oder um den Bauch hängen; jeder von ihnen hält eine wie aus dem
eigenen Körper herausgewachsene Puppe eines Buben in schwarzer Schul242 Hellmuth Karasek und Theo Hardtmann: Traumatische Genauigkeit – das Bread and
Puppet zeigt ‚Grey Lady Cantana’ und ‚Vogelfänger in der Hölle’, Theater heute, 13/2
(Feb. 1972), S. 29.
150
uniform mit weißem Kindergesicht. Gebärden und Schritte der Akteure sind
plötzlich unsicher. Die ‚Alten’, die eingangs ruhig zwischen zerfallenen, vergilbten
Büchern saßen, fangen an zu zappeln, es entsteht ein Durcheinander. Federbetten werden geworfen, Geschrei, Wettlauf um die Bänke und Gedrängel füllen
den Raum. Nach einer Weile kehren sie in die Bankreihen zurück. Stille. Und
wieder fangen sie an, einander anzuschreien und nachzuäffen. Diese Szenen
wiederholen sich. Die Bewegungen der Figuren summieren sich zum Automatenhaften. Dieses scheinbar chaotische Szenenwechselspiel wird von einem Mann
bestätigt: dem Mann, der die ganze Zeit über zwischen den Bühnenfiguren
umhergeht. Er dirigiert den Ablauf, erteilt kurze Anweisungen und gibt Zeichen
für den Beginn oder das Ende einzelner Aktionen.
Im Jahr 1975 in Krakau wurde Die Tote Klasse (Umarla Klasa) uraufgeführt.
Obwohl die Idee der ‚toten Klasse’ den Texten von Stanislaw Ignacy Witkiewicz
und Bruno Schulz entstammt, kann die Inszenierung keineswegs als deren
Umsetzung betrachtet werden. 243 Der szenische Raum weist zwar die Mehrdeutigkeit auf, die bei der Analyse der semantischen Strukturen beschrieben
würde; es finden sich Elemente, die der horizontalen Bühne zuzuordnen sind, wie
Schulbänke, Fenster oder Schulklo, mithin so zu einer Semantisierung ‚Raum der
Jugend’ führen könnten. Diese Elemente sind jedoch den anderen gegenübergestellt, die sich keinesfalls in diesen Zusammenhang einordnen lassen,
beispielsweise die einem gynäkologischen Untersuchungsstuhl ähnliche sog.
Familienmaschine mit ihrem mechanischen Öffnen und Schließen oder der
‚Dirigent’, der sich als reale Person inmitten der Bühnenfläche bewegt. Zwar stellt
sich der Semantisierungsprozess für den Anfang noch motiviert dar, wird aber im
weiteren diskursiven Verlauf beschwerlich. Die Inszenierung scheint sich, so der
Eindruck, von Vorlagentexten zur Eigenständigkeit hin zu lösen. Die Aufführung
folgt weder einer kausal, zeitlich oder räumlich bedingten Abfolge von Sequenzen,
während die Aneinanderreihung ähnlicher Elemente das prägende Merkmal der
Aufführung wird. Auf dem Prinzip der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit
243 Tumor Mózgowicz (Tumor Hirnnowitsch) von S. I. Witkiewicz und Emeryt von
Bruno Schulz waren Vorlage von Die Tote Klasse. Hierzu schreibt Kantor: ‚Es wäre jene
unvernünftige Pedanterie eines Bücherwurmes, zu versuchen, die fehlenden Fragmente
aufzuspüren, um dadurch zum lückenlosen ‚Wissen’ über den Gegenstand der Handlung
dieses Stückes zu gelangen. Dies wäre der einfachste Weg, jene so wichtige Sphäre der
EMPFINDUNG zu zerstören! Deshalb ist es nicht empfehlenswert, den Inhalt des Stückes
‚Tumor Hrinowitsch’ von S. I. Witkiewicz kennenzulernen.’ Kantor, in: Reisender – Seine
Texte und Manifeste. Institut für moderne Kunst Nürnberg (Hg.), Nürnberg 1988, S. 260.
151
beruhenden Sequenzen entfaltet die Bühne so ein Spiel der Zeichen, in dessen
Verlauf Referenzen aufgebaut werden, um im nächsten Moment wieder zerstört
zu werden. Dieses dekonstruktive Bild beschreibt aber nur einen Teilaspekt der
Inszenierung. Die Raum- und Zeitkonstitution, die zusätzlich durch das Prinzip
der Wiederholung und die dadurch konstituierte Zeitstruktur der Zyklus, wird
durch das Moment der Progression und Sukzession in Unendlichkeit überführt
und abermals unterbrochen. Sie wird vor allem durch die weiteren Elemente
getragen: Bühnenfiguren, die ebenso in keinem er-sichtlichen Zusammenhang
mit den eigentlichen dramatis personae stehen. Oft folgen ihre Bewegungen
rhythmischen Mustern oder einer alle Figuren einbeziehenden Choreographie in
einer Art Prozession oder Reigen. Blickkontakte mit anderen Figuren finden
äußerst selten statt, bleiben auch nur auf kurze Momente beschränkt, der Blick
der Figuren richtet sich dabei selten auf einen festen Fokus. So löst sich die
Darstellung der Figuren als selbständige Subjekte auf. Auf der Ebene der
akustischen, gestischen und mimischen Zeichen vollzieht sich schließlich ein
Bruch, den man durchaus als entseelten Körper betrachten könnte.
Die Tote Klasse wurde vom Großteil der Kantor-Forschung im Hinblick auf
seine Position innerhalb des polnischen wie auch des europäischen Theaters als
Schlüsselwerk für eine neue Schaffensphase im gesamten Oeuvre von Kantor
aufgefasst: den Beginn des ‚Theater des Todes’. 244 Setzte sich Kantor in den
früheren Phasen mit dem Formenrepertoire der nationalen sowie internationalen
künstlerischen Theaterlandschaft auseinander, löste er sich mit dem Theater des
Todes davon und schaffte die für ihn typische Bühnenform. Die Reibung sowohl
an regionalen bzw. nationalen Traditionen als auch am internationalen bzw.
avantgardistischen Kulturbetrieb bleibt jedoch in der späteren künstlerischen
Laufbahn von Kantor nachhaltig.
244 vgl. Denis Bablet: Le Théâtre de la mort, Lausanne 1977; Geroges Banu (Hg.):
kantor, l’artiste à la fin du XXe siècle, Paris 1990; Günther Ahrends/Herta Schmid:
Geburtstag und Tod: Tadeusz Kantors ‘Aujourd’hui e’est mon anniversaire, in: Forum
Modernes Theater, 2 (1991), S. 181-189; Michal Kobialka (Ed.): A Journey Through
Other Spaces. Essays and Manifestos, 1944-1990. Tadeusz Kantor, University of
California Press 1993; Krzysztof Plesniarowicz: The dead memory machine. Tadeusz
Kantor's Theatre of death, Krakow 1994; Ausst.Kat.: Tadeusz Kantor: 1915 – 1990.
Leben im Werk (vom 19. September bis 1. Dezember 1996) Kunsthalle Nürnberg.
Nürnberg 1996; Peter W. Marx: Theater und kulturelle Erinnerung. Kultursemiotische
Untersuchungen zu George Tabori, Tadeusz Kantor und Rina Yerushalmi, Tübingen
2003.
152
In Polen war die Auseinandersetzung mit der Tradition zu Beginn des 20.
Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung einer neuen
Theaterpraxis. Der zentrale Bezugspunkt, an dem thematisch ästhetisch bestimmende Muster gebildet wurden, war die Romantik, deren Ausdrucksform
bereits über Jahrzehnten das Fundament der polnischen Kulturleben war. Einer
der zentralen Träger dieser Epoche ist Stanislaw Wyspianski (1869-1907), dessen
‚Monumentales Theater’ die Fortsetzung der Idee und neue Theaterform der
polnischen Romantik bildete. Der Dramenautor, Regisseur, Bühnenbildner,
Maler und Innenarchitekt sah in seinem Theater das Nationaltheater
Sanktuarium der Nation verwirklicht, das jenseits der Imitation der Wirklichkeit
mit patriotisierenden und gesellschaftlich-moralisierenden Vorsätzen auf einem
repräsentativen Repertoire der polnischen und ausländischen Klassik aufgebaut
werden sollte.245 Kennzeichnend für die den Kanon bildenden Texte dieser Zeit
war daher die Bezugnahme auf Theatralität außerhalb des Theaters. Insbesondere diejenige der römisch-katholischen Liturgie und der mit ihr verbundenen ikonographischen Muster spielte in diesem Zusammenhang eine
zentrale Rolle. Als prägend für die szenische Praxis war die Tradition der Szopka,
einer Form des Krippenspiels mit Puppen.246 Auf inhaltlicher wie auch formaler
Ebene erwies sich die Bezugname auf die Kunstgeschöpfe als stilbildend. Auch
die strenge Raumaufteilung der Szopka lässt sich als Muster immer wieder
feststellen.
Kantor sah seine Arbeit durchaus dieser Traditionslinie verpflichtet. So hat er
beispielsweise Texte von Wyspiansiki für die Bühne bearbeitet und inszeniert.
Hinzu kam im Jahre 1943 das Schauspiel Balladyna des Theatr Podziemny nach
245 Bruno Schulz spricht in dieser Hinsicht von einer ‚degradieren Wirklichkeit’. Bruno
Schulz: Die Zimtläden und andere Erzählungen, Berlin 1970, S. 44; vgl. dazu auch:
Dietrich Scholze: Zwischen Vergnügen und Schock. Polnische Dramatik im 20. Jahrhundert, Berlin 1989; Hans-Peter Bayerdörfer, Malgorzata Leyko, Malgorzata Sugiera,
Max Niemeyer (Hg.): Polnisch-deutsche Theaterbeziehungen seit dem Zweiten
Weltkrieg, Tübingen 1998.
246 Die Tradition des Krippenbauens wurde im 13. Jahrhundert von den Franziskanern
nach Polen gebracht. Seit Ende des 18. Jahrhunderts entstand dann eine regional einzigartige Krippenform, die Szopka, was soviel bedeutet wie Schuppen oder Hütte, in der
bewegliche Figuren in einem tragbaren dreidimensionalen Bauwerk untergebracht waren.
Bis heute ist diese ‚Wanderkrippe’ daher meist ein transportables Gebäude, das die
Möglichkeit bietet, weihnachtliche Puppenspiele aufzuführen. Den architektonischen
Kunstwerken dienen historische Gebäude, besonders Kirchen, als Vorbild. Meist sind es
Figuren aus Sagen und Legenden, die mit der Heilige Familie assoziiert werden. Viele
Arbeiten beeindrucken aber auch durch bewegliche Details.
153
der gleichnamigen Tragödie des Romantikers Juliusz Slowacki. Sein Theater
steht dennoch im Spannungsfeld zwischen Tradition und Neugestaltung. Kantor
grenzte sich vor allem von der Nationaltheateridee, wie sie sich etwa bei S. I.
Witkiewicz findet, ab. Anstelle von Mystik und patriotischer Romantik schlug er
Ironie und Humor vor, die Symbolhaftigkeit des Theaters war für ihn mehr von
der Bedeutung. Diese enge Verhältnis von Kantor zum vaterländischen Theater
bzw. seine eigene Dynamik innerhalb der Entwicklung des polnischen Theaters
erklärt sich schließlich im Hinblick auf die intensive Auseinandersetzung mit der
ausländischen Bühne. Seine programmatischen Schriften weisen ihn gerade als
Vertreter Historischer Avantgardebewegungen aus. In einem Manuskript erinnert sich Kantor an seine erste Begegnung mit der Avantgardebewegung:
‚Der Direktor des Kleinen Ephemerischen Theaters [So nennt sich
Kantor selbst] selbst ist von inneren Widersprüchen zerrissen.
Einmal kaufte er in einem Antiquariat ein kleines Gelbes
Bauhausbuch […] Walter Gropius, László Moholy-Nagy, Oskar
Schlemmer, Paul Klee und so viele andere. Mit Mühe und
Beharrlichkeit übersetzte er ihre seltsamen und verzaubernden
Texte … metaphysisches Abstraktum, mechanische Exzentrizität,
triadisches Ballett, Mensch und Maschine, Zirkus, Dreiecke,
Räder, Zylinder, Kuben, Klänge, Farben, Formen – simultan,
synoptisch, synakustisch, in der Ekstase der Freude, der
Konstruktion, einer gegenstandslosen, reinen, befreiten Welt, der
Abstraktion …‚247
Kantor schätzte darin die Experimente und Leistungen der Historischen
Avantgardisten
und
wendete
sich
seiner
Werkautonomie
zu.
Seine
Bühnenarbeiten lassen sich nicht von den sie begleitenden Materialien und
Formen ableiten und entstehen zu einem gewissen Zeitpunkt wie von selbst,
unabhängig von zuvor festgelegten Äußerungen und Programmen. 248 Seine
Bühne nannte Kantor deshalb anfangs das ‚Autonome Theater’, das ‚kein Apparat
zur Reproduktion oder zur sogenannten Bühneninterpretation der Literatur ist,
247 Kantor, zit. nach: Jan Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater, in: Harald Xander
(Hg.): Tadeusz Kantors Theater, Tübingen 1995, S. 7.
248 Kantors entscheidender Schritt zur Bühnenarbeit ist die Gründung des Theatr
Cricot2, dessen Name etwa Zirkus bedeutet und gleichzeitig als programmatischer
Anspruch verstanden werden kann. Ein äußerliches Zeichen ist auch der Umstand, dass
Cricot nicht in konventionellen Theatergebäuden veranstaltete, sondern Orte, wie Keller
oder Cafés, wählte. Die Inszenierung von ‚Rückkehr des Odysseus’ (1944) im
Unabhängigen Untergrundtheater in Krakau gilt als eine der wichtigsten Inszenierungen
Kantors vor dem Theater des Todes.
154
sondern das seine eigene unabhängige Wirklichkeit besitzt’249. Ein Axiom, das
seine gesamte Theaterkonzeption mit den Spannungsbegriffen wie Gegenwart
und Vergangen-heit, Wirklichkeit und Fiktion, Realität und Illusion stets
begleiten wird.
Körper zwischen Wirklichkeit und Illusion
Mit dem Begriff ‚Illusion’ definierte Kantor anfangs noch das Kunstwerk im
traditionellen Sinne, deren Gegensatz die ‚Realität’ bildet, so wie das ‚künstliche’
Objekt das Gegenstück der ‚fertige’ Gegenstand weist. Die Bühnenillusion war für
ihn die gesamte Maschinerie und der Funktionsmechanismus der herkömmlichen Theaterbühne mit ihren Dekorationen und Effekten, die darauf abzielen,
beim Zuschauer eine Täuschung hervorzurufen, den Anschein einer bestimmten
Wirklichkeit zu schaffen und Leben vorzutäuschen. Die Bühnenrealität sei hingegen der Komplex jener fertigen Gegenstände, die aus der Wirklichkeit stammen
und vom Künstler nicht angefertigt, sondern gefunden oder ausgewählt werden
sollten. So nannte Kantor Realität bzw. fertige Gegenstände ‚ready-made’,
abgeleitet von Marcel Duchamps Idee des ready made. Sie entstammen dem
Bereich der ‚Realität Niedrigsten Ranges’, müssen in den Kontext der jeweiligen
Aufführung versetzt und dort in einem neuen Gesicht gezeigt werden. Die alten
Schulbänke, die fast schon zu Staub zerfallenen Bücher, das Fenster mit alten
Rahmen oder ausgediente Fahrräder aus Die Tote Klasse sind dabei sichtbares
Beispiel. Führte Kantor aber in seiner ersten Schaffensphase den ‚Kampf mit der
Illusion’ und strebte nach der ‚Annexion der Realität’, lehnte er jedoch in der
folgenden Phase die Illusion nicht völlig ab und entkräftet seinen Standpunkt zur
Illusion mit der Begründung:
‚die Illusion besitzt jenseits der bekannten Bedeutung einen
metaphysischen Aspekt. Die Funktion, die ihr lange Zeit durch
Unterwürfigkeit gegenüber der Natur und der Realität des
Lebens zugeschrieben war, ist keineswegs ohne Essenz.’250
Die metaphysische, bislang unbeachtete Seite der Illusion sei die
Wiederholung bzw.
249 Kantor, zit. nach: Klossowicz 1995, S. 20.
250 Tadeusz Kantor: Die Illusion und die Wiederholung, in: Tadeuzs Kantor. Theater des
Todes. Die tote Klasse. Wielopole- Wielopole. Hrg. von Institut für moderne Kunst
Nürnberg. Fotographiert von Günther K. Kühnel. Zirndorf 1983, S. 122.
155
‚ein Ritual […] so scheint es, von der anderen Seite des Lebens, in
einer Verbindung von Einverständnis mit dem Tod. Nennen wir
es klar und offen: Dieses obskure Verfahren, die Wiederholung, ist
ein Protest und eine Herausforderung. Man könnte jetzt leicht
hinzufügen, dass es der Kern der Kunst ist!’251.
Die Wiederholung, welche das Schauspiel stützt und ihm die Aufgabe zuweist,
die Selbstverständlichkeit von Vorgängen aufzulösen, entziehe somit ‚der Realität
ihre vitale Funktion, ihren unumgänglichen Sinn, die Kraft der Aktivität des
praktischen Lebens’252. Ohne das, was als Wirklichkeit bzw. als Illusion zu gelten
hat, bestimmen zu wollen, scheint nun für Kantor deshalb weniger die Unterscheidbarkeit als vielmehr die Verbindlichkeit verschiedener Wirklichkeitsbereiche wichtiger. Das entscheidende Moment im Theater liege nicht darin, dass
und wie die Welt auf die Bühne gebracht wird, sondern in dem Versuch, die Welt
als gültige Dimension der Wirklichkeit erfahrbar zu machen und damit eine
Neubestimmung derselben vorzunehmen. Stellte er sich einst die Frage nach dem
Status der Illusion, versucht Kantor nun, deren metaphysische Dimension auf der
Bühne darzustellen. In seinem Theater wird ein Spiel zwischen Illusion und
Realität eingeleitet.
Dieses ‚Verschwimmen der Grenzen’ ist augenscheinlich in Kantors Verwendung von Requisiten. In Die Tote Klasse trägt z. B. eine Figur ein altes
Fenster mit sich, durch dessen trübe Scheibe sie das Bühnengeschehen beobachtet. [Abb. 34] Eine andere Gestalt ist indes fest mit einer Art Kinderfahrrad
verbunden, dessen Vorderrad sie mit den Händen antreibt. Solche Verbindung
zwischen Requisit und Schauspieler wird für weite Teile der Aufführung nicht
aufgelöst. Im Personenverzeichnis des Stückes erscheinen die Figuren folgerichtig nicht mehr mit individuellen Namen, sondern werden durch das ihnen
zugeordnete Requisit als ‚die Frau mit dem Fenster’ und ‚der Alte mit dem
Fahrrad’ bezeichnet. Kantor charakterisiert diese Requisiten ganz ihrer Funktion
entsprechend als ‚Bio-Objekt’. Es handelt sich um die unmittelbare, besonders
enge Kontextualisierung eines Schauspielers mit einem Objekt. Ein vom
Schauspieler verlassenes ‚Bio-Objekt’ wird dann zum ‚Wrack’.
‚Die Bio-Objekte waren keine Requisiten, derer sich die
Schauspieler bedienen. Sie waren keine ‚Dekoration’, in der man
‚spielt’. Sie bildeten mit den Schauspielern eine unteilbare Einheit.
251 ebd., S. 123.
252 Tadeusz Kantor: Die Illusion und die Wiederholung, S. 124.
156
Sie gaben ihr eigenes, autonomes ‚Leben’ von sich, indem sie sich
nicht auf die Fiktion (den Inhalt) des Dramas bezogen.’253
Ein solcher zwischen Realität und Illusion balancierender Gegenstand, der in
keiner direkten Relation zum Dramentext steht, verändert von nun an die
konventionelle Schauspielästhetik von Kantor.
Der Metakörper
Kantor definiert folglich die Aufgabe des Schauspielers als einen Komplex von
Tätigkeiten, die vom ‚Dar-Stellen’ einer Rolle weit entfernt und so einer antinaturalistischen Ästhetik zugeordnet sind. So wie er dem Theater die Funktion
eines Modells zuwies, an dem eine autonome und daher universelle Problematik
zutage tritt, begreift Kantor den Schauspieler nicht als soziale Rolle oder
bestimmte Funktionseinheit einer Theateraufführung, sondern als einen Stellvertreter der menschlichen Gattung. Es ginge der Schauspielkunst nicht um die
Theorie vom Abbild eines in seiner Epoche verfangenen Menschen, ebenso wenig
um eine Widerspiegelung. Die Figuren sollen anstatt dessen repräsentiert
werden, um die für alle Menschen gültigen, kulturellen Universalien auf die
Bühne zu bringen und damit ein Menschenbild freizulegen, das vom tragischen
Bewusstsein des Todes geprägt wird, jedoch im Laufe des Jahrhunderte verloren
ging. Nicht umsonst bezeichnet Kantor deshalb die Schauspielkunst als
‚metaphysischen Schock’, der beim Zuschauer dadurch hervorgerufen wird, dass
er das tragisch zirkushafte Bild des Menschen erblickt, als ob er sich selbst
erblicken würde.
‚Es gilt, die Ur-Kraft dieses Augenblicks, in dem zum ersten Mal
ein Mensch (der Schauspieler) einem anderen Menschen (dem
Zuschauer) gegenübertrat – ihm täuschend ähnlich, und doch
ungreifbar fremd, jenseits, hinter einer Barriere, die nicht zu
überschreiten ist – wiederzufinden.’254
Die ‚Urkraft’, die Kantor hier als Ursprung der Bühnenkunst beschreibt, setzt
sich aus einem Widerstreit zusammen, sich selbst – in Gestalt des Schauspielers
– zu erkennen und sich als Fremder – in Gestalt des Zuschauers – gegenüber-
253 Kantor, zit. nach: Harald Xander: Tadeusz Kantors Theater, S. XXXI.
254 Kantor: Theater des Todes, in: Ein Reisender 1988, S. 254.
157
zutreten. In diesem Übergang von Fremdheit und Wiedererkennen liegt die
‚metaphysische Erschütterung’, auf die seine Schauspielkunst zielt.
Um jene utopische Situation zu schaffen, ist also die Fremdheit eine unverzichtbare Notwendigkeit. Nur durch die Grenze und die Fremdheit gelingt die
ästhetische Überwindung. Dieses ‚Metabild’ ist jedoch zu abstrakt bzw.
problematisch. Es will auf der Bühne eine Figur mit universeller Botschaft, die
aber nichts mitteilt. Kantor spricht sogar von einem lebendigen Schauspieler, in
dem ein Toter wohnt.
255
Das Element, das am unmittelbarsten mit der
metaphysischen Seite zusammenhängt, ist weder ein menschlicher Darsteller
noch ein symbolischer Gegenstand. Es ist für Kantor die Puppe.
Bereits seine frühe Schaffensphase weist auf Kantors intensive Beschäftigung
mit den Puppen hin. Sein erster bühnenbilderischer Versuch Smierc Tintagilesa
(Der Tod des Tintagiles) aus dem Jahre 1938 war eine Marionettenaufführung
nach Maeterlincks La mort de Tintagiles, die Kunstfiguren hatten in The WaterHen (1967) und The Shoemakers (1970) eine besonders signifikante Rolle: ‚They
were like a nonmaterial extension, a kind of additional organ for the actor, who
was their ‚master’.256 Jahre später beschrieb Kantor indes im Hinblick auf die
Inszenierung Balladyna (Theater Bagatela, 1974), deren Handlungsgeschehen
die Puppengestalten begleiteten, die Rolle der Puppen folgendermaßen:
‚Mannequins, willenlose Kreaturen, sind sehr gute Ausdrucksmittel für die unerbittliche Macht des Schicksals, das Fatum, das
menschliche Lebensgeschicke vorherbestimmt. […] Lebende sind
von Mannequins umgeben. Die Tragödie der herrlichen und verbrecherischen Balladyna wurde von den Mannequins vorentschieden und vorgespielt. Meine Aufgabe bestand darin, diese ‚UrSzenen’ des Schicksals aufzudecken. Schauspieler spielen jene
‚Lebenden’, indem sie die Gesten der Puppen exakt wiederholen,
und sie spielen ihr faszinierendes Spiel bei vollem Bewusstsein um
diese fatalistische Philosophie.’257
Eine Puppe, bekanntlich kein Kunstwerk, sondern ein von einem Handwerker
gefertigte Imitation einer Person, ist nach Kantor das Inbild von Nachahmung
und Unvollständigkeit. Aufgrund dieser ‚Trödelhaftigkeit’ zähle sie zu den
255 vgl. Kantor: Ein Reisender.
256 Kantor: The Theatre of Death, S. 111.
257 zit. nach: Ausst.Kat.: DAS THEATER DES TADEUSZ KANTOR. Theatermuseum
der Landeshauptstadt Düsseldorf (12. Mai bis 8. Juli 2001).
158
Gegenständen aus dem Bereich der ‚reality of the lowest order’, ‚empty object’, ja
‚dummy’258. Die humanoiden Geschöpfe existieren ‚immer an den Peripherien der
sanktionierten Kultur. Die Folge: Der ‚Zutritt’ war ihnen damit verwehrt. Sie
hatten ihren Platz in den Jahrmarktsbuden, in den suspekten Gauklerkabinetten,
weit entfernt von den heiligen Tempeln der Kunst’259.
Nach Kantor gehört dagegen diese Puppe im Theater gerade aufgrund dieser
besonderen ‚Natur’ sowohl zum Bereich der ‚Realität’ als auch zum Bereich der
‚Illusion’. Sie ist zwar ein Gegenstand, sieht aber wie ein Schauspieler aus und
ruft beim Zuschauer völlig andere Assoziationen hervor als ein Bühnenrequisit.
Unter den Bühnenelementen nähme die Puppe folglich eine Grenzposition
zwischen Gegenstand und Schauspieler ein. Durch ihre visuelle Gestalt passe sie
als Ding in den Rahmen der ‚Realität’, als Äquivalent einer Bühnenfigur gehöre
sie zur Welt der Illusion. Die Puppengestalten auf der Bühne vollziehen damit ein
endloses Wechselspiel von Realität und Illusion, Wirklichkeit und Fiktion.
‚In meinem Theater muss die Puppe zu einem Modell werden.
Dadurch kann die erschütternde Empfindung des Todes und die
Situation der Toten übermittelt werden. Die Puppe als Modell für
den lebendigen Schauspieler.’260
Eine Puppe wird so auf der Kantorschen Bühne zu einem der fundamentalen,
aktiven Faktoren des Schauspiels und innerhalb der Aufführung auf der gleichen
Ebene wie der ‚lebendige’ Darsteller behandelt. Der Begriff ‚Schauspieler’ gewinnt
in Kantors Theater dadurch eine doppelte Bedeutung: Er schließt neben dem
‚lebendigen’ Darsteller auch andere aktive Elemente der Aufführung mit ein.
Dabei lassen sich Kantors Puppen nach zwei Kategorien unterscheiden: Die
einen werden als die eigenständige Rollenfigur nachgebildet und beim Auftritt als
vollkommen gleichwertiger Bedeutungsträger eingesetzt. Zusammen mit dem
menschlichen Schauspieler sind sie in das Geschehen direkt einbezogen. Wenn in
Die Tote Klasse ein Leichenhaufen aus Menschen- und Puppenkörpern aufgeschichtet wird, verwischt die Grenze zwischen beiden schließlich zur Ununterscheidbarkeit. Der Körper der Puppe und des Schauspielers beansprucht in Bezug
auf die Rollenfigur eine gleichberechtigte Bedeutung. Die Ähnlichkeit der
äußeren Erscheinung von Schauspieler und Puppen signalisiert, dass beide auf
258 vgl. Kantor: The Theatre of Death, S. 111.
259 Kantor, zit. nach: Klossowicz 1995, S. 66.
260 Kantor 1988, S. 253.
159
dieselbe Rollenfigur zu beziehen sind. Der Rezipient, der Zuschauer also, wird
daher vor die Aufgabe gestellt, eine Identität der Rollenfigur zu konstruieren, in
der die Kontraste zwischen den beiden als aufgehoben gedacht werden können.
Die Konfrontation des Schauspielers mit Puppen erscheint deshalb als ein
Moment der Dekonstruktion und Neukonstruktion des Zeichenträgers zugleich.
Die Verdichtung, Desemantisierung und Resemantisierung der verschiedenen
Kontexte kann somit nur zustande kommen, wenn der Zuschauer die verwendeten Zeichenensembles als Signale für diese Kontexte erkennt und einsetzt.
Die anderen bilden in der ‚Toten Klasse’ kleine Kinder im Schulalter ab. [Abb.
35] In diesem Fall sind sie ‚Ergänzungen’ oder Doubles der menschlichen
Akteure: Ein Symbol für die Kindheit der greisen Menschen, die auf die
Schulbank zurückkehren, um noch einmal ihre Vergangenheit erleben zu können.
Diese Puppen werden während der Aufführung von den Schauspielern getragen
oder neben ihnen auf den Bänken gesetzt. Solche am Körper befestigten Puppen
gewinnen im Verlauf der Aufführung enge Beziehung zum Träger bzw. zum
Schauspieler, mit dem sie eine ‚untrennbare’ Einheit nicht zuletzt dadurch bilden,
dass sie die Bewegungsmöglichkeiten ihrer Träger einschränken bzw. sie auf
bestimmte Bewegungen festlegen und determinieren. Dabei entfremden die
‚Mannequins’ nicht bloß die Akteure durch Verdoppelung von dem ‚realen’,
anatomischen Körper, gleichzeitig betont diese Verdoppelung die ‚reale’
Konstruktion: Die Bewegungshaltung des Schauspielers wird durch die enge und
bedingungshafte Vernetzung mit ihm konkret und genau, das Geschehen auf der
Bühne wird sichtbar, damit erfahrbar. Hierin unterscheiden sich gerade Kantors
Puppen von E. G. Craigs Übermarionette: Kantor schließt sich zwar Craigs
Übermarionetten-Gedanken an, ebenfalls auf dem Theater durch Puppengestalt
ein Symbol ewiger ‚Wesenheiten’ wie Kraft, dem Tod ähnliche Ruhe und
Harmonie darzustellen, variiert aber dieses Konzept in einem entscheidenden
Punkt: Die Puppe soll nicht nur als Gegenmodell zum menschlichen
Schauspieler, sondern als ein Double bzw. Doppelgänger des Schauspielers auf
die Bühne treten. Während für Craig und sein Konzept der Übermarionette
wichtig ist, dass die Puppe ein im Gegensatz zum Schauspieler perfekt
manipulierbares Kompositionselement der Inszenierung darstellt, lässt sich für
Kantors Theater das Spannungsverhältnis, das sich aus der Gegenüberstellung
vom belebten Menschenkörper und unbelebten Puppenkörper ergibt, als
wesentlich bestimmen. Die Grenze zwischen autonom handelndem Subjekt und
160
unbelebtem Objekt soll dadurch nur noch schwer zu bestimmen sein. Kantor
schreibt:
‚I do not share the belief that the MANNEQUIN (or WAX
FIGURE) could replace the LIVE ACTOR, as Kleist and Craig
wanted. This would be too simple and naive. I am trying to
delineate the motives and intent of this unusual creature which
has suddenly appeared in my thoughts and ideas. Its appearance
complies with my ever-deepening conviction that it is possible to
express life n art only through the absence of life, through an
appeal to DEATH, through APPEARANCES, through EMPTINESS
and the lack of a MESSAGE. The MANNEQUIN in my theatre
must become a MODEL through which pass a strong sense of
DEATH and the conditions of the DEAD. A model for the live
ACTOR.’261
Im Hinblick auf den Akteur beschreibt Kantor das Verhältnis zwischen dem
menschlichen Schauspieler und der Puppe als das einer ‚Komplizenschaft’ in dem
Bemühen, jene Fremdheit herzustellen, die er als Zustand des Todes benennt.
Das heißt, obwohl die eine als Ideal des anderen benannt wird, ist es fürs Theater
in Kantors Sinne konstitutiv, dass die Spannung zwischen beiden nicht aufgehoben wird, die Verfehlung des Ideals ist kein Mangel an Kunstfertigkeit,
sondern Ausweis ästhetischer Strategie. Ein Grund, weshalb die Puppen in
Kantors Theater keine Marionetten, Spielfiguren oder Schneiderpuppen, sondern
‚Wachsfiguren’, eine möglichst genaue Imitation des lebenden Menschen sind.
Ihre Funktion besteht darin, dass sie die lebendigen Mitwirkenden des Schauspiels buchstäblich imitieren. Puppenfiguren sind damit die ‚dritte Figur’, das
heißt, einen Sprecher, der zwischen Protagonisten und Antagonisten geschaltet
ist und eine freie, dynamische Dramaturgie erlaubt. Dieser dritte Schauspieler
übernimmt nicht eine bestimmte Rolle, sondern schaltet sich in Zweierbeziehungen auf störende Art ein, subvertiert und dekonstruiert die nur scheinbar harmonische, weil kontrollierte Symmetrie der anderen beiden. Dabei ist es
wichtig, dass dieser Dritte selbst niemals fixiert wird, keine feste Gestalt annimmt. Puppen sind zwar auf ihrer Rolle als Spielleiter festgelegt, nehmen aber
selbst nicht oder nur mittelbar am Geschehen teil. Sie agieren sozusagen auf einer
theatralischen Metaebene, thematisieren und kommentieren die Kategorie des
Dritten, d. h. sich selbst. Kantors Satz lässt sich damit verstehen:
261 Kantor: The Theatre of Death, S. 112.
161
‚Das Theater der Automaten geht weiter. Alle wiederholen ihre
erstarrten Gesten, die sie nie beenden werden [...] in ihnen für
immer gefangen.’262
Es wird zusammengefasst:
Aufgrund der Stummheit und der Materialität wurden die Puppen zum
bevorzugten Darstellungsobjekt des Bread and Puppet Theatre und Kantors
‚Theater des Todes’. Während die menschenähnlichen Kunstfiguren bei Bread
and Puppet Theatre für ein nahezu völlig auf Sprache verzichtendes Bildertheater
eingesetzt wurden, erstrebten Kantors ‚Mannequins’ ein mit viel Lebendigkeit
und Impuls agierendes Theater, dessen Dynamik aus dem ständigen Widerstreit
mit den menschlichen Schauspieler entwickelt wurde. Die beiden Theater setzten
dabei mittels der lautlosen Bildkraft der Puppe eindringliche, freilich sperrig
verschlüsselte Parabeln in Gestalt symbolisch-abstrakter Bildtableaus in Szene,
indem die Puppenfiguren in ihrem Doppelstatus - in der Imitation von jemandem
(Wirklichkeit), der nicht mehr existiert (Illusion) - einerseits als lebendige
Doppelgänger der Schauspieler in Erscheinung traten und andererseits ihre
Identität der jeweiligen Bühnenfiguren aussetzten und so zu Repräsentanten
einer bereits vergangenen Identität wurden. Puppen haben hier die Funktion
einer identitätsstiftenden Maske übernommen. Das Theater der künstlichen
Menschen stellte somit das komplementäre Modell Schauspieltheater dar. Es
ging weniger um eine detailliert explizierte Darstellung zu konkreten Gegenständen, vielmehr um eine umfassende ‚Sensibilisierung’ in Anbetracht universeller, ja grundsätzlicher Fragen. Die Puppen fungieren als Vermittler der
beiden Antinomien und befinden sich zwischen der ‚Welt des Lebens’ und der
‚Welt des Todes’. Es ist weder physischer Zustand noch symbolisches Zeichen,
sondern eine Schwelle, die gerade die Grenze markiert, von der aus das Theater
entstehen soll. Dort erlebt man das Theater des Physischen und Metaphysischen,
des Realen und Irrealen, jener und dieser Welt. Ein Spiel, an dessen Podium das
Puppenmännchen als Dirigent steht.
262 Kantor, in: Tadeusz Kantor. Theater des Todes, Institut für moderne Kunst Nürnberg
(Hg.) 1983, S. 120.
162
5. Das Theater der Effigies
- Robert Wilsons Bildertheater263
‘It was a gigantic puppet with two people literally built into in, a
woman standing on a platform on top for the face and a man
below for the legs and for stability. As the puppet strode along, it
swang its arms. Stage hands actually did the movements, using
traveller lines that ran across a complex set of riggings. People on
one side of the stage pulled the puppet; on the other side, they let
it go, keeping it straight up at the same time. The size and movements made the process enormously tricky.’264
Diese einige Meter hohe Figur Abraham Lincolns aus The CIVIL warS (act
IV) ist eine der typischen Bühnenfiguren, welche das Wilsonsche Theater
bevölkern: In Form der phantastischen Figuren, etwa wie riesengroße Statuen,
Zwerge,
Märchen-
Maschinenmännchen,
und
die
Puppenfiguren,
von
Wilson
oder
auf
auch
spezifische
in
Form
Weise
in
von
der
Guckkastenbühne des traditionellen theatralen Rahmens präsentiert werden. Sie
besitzen die größte Bühnenpräsenz im Theater von Robert Wilson. Neben der
Langsamkeit und Vieldeutigkeit der Bühnenbilder, welche dem Theater den
Anstrich von Archaik und traumanaloger Verschlüsselung geben, verleihen die
Androiden in ihrer augenfälligen Kombi-nation mit dem ungewohnten Tempo
der Bewegungschoreographie den Szenen-bildern nachhaltige Eindringlichkeit -
263
‚Bildertheater’ ist hier nicht als feststehender Begriff verwendet, sondern lediglich
eine vorläufige Benennung für das gesamte Oeuvre von Robert Wilson. Aus dem Grund,
dass sich das Bild bzw. die Imagination einen Spielraum schafft oder einen Bereich in
einem größeren Gefüge absteckt, dessen Ergebnis entweder absurdes Theater oder surrealistisch beeinflusstes Theater sein kann, versuchte Wilson, ausgehend von der
traditionellen Dramaturgie eine Möglichkeit zu finden oder zu entwickeln, die es
gestatten sollte, den Zuschauer in eine Welt zu entführen, ohne der Basis – dem Theatergeschehen, der Handlung, der Bewegung und somit der Gegenwart – den Boden zu
entziehen oder diese nach erfolgter Transzendenz ins Imaginative obsolet erscheinen zu
lassen. Diese alternativen Bildwelten wurden in der Kritik oftmals mit Träumen
verglichen. Als eines von vielen Beispielen ist unter anderem ein Wilson gewidmeter
arte-Themenabend (14.10.1993) genannt, der Robert Wilson ‚Architekt der Träume’
überschrieben war.
264 Jeff Muscovin, ehemaliger Artdirektor von Wilson, zu dem ‚Lincoln colossus’ aus
The CIVIL warS, zit. nach: Arthur Holmberg: The theatre of Robert Wilson, Cambridge
(CUP) 1996, S. 210.
163
die Bühne stellt so ein überdimensionales Marionettentheater dar, in dem sich
Bilder und Texte nahezu gemeinsam, doch unverbunden aufhalten.
Das folgende Kapitel widmet sich den Strategien Robert Wilsons beim Einsatz
von Puppenfiguren. Es zeigt sich dabei, dass hier ein weiteres Mal der artifizielle
Körper als Medium dient, um alternative Zeichenkonzeptionen auf der Bühne
einzuführen, die sich traditionell eingeübten linearen Schauspielmustern entziehen.
5. 1. Stumme Beredsamkeit: The Deafman Glance
(1970)
Körper als Bedeutungsträger oder ‚the body doesn’t lie’265
Betrachtet man die früheren Bühnenwerke des in Texas geborenen Bühnenkünstlers Robert Wilson im Überblick, so fällt bereits die artifizielle Gestaltung
der Bühnenfiguren auf, deren Körper und Bewegungen zu extremer Künstlichkeit
stilisiert sind. Zusammen mit den weitgehend sprachlosen, visuell kunsthaft
bestimmten Bühnenbildern und betont langsamen Bühnenabläufen sind die
automatenhaften, puppenartigen Figuren charakteristische Merkmale dieser
frühen Schaffensperiode.266 Die Aufführungen, die wegen der Konzentration auf
eine rein visuelle Wirkung oft als ‚Theatre of image’ bezeichnet werden, verwendeten künstliche Objekte- und Figurenkonstellationen. Zu seiner opera 267
The King of Spain aus dem Jahre 1969 erinnerte der Regisseur:
‚Es war ein victorianisches Drama, in dem riesige, neun Meter
große katholische Könige durch den Saal gehen. Es gab ein
265 Wilson, zit. nach: Bernd Graff: Das Geheimnis der Oberfläche. Der Raum der Postmoderne und die Bühnenkunst Robert Wilsons, Tübingen 1994, S. 238.
266 Wilsons frühe Schaffensphase wurde von Stefan Brecht in zwei Perioden geteilt.
Nach dem Autor von dem ersten umfangreichen Lektüre von Wilson endet die erste
Phase, in der Wilson ausschließlich mit Amatuere (disciples) arbeitete, mit dem Stück
‚The Life and Times of Joseph Stalin’ in 1973. vgl. Stefan Brecht: The Theatre of
Visions: Robert Wilson. The original theatre of the City of New York. From the mid-60s
to the mid-70s, Frankfurt am Main 1978.
267 Die ‚performance pieces’ aus der frühen Schaffensperiode, die zunächst in kleinen
Lofts und Studios aufgeführten Inszenierungen zur Unterscheidung von Wilsons späteren
Produktionen auf großen Bühnen, bezeichnet der Regisseur selbst als ‚Operas’: ‚I call my
work an opera because everything in it happens at once, the way it does in operas and the
way it does in life.’ vgl. Brecht 1978, S. 30/ Wilson, zit nach: Graff 1994, S. 209.
164
kompliziertes System von Flaschenzügen, und nicht weniger als
zwanzig Mann zogen diesen riesigen Apparat über die Bühne
[…]’268
In dem im selben Jahr uraufgeführten Stück The Life and Times of Sigmund
Freud saß indes am Anfang der Aufführung eine junge schwarze Frau ganz still
auf einem Stuhl mit einem schwarzen Vogel, der sich auf ihrer Hand niedergelassen hatte, während sich eine künstliche Schildkröte quer über die Bühne
bewegte. Mitten auf der Bühne traten auch in The Life and Times of Josef Stalin
im Jahr 1973 mehrere Mischwesen aus Mensch und Puppe in Form von
Zentauren, deren Straussleib in ein menschliches Bein übergehen. [Abb. 36]
Nannte Wilson seine frühe ‚operas’ vorerst ‚structured silence’, bezeichnete er
zugleich eine alternative Bühnenperspektive, die sich von der klassischen, verbalen Bühnenkultur lösen sollte. Verabschiedet von der traditionellen Schauspielkonvention und kodifizierten Bühnensprache erwiesen sich die in Bezug auf
nonverbale Elemente eingesetzten, spezifischen Körperstrukturen als Grundlage
der Entwicklung alternativer, nicht-textbasierter dramaturgischer Konzeptionen
und theatraler Narrationsmodelle. Entscheidender Impuls dieser Überlegungen
war die Zusammenarbeit mit dem taubstummen Jungen Raymond Andrews,
dessen Sensibilität und Expressivität die Bewegungsabläufe, Bühnenbilder und
Sprachstrukturen seiner folgenden Stücke maßgeblich prägten. In dem Jungen
fand Wilson die Bestätigung, dass es Perzeptions- und Kommunikationsstrategien jenseits der Sprache und somit jenseits des Standards der Schriftkultur
geben kann. Aus dieser Begegnung entstand das Stück The Deafman Glance.269
Dieses Vierakter-Stück, in seiner ersten Fassung sieben Stunden lang und später
variierte die Dauer, basiert, wie der Titel andeutet, auf dem Blick eines Tauben,
bzw. auf Beobachtungen und Zeichnungen eines gehörlosen Jungens in die
Welt.270 Eine Inhaltsparaphrase der Inszenierung ist jedoch oder gerade deshalb
nicht möglich, zumal sie auf eine schlüssige Handlungsentwicklung bewusst
verzichtet, in denen das sprachlich-rationale Element dem märchenhaften
Tableau, dem verwirrenden Spiel von Klang- und Lichteffekten und trancehaft
268 Wilson, zit. nach: Sylvère Lothringer: Es gibt eine Sprache, die universell ist.
Gespräch mit Robert Wilson, in: New Yorker Gespräche, Berlin 1983, S. 373.
269 ‚The Deafman Glance’ hatte Ende 1970 Premiere (Iowa City) und ging 1971 auf
Europa-Tournee nach Paris, Rom, Nancy und Amsterdam. Diese stumme ‚Oper’ mit dem
taubstummen Jungen Raymond Andrews in der Hauptrolle brachte Wilson den ersten
internationalen Durchbruch. Dazu vgl. Brecht 1978, S. 54-140.
270 Allein der Prolog, nach dem hier die Video-Version entstand, dauerte eine Stunde.
165
verlangsamten Pantomimen untergeordnet ist. Dies zeigt bereits die Eingangsszene des Stückes deutlich.
Eine Frau, schwarz gekleidet, steht vor einer weißen Wand; sie dreht sich
langsam herum, zieht einen schwarzen Handschuh über ihre rechte Hand,
schüttet behutsam Milch in eines der Gläser und bringt es kriechend zu einem
Jungen herüber, der es, ohne aufzublicken, nimmt und trinkt. [Abb. 37] Sie
wartet, nimmt das Glas wieder von ihm zurück, bringt es an den Tisch zurück,
nimmt ein Messer, wischt es sehr langsam ab, dreht sich herum, geht zurück zu
dem Jungen, lehnt sich über ihn, der gerade sein Buch liest. Die Frau sticht ihn in
die Brust. Der Junge bricht zusammen. Sie führt ihn mit ihrer Linken auf den
Boden, sticht ihn wieder und wieder in den Rücken, zieht das Messer zurück, geht
zurück zum Tisch und wischt das Messer wieder ab.
Die Körperbewegungen der Darsteller sind emotionslos. Ihre physischen
Handlungen, ausgeführt durch unendliche Repetition und Langsamkeit, sind in
kleine Teile zerlegt und lassen sich so ausführen, dass sie nicht mehr als Geste für
andere Realitäten aufzufassen sind, sondern nur mehr für sich selbst zu stehen
scheinen. An die Stelle realer Körperperformances und jeglicher Bühnenhandlung tritt die Dramaturgie des Lichts, welche die Einzelheiten auf der Bühne in
ihrer Erscheinung intensiviert und dabei die Ereignishaftigkeit des Bühnengeschehens hervorhebt. Das Licht legt sich sowohl auf regungslose Körper der
Akteure als auch auf Bühnenräume und Requisiten, erleuchtet oder rückt sie in
Dunkelheit. Bühnenrequisiten und –aufbauten werden dadurch zu stehenden
Bilderereignissen, Banalitäten zu Szenarien. So wird das Bühnengeschehen eine
Welt für sich mit eigenen Raumgesetzen, eigenen Zeitstruktur, mithin einer
eigenen Logik.
Zweierlei Körper
Solche spezifischen Körperbewegungen und Raumordnungen sowie das
Abspielen und die Zeitlupe als strukturelle Modelle des Bühnenkörpers lassen
sich durch zwei Begegnungen aus dem früheren Leben des Regisseurs erklären.
Eine ist seine therapeutische Erfahrung mit Sprach- und Tanzübungen bei
autistischen Kindern, die andere ist die Begegnung mit einem Psychiater, der
immer wieder Filme über Mütter mit Säuglingen drehte.
166
Wilson arbeitete als Bewegungslehrer an der Byrd Hoffmann School271, wo
die Patienten ohne Tempo und durch dauernde Repetition minimaler Bewegungsabläufe ihre äußerte Konzentration auf den Körper richten lernten. In
einer Passage aus dem Programmheft zu The Deafman Glance findet sich
folgendes Zitat:
‚In this School I shall not teach the children to imitate my
movements, but shall teach them to make their own. I shall help
them to develop those movements which are natural to them. And
so I say it is the duty of the dance of the future to give first to the
young artists who come to its door for instruction freer and more
beautiful bodies and to instruct them in movements that are in
full harmony with nature.’272
Um weiterhin ‚the vocabulary of movement’273 zu finden, richtete Wilson nach
seiner Übersiedlung nach New York an der von ihm selbst gegründeten Byrd
Hoffman Foundation School of Byrds (1967) die ‚awareness classes’ ein, die ganz
im Zeichen der Beobachtung der Wechselwirkungen von Raum und Körper
standen. Das elementare Gewicht dieses Workshops war, wie bei der Byrd
Hoffmann School, die Entwicklung der individuellen Wachsamkeit dem eigenen
Körper und Gestik gegenüber sowie ihrem Verhältnis zur Bewegung innerhalb
der Gruppe.
Wilson berichtete indes mehrfach von seiner frühen Begegnung mit dm
Psychiater Dr. Daniel Stern aus den späten 1960er Jahren, der über 350 Filme
über Mütter drehte, welche auf ihre weinenden Babys einredeten. Die Situation
sei scheinbar eindeutig und banal, wenn man sie jedoch in einer langsamen
Geschwindigkeit laufen lasse und die vierundzwanzig Bilder pro Sekunde einzeln
betrachte, zeigten die ersten drei Aufnahmen aber, wie sich die Mutter auf das
Kind stürzt und wie es sich dagegen wehrt, auf den folgenden zwei oder drei
271 Ihren Namen leitete ‚The Byrd Hoffman School’ von der Ballett-Tänzerin und
Bewegungstherapeutin Byrd Hoffman ab, an deren Unterricht Wilson früher selber
teilnahm. In der ‚School of Byrds’ lernten mental-emotional oder auch durch Organschäden Behinderte programmatisch durch die Arbeit an Performances und kleinen
Theater-Projekten eigenes Körperverstehen entwickeln. Aufgrund solcher Konzentration
auf die Prägnanz der solitären in Raum gesetzten Pose, der Geste, des Schreis, die
Wilsons Theater bis heute auszeichnet, muss die Schule daher als erste Experimentierform für das Wilsonsche Theater verstanden werden.
272 Wilson, zit. nach: Graff 1994, S. 226.
273 Calvin Tomkins: Time To Think, zit. nach: Peter B. Boenisch: körPERformance 1.0.
Theorie und Analyse von Körper- und Bewegungsdarstellungen im zeitgenössischen
Theater, München 2002, S. 207.
167
Bildern sieht man die Mutter in einer anderen Haltung, auf den nächsten wieder
in einer anderen, usw.
‚So many different things are going on […] And the baby is
picking them up. I’d like to deal with some of these things in the
theatre, if that’s possible. I guess what I’m really interested in is
communication.’274
Die rational ignorierte und lediglich zweckdienlich komprimierte Vielfalt der
Dinge wurde durch das ‚gespielte Anschauen’ bzw. die mechanische Verlangsamung ‚slow motion’ hervorgehoben, die banale menschliche Handlung vom Alltag
faltete destruktive Momente auf. Es scheint, als gäbe es eine andere Sprache und
Strukturen, die den menschlichen Körper lesbarer, gleichzeitig spannender
machten.
Diese beiden Begegnungen benennen zwei paradigmatische Kennzeichen der
Wilsonschen Bühne, die auf der ersten Blick konträr erscheinen: Der menschliche
Körper und seine Bewegung nehmen zwar zentralen Platz in seinem Theater ein,
sein Schauspiel zeichnet sich jedoch durch die abstrahierte Verlangsamung und
gänzlich ‚utopisches Elektrospiel’ aus, das traditionelle kognitive Strukturen
überformt. Wo die Bühne mit verkörperten Bildern beheimatet wird, ist die
alltägliche Wahrnehmung durch Intensivierung der Körper und in Zeiten der
virtuellen elektronischen Kultur befremdet. Wenn Wilson hier als theoretische
Grundlage seines Theaters ‚external und internal screen’ anführt, somit zwei
Antipoden anspricht, verweist dies auf diesen idiosynkratischen Blickwinkel, mit
dem er den menschlichen Körper der Moderne auf seine Weise wahrnimmt.
‘One hears and sees with external/internal eyes and ears all the
time. We do it all the time. It may be a negative image from a
dream or a blink of your eyes for a fraction of a second. You’re
not aware of it, but one does close one’s eyes over a long period of
time and one does have more awareness of these interior visual
screens. […] Just as the blind feel color, the deaf can feel sound.’275
Nach Wilsons Ansicht sieht und hört menschlicher Körper auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Auf der einen Seite erfährt er das Außen mit dem sog.
‚exterior screen’, welcher die Basis für optische sowie hörbare Eindrücke und
Situationen ausmacht, denen er täglich begegnet. Auf der anderen Seite erfahre
274 Craig Nelson: Robert Wilson. The Theatre of Images, New York 1984, S. 67f.
275 Wilson, in: Interview mit John Szto, zit. nach: Graff 1994, S. 225.
168
der Körper den Makrokosmos aber auch durch den ‚interior screen’, der ihm die
meiste Zeit nicht bewusst ist, außer wenn er einschläft und träumt. Zum ‚external
screen’ der intellektgeleitenden Wahrnehmung durch die äußeren Sinnesorgane
gehöre demnach eine solche zweite Wahrnehmungs- und Erfahrungsebene, die
Wilson interior screen nennt. Die Gehörlosen sähen die Dinge lediglich mit
diesem ‚interior screen’, die Tauben hören ausschließlich mit ‚interior audio
screen’. Um den interior screen im alltäglichen Körper zu aktivieren, dessen
Bewegungen hauptsächlich auf dem exterior screen agieren, schlägt Wilson daher
vor, ihn zu einem Tauben oder Blinden zu machen, bzw. ihn sich selbst machen
zu lassen, ‚in order to become more a aware of this way of hearing’276. Denn die
Sprache kann zwar ein Stimulans für unser Bewusstsein, aber auch eine Beschränkung sein. Es ist schwer möglich, sich vollständig in Worten auszudrücken,
zumal sie laut Wilson wie Moleküle sind, die immer ihre Konfigurationen ändern,
sich trennen und neu kombinieren.277 Das, was wir empfinden, ist ohnehin viel zu
komplex: ‚most of the important things never get communicated in words
anyway […] we don’t really think the way we speak.’278 Durch die Verblendung,
Stauung, mithin die Ableitung des gewohnten Empfindungskanals und durch die
Arbeit an der Konzentration auf ein diskursiv freigesetztes Detail der Dinge wird
das zunächst unbewusste, indes auf dem Körper permanent einschreibende
Sensorium dem rationalen, ‚externen’ Bewusstsein erkennbar sein:
‚Wir gleiten andauernd in diese inneren und äußeren Hör- und
Sehschirme hinein und aus ihnen heraus. […] Das gehört zum
Sehen und Hören. Jemand ist im technischen Sinne vielleicht
taub. Aber er hört trotzdem. Sein Körper hört. Es ist also dumm
von uns zu sagen, er ist taub.’279
Tatsächlich führt Wilson den Sprachbegriff zurück auf alle Formen von
vermittelter und unvermittelter Interaktion zwischen Körper und Welt. Die
Bewegung wird darin zum Synonym für ein reflexives Instrument zu universeller
Kommunikation. Der Körper strebt auf diese Weise die zeitlich-räumliche
276 Wilson, zit. nach: Bill Simmer: Robert Wilson and Therapy, in: The Drama Review.
Nr. 20/ 1976, S. 102.
277 Wilson, zit. nach: Laurence Shyer: Robert Wilson And His Collaborators, New York
1989, S. 79.
278 Wilson, zit. nach: The Contemporary Arts Center Cincinnati/The Byrd Hoffman
Foundation (Hg.) 1984, S. 94.
279 Wilson: Statements, in: Programmheft zu The Forest. Freie Volksbühne Berlin/
Werkstatt Berlin 1988.
169
Loslösung eines Wahrnehmungsgegenstandes von seinen gewohnten emotionalen Konnotationen und die Ausfaserung eines Impulses zum Konglomerat von
Stimuli an, die einen Rezeptions-Eindruck auf dem ‚interior screen’ hinterlassen
und ihn beeindrucken. Insofern steckt hinter dem interior screen nichts anderes
als der Glaube an die Wirksamkeit von potentieller Information für die weiterhin
intakt geglaubte, rezeptive Feinkörnung jenes subkutanen Sensoriums. Dahinter
verbirgt der Befund einer auf rationaler Ebene verlorengegangenen, sich fremd
gewordenen Seele, aber auch der Wille zum Autotraining des Körpers zur
Rekonstruktion dieser Wesentlichkeit.
Körper als Ding
Nach Wilson ist ein solches nicht-diskursives Sensorium und Gedächtnis bei
jedem Menschen angelegt, in der Regel aber nicht entwickelt. Die Fähigkeit zur
stummen Sprache und blinden Blick durch Reduktion der Informationen des
Augenblicks und Konzentration auf die mentalen, körperlichen Reaktionen, die
sie jeweils auslösen, sei folglich erlernbar und durch Vorführung vermittelbar:
‚I think, I think what it’s it’s getting more to is the body is a
resource, and the body can become conscious and that, and that it
is possible to, to, to use and to activate brain cells by working
with the body – that and how you go about that is very complex. I
don’t, we don’t know about that but one way is by exercise […]’280
Die in Bezug auf den realen Körper eingesetzten, sehr spezifischen Signifikationsstrukturen erweisen sich als Ausgangspunkt für die signifikatorische
Funktion des Wilsonschen Theaters. Dort, wo die Bühne in atomare Einzelteile
zerlegt wird, schließt Wilsons De-Konstruktion sämtliche theatralen Zeichensysteme ein, um diese neu zusammenzusetzen:
‚in theatre one has both visual and auditory elements,
communication. […] In my case, the aural score is equally
important to the visual score and they are thought about
separately. It’s very, very difficult to hear and to see at the same
time. For the most part we either do one or the other.’281
Für den Schauspieler bedeutet dies:
280 Wilson, zit. nach: Brecht 1978, S. 18.
281 Wilson, zit. nach: Graff 1994, S. 207.
170
‚It involved going back and ‚relearning’ very simple movements
that had become distorted in the course of day-to-day life bay
various anxieties and inhibitions.’282
Auf der aktiven Reproduktionsseite des Schauspielers wird dies durch die
separierte, gewollt kontextlose Geste des eigenen Körpers erlangt: Nämlich durch
die isolierten, immer wieder monoton wiederholten Gebärden und den bewegungsverlangsamten Körper. Der Körper soll für die eigentlichen, wesentlichen Bedeutungen seiner eigenen Darbietung aufnahmefähig gemacht werden.
Der bis zum Äußersten gedehnte und völlig mechanische Vollzug des Bühnenkörpers verhindert dann ein naives Mitmimen des Körpers, lenkt seine
Aufmerksamkeit auf den Akt des Selbst und macht die Komplexität der
Wahrnehmung bewusst. In diesem Sinne spricht Wilson über den Körper des
Schauspielers:
‚Für mich ist die Darstellung auf der Bühne etwas Artifizielles.
Wenn man sie nicht als etwas absolut Künstliches akzeptiert, ist
sie eine Lüge. Ein Schauspieler denkt, er sei natürlich und spiele
entsprechend, aber er ist es nicht. Er spielt natürlich, und das ist
etwas Artifizielles. Wen man das verinnerlicht, dann ist es
natürlicher – indem man künstlich ist […].’283
Der Körper als ‚Ding’ wird zur fremden Entdeckung für die endlich
sichtbefreite Schau. Der Zuschauer wird seinerseits in seiner gewohnten
Wahrnehmungsweise irritiert. Durch die Wiederholung der immer gleichen, arg
minimalisierten Bewegungssequenzen der Akteure verliert er das Gefühl für den
Ablauf der Zeit. Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen. Wiederholung
wird zum ästhetischen Prinzip.284
282 Deak Frantisek: Robert Wilson, in: The Drama Review 18/1974, S. 72.
283 Wilson, in: Interview mit Christoph Schulz, in: Schnitt, das Filmmagazin. Nr. 37
Frühjahr/05, S. 16.
284 Die Wiederholung, die scheinbar völlige Kongruenz aufeinanderfolgender Erscheinungen gleichsetzt, schmilzt in Wahrheit nicht bis zur vollständigen Ununterscheidbarkeit ineinander. Denn das Widerholen setzt immer schon eine Duplizität, mithin Andersartigkeit voraus. Selbst wenn man annähme, dass die Deckungsgleichheit keine
Abweichung duldete, muss die Differenz, wenn schon nicht in der Substanz oder im
Bereich des Akzidentellen, so doch zumindest im Umkreis der Relationen gesucht
werden. Mit anderen Worten: Was wiederholt wird, kann in jeglicher Hinsicht deckungsgleich sein, ist es aber keinesfalls hinsichtlich des Raumes und der Zeit. Zwischen den
beiden Betrachtungen bestehen zumindest ein Zwischenraum und eine Zwischenzeit; das
eine ist woanders als das andere, das andere ist früher oder später als das eine. Derartige
Differenzen in den raumzeitlichen Beziehungen sind mit der Wiederholung unweigerlich
verknüpft. Kurzum: eine Wiederholung bewegt sich stets im Spannungsfeld zwischen
171
Ein solcher hypnotischer Bühnenkörper wäre ein unbewusstes Medium, das
einem rational gestifteten Bewusstsein dadurch zu sich selbst verhelfen kann,
dass es kontextlos, extradiskursiv und unverbildet auftritt. Dem Ideal eines
Schauspielers entsprechen für Wilson damit reglose Objekte, die weder dem
Regisseur noch sich selbst Fragen zur Rolle stellen, die sich keinen ‚Untertext’
und keine Interpretation zurechtlegen, sondern arglos die Handlung vollziehen,
die von ihnen verlangt wird.
‚The images are of human activities, even poignantly so. But
though, as always, we project an analogue of our psyche onto
these humanoids, varying it according to their conduct and
appearance, our projection hardly pierces the surface of the
images, but merely imparts a structure to it. We know of course
that the performers are people, not robots. But we experience the
characters performed as effigies of people. We adduce character
or intent only to form our image of the action.’285
Diese Axiome der Darstellungsprinzipien findet man in den weiteren
Aufführungen von Wilson vertieft.
dem Bestreben um Identität und dem Bestehen auf der Differenz, die überhaupt die
Ermöglichung einer Rückkehr erstrebt. vgl. Robert Andre (Hg): Paradoxien der
Wiederholung, Heidelberg 2003.
285 Brecht 1978, S. 119-120. Als ‚The Deafman Glance’ 1971 zum ersten Mal in Paris
aufgeführt wurde, erschien wenig Tage später in Les Lettres Françaises (2. Juni 1971) ein
offener Brief von Louis Aragon an seinen alten Mitstreiter, den im Jahr 1966 verstorbenen André Breton. Aragon machte darin Bréton davon Mitteilung, dass die ‚Taube
Oper’ ihm allem traditionellen Schauspiel zu widersprechen scheine, ‚bis hin zum
freigesetzten Spiel derer, die ich weder Tänzer noch Schauspieler nennen würde […] auf
dem Raum mit seinen sich bewegenden Figuren, Männern und Frauen, und die Farbe
spielt darin mit, die Schwarzen inmitten der Weißen und der Monster, die darin eine
bestimmende Rolle haben.’ Die Inszenierung sei daher ‚das wache Leben und das Leben
bei geschlossenen Augen, die Verwirrung zwischen der Welt aller Tage und der Welt
jeder Nacht, Realität vermischt mit Traum, das gänzlich Unerklärtheit im Blick des
Tauben.’ Der Surrealist machte die Impression von dem Schauspiel daraufhin in einem
Satz: das Theater ist ‚eine außergewöhnliche Maschine der Freiheit’. vgl. Louis Aragon:
Offener Brief an André Breton über Deafman Glance, die Kunst, die Wissenschaft und
die Freiheit, in: Holm Keller: Robert Wilson, Frankfurt am Main 1997, S. 11.
172
5. 2. Narrative Homunkuli: Einstein On the Beach
(1976)
Körper als Stimulans
Angeregt vom elementaren Umgang mit dem apathischen Körper rücken
nonverbale Bühnenelemente - Bild, Klang, Licht usw. - immer mehr ins Zentrum
des Wilsonschen Theaters. Neben den nichtsprechenden Körpern, kontextlosen
Gesten, lautmalender Stimmen und überdehnten Raum-Objekt-Erkundungen
dominieren nun mehr und mehr visuelle Elemente in der Bühnenarbeit wie KA
MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE (1972), einem siebentägigen ununterbrochenen Spektakel mit Bildern und Klängen.286 In A Letter for Queen Victoria
(1974) wurde dann erstmals der Sprache eine weitere Bedeutung beigemessen,
wenn auch nur, um deren Kommunikationsfunktion durch den abwesenden
Zusammenhang zwischen Text und Körper zu dekonstruieren. Dort versucht
Wilson das Theater des Visuellen mit dem sprachlichen Konzept zu transformieren. Um diese Zeit entstand Einstein On the Beach (1976). 287 Wie in
anderen Biographiestücken
288
werden hier in assoziativer Weise banale
Gegebenheiten und Vorgänge aus dem Leben des Physikers mit den historisch
bekannten und exemplarischen Ereignissen seiner Zeit verknüpft: Einstein, Geige
286 Wilson bespielte mit seiner Produktion ‚KA Mountain and GUARDenia Terrace’
sieben Tage und sieben Nächte den Haft Tan Berg. Das 1972 beim Festival im iranischen
Shiraz aufgeführte Stück, in dem die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen hin von mehr als fünfhundert Akteuren dargestellt wurde, dauerte an die dreißig
Stunden.
287 Mit der Oper ‚Einstein on the Beach’, uraufgeführt1976 in Avignon (Festval
d’Avignon), wurde die Reihe der großen Opern von Wilson und Philip Glass eröffnet und
gleichzeitig die traditionelle Entstehungs- und Aufführungspraktiken der Oper verändert.
Der Oper liegt nämlich kein Textbuch im traditionellen Sinn zugrunde; zwar treten in ihr
Sänger und Tänzer auf, die auf der Bühne agieren, und auch ein Orchester, doch hat das
Werk keine narrative Handlung, es besteht nur aus Bildern, die mit dem Protagonisten
nichts zu tun haben. Die Musik, die von dem ‚Minimalist’ Philip Glass auf der Basis von
Zeichnungen und strukturellen Vorgaben von dem Regisseur entwickelt wurde, und der
menschliche Körper werden allein zum Ausdruck physikalischer Phänomene. Dazu vgl.
Brecht 1978, S. 316-375.
288 Es gab bereits eine Reihe von Aufführungen mit historischen Persönlichkeiten, die
titelgebend erschienen. Sie alle behandelten weder Lebensgeschichte von den Titelhelden
noch Zeitgeschehen um sie herum, sahen sie bloß in einer kurzen Pantomime vor. Die
angeblichen Protagonisten Freud in ‚The Life & Times of Sigmund Freud’ (1969) oder
Stalin in ‚The Life and Times of Josef Stalin’ (1973) bildeten nicht das Zentrum dieser
Arbeit; Titelhelden wurden lediglich zum Generalnenner für einen Ausschnitt aus dem
Kontinuum, sie fungierten als zentraler Knotenpunkt im Netzwerk aller möglichen
Assoziationen.
173
spielend, sitzt am Bühnenrand, während sich auf der offenen Bühnenfläche
anekdotische Erinnerungen an seine Person mit szenischen Fragmenten aus dem
amerikanischen Alltag vermischen.289
Zu Beginn des Knee Play 1 zählen zwei Schauspielerinnen, am Tisch sitzend,
laut, nachdem zehn Minuten lang von einem Chor von eins bis acht gezählt
wurde. [Abb. 38] Ihre Finger wandern dabei über eine unsichtbare Tastatur. Sie
sind identisch gekleidet: sackartige Hosen, Hemden, Hosenträger, Turnschuhe die sog. Einstein-Uniform. [Abb. 39] Danach beginnt eine Schauspielerin über
Mikroport in normaler Lesegeschwindigkeit einen Text zu rezitieren, dessen
erster und letzter Satz zusätzlich und willkürlich so oft erneut eingestreut werden,
bis die 20. Minute, damit das Ende von Play 1 erreicht ist.
In Act 1 tritt dann eine Schauspielerin, angekleidet ebenfalls mit der EinsteinUniform, von links auf die Bühne ein und geht mechanisch auf einer Diagonale
hin und her. Ihre hyperkinetischen und damit hypnotischen Armbewegungen
sind gleichmäßig intensiv, ihre Beinarbeit ist in kontrolliertem Rhythmus. Im
Lauf der Zeit hat sich die Diagonale mehr und mehr in die Mitte verschoben. Eine
andere Schauspielerin tritt auf und kreuzt über die Bühne, schreibt auf einer
unsichtbaren Schreibmaschine herum. Die Arme der ersten Schauspielerin
werden indes frenetischer, unsichtbare Windmühlen bekämpfend.
In dem nächsten Akt hat sich die Diagonale der Schauspielerin etwa nach
rechts geneigt. Auf der linken Seite schreibt ein Mann rasend in der Luft,
womöglich auf einer unsichtbaren Tafel. Eine andere Schauspielerin, mit der
ersten Figur identisch gekleidet, überquert die Bühne, die Zeitung am Kopf
befestigt. Diese drei Schauspieler produzieren dabei ein Dreieck aus Bindfäden.
Die Oper ‚Einstein on the Beach’ besteht aus drei verschiedenen Arten von
Stücken, denen der Regisseur analog zu Werken der bildenden Kunst jeweils eine
289 Einige der wenigen überhaupt verwendeten Texte in ‚Einstein on the Beach’
stammen von einem damals zwölfjährigen geistig behinderten Jungen, Christopher
Knowles, den Wilson zu dieser Zeit kennen lernte und dessen Umgang mit Sprache, mit
Wörtern ihn faszinierte: ‚Er nahm gewöhnliche, alltägliche Wörter und zerstörte sie. Sie
wurden zu so etwas wie Moleküle, änderten sich dauernd, brachen immerfort auseinander, Worte mit vielen Facetten, nicht bloß eine tote Sprache.’ Knowles organisiere
sie nach optischen und akustischen Gesichtspunkten, so dass so eine Art abstrakter Poesie
entstand, die Wilson dann als erste Texte in seine folgenden Produktionen integrierte.
Wilson ist später mit ihm zusammen in einer Serie von Dialog-Performances aufgetreten.
vgl. Lotringer 1983, 42.
174
bestimmte ‚Perspektive’ zugeordnet hat.290 Die Bühne, bestehend aus Kartons,
Zeitungspapiere, Fernsehen, Radios etc., scheint jedoch auf den ersten Blick eine
schiere Freisetzung von Bühnenrequisiten. Die Kompositionsregeln bleiben verborgen, sie sind kontextlos und in ihrer seltsamen Ordnung nur da. Es resultiert
so ein labyrinthisches Archiv aus Vorhandenem, ein ‚Riesensammelsurium’ aus
Dingen, die sich keiner rational kohärenten Zuordnungen beugen. Handlungen
sowie das Konzept von Zentrum und Identität werden ebenfalls wie in ‚Deafman
Glance’ aufgelöst. Linearität und Narrativität werden zu Gunsten kreisender und
repetitiver Strukturen aufgehoben und Sinn wird eher über visuelle als über
verbal-intellektuelle Codes vermittelt.
291
Gleichzeitig jedoch scheinen die
dramatis persona in ‚Einstein’ als Individuum eine wichtige Funktion zu
bewahren. Die ‚Texte’ kreisen nur um eine einzige Figur – Einstein. Wenn auch
diese Konkretisierung schwer nachzuvollziehen ist, zumal der vermeintliche
Protagonist selbst keine Kontinuität, sondern bloß ein Hervortreten und Sichvorführen, etwas Entäußerlichtes, mithin ein abgelöstes Ich ist, scheinen die
Akteure elementare Bedeutungsträger, deren gestischer Sinn den visuellen Sinn
der Inszenierung dominiert. Sie sind Hauptstimuli der gesamten Aufführung.
290 1. Knee Plays, von Wilson auch ‚portraits’ genannt, sind relativ kurz (8 Minuten) und
sorgen als erstes für die Verbindungen zwischen den Szenen. 2. Train und Trial Szenen:
diese drei jeweils 20 Minuten lange Szenen bilden eine durchgehende thematische
Einheit. Sie sind die einzigen, die eine durch den Titel bezeichnete inhaltliche
Vorbestimmung besitzen, und werden als ‚Stil life’ bezeichnet. 3. Dances: Dazu gehören
Dance 1, Dance 2 und Spaceship. Diese Szenen sind am größten besetzt und verfügen
über eine räumliche Weite, definiert als Landscape. Sie sind inhaltlich offen und dauern
jeweils ca. 20. Minuten. vgl. Brecht 1978.
291 Erinnert sei an das Diktum von Philip Glass zum Werk Wilsons. Auf die Frage
nämlich, was die Theaterstücke eigentlich auszusagen und welche Bedeutung sie hätten,
antwortete er: ‚They are what they are. They don’t mean anything.’ Dieser berichtete
zudem darüber, wie es – eher zufällig- zu diesem Titel, dem abstrakten Anlass für
theatralen Form, kam: […] At one point, Bob suggested Albert Einstein, and that
immediately clicked. […] I am sure that the absence of direct connotative ‘meaning’
made it all easier for the spectator or personalize the experience by supplying his own
special ‘meaning’ out of his own experience, while the work itself remained absolutely
abstract.’, Wilson selber äußerte zu dem Text: ‘There was no libretto as such for Einstein
On the Beach; the singers sang in numerical count of the solfegge of the music. There
were certain scenes in which a spoken recitative was used. These passages for the most
part were texts written by the actors themselves, with the exception of Christopher
Knowles’ writings, I asked him specifically to write for this work.’ Phil Grass in einem
Interview mit Howard Brookner, in: Dokumenation des Werkes von Wilson (ZDF, 6. Juli
1984); Wilson, zit. nach: Graff 1994, S.193 und 258.
175
Emphatischer Körper
Es sind z. B. banale Elemente der Körpermotorik und unwillkürliche Gesten
des Alltags - von formalisierten Automatenbewegungen über natürliches Gehen
bis hin zu tänzerischen Drehungen und Sprüngen -, die präzis über die gesamte
Aufführung hinweg von den Schauspielern abermalig durchgeführt werden. Die
Bewegungen der Darsteller sind aber trotz der unwillkürlichen Szenenbilder und
den schnellen Lichtwechsel symmetrisch. Häufig wird die Diagonale des Raumes
ausgenutzt, in denen die Schauspielrinnen nichts anderes tun, als in der
Diagonale von vorn links nach hinten rechts den Raum zu durchqueren. Diese
ganze Geometrie setzt die Bewegungen der Schauspieler überhaupt erst frei. Von
hier aus und genau im Moment der Aktion tritt das Bühnenbild zurück, wird
unaufdringlich, funktional. Permanente Wiederholung, Variation und Umkehrung der Darsteller, deren Einheit durch die Uniformierung verstärkt wird,
erscheinen
dadurch
teilweise
lebhaft
ausgelassen,
teilweise
mechanisch
diszipliniert, wohingegen der Chor einen in seinen seriösen Körperhaltungen
beengten, ernsten Gegenpart darstellt. Dabei beziehen sich die Schauspieler nicht
aufeinander, sie sind nolens volens vereint auf der kollektiven physikalischen
Ebene, deren Bewegung und Lautstimme lediglich zusammen bewerkstelligt zu
werden scheinen. Die Einstein-Darstellerin, Sutton, referiert selbst:
‚Lucinda [die Schauspielerin] and I were dressed alike, and we
were both called Einstein, but we didn’t think of it as a character.
We had a series of actions to perform – mechanical gestures
pilots or computer engineers would use.’292
Die Figuren konzentrieren sich vielmehr hauptsächlich auf ihre Bewegungen,
deren Vollzug nach einem unbedingten Muss ausschaut, vorliegende Motivation
aber unklar bleibt und damit eine rituelle Bedeutung suggeriert. Man liest die
geschriebenen Anweisungen in einem der Texte der Schauspieler: ‚linker Arm 45
Grad vom Körper weg gestreckt, rechter Arm 12 Grad, linke Hand nach oben, vier
Sekunden, Mund nach rechts unten verzogen. Die Zunge im rechten Mundwinkel, das Knie gebeugt, O-Beine, Oberkörper zurück, die Augen nach oben’293
Diese Auflösung der dramatischen Figur durch autosukzessive Gebärde erfolgt
zum einen durch die Verfremdung der Sprache, zum anderen auch durch
multimediale Manipulation.
292 Sutton, zit. nach: Holmberg 1996, S. 14.
293 Ehler 1990, S. 199f.
176
Dialoge geschehen indes dadurch, dass sie einerseits Nebensinnsegmente in
Wort und Schrift dekuvrieren oder festhalten und andererseits versuchen, die
Lautlichkeit gesprochener Sprache hervorzuheben. Zusammen mit anderem
Lautmaterial – Geräuschen, Klängen, Tonfolgen - bilden sie dabei eine Art
Lautcollage, die ihren eigenständigen Klangraum entstehen lässt. Als Sprachmaterial werden deshalb Fragmente der Alltagssprache, Gesprächsfetzen und –
splitter bevorzugt, sowie auch poetisch geformtes Sprachmaterial bzw. eine Flut
von Zitaten in ihrer collagenhaften Art verwendet, deren Strukturprinzipien sich
obstinat dem Zugriff des Rezipienten entziehen. Der Schauspieler betont solche
Dialogfragmente dann, indem er die Aussprachen langsam, klar und in ständigen
Wiederholungen vorträgt, auch zum Teil mit Tonverzerrungen und Überschneidungen mit andern Geräuschen. Da zwischen solchem Signifikat und dem
zur selben Zeit von den Schauspielern durchgeführten Signifikant sich kaum eine
Beziehung herstellen lässt, erfährt die spezifische Materialität der Stimmen und
Gesten eine zusätzliche Markierung: Stimme und Geste, losgelöst vom Körper der
Schauspieler und getrennt vom Bedeutungsangebot des Textes, werden zu einem
eigenen Kommunikationsmedium, über das hinweg Sinn vermittelt wird. Der
Schauspieler ist damit nicht mehr lucus parlandi, seine Stimme ist nicht mehr
Aussage im verbalen Sinn, sondern eine gestische Arie Scream Songs, als wäre es
ein Versuch um die Vergeblichkeit einer Suche nach authentischer Sprache. Um
mit Foucault zu sprechen, ‚dass es neben ihm eine Sprache gibt, die spricht und
deren Herr er nicht ist, […] dass sich an der Stelle des sprechenden Subjekts […]
eine Leere aufgetan hat, in der sich eine Vielzahl von sprechenden Subjekten
verbindet und auflöst, kombiniert und ausschließt’294.
Diese off- und overvoice, welche Jon Whitmore ‚disembodied speech’ 295
nennt, wird zum einen durch Mikrophone und zum anderen durch die
elektronische Stimme gesteigert, die sich immer wieder mittels Ton-Bänder auf
die Bühne einschaltet.296 So wird der Spieler zwar von seiner Stimme begleitet, ist
aber niemals mit ihr ‚identisch’. Seine über Mikrophone gesprochenen oder durch
Tonbänder aufgenommenen Aussagen sind von ihm produziert, aber gehören
ihm nicht, sie gehören dem Raum. Die mechanische Stimme ist folglich an294 Michel Foucault: Vorrede zur Überschreitung, in: ders.: Von der Subversion des
Wissens, Frankfurt 1987, S. 37.
295 Jon Whitmore: Directing Postmodern Theatre, Michigan 1994, S. 178.
296 Durch Tonbänder wird auf der Bühne ein banaler, mitunter sprunghaft gewendeter
Inhalt in Wortensembles oder vollständigen Sätzen wiedergegeben, aber auch kurzen
Anekdoten werden identisch repetiert oder geringfügig variiert, verlangsamt oder verhallt.
177
wesender als die lebendige Stimme, während die Schauspieler bloß zum Verteiler
der Aussagen degradieren. Der Unterschied zwischen dem inneren Diskurs und
dem geäußerten Diskurs geht damit verloren. Die Bühne als assemblage art wird
eine Sammlung der elektronischen Erinnerung.
Narrativer Körper
Die Entkopplung von Stimme und Körper wird an manchen Stellen durch
ritualisierte Gesten bzw. den Tanz und den musikalischen Ausdruck der Sängerin
der Titelpartie unterstrichen.297 Dadurch unterliegt die Aufführung von Anfang
an der totalen Kontrolle, die ein exakt choreographierter Ablauf, bestehend aus
Auftritten und sparsamen Bewegungen, verlangt. In der Inszenierung ist keine
Aktion dem Zufall überlassen, alles wird genau festgelegt und mit maschineller
Präzision ausgeführt. Der Regisseur bestimmt und überwacht jedes Detail, jede
Position eines Körperteils, jede Geste, jeden Schritt. Mit anderem Wort: ‚there is
no performance without preperformance’. In Folge: Die Bühnenfiguren in
‚Einstein’ sind
‘thoroughly architectural. […] Whether it is silence or spoken
words, the pictures are architectural arranged. Einstein is an
architectural book of pictures.’298
297 Einstein on the Beach - 1976 entstanden, 1984 und 1992 rekonstruiert - ist Wilsons
erste Zusammenarbeit mit der Tänzerin und Choreografin Lucinda Childs. Den vormaligen Architekturstudent interessierte der Tanz immer schon weniger als theatrale
Gattung; Wilson war vielmehr von der Form fasziniert; eine Form, die nicht mehr allein
das Medium von Inhalten, Handlungen und Aussagen war. Entsprechend unterschreibt er
mit seiner eigenen Theaterkonzeption Aussagen wie die Cunninghams, in denen dieser
seine Arbeitsweise ablehnt, den Tanz als Mittel zur Kommunikation einer einzigen, alles
leitenden Bedeutung aufzufassen. Sein Interesse für den Tanz, bzw. Postmodern Dance,
in der weder Geschichte erzählt, noch Figuren präsentiert und noch Musik ausgedeutet
werden, beschreibt Wilson wie folgt: ‘I liked it because of the space, the virtual space,
the mental space. I liked the way the performers behaved on stage, never pushing to art,
for an effect, they greatly allowed the public to come to them, as performers. It was a
formal theatre with a certain distance between the stage and the spectators, the kind of
space where one could reflect and think, dream perhaps. The best actors were those who
performed for themself [sic!] first. I liked the work of Balancine because it was classical,
classical architecture.’ Wilson, zit. nach: Boenisch 2002, S. 208.
298 Wilson, zit. nach: Graff 1994, S. 108. In diesem Zusammenhang erwähnt Wilson an
anderer Stelle, das Schauspiel sei ‚ein Forum – und wie hält man das offen auf einfachste
Weise? Für mich ist der beste Weg, um das zu erschaffen, etwas, das total kontrolliert
und mechanisch ist. […] Das ist schwierig, denn es ist unangenehm zu lernen, wie man
eine Maschine wird […] Nur dadurch, dass man total mechanisch wird, gewinnt man
Freiheit zurück.’ Heiner Müller fügt dazu; ‚Idealerweise muss man in der Arbeit [von
Wilson] eine Maschine werden, muss man total mechanisch werden, um frei zu werden.’
Müller verwies in diesem Zusammenhang auf Kleists Marionette: ‚Auf dieser Bühne [von
178
Diese strenge Formalisierung der Figuren erinnert an das Schauspielkonzept
der historischen Theateravantgarde. So wie die Avantgardisten erhofft sich
Wilson im Verzicht auf jede Individualisierung und in der Annäherung an die
archaischen Gesten, die agonale Struktur des Theaterraumes und schließlich an
die universale Sprache der Schauspieler in ihrer äußeren Form die intensivsten
Wirkungen. Wilson kommt ebenfalls darauf an, dass dem Darsteller in einer
sorgfältig choreographierten Bühnenwelt individuelle Größe nur als ein
quantitativer Begriff zuteil wird. Die Funktion des Wilsonschen Figuren geht aber
noch weiter: Sie sind in ihrer Form narrativ. Denn die Einblendung in die strikt
konstruierte Bildsprache im ‚Einstein’ legt die Basis für ein semantisches
Potenzial, das die Akteure wieder zu Figuren werden lässt, denen durchaus auch
psychologische Merkmale zugeschrieben werden können, anders etwa als den
Craigschen Übermarionetten und rein geometrisch-architektonischen Kunstmenschen in Oskar Schlemmers Balletten. Wenn bei Wilson die Kinesphäre im
Raum aufgeht, löst sie sich gerade nicht in ihm auf, sondern projiziert sich selbst
auf diese Raumrelationen. So wird den Figuren ermöglicht, narrative Entwicklungen und psychologische Spannungen in Form einer nichtimitativen
visuellen Metaphorik zu inszenieren: Albert Einstein als moderne Metapher für
eine Epoche des naturwissenschaftlichen, philosophischen und künstlerischen
20. Jahrhunderts. Ein Grund, weshalb ‚Einstein’ sich weniger zum Geschichtsdrama, als vielmehr solche Assoziationsfülle der Motive in thematisch kaum
gebundenen Bildkomplexen und –sequenzen entfaltet, in denen die Bühne durch
das Zusammenspiel all seiner Ausdrucksmittel nach der neuen Ganzheit eines
Gesamtkunstwerks strebt und dabei die Abgrenzungen von Drama, Oper, Ballett,
Pantomime und bildender Kunst zu sprengen versucht. Und diese Totalität des
Bilderfundes kann nur durch strenge Vereinfachung und Reduktion strukturiert
werden. Die Bühne verfährt in diesem reduktionistischen Sinne arglos und
gleichzeitig mathematisch kalkulierend.
Einstein On the Beach kennt also mehrere Stimmen. Ein Strand jedoch, der
etwa wie in The King of Spain, The Life & Times of Sigmund Freud und auch in
The Life & Times of Joseph Stalin immerhin nominell einen der AktivitätenSchauplätze abgibt, der einen dieser Einsteins dann auch das Stück zeigen würde,
Wilson] hat Kleists Marionettentheater einen Spielraum, Brechts episches Theater einen
Tanzplatz.’ vgl. Robert Wilson/Heiner Müller/Wolfgang Wiens: The CIVIL warS. A
Construction in Space and Time. Der deutsche Teil von ‚The CIVIL warS’ im Schauspiel
Köln, Frankfurt am Main 1984, S. 54f.
179
ist nicht vorhanden. Im Spiel der Doubles und Serien hat der Unterschied
zwischen An- und Abwesenheit keinen Bestand mehr. Damit setzt Wilson mit
Einstein On the Beach
‘the theatre into the unknown and the unknowable, in a way that
makes our contemporary domestic plays look like ancient
artefacts of a forgotten age ’299.
Diese ‚virtuelle individuelle Biographie’, in der Fiktion und Realität nicht
mehr voneinander zu unterscheiden sind und vor dem Hintergrund dieser
Verschmelzung von Theater und Leben die Homogenität keine Rolle mehr spielt,
wird dann in CIVIL warS zu einer historischen Dimension erhoben.
5. 3. Theater ohne Schauspieler: CIVIL warS (19831986)300
Collage des Körperlichen
Etwa fünf Meter hoch ist ‚The World’s Tallest Woman’301, die inmitten der
Aufführung von rechts auf die Bühnenmitte hereintritt; oben ragt ein weiblicher
Kopf hervor, die Größe der Figur wird dabei durch einen bärtigen Liliputaner
gesteigert, der in der Riesenhand des ausgestreckten Arms sitzt. [Abb. 40] Das
Bühnenbild droht nun umzukippen, zumal die gesamte Aufmerksamkeit auf die
‚Frau’ gerichtet ist, deren Gegengewicht nur schwer durch die anderen Bühnenelementen zu erbringen ist.
Dieser in Schwarz gekleidete Riese aus dem ursprünglich als zwölfstündiges
kulturelles Programm geplanten, jedoch nicht zu Ende geführten Mammutstück
für das Olympic Art Festival in Los Angeles 1984, ‚CIVIL warS: a tree is best
measured when it is down’, ist jene typische Figur, die sich bei Wilson immer
wieder findet. Die Ansammlung von menschlichen Darstellern und Puppen299 Rober Brustein: Theatre in the Age of Einstein: The Crack in the Chimney, zit. nach:
Holmberg 1996, S. 10.
300 Netherlands Section: UA, 6 September, 1983 im Schouwburg Theater Rotterdam.
German Section: UA, 19 Januar, 1984 im Schauspielhaus Köln, Italian Section: UA, 26.
März 1984 imTeatro dell'Opera Rome, Knee Plays (U.S. Section): UA, 25 April 1984, im
Walker Art Center Minneapolis.
301 Diese sog. ‚größte Frau der Welt’ entstammte dem niederländischen Teil der CIVIL
warS (act I, scene B).
180
gestalten verleiht neben der Transponierung an einen für den Zuschauer fremden
Ort, nichtkommentierter zeitloser Konstanz und serieller Reihung minimaler
Strukturen der Aufführung besondere Aufmerksamkeit. Der Regisseur scheint
sich jedoch hier, was die menschlichen Darsteller anbelangt, im Vergleich zu
seinen beiden Stücken wie ‚Deafman’ und ‚Einstein’ in dem genau konträren
Gebiet zu bewegen. In diesen ging er ganz dezidiert von der jeweiligen Körperlichkeit des Schauspielers aus, d. h. er ließ insistierend auf die Körperlichkeit
zusammen mit anderen Bühnenkünstlern elementare Bewegungen vollziehen. Er
lässt aber in ‚CIVIL warS’ den Körper der Schauspieler ausblenden. Der Körper
des Schauspielers verschwindet ganz von der Bühne. Die Schauspieler, deren
Auftritt vor allem von der Projektionswand 302 aus beginnt und in der Regel
parallel zur Rampe ausgeführt wird, lassen den Eindruck entstehen, als würden
sie sich in die Flächigkeit des Bildes auflösen. Der ohnehin minimale Handlungsraum der Darsteller ist kaum sichtbar angesichts der überdimensionalen Bühnenbilder und der spektakulären Auftritte der Puppengestalten. Während die sich
jeweils besonders stilisiert bewegenden Schauspielkörper in ‚Deafmann Glance’
oder ‚Einstein’ immerhin Handlungsträger blieben, erscheint der menschliche
Körper hier zum Puppenkörper degradiert.
Das multinationale, multikulturelle und multimediale Spektakel, CIVIL
warS303, wurde in Einzelteilen in Köln, Rotterdam, Marseille, Rom, Tokio und
302 Die Leinwand als Stätte eines filmisch dargebotenen, in eine scheinbar allgültige
Unendlichkeit transformierten Wirklichkeitsausschnitts ist wichtiges inszenatorisches
Mittel der Wilsonschen Bühne. Die dort projektierten einzelner Bilder und Endlosschleifen von Filmausschnitten zeigen minutenlang Gesichter in Nahaufnahme, verfolgen
immer wieder den Flug eines kreisenden Seeadlers oder den richtungslosen Eisschollengang eines Polarbären. Da sich die Bühnenfiguren zwischen Publikum und Projektionswand aufhalten, dem Ort der Wirklichkeitssimulation einer lediglich als Projektion
ausgewiesenen Ästhetik, die – entgegen einer ursprünglichen Wirkungsabsicht des Minimalismus – in Realitätsferne gerückt werden muss, markieren die Wilsons Figuren die
Schwelle des Übergangs von Virtuellem und Realem.
303 Der suggestive Wechsel von Groß- und Kleinschreibung innerhalb der Titel ist neben
Freiheiten in Interpunktion und Orthographie eine der Techniken der von Wilson
aufgebauten spielerischen Ästhetik des Mediums Sprache. Diesem Sprachbegriff wird
jede wahrnehmbare menschliche Regung subsumiert. Insofern leistet dieser Titel die
Gesamtintegration der Menschheit als Adressat und Emisseur der künstlerischen
Hervorbringungen in der Konzeption des Theaters von Wilson. Die CIVIL warS handeln
nicht nur von den historischen Bürgerkriegen, sondern von den Kriegen des Bürgers, d. h.
den zivilen Kämpfen und Machterhaltungsstrukturen des gewöhnlichen Lebens: der Titel
bildet darum in der Schreibweise das kapitalisierte Plural-‚S’ der warS zurück an das
damit nominalisierte Adjektiv CIVIL, das jetzt – ein Genitiv in Singular und Plural – zu
CIVILS und damit zum Generalnenner für den nun singularisierten war, den keinesfalls
181
auch in Minneapolis gezeigt. Es war ein Versuch, die Gesamtaufführung einer
größeren Öffentlichkeit zu präsentieren. Gleichzeitig ist es Kulminationspunkt
von Wilsons künstlerischen Schaffen. Krieg als Urmenschheitsphänomen wird
darin als unentrinnbarer und historisch durchgängiger Zustand expliziert. Der
Bürger-Krieg markiert dabei einen status quo, der den utopischen Ausgangs- und
Endstadien absolut entgegengesetzt ist. Das Stück erzählt aber wie die meisten
Stücke von Wilson keine Geschichte. Basierend auf der Idee flexibler Strukturen
und neben den Akteinheiten gibt es lediglich Verbindungslinien zwischen den A-,
B- und C-Szenen in den fünf Akten, ‚lokale’ Interdependenzen zwischen Szenen,
die jeweils in einem Land erarbeitet wurden, motivische Verbindungen zu den
einzelnen intermittierenden Knee Plays und so weiter.304 Hinzu hat jede Szene
eine große Autarkie, d. h. jeder Akt kann unabhängig von dem anderen stehen
oder man kann ihn mit mehreren Szenen zu einer multifunktionalen Form
anordnen.
Mit den beständig wiederkehrenden formalen Elementen ist den einzelnen
Aufführungen dennoch thematisch gemeinsam, dass sie immer wieder an
Gestalten und Motive der Geschichte anknüpfen, die bereits zu Mythen der
populären Phantasie geworden sind. Als Anlage für die einzelnen Teile wählte der
Regisseur Mythen der jeweiligen Völker oder auch Zitate aus dem Märchen,
dessen Figuren längst als der ‚trivial myth’ zugehörig konnotiert sind. Der Auftritt
von dem Hahn, Mädchen und Trommeljunge in Kölner Beitrag, zu denen sich
später noch ein Blechmann und eine Puppe aus Stroh gesellen, ist relativ
eindeutig als der von den dem Märchen ‚The Wizard of Oz’ entnommenen
Figuren - Little Dorothy, Blechmann und Strohmann - zu identifizieren, was aber
ebenso in Rotterdam mit ‚Jack and the Beanstalk’ und ‚Captain Nemo’ in
Marseille korrespondieren kann. Die Figur der hypertrophen Frau mit den
elefantenhaften Händen aus Rotterdam, die sog. ‚The World’s Tallest Woman’, ist
gewissermaßen die direkte Nachbildung einer Hexe auf einem 1640 entstandenen
Holzschnitt ‚Bewitched Woman and Suitor from A Certain Relation of the Hofmehr historisch zu spezifizierenden Krieg wird. vgl. Janny Donker: The President of
Paradise: A traveller's account of Robert Wilson's the CIVIL warS, Amsterdam 1985.
304 Hierzu Wilson zu seiner Aufführung: ‚Civil warS ist ein internationales
Theaterprojekt, das Künstler aus aller Welt zusammenführt und somit die olympische
Idee vertritt. Wir führen eine Oper in fünf Akten auf, mit 15 Szenen und 15 Kneeplays; die
Kneeplays verbinden die einzelnen Szenen wie Gelenkstücke. Civil warS erzählt eine
durchgehende Geschichte als Collage.’ Wilson, zit. nach: Juliane Christophersen:
KNIESTÜCKE. Wilsons wildes Welttheater, in: TRANS ATLANTIK, Marianne
Schmidt (Hg.) Heft 1/1984, München 1984.
182
faced Gentlewoman’ und von Matthew Brady’s Fotoportrait ‚Anna Swan with the
Lilliputian King’. [Abb. 41] Neben der größten Frau treten in der Rotterdamer
Version indessen die Elemente auf, die man als typisch holländisch deuten kann:
Tulpen, Schlittschuhläufer, Königin Wilhelmina oder auch Mata Hari. Während
Wilhelm I. von Oranien, genannt der Schweiger und ‚de Vader des Vaderlands
der Nederlanden’ zwerghaft in der Hand der ‚Big Lady’ sitzt, tritt im Kölner Teil
Friedrich der Große in preußisch-blauer Uniform auf. Knee Plays, in denen sich
weiß gekleidete Akteure mit Stabmarionetten präsentierten, erkennt man
ebenfalls und mühelos das traditionelle japanische Puppenspiel Bunraku wieder.
Dabei sind diese Historien- und Märchenfiguren nicht an homogeniale
Historiographie gebunden, sondern als Assoziationsmotive, auf die immer wieder
rekurriert, die zitiert und gemischt werden. Wilson komponiert damit BildMotive aus Geschichten und Erzählungen, die nur zur Lieferung von vorgeformten Bildversatzstücken heranzitiert werden. Er arrangiert Triviales und
Belangloses, wohl aber mit höchsten Anstrengungen zur präzisen Exekution. So
nimmt das Schauspiel auf der Bühne ikonische Signifikate der Alltags- und
Weltgeschichte zum Material, die jeweils Momente kultureller Vielfalt darstellen.
Körper als Kunst-Werk
Diesen Puppenfiguren, denen bei aller semantischen Komponente unweigerlich immer auch Funktionalität innewohnt, kommt aber weitere, wesentliche
Bedeutung zu, die entscheidend für den Aufbau der einzelnen Szene sowie des
Gesamtwerks ist: Die Kompositionsfunktion, den Bühnenraum als Bildausschnitt
zu kennzeichnen. Das Mädchen in act I, scene A in Köln vollführt beispielsweise
bei allen seinen Auftritten eine Art pantomimischen Gehens auf der Stelle,
während seine Gruppe tatsächlich nie weiter gelangt als bis ungefähr zur
Bühnenmitte. Eine Szene aus dem Epilog zu act IV, scene A zeigt diese optische
Illusion noch deutlicher, in welcher die Rahmung der Bühne im Spiel den
Bildachsen gegenübersteht: Von links ragt in einiger Höhe ein riesiger Ast
waagerecht in den Bühnenraum, auf dessen Ende, bzw. fast in der Mitte des
Bildes, eine ‚Schnee-Eule’ hockt. Am rechten Rand steht die einer Karikatur
nachempfundene meterhohe Figur Lincolns. Zwischen den beiden sitzt in der
Bühnenmitte die ‚Erdmutter’. Lincoln geht rechts ab. Kurze Zeit später tritt von
dort ‚König Lear’ auf, taumelt über die Bühne, zunächst hinter der ‚Erdmutter’ an
den Prospekt, dann wieder in den Vordergrund, wo er unter der Eule zur Erde
sinkt. Unterdessen ist das Lincolnmonument rechts hinten wieder aufgetreten. Er
183
geht langsam über die Bühne. Im deren linkem Viertel angekommen, so dass
seine Silhouette durch den Ast in zwei gleiche Hälften geteilt wird, bleibt Lincoln
stehen. Vorne rechts erscheint dann der Eisberg aus Szene A des ersten Aktes.
Solche Bühnenbildkomposition durch Bildachsen kann ebenso verschoben
werden, wie beispielsweise in act I, scene B aus der Rotterdamer Vorstellung.
Rechts auf der Bühne, die mittlerweile durch mehrere Kohlköpfe an der Rampe
ersetzt ist, nachdem der Auftritt der nahezu unmerklichen Bewegung der
Schildkröte stattgefunden hat, ragt die ‚Big Lady’ in das Bild hinein, während der
Wilhelm der Schweiger von links eintritt. Als das Gegengewicht auf der linken
Seite, da das gesamte Bühnenbild allein auf die Frau rechts bzw. auf die vertikale
Ebene gerichtet ist, wächst nun eine Bohnenstaude aus der Öffnung in den
Himmel. Ein Junge klettert die Bohnenstaude hinauf. Schließlich entsteht
zwischen der Bohnenstaude und der riesigen Figur rechts eine Art Rahmen im
Rahmen. Der Verdoppelung der dominanten vertikalen Achse gleicht das
horizontale Getreidefeld im Vordergrund aus.
Dass Wilson Bewegungen der Bühnenfiguren vornehmlich in überdehnter,
größtmöglicher Langsamkeit gestaltet, die sich fast schon mit dem Stillstand zu
berühren scheint, wurde hier bereits mehrmals erwähnt. So dauert allein die
Eröffnungsszene des Kölner Teils der CIVIL warS beinahe minutenlang. Zwei
Figuren, die an bühnenhohen Leitern hängen, vollführen subtile schwebende
Bewegungen, die dem Zuschauer der Schwerelosigkeit suggerieren. Allmählich
verschieben sich die Leitern mit kaum wahrnehmbarer Langsamkeit nach rechts
und links, endlich erreichen die Finger der beiden Astronauten spannungsvolle
Nähe. Solche demonstrative Langsamkeit stellt für Wilson ein Medium zur
Verfremdung von im Alltag der Unaufmerksamkeit und der Gewöhnung unerheblich gewordener Handlungen dar. Zu der beschleunigten, im Wortsinne kurz
geschnittenen Präsentation in Zeiten der Informationsmedien, die nicht zuletzt
aufgrund ihres Umgangs mit Bildern und Bildmedien selbst schon als eine
Metapher der Darstellung einer beschleunigten Moderne empfunden wird, ist der
langsame Bühnenvorgang für Wilson eine Gegenstrategie im Theater. Diese
extreme Verlangsamung und Wiederholung mit kleinen Variationen, welche die
Schauspieler in eine Art Trancezustand versetzen könnten, sind nach Wilsons
Überzeugung aber auch ein theatralisches Mittel, die Bühnenbilder und –szenen
so zu strukturieren, um mit ihnen den Gestus eines zu deutenden hermeneuti-
184
schen Gegenstandes zu überwinden. Das heißt: Mit Hilfe der betont langsamen
Form einer Bewegung werden die Bilder auf sich selbst herangezogen, verweisen
auf ihr ‚Hier und Jetzt’. Zu diesem ‚Jetzt’ gehört ihre zeitliche wie ihre räumliche
Präsenz. So durchbrechen die Aufführungen das traditionelle raum-zeitliche
Format des Theaterabends. 305 Diese Dehnung der Zeit und demzufolge verlangsamter Szenenwechsel bedient sich schließlich der Erstarrung der Figuren
mit der fast gemäldehaften Reihenfolge, was zugleich einen sehr speziellen, nicht
selten auftretenden Umgang mit dem Darstellungsprinzip der europäischen
Bühne bedeutet: Dem Tableaux-Charakter. Insofern ist das von Wilson angestrebte Figurenarrangement formal mit den ‚lebenden Bildern’ des 18. und 19.
Jahrhunderts vergleichbar. Eine Bühnendarstellung, die von einer Personengruppe mit Hilfe der Kostüme, Attribute und Pose für eine kurze Zeit bewegungsund wortlos aufgeführt wurde. Tableaux vivants meint dieselbe Kunstform.306
305 Bereits ‚Ka Mountanin’ erstreckt sich über sieben Tage und sieben Hügel hinweg,
Der ‚Stalin’ dauerte zwölf Stunden und zählte 144 Mitwirkende.
306 Das erste gesicherte ‚lebende Bild’ auf der Bühne ist für das Jahr 1761 in einem
Pariser Theater belegt. Als Einblendungen innerhalb von Theaterstücken traten solche
‚lebende Bilder’ jedoch nicht als eigenständige Form auf, sondern waren in einen
theatralen Gesamtzusammenhang eingebunden. Das Tableau spielte nur eine untergeordnete Rolle und war eher für eine überraschend eintretende Wende vom Interesse. Das
Tableau erschien lediglich als ein Mittel des Theaters, die scheinbar ‚natürliche’
Transitorik und Sukzession aufzuheben. Ihr diesbezüglicher Einsatz hing eng mit den
Theaterformen des 18. Jh. in Frankreich, vor allem den bedeutenden theater-theoretischen
Schriften von Denis Diderot. Ein Streit um die Schauspielkunst auf der Bühne entbrannte,
was man als ‚Kampf zwischen Empfindung und Berechnung’ bezeichnen würde, und der
sich aus dem Doppelstatus des Schauspielers ergab. Das Problem war die Identifikation
des Schauspielers mit seiner Rolle und damit das Verhältnis seiner semantischen und
deiktischen Funktion. Auf der einen Seite standen mit Sainte-Albine die Verfechter, die
sich für das Ausleben von Individualität und Emotionen, für die totale Identifikation mit
der Rolle einsetzen, auf der anderen Seite mit Diderot diejenigen, die die Fiktionalität in
den Vordergrund stellten und rationale Rollen-Distanz propagierten. Beiden Richtungen
gemein war Diderots Grundannahme, dass die schauspielerische Darstellung künstlich
gestaltet werden müsse. Schauspieler sollten simple Posen und natürliche Gesten auf der
Bühne präsentieren und sich hierfür an der bildenden Kunst orientieren. Anleitungen
forderten in Bezug auf Posen und Attitüden eindringlich, die Figuren der bildenden Kunst
als Vorbilder guten Stils in Gestik, Körper- und Ausdruckshaltung zu studieren und
nachzuahmen. Kunstwerke hatten Modellcharakter für die Akteure des Theaters und
flossen im Idealfall unauffällig in die Aufführung ein. Wichtiger als Worte waren nun
Stellungen und Gestik. So lehnte Diderot folglich den sog. Theaterstreich (coups de
théâtre) ab, die alles durch überraschend eintretende Ereignisse zum Guten wenden, und
sprach sich stattdessen für ‚tableaux’ aus, gut komponierte Szenen mit Gemäldecharakter,
bei denen die Figuren nicht vereinzelt und isoliert auftreten, sondern in durchkomponierten Gruppen angeordnet werden. Diderot definiert in seinen Unterredungen
über den ‚Natürlichen Sohn’ (1757) folgendes: ‚Ein unvermuteter Zufall, der sich durch
Handlung äußert und die Umstände der Personen plötzlich verändert, ist ein Theater-
185
Während jedoch die Wirkung der historischen Tableaux-Bühne letztlich die
Verfestigung des transitorischen Augenblicks zum gehaltlich vertieften Ausgang
blieb, das sich frei aus der Handlung des Stückes heraus ergibt, helfen die
Wilsonschen Tableauxbilder nicht nur Einheiten des Stückes und der körperlichen Präsenz der Bühnenfiguren. Sie bestimmen die Wahrnehmungsweise der
gesamten Aufführung. Damit verändern die lahmen und fast starren Gruppenbilder traditionelle Muster der Schauspielästhetik. Die visuelle Rekonstruktion á
la tableaux vivants mechanisiert nämlich den Schauspieler, der für die statisch
und räumlich fest und starr definierte Szene weder Reflexion noch Emotion
braucht, verschafft ihm gleichzeitig neue Freiheit, den Raum der linearen Lektüre
zu verlassen und sich in den Raum der freien Reflexivität zu begeben. Durch sein
Ausgestelltwerden auf der Bühne verklärt sich der Körper des Schauspielers so zu
einem Objekt, welches die Betonung der Körperlichkeit als der conditio sine qua
non jeglicher theatralischer Kommunikation bis an ihre äußerste Grenze treibt.
Der Körper ist demzufolge weniger das Material, er wird in seiner Materialität
selbst zum Kunstwerk erklärt.
Dies bedeutet auf der anderen Seite den Übergang von einem interpretativen
zu einem hermeneutischen Theater. Durch kunstfertiges Arrangement werden
dem Zuschauer Räume für die Perzeption eröffnet. Die Produktion des Sinnes
wird allein zu der Sache des Zuschauers und schließt endlose, gleichwertige
Lektüre ein. Die assoziative und poetische Dimension der Körperbilder überschreitet die einzelne Figur als sinnstifende Instanz und überantwortet sich den
streich. Eine Stellung dieser Personen auf der Bühne, die so natürlich und so wahr ist,
dass sie mir in einer getreuen Nachahmung des Malers auf der Leinwand gefallen würde,
ist ein Gemälde.’ (S. 97) Diese Tableaux seien ‚wahr’, ‚natürlich’, ‚sicher in der
Wirkung’ und ein ‚Zug des Geistes’, während jene ‚gezwungen’ und nur ein ‚Kinderspiel’, also unwahrscheinlich und unwahr seien. In Diderots Konzept des Tableaus
verbinden sich somit zwei unterschiedliche Elemente, deren Bedeutung sich im Laufe der
Zeit nahezu verkehrt zu haben scheint: Auf der einen Seite ist das Tableau für Diderot
Ausdruck der von ihm postulierten natürlichen Darstellung. Er setzt der sprachorientierten Ästhetik der tragédie classique das Konzept einer ‚natürlichen’ Ästhetik
entgegen: Der Modus darstellungsloser Selbstdarstellung suggeriert absolute Nähe und
Intimität. In das Zentrum dieser Argumentation tritt die Pantomime, die als zentraler
Bestandteil der neuen Theaterästhetik beschrieben wird. Die stumme Geste der
Pantomime gilt Diderot als die beste Möglichkeit, Empfindungen auszudrücken. Das
Tableau bezeichnet in diesem Zusammenhang die größere Einheit solcher Gesten – es
bezeichnet den wahrhaftigen, natürlichen Ausdruck im Gegensatz zu einer sprachüberladenen Theatertradition. vgl. Wolfgang F. Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jh.
Grundlagen, Praxis, Autoren, Stuttgart 1992/ Willy R. Berger: Das Tableaux. Rührende
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Bd. 24. Berlin/New York 1989, S.131-147.
186
Rezipienten. Selbst der in der Puppenfigur anwesende Körper des Schauspielers
wird eine Zusammensetzung aus soziokulturellen Konventionen und Repräsentationsmustern sowie den Performances, durch die sich diese konstituieren.
Die Figur nähert sich also den Rändern des Verschwindens und gerade an diesen
Rändern lassen sich offene, produktive Modelle der Figurenkonzeption orten.
Eine Kunst, die demnach nie gemacht, sondern durch die Annäherung und das
Geheimnis der Distanz erfahrbar ist, gilt hier als Befreiung des Selbst-Seins zur
Puppe, die wiederum als Allwissender - spirit erfahren werden kann. Den zusammenhanglosen, oberflächlichen, mechanischen Strukturen des Puppenkörpers steht eine subjektive Sinnlichkeit und persönliche Dichtung entgegen.
Beide bedingten sich gegenseitig und halten das Theater in der Schwebe zwischen
Kalkül und Spontaneität, Offenheit und Geschlossenheit, Einmaligkeit und Reproduzierbarkeit. Die Bühne unterhält, bildet und erlaubt dabei eine intellektuelle Auseinandersetzung, genau in dem Moment, wo der Schauspielkörper
auf der Bühne noch einmal innehält, bevor er sich rest- und spurlos auflösen
wird. So bringt auch das Zitat aus Kleists Aufsatz zum Marionettentheater im
Programmheft zu CIVIL warS des Kölner Teils die Wilsonschen Bühnenfiguren
dem Verstehen näher:
‚Nun, mein vortrefflicher Freund, sagte Herr C…, so sind Sie im
Besitz von allem, was nötig ist, um mich zu begreifen. Wir sehen,
dass in dem Masse, als, in der organischen Welt, die Reflexion
dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender
und herrschender hervortritt […] so findet sich auch, wenn die
Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die
Grazie wieder ein; so, dass sie zu gleicher Zeit, in demjenigen
menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar
keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem
Gliedermann, oder in dem Gott.’
Es wird zusammengefasst:
Ohne Zweifel steht Wilson bezüglich der von ihm eingesetzten Kunstmittel in
der Reihe der historisch-ästhetischen Tradition der europäischen Theateravantgarde zu Beginn des 20. Jh. Ebenfalls verwendet er mehrdeutige Zeichensprache des Raumes und eine genau vorprogrammierte Abfolge von inkohärenten, alogischen Bildern, die dem Zuschauer Anstoß zu einer offenen, die
Sinnproduktion unendlich anregenden Perzeption und Lektüre geben sollten.
Das Phänomen ‚Wilson’ ist aber offenkundig die Verwendung seiner kunsthaft
187
arrangierten Bühnenfiguren in Zeiten der Postmoderne, die dazu beitragen, dass
sie mit zusätzlichen Sinnbezügen und Assoziationen aufgeladen werden, die
zugleich zu einer Störung der Kontinuität bei der Perzeption der repräsentativen
Vorgänge führen. Nicht nur auf der Ebene des Geschehens nimmt die Bühne eine
‚Dekonstruktion’ der herkömmlichen dramatischen Aktion vor, auch dramaturgisch betrachtet sind bei Wilson die Figuren architektonisch abgestimmt, nicht mit
dem Ziel einer kohärenten, homogenen Gestaltung, sondern einer irritierenden
Segmentierung und Fragmentierung des szenischen Geschehens. Der Handlungsraum wird dadurch in widersprüchliche Raumbilder aufgeteilt. Stimmen werden
durch elektronische Tontechnik abgelöst, bzw. akustisch verstärkt und kinetische
Vorgänge mit zeitlupenartiger Dehnung verlangsamt dargeboten. Repetitionsmuster rhythmisieren dabei zusätzlich die inkohärent montierten Bühnenvorgänge. Gleichwohl liegt es Wilson fern, auf der Bühne im Sinne Strindbergs
die der Wirklichkeit entgegengestellte unzusammenhängende, aber scheinbar
logische Form der Figuren nachzubilden. Nicht an die Personen als ein Gemisch
von Erinnerungen knüpft Wilson an, sondern an die Realität, die im Blick des
Tauben für wahr genommen wird. Das Theater stellen die puppenähnlichen
Figuren damit als hochgradige Mimesis dar, welche die Wirklichkeit als komplex
auffasst.
188
Zusammenfassung
Der Grundgedanke dieser Arbeit war es, anhand ausgewählter Beispiele einer
Phänomenologie des Androiden auf der Theaterbühne des 20. Jahrhunderts zu
folgen. Ihre Zielsetzung war es, sowohl theatertheoretische und -praktische
Anstrengungen über Inszenierungskonzepte bzw. Schauspielkonzepte bezüglich
der Kunstfiguren grob einzuordnen, sowie daran einen Überblick anzuschließen.
Diese Untersuchung versuchte dabei drei zentrale Grundthesen zu entwickeln.
Erstens: Androiden als Schauspielmetapher
Die ersten fundamentalen Überlegungen suchten die synthetischen Dispositionen der Bühnenschauspieler in Verbindung mit dem künstlichen Menschen
herauszuarbeiten. Die Korrelation vom menschlichen und artifiziellen Körper
unterstreicht die Tatsache, dass Bühnenakteure immer etwas Künstliches und
Konstruiertes darstellen, mithin die artifizielle Simulation natürlichen menschlichen Verhaltens. Der Bühnenkörper ist demnach nicht der Ort des Natürlichen,
Authentischen, Eigentlichen. Er ist vielmehr ein Konstrukt, eine offene Projektionsfläche für künstlerische Einschreibungen. Wie diese Synthetik des
Bühnenkörpers lebhaft und anschaulich gestaltet wird, ohne die semantische und
deiktische Funktion des Körpers im Sinne eines semiotischen Textmodells auf die
Ebene des Signifikanten zu verschieben und ihm damit letztlich nur die
Materialität eines beliebigen Zeichens zuzubilligen, war und ist die jahrhundertlange Streitfrage in der abendländischen Schauspielkunst.
Im 20. Jahrhundert wurde diese Debatte ebenfalls fortgesetzt. Während die
herkömmliche Auseinandersetzung bis dato in der vollkommenen Identifizierung
mit der darzustellenden Figur, i. e. in einer Aneignung eines fremden Äußerlichen
in die eigene Innerlichkeit als Verwirklichung einer Kongruenz ihren Kompromiss fand, stellten viele Künstler dies in Frage. Das scheinbar mit seinem
Äußerlichen und Inneren identische Individuum, seine Einheit auf der Bühne
schien ihnen fraglich, zumal dem menschlichen (Bühnen)Körper ihrer Meinung
nach in sich ein Widerspruch anhaftet. Auf der einen Seite ist er ein
Übergangsmedium zur Außenwelt bzw. Innenwelt, auf der anderen Seite aber ein
Hindernis, dem das Subjekt für immer in seiner Haut verbunden bleibt. Die
189
vermeintlich natürliche Gestalt des Anwesenden auf der Bühne entpuppte sich als
der Vorwand. Leibliche Identifizierung des Schauspielers mit dem Abwesenden
erwies sich als das Phantasma. Ausgehend von Gedanken der historischen Avantgardisten, sowie von Betrachtungen außereuropäischer Theaterformen suchten
diejenigen Künstler infolgedessen nach Formen idealer Bühnenfiguren, in deren
Mittelpunkt nicht das verkörperte Individuum und dessen Verwandlungskönnen
in eine Rolle, sondern der überpersönliche ‚Topos’ eines Kunst-Egos steht, der
zugleich Träger und Verkörperung ästhetischen Konzepts ist und als solche sich
dem anekdotischen, privaten, individuellen Körper entzieht. Um solchen
entindividualisierten Körper als mögliche Alternative zum subjektiven Körper
und den Menschlichen umgekehrt als reine Projektionsfläche zu sehen, ist eine
neue Herangehensweise erforderlich, in der Abgrenzung und Überschneidung
der Gegenstände reflektiert wird. Dies verlangt vom Schauspieler neue
szenentechnische Ausbildung, mithin Bereitschaft, sein Ego zurückzustellen. Als
möglicher Fluchtpunkt bietet sich hier der ‚Raumkörper’ an.
Zahlreiche Bemühungen der Bühnenkünstler des 20. Jh. zielten auf die
Formung ihrer Auseinandersetzung mit dem Komplex Figur-Raum ab: Wie kann
man den architektonischen und wirkungsästhetischen Rahmen der traditionellen
Theaterbühne als Herausforderung nehmen, sich mit der Reduktion auf Zweidimensionalität auseinander zu setzen? Wie konzentriert man die Vieldimensionalität von Figuren auf eine Form, die in der Zweidimensionalität überzeugt? Aus
welchem inneren Impuls abstrahiert man ein Zeichen? Schließlich: wie formuliert
sich das Wesentliche? Trotz unterschiedlicher Ansätze bestanden Übereinstimmungen zwischen der Fragestellung bzw. der übergreifenden Bühnenthematik
hinsichtlich der Raumproblematik, Erforschung und Benennung der Faktoren
künstlerischer und ästhetischer Gestaltung der Figuren. Die Mechanisierung des
menschlichen Körpers und deren räumliche Darstellung war dabei entscheidender Träger. Die Begründung für die Wahl der Mechanik als Mittel lag für
die Bühnenreformer sowohl in der mathematisch-geometrischen Präzision des
menschlichen Körpers (Schlemmer) oder in der egalitären gesellschaftlichen
Neuorientierung (Meyerhold), als auch in der überdimensionierten Betonung
und deren Isolierung von Körperteilen als konstitutive Elemente des zeitgenössischen Körperdiskurses (Kantor, Schumann) sowie in der Verfremdung
(Wilson). Eine totale Mechanisierung von Körper und Raum zogen sie jedoch nur
theoretisch in Betracht. Der Körper der Schauspieler diente lediglich als
Instrument, um sich traditionell eingeübten realitätsnahen Schaumustern der
190
abendländischen Bühnenkultur zu entziehen. Bühnenakteure erschienen demnach nicht mehr als Person, die den menschlichen Körper repräsentiert, sondern
als ‚Kunstfigur’, die das Körper-Verwandlungs-Potenzial mit Hilfe von Kostüm
und Maske und jenseits der Persönlichkeit und Begrenztheit des menschlichen
Körpers demonstriert. Wenn sich die Künstler also in ihren Bühnenwerken und
theoretischen Äußerungen auf die künstlichen Menschen bezogen, so lautet die
zentrale These dieser Arbeit, knüpften sie an dieses spezielle Kunstkonzept an
und nutzten es als Ausgangspunkt zur Entwicklung ihrer ästhetischen Konzepte:
Die Androiden sind Metapher der europäischen Schauspielästhetik. Die zu
Beginn der Arbeit aufgestellte Hypothese, dass die Ästhetik des menschlich
modellierten Kunstkörper die zentralen Probleme und Fragestellungen der
Schauspielästhetik berührt, hat sich somit bestätigt.
Zweitens: Androiden als Allegorie des modernen Kunstkonzepts
Das Theater steht immer in einer sich an sehr unterschiedlichen Punkten
festmachenden Linie einer ideengeschichtlichen Tradition. Die darstellende
Kunst befindet sich, wie jede Kunstartikulation, in einem kunsthistorischen und
einem real- oder epochalhistorischen Kontext, wobei dieser jenen umschließt.
Gegenwärtige Theaterformen zu erforschen bedeutet daher, bei aller Heterogenität, ja Unvereinbarkeit der konzeptionellen Ansätze ungeahnte Gemeinsamkeiten zu entdecken. Die Untersuchung dieser Arbeit ging indes von der
Annahme aus, dass moderne Transformation der Schauspielkunst sich mit den
Folgen des veränderten Kunstbegriffs des vorigen Jahrhunderts verknüpfen.
Insofern gelten die Überlegungen dieser Abhandlung nicht nur ‚Puppenästhetik’
auf der Bühne, die hier ausgeführt zu sein scheint, sondern dem modernen
Kunstverständnis des 20. Jahrhunderts.
Den Puppenkörper als Bühnenelement neuer theatralischen Möglichkeiten
darzustellen bezieht zwei widersprüchliche Bewegungen der Moderne ein. Die
eine entspricht einer universalisierenden, naturalisierenden und entpolitisierende Verschiebung umfassender ökonomischer, politischer, gesellschaftlicher Subjektivierungsprozesse auf die Körperebene. Die andere zeigt im
Anschluss an Michel Foucaults These der Dispositive der Macht und dessen
feministischer Weiterentwicklung auf, dass der Körper Knoten- und Schnittpunkt
191
divergierender Machtdiskurse ist. Beide sehen am menschlichen Leib die
Verpuppung des Körpers, balancieren so stets zwischen Verdinglichung und
Auflösung. Derartiger moderner Körperdiskurs hinsichtlich der neuen Determinanten der Kunst, die seit Beginn des 20. Jh. vorangetrieben wurden - die
Vorrangstellung des Ästhetischen als solchen, das Streben der Kunst nach
Verbindungen mit dem Alltagsleben, die Verschmelzung der Kunstgattungen und
nicht zuletzt die Neubewertung der populären Kunst -, erweist sich bald als vorteilhaft, den androidenhaften Körper als legitime Bühnenperformance anzusehen: Die humanoiden Kunstgeschöpfe, die auf den ersten Blick gegen eine
solche Vorstellung zu sprechen scheinen, wegen ihres leblosen, trivialen Status
bzw. als Gegenstände eines durch die Entwicklung der Bühnenkunst selbst
überholten Konzepts, demonstrieren sich bei genauem Hinsehen als durchaus
erfüllbar. Treten nämlich die Kunstkörper im Leib des lebendigen Schauspielers
auf, wird das Strukturprinzip des Theaters in der ästhetischen Kategorie
mehrfach verdoppelt und potenziert. Denn Kunstfiguren ergeben sich bereits aus
dem Prinzip der Allegorie, des Verweisens auf ein Anderes und der daraus
resultierenden doppelten oder multiplen Struktur, sie werden somit zur
Darstellung einer Darstellung - die Puppen legen das Theatralische im Theater
bloß. Durch diesen totalen Kunstcharakter der Puppe, die dazu die vollkommene
Verkörperung des Naturfernen, Anorganischen, ja Künstlichen sind, ist das
Theater die Kunst par excellence und konstruiert sich als eigenwillige Kunstform.
Die zweite These des Verfassers, dass die Androidenbühne eine adäquate Antwort
sowohl auf die historischen Erfahrungen der Avantgarde mit ihrer künstlichen
Figuren als auch eine der prominentesten Problemstellungen der gegenwärtigen
Ästhetik liefert, ist damit sicher gestellt.
Drittens: Androiden als Wunschkörper auf der Bühne
Die Vorstellung, die eigene Körperlichkeit abstreifen oder ausdehnen zu
können, setzt den Glauben an etwas Unsterbliches voraus: ein Wesen, das nicht
greifbar, aber existent genug ist, um im eigenen Körper wirksam zu werden.
Glaubt man an solch eine Totalität der Existenz, dann fungiert ein maskierter
Körper als einer ihrer auffälligsten Ausdrücke. Man kann ihn so als Gegenstück
zur Realität oder als Wirklichkeit erblicken, die das niemals überzeugende und
immer wechselnde Image verbirgt. Voraussetzung eines derartigen Wirkungs-
192
mechanismus ist allerdings eine vielfältig strukturierte Ganzheitsvorstellung, eine
mythisch begründete Identität von Mensch und Welt, von Kultur und Natur.
Besonders im Theater könnte man vom ‚Rausch der Identitäten’ sprechen, ging es
doch darum, gegen sämtliche willkürlichen Kodierungen leibsinnlicher Selbstentfaltung durch Geschlechter und Alter, Familie und Gesellschaft zu einer
rauschhaft-dionysischen Selbsterfahrung und –entwicklung zu gelangen.
Die schöpferische Tätigkeit des Menschen, ein künstliches Wesen herzustellen, spiegelt sich in den zahlreichen Versuchen, worin folglich eine Wunscherfüllung zu sehen ist, die ihre Ursache in einer tief empfundenen Unzufriedenheit hat: Die Kunstgeschöpfe verdanken ihre äußere Erscheinung der künstlerischen Suche nach dem Wunsch des Ursprungs, des Elementaren, des Gesetzmäßigen. Die unbelebte Figur ist nicht bloß die symbolische Verkörperung des
außengesteuerten Individuums, sondern ein überzeitliches Ideal der unstillbaren
Sehnsucht des Menschen nach Überschreitung der ihm gesetzten Grenzen.
Insbesondere das Gefühl der Substanzlosigkeit bzw. Haltlosigkeit der eigenen
Person der Moderne führte zur Transzendierung der am eigenen Leib erlebten
Fragmentierung des Ich in einer neuen Ganzheitserfahrung. Aus der Erfahrung
der gewaltsamen Konfrontation des Körpers mit einer neu wahrzunehmenden
Außenwelt resultierte eine notwendige Neubewertung der Beziehungen des
Menschen zu seinem jetzt von der Technik behausten Lebensraum. Ein Wunsch
also, der chaotischen Mannigfaltigkeit der Natur nach dem Vorbild des Geistes,
der Identität, zu entkommen, bzw. die Natur nach dem Vorbild des Geistes
geordnet neu zu erschaffen. Eine Puppe kann daher als ästhetischer Grenzfall der
Moderne verstanden werden, in dem sich Menschen über das Verhältnis von
Natur und Kunst, Schein und Sein, Original und Kopie, Wahrheit und Lüge
auseinandersetzen.
Die mediale Position des Androiden auf der Bühne spiegelt ebenso diesen
Wunsch wider, der aber zusätzlich eine Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen Ebenen herstellen will: zwischen dem vortragenden Bildmedium
einerseits und dem Verstummen einer potentiell sprechenden Figur andererseits,
bzw. zwischen den Ebenen von Bild und Text. Die Darstellung eines Kunstgeschöpfs ist daher auch ein Phänomen, das zwei unterschiedliche Medien im
Theater miteinander in Beziehung setzt. Die Androiden werden so zu Schwellenfiguren, die auf topologischer Ebene mit ihren Körpern eine Barriere bilden und
damit einen Raum von einem zweiten symbolisch trennen. Diese Betrachtung ist
193
letztendlich kein universelles Modell für die Schauspielästhetik, sie ist bloß eine
Aufforderung, die Ontologie des Schauspielers zu hinterfragen, in der sich die
europäische Bühne so ehrgeizig eingerichtet hat: ein Phantasma des vollkommenen (Bühnen)Körpers, das utopisch ist, und gerade deshalb für etwas
Neues offen sein kann. Hier liegt ein Widerspruch, den man immer als
unaufhebbar hingestellt hat.
194
Abbildungsverzeichnis
[Abb. 1] Das Gero-Kreuz und sein Detail
[Abb. 2] Die sog. Mediceische Venus
[Abb. 3] Die sog. Mediceische Venus
195
[Abb. 4] L’Écrivain,
der Schreiber
[Abb. 5] La Musicienne,
die Musikerin
[Abb. 6] Ein Blick in den Mechanismus des Automaten
196
[Abb. 7] Bühnen-Marionette
(Balletprobe 1953: Der Tänzer Hans Birkenstock bei der Arbeit
an der ‚Nussknackersuite’ Tschaikowsky)
[Abb. 8] Germaine Krull (Ohne Titel, Passagen - Paris, 1928)
Eugène Atget (Schaufenster mit Damenbekleidung), um 1910)
197
[Abb. 9] Eine Aufnahme aus dem Studio Reutlinger von 1902
[Abb. 10] Porzellanpuppe im Mieder von Simon & Halbig, um
1900
198
[Abb. 11] Schaufensterpuppen der Londoner Künstlerin Adel
Roostein und ihr lebendes Vorbild
[Abb. 12] Giorgio de Chirico (Le muse inquietanti, 1924-25)
199
[Abb. 13] Denise Bellon (Mannequins von Espinoza, Wolfgang
Paalen und Salvador Dali, 1938-99)
[Abb. 14] Hans Bellmer (La Poupée, 1934)
[Abb. 15] Anonym (Die von Hermine Moos für Oskar
Kokoschka hergestellte Puppe, 1919)
200
[Abb. 16] Bild eines maskierten Schauspielers aus ‚Beyond the
Mask’
201
[Abb. 17] Kasimir Malewitz (Kostümentwürfe zu 'Sieg über die
Sonne')
202
[Abb. 18] Bühnenbild und Szenenfoto aus ‘Der großmütige
Hahnrei’
203
[Abb. 19] Szenenfotos aus ‘Der großmütige Hahnrei’
204
[Abb. 20] Die beiden Pathetiker
[Abb. 21] Oskar Schlemmer
(Atelierszene, um 1909)
[Abb. 22] Goldkugel
aus ‚Das Triadische Ballet’
205
[Abb. 23] Formentanz aus Bauhaustänze um 1926 von Oskar
Schlemmer
[Abb. 24] Figurales Kabinett von Schlemmer
206
[Abb. 25]
[Abb. 26]
[Abb. 27]
[Abb. 28]
[Abb. 29] Runge, Mystische Kreisfiguration, 1803, S. 32f, Runge
in seiner Zeit, Hamburger Kunsthalle (Hg. Werner Hofmann),
München 1977
207
[Abb. 30] Duane Hanson
Supermarket shopper, 1970
Tourist II, 1988
Queenie II, 1988
Museum Guard, 1975
208
[Abb. 31] Cindy Sherman
209
[Abb. 32] Puppen aus The Bread and Puppet Theatre
Szenenfoto aus ‘Our Domestic Resurrection Circus’ von Bread &
Puppet Theatre
Szenenfoto aus ‘The Circus of the Possibilitarians’ (Sep. 2002)
von Bread & Puppet Theatre
210
[Abb. 33] Szenenfotos aus ‚Die Tote Klasse’
211
[Abb. 34] Szenenfoto aus ‚Die Tote Klasse’
[Abb. 35] Szenenfoto aus ‚Die Tote Klasse’
212
[Abb. 36] Szenenfoto aus ‘The Life and Times of Josef Stalin’
[Abb. 37] Szenenfoto aus ‚Deafman Glance’
213
[Abb. 38] Szenenfoto aus ‚Einstein On the Beach’
[Abb. 39] Szenenfoto aus ‚Einstein On the Beach’
214
[Abb. 40] Szenenfoto aus ‚CIVIL warS’
215
[Abb. 41] Matthew Brady’s Fotoportrait ‚Anna Swan with the
Lilliputian King’
216
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Min-Chor Wi wurde 1972 in Seoul, Süd-Korea geboren, hat dort die Schule
und 1991 sein Abitur gemacht. Er hat in Seoul und Marburg Germanistik
und in Bochum Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte, Koreanistik
studiert und sein Studium in Bochum mit einem M. A. abgeschlossen.
Nach Studein- und Forschungsaufenthalten in England, den Niederlanden
und Süd-Korea kehrte er zurück nach Bochum, wo er im Mai 2006 seine
Promotion abschloss.
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