Die Phänomenologie des Androiden - Reflexionen des Körpers auf der Bühne im 20. Jahrhundert DISSERTATION zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie an der Fakultät der Philologie der Ruhr-Universität Bochum vorgelegt von Min-Chor Wi 2 Gedruckt mit der Genehmigung der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum Referent: Koreferent: Prof. Dr. Ulrike Haß Prof. Dr. Guido Hiß Tag der mündlichen Prüfung (Disputation): 26. Mai 2006 3 Danksagungen Für die Unterstützung, die ich beim Schreiben dieser Arbeit erhalten habe, möchte ich hier stellvertretend einigen Menschen danken: Ui-Hwan Wi, Gyi-Nam Paik, Joo-Ho Wi, Kyung-Nam Cho, Hyun-Joo Wi, Nyambayar und Deegi Tsedenbal, Hee-Ra und Erdogan Üzer, In-Sun Hwang, Sun-Ah Yim, Ellen Schulz, Ulrike Haß und Guido Hiß und meinen Freundinnen und Freunden und Kolleginnen und Kollegen. 4 Inhaltsverzeichnis Das Phänomen des Androiden: Einleitung 7 Die Auslegung des Androidenkörpers - Kulturhistorische Diskurse über dem artifiziellen Körper oder Varianten des künstlichen Menschen 1. Beginn des heidnischen Körpers: am Beispiel Kruzifixe Körper ohne Leib/ Körper als Puppe 17 Exkurs: Die Genealogie der Augen oder eine kurze Geschichte des Sehens 23 2. Körper als Sutur: Anatomische Wachsfiguren Körper in perfectio natura/ Körper zwischen Natur und Artefakt 27 3. En suite des Körpers : Automaten im 18. Jahrhundert Die Mechanisierung des Leibes/ Die Kultivierung des Körpers 34 4. Biegsamer Körper: Marionetten und ‚Marionettentheater’ von Heinrich v. Kleist Künstlerischer Körper/ Graziöser Körper 40 5. Körper als Kleiderpuppe: Schaufensterpuppe Körper der Authentizität/ Körper als Kleiderständer/ Körper der Moderne 46 Exkurs: Androgynität des Schauspielkörpers Dynamik des Phänomens: Fazit 53 58 5 Die Faszination des Androiden auf der Bühne - Praxen der Puppenästhetik auf der Theaterbühne Figürliche Dramatisierung: Fragestellung I 61 1. Androiden-Abhandlung - Die Androiden an die Front der Historischen Theater-Avantgarde 1. 1. Artifizielles Überwesen in Trance - Edward Gordon Craigs Übermarionetten-Theater Die Ausgrenzung des Körpers/ Der Körper der Ferne/ Der erhabene Körper 66 1. 2. Aufstand der Dinge - Die Bühnenästhetik der Futuristen Der Körper in der ‚neuen Sensibilität’/ Serieller Körper/ ‚Der Sieg über die Sonne’: die Oper 2. Soziale Automaten - Wsewolod E. Meyerholds ‚Der großmütige Hahnrei’ 77 88 2. 1. Der Stand der Dinge Ausgang: Textauswahl/ Entfaltung: Stilisierung/ Orientierung: Sozialer Körper, kollektiver Leib 89 2. 2. Übungssache Übung: der Körper als Material/ Die Darstellung bis in die Auflösung oder Maschinelle Improvisation 96 2. 3. Verfahrensweise Die Inszenierung: Die Bühne in Konstruktivismus/ Übertragung: Kostüme/ Erhebung in Egalitärisierung 3. Der Weg zum Stil über die Kunstfigur - ‚Das Triadische Ballett’ von Oskar Schlemmer 103 112 3. 1. Tanz der Puppen oder die Verpuppung der Figuren Die Aufführung: Rezensionen/ ‚Triadische Ballett’ und die Bauhausbühne 3. 2. Die Annäherung - Mensch und Kunstfigur Kosmischer Körper/ vom dualistischen Raumkörper zum Tänzer- 113 6 menschen/ mathematischer Körper 122 3. 3. Das Wesen der Kunstfigur Der Begriff ‚Kunstfigur’ Die Wiederentdeckung der Puppen: Fragestellung II 4. Die mediale Funktion der Puppen 129 134 140 4. 1. Stille Geste der Puppen - The Bread and Puppet Theatre politische Abstrahierung durch den Körper/ Körper als Spektakel 141 4. 2. Die Verdoppelung des Puppenkörpers - ‚Das Theater des Todes’ von Tadeusz Kantor Körper in Tradition und Aufbruch/ Körper zwischen Wirklichkeit und Illusion/ Der Metakörper 149 5. Das Theater der Effigies - Robert Wilsons Bildertheater 162 5. 1. Stumme Beredsamkeit – The Deafmann Glance (1970) Körper als Bedeutungsträger oder ‚the body doen’t lie’/ Zweierlei Körper/ Körper als Ding 163 5. 2. Narrative Homunkuli – Einstein On the Beach (1976) Körper als Stimulans/ emphatischer Körper/ narrativer Körper 172 5. 3. Das Theater ohne Schauspieler – CIVIL warS (1983-1986) Collage des Körperlichen/ Körper als Kunst-Werk 179 Zusammenfassung 188 Abbildungsverzeichnis 1 94 Quellen- und Literaturhinweise 216 7 Das Phänomen des Androiden: Einleitung Der Schauspieler: nacktes Bildnis des Menschen, öffentlich zur Schau gestellt, mit einem Gesicht, elastisch wie Gummi, […] er simuliert seine Tränen und sein Lachen, das Funktionieren aller menschlichen Organe, die Leidenschaften des Herzens, des Geistes, die Exzesse des Magens und des Penisses, mit einem Körper, der allen Reizen und Gefahren und Überraschungen preisgegeben ist, eine Attrappe des Menschen, ein künstliches Modell seiner Anatomie und seines Geistes, das auf Würde und Prestige verzichtet, am Pranger und zum Gespött zur Schau gestellt, dem Abfallhaufen und der Ewigkeit nicht fremd.1 1 Kantor: Manuskript, zit. nach: Jan Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater, in: Harald Xander (Hg.): Tadeusz Kantors Theater, Tübingen 1995, S. 28. 8 I Die künstlichen Menschen sind en vogue. Ihre phantasievollen Erscheinungen sind via populärer Medien allgegenwärtig: Figuren wie die jugendliche Heldin Lara Craft oder der quirlige Klempner Mario aus Videospielen, genauso wie ‚Terminatoren’ auf den Leinwänden, sind regelrechte Ikone einer Generation geworden. Weniger unterhaltsamer, vielmehr spektakulär geht es dann zu bei den Kreaturen aus dem Bereich ‚Biotechnologie’. Während noch die meisten von uns die Vorstellung, dass Mensch und Maschine nahtlos miteinander verschmelzen, für irreal halten, gehen führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (Ray Kurzweil: The Age of Spiritual Machines, 1998) längst davon aus, dass es in wenigen Jahrzehnten menschenähnliche Computerwesen durch die Nanotechnologie geben wird. Von einem intelligenten Wesen ohne Fleisch und Blut ist dabei die Rede. Es vergeht indes kaum ein Tag, an dem nicht über das Klonen von Menschen berichtet wird, deren Erbgut mit der Analyse des menschlichen Genoms künstlich verändert werden und denkbar den neuen schönen, gesunden und starken Menschen hervorbringen könnten. Im deutschsprachigen Feuilleton ist es nachzulesen, wie dieses ‚Geschöpf nach Maß’ oder ‚die Zweite Schöpfung’ die Welt in eine ‚Hypermoderne’ verwandeln wird, in der wir uns selber entwerfen. Die Spielräume der künstlichen Menschen scheinen damit ins Unendliche gewachsen zu sein. Die Faszination, welche die künstlichen Menschen ausüben, liegt bei genauer Betrachtung in ihrer widersprüchlichen Wahrnehmung begründet: Sie sind einerseits die Artefakte, die sich im schöpferischen Akt als Alter Ego des Künstlers widerspiegeln, sie sind aber andererseits eigenständige Wesen, die im Auge des Betrachters lebendig erscheinen. Und zwar dient diese anthropomorphe Kunstfigur als Beweis einer gestalterischen Potenz, die den Menschen, der sich der ‚Schöpfungstätigkeit Gottes’ zu nähern versucht, über sich selbst hinaus zu tragen scheint. Sie birgt aber Spuren animistischer Kraft, die sich zu verselbständigen und als eigenständiges Wesen lebendig zu werden droht. Ihre augenscheinliche Ähnlichkeit löst den Unterschied zwischen dem Original und der Kopie auf, verleiht dem Künstlichen eine paradoxe Natürlichkeit und ruft schließlich in der Phantasie des Betrachters einen permanenten Zweifel hervor, ob sie Subjekt oder Objekt, das heißt, Mensch oder Ding ist. 9 Dabei hat die Körperlichkeit des ‚Dinges’ einen wesentlichen Anteil an diesem Prozess. Denn in ihrer körperlichen Annäherung an dem Menschen tragen die Kunstmenschen die Körper von der Schnittstelle zwischen dem Artifiziellen und dem Einzigartigen; ihr künstlicher Körper ist höchst artifiziell, aber gleichzeitig individuell. Die Glieder von einer Puppe sind immer eine Abbildung und Abdruck vom Schöpfer, werden daher ewig mit dem ‚Puppenspieler’ verbunden. Zusammengesetzt aus einzelnen Teilen und gleich demontierbar sind sie außerdem nicht imstande, autonom zu sein, bzw. in ihren Gesten, ihren Entscheidungen und ihrem Auswahlverhalten unabhängig zu sein. Ein Puppenkörper ist aber gleichzeitig unikal in seiner Beschaffenheit; die dreidimensionale Plastik besitzt nämlich eigenes Aussehen, Gesten und somit persönliche Identität. Er steht nur für sich selbst; für den Leib, den er verkörpert. Das Arkanum dieses Kunstkörpers liegt insofern in seiner verdoppelten Illusion: Körperimitate sind nicht nur Artefakte, die vorgeben, Lebewesen zu sein; es sind selbständige Zeichen, die ebenfalls vormachen, keine zu sein. Sie nutzen die scheinbare Geistlosigkeit des Kopierten, die Einfallslosigkeit des bloß Nachgeahmten, hinter deren vermeintlicher Objektivität ein Subjekt vermutet wird. Diese anscheinend magischen Charakteristika verleihen der Kunstfigur eine totemische Bedeutung und erklären die zentrale Rolle, die sie in der visuellen Kultur einnimmt. Die Ambiguität des Puppenkörpers als eine sekundäre, aber verstärkende Funktion findet sich bereits in dem alten Begräbniskult der effigy. Mit der Abbildung ganzer Körper oder Körperteile, als verallgemeinertes Bildnis oder Portrait, standen die Effigien für Verstorbene. Ihre Aufgabe, den abwesenden, bereits ‚vergangenen’ Körper als Objekt eines gewesenen Subjekts zu fixieren, bzw. den Toten gleichzeitig durch naturalistische Ähnlichkeit zu ‚beglaubigen’, entfaltete jedoch die irritierende Wirkung: Die Verdoppelung, deren Garant einer energetischen Dementierung des Todes und Vergessens dient, stellt augenblicklich ein Anderes dar; die Ahnen greifen in dem Augenblick wirkungsvoll in die Lebensumstände und Verhältnisse der Gegenwart ein. Als visuelle Medien der Erinnerung halten Ahnmännchen alle den abwesenden Toten im Bild anwesend. Die Herrscherpuppen vom Hochmittelalter bis zum beginnenden Absolutismus hatten sogar die Funktion, nach dem physischen Tod des Machthabers dessen Präsenz weiter zu bestätigen. Den sog. geistigen Körper, der das Wesen der Monarchie vergegenwärtigen sollte, das niemals starb, schlief oder krank wurde, stellte man mit Porträts und Statuen überall dar. Und dies ermöglichte zugleich, den Moment der Erscheinung des lebenden, d. h. des neuen Herrschers zu 10 rechtfertigen. Die tatsächliche Herrschaftsunterbrechung wurde oft als zeremoniell überspielt. Damit wohnte den Herrschereffigien ein Vermögen inne, das ein ‚Da-Gewesen-Sein’ wie auch ein ‚Hier und Jetzt’ indizierte. Sie konnten Repräsentation und Präsenz gleichermaßen sein. II Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tauchten immer häufiger Kunstfiguren in Menschengestalt in Form von Marionetten und Automaten, Manichini und Puppen, oder auch in Homunkuli und anthropomorphen Chimären in der Kunstszene auf. Sie alle faszinierten und agierten die künstlerischen Vorstellungswelten. Für die historischen Avantgardisten wie Surrealisten und Dadaisten wurde die Anatomiefigur eines der beliebtesten Motive eines künstlerisch sezierten und wieder frei zusammensetzbaren Körpers. Das Interesse an der unbelebten und sprachlosen Figur der Stummfilmgroteske aus den 20er Jahren erweckte unter andrem die marionettenhafte Körperbewegung und der maskenhafte Gesichtsausdruck des künstlichen Körpers, neben der unpsychologischen Darstellung, amoralischen Mechanik und der absurden Handlungsverläufe, die das Publikum nicht selten bis zum Unheimlichen führten. Dieses Phänomen fehlte auf der Theaterbühne nicht: E. G. Craig entwickelte mit seinem ‚Übermarionetten-Projekt’ eine nicht aus Blut und Fleisch bestehende Figur, die den menschlichen Schauspieler ersetzen sollte. Das Futuristische Theater war begeistert von dem hybriden Körper bezüglich seinen Parallelen zur neuen, technischen Industrialisierung und begründete dementsprechend neue Bühnentypen. Der Regisseur Wsevolod Meyerhold erstrebte indessen, dass der Schauspieler seinen Körper durch ein spezielles Training durchaus in eine ökonomisch und effizient zu handhabende ‚Arbeitsmaschine’ umwandeln sollte, die jede beliebige Bewegung sozusagen auf Abruf zu produzieren vermochte. Es war das Experiment Oskar Schlemmers, welches die mechanischen Aspekte des Körpers betonend durch die Umkleidung mit starren ‚Kostümbauten’ die Annäherung des Menschen an die scheinbar mechanisch funktionierende Kunstfigur zu ermöglichen versuchte. Wenn aber Theater, dessen conditio sine qua non die physische Präsenz der Menschen darstellt, bzw. die tatsächliche Anwesenheit des lebendigen Körpers 11 verlangt, wie ist denn der leblose Körper im Theater zu erklären, der in der historischen Theateravantgarde als Ausdrucksmittel auf der Bühne dominierte und sie seitdem als Pendant zu dem menschlichen Körper zu bevölkern begann? III Eine künstliche Welt funktioniert bekanntermaßen im Sinne der Immersion; sie ist zu erreichen, wenn man ihre virtuellen Räume nicht bloß von außen beobachtet, sondern durch Projektion bzw. Identifikation eindeutig macht. Das ‚Eintauchen in die Illusion’ kann freilich nur bewerkstelligt werden, wenn man sich von der Beschränktheit seiner bisherigen Körperidentität, das heißt, seinem sozialen und geschlechtlichen Status loslöst und die künstliche Umgebung durch seinen neuen Körper erkennt, wahrnimmt und handelt. Theater, dessen unverkennbare Charakteristik ist, einen artifiziellen Ort zu schaffen, in den sich der Zuschauer mit seinem leibhaftigen Körper hineinbegibt und dabei als ein integrativer Bestandteil des ‚Spiels’ aufhält, ist insofern eine Kunstform par exellence, die abhängig von dem Interface des beteiligten Körpers ist. Um diese totale künstliche Umwelt auf der Bühne herzustellen, bzw. um den Zuschauer in den Ort der Handlung stärker einzubeziehen, pariert dem sog. ‚virtuellen Körpertum’ ein weiterer Körper mit übernatürlichen Tugenden; der schauspielende Körper. Im Unterschied zum Zuschauenden, der sich eine oder mehre Figuren unter den Bühnengestalten aussucht, um sich zu identifizieren, stellt ein Schauspielender selber etwas Künstliches und Konstruiertes dar, mithin die artifizielle Simulation natürlichen menschlichen Verhaltens. Durch seine bewussten Aktionsmechanismen soll es möglich sein, den Zuschauer auf Objekte der Bühne einwirken zu lassen. Bei der vollen körperlichen Gegenwart auf der Bühne besitzt der Schauspielkörper jedoch in sich einen Widerspruch. Auf der einen Seite strebt der Körper nach einem Übergangsmedium zur Außenwelt im Sinne eines Erkenntnisobjekts; durch Dramaturgie, andere optische Requisiten und nicht zuletzt Reflexionen wird es dem Schauspielkörper ermöglicht sein, zu sterben und wieder zu erwachen, zu altern und zu verjüngen. Er ist auf der anderen Seite aber ein Hindernis, dem der Schauspieler für immer in seiner Haut verbunden bleibt. Sein Körper ist für sich autonom, folgt dementsprechend seinen eigenen Regeln, bzw. 12 seiner Biologik. Gerade diese ambivalente Position des Schauspielkörpers als vertraute und befremdende Natur wirft die Schlüsselfrage nach dem Wesen der abendländischen Schauspielkunst auf. Der fiktive Körper in dem anwesenden Schauspieler stellt das Vexierspiel von Künstlichem und Natürlichem dar. Durch seinen so genannten theatralischen Körper mit der Fähigkeit, absolute Gegenwart oder gar ‚Seele’ zu vermitteln, ist Sein und Schein, bzw. An- und Abwesenheit identisch. Ein Idealschauspieler wirkt also nur dann authentisch, lebendig, ja künstlerisch, wenn er sich tatsächlich darauf beschränkt, eine fingierte Figur darzustellen. Er verwandelt sich also in eine Rolle. Die Identität als Schauspieler, das heißt der Schauspieler selbst, bleibt aber auf der Bühne explizit, so wie die Identität der Rolle, die er spielt. Dem Zuschauer ist ohnedies die Tatsache bewusst, dass die zwei Identifikationen, das Gespielte für die Rollenfigur und der Spielende für den Schauspieler selbst, existieren. Diese zwei Subjekte können sich, je nach den Konzeptionen der Schauspielkunst und Rezeptionshaltung des Zuschauers, überschneiden oder voneinander unabhängig sein: Man nennt als die erste die Stanislawskische Schauspielkonzeption in der restlosen Verwandlung des Schauspielers in die Rolle und als die letztere diejenige Bertolt Brechts, deren Schauspieler kritischen Abstand zu seiner Rolle hält. In beiden Konzepten ist der Verwandlungsprozess vom Schauspieler zur Rolle aber jedenfalls transparent. Wenn aber ein Schauspieler bewusst eine Maske aufsetzt, bzw. eine maskierte Puppe spielt, ist dieser Prozess nicht mehr durchsichtig. Denn sein Gesicht, das viele Merkmale seiner Identität zeigt, wird vom Zuschauer nicht sichtbar und daher unerkennbar, an seiner Stelle setzt sich stattdessen das andere Gesicht, das ausschließlich zur Rollenfigur gehört. Diese Darstellungsweise des Maskenspiels veranschaulicht jedoch paradoxerweise den theatralischen Rollenvorgang par excellence: Der Schauspieler spielt seine Rolle, die von seiner Identität offensichtlich getrennt ist, auf der Bühne wird dann Differenz und Distanz zwischen der Identität des Schauspielers und der Rollenfigur evident und deutlich. Komplexer wird es dann, wenn das Rollenspiel in der Verkörperung einer Puppe stattfindet, das heißt wenn eine Puppe allein als Rollenfigur auf der Bühne präsentiert wird. Im Unterschied zum Maskenspiel, in dem der Körper des Spielers noch sichtbar, ja wahrnehmbar ist, verschwindet in der Puppengestalt der ganze aktive, menschliche Körper auf der Bühne. 13 Hierzu hat es immer wieder kontroverse Argumente gegeben, die von unterschiedlichen Positionen ausgingen. Die einen konstatieren, die Spiele mit Puppen seien mehr mit Jahrmarktsästhetik verwandt, hätten daher mit der grundsätzlichen Problematik zu tun, die nicht nur die gesamteuropäische Schauspielkunst in Frage stellt, sondern auch die konstitutiven Grundlagen des Theaters selbst erschüttert; der Schauspieler nähert sich der toten Materie, das Theater der Puppen verursacht das Verschwinden des Körpers. Die anderen plädieren dagegen, sie sei ohnedies das Resultat eines Verfahrens der Abstraktion bzw. die Formalisierung, Typisierung und Stilisierung des naturalistischen Körper, somit gleichsam der Zielpunkt des künstlerischen Prozesses: Das Theater bilde den Makrokosmos im Mikrokosmos ab; der Schauspieler sei ein ‚Double’. Die Tatsache, dass eine Puppe unbelebt ist, daher leicht demontierbar, mit anderem Wort, beliebig für alles, bedeutet zunächst, eine Puppe auf der Bühne ist im Grunde nichts anderes als purer Zeichenträger, so wie die anderen Requisiten. Andererseits ist aber eine Puppe Replikat des menschlichen Antlitzes, ergreift somit den Anspruch, eine Rolle, bzw. dramatis personae zu verkörpern oder mindestens zu assoziieren. War eine Puppe am Anfang noch ein Requisit, so ist sie im Verlauf der Aufführung durch die ständige Präsenz oder Konfrontation mit menschlichen Schauspieler aktiv handelnde ‚Bühnenfigur’. Der Zuschauer rezipiert während der Aufführung ohne weiteres die in der Puppe geladenen Informationen und reagiert darauf. Auf dieser Weise kommunizieren Puppen und Zuschauer, daraufhin entsteht der Kommunikationsprozess. Damit ist eine Puppe auf der Bühne ein Konglomerat von theatralischen Zeichen und ein Komplex von Signifikanten. Tritt zudem der bereits zwischen den beiden changierende Menschenimitatskörper in das Feld der Bühne ein, so steigert er sein Potential mehrfach. Fallen nämlich die schöpferische Instanz, die das spielende Kunstobjekt kreiert, und die wahrnehmende Instanz, die deren Täuschung erliegt, zusammen, so erfährt das Bühnengeschehen eine Synergie, das Ganze entwickelt seine eigene Dynamik: Im Vergleich zum theatralischen, d. h. realen Körper des Schauspielers verdoppelt der künstliche Körper das ‚Spiel’ x-fach. Die Grenzen zwischen der Wahrnehmung realer Körper und der Konstruktion von Kunstkörpern verschwimmen dabei ständig. Für ein herkömmliches Schauspiel, dessen Krönung durch die menschliche Körperperformance eine totale Verwandlung in die künstliche Welt bildet, ist dieses ‚Spiel mit den Puppen’ daher von entscheidender Bedeutung. 14 Der menschliche, reale Körper findet seinen wichtigsten Widersacher in dem artifiziellen und leblosen Körper des Androiden. IV Die vorliegende Arbeit will den Versuch einer Phänomenologie des Androiden auf der Theaterbühne unternehmen. Sie untersucht erstmals und umfassend, ob und wie die Puppenästhetik als ein Paradigma zur Entwicklung einer Grundlagentheorie der modernen Schauspielkunst des 20. Jahrhunderts herangezogen werden kann. Ihre Zielsetzung wird sein, sowohl theaterprogrammatische und praktische Anstrengungen über Schauspielkonzepte aus der historischen Theateravantgarde und Postmoderne bezüglich der Kunstfiguren grob einzuordnen, als auch einen Überblick daran anzuschließen. Untersuchungsgegenstand ist dabei der Körper des Schauspielers. Ein Kunstkörper, der die Natur umspielt oder überdeckt, statt naturalistisch darstellen, mimetisch abbilden oder getreu reproduzieren zu wollen. Bis auf wenige Arbeiten innerhalb der Theaterwissenschaft, die die androidenhafte Bühnenfigur als eines unter vielen avantgardistischen Phänomenen behandeln (u. a. Meike Wagner: Nähte am Puppenkörper. Der mediale Blick und die Körperentwürfe des Theaters. Bielefeld 2003; Jochen Kiefer: Die Puppe als Metapher den Schauspieler zu denken. Zur Ästhetik der theatralen Figur bei Craig, Meyerhold, Schlemmer und Roland Barthes, Berlin 2004), existiert keine dem Verfasser bekannte Arbeit, die deren Bedeutung als Mittel zur künstlerischen Darstellung mit der gesellschaftlichen, technischen und ideengeschichtlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts aufzeigt. Es wird also gefragt: Wie haben die Künstler auf die Reize der künstlichen Menschen reagiert? Wie wurde das Phänomen der Androiden sowohl von der Theateravantgarde als auch Postmoderne wahrgenommen und reflektiert? Mit welchen Strategien haben sie dabei ihre Gedanken verfolgt bzw. auf welche Weise kommt die Kunstfigur auf die Bühne? Schließlich kommen die Fragen bezüglich des Körpers des Schauspielers hinzu: Wie wirkt das Phänomen des Androiden auf den Schauspielerkörper? Bedeutet dies die Unterordnung des menschlichen Körpers als ästhetischen Reflex auf die Entwicklung des technischen Fortschritts? Und nicht zuletzt, wie 15 verhält sich der Schauspieler in einer Welt, in der das Problem der Identität des Subjekts bzw. das seiner Entgrenzung, Veränderung, Verdinglichung, Spaltung und Auflösung als ein Zentrum zeitgenössischer Befindlichkeit benannt wird? Solche Überlegungen bzw. Fragestellungen stützen sich dabei auf die Grundthese, dass die mögliche Abwendung der Bühnenfiguren von der reinen natürlichen Haltung und die Hinwendung zu einer mechanisch wirkenden Haltung einer bestimmten gesellschaftlichen Wandlung der Subjekte bedürfe, die durch ein verändertes Gesellschaftsbild unmittelbar die Neubestimmung des Körpers fordert. Die Arbeit beginnt mit einem kurzen Überblick über die Varianten des künstlichen Menschen. Es geht um das kulturelle Phänomen, das in Europa als das Phantasma der vollendeten Durchdringung des nachgebildeten Menschen inauguriert wurde. Dabei liegt die Aufmerksamkeit weder auf der Genesis der Androiden noch auf den historisch zurückliegenden Prototypen dieses Wesens, genauso wenig geht es um Bildnisse im kunsthistorischen Verständnis. Diesem ersten Kapitel geht es vielmehr um einen Versuch, diese wahrscheinlichen Körperbilder, deren naturalistische Form und Ausstattung nicht einem bestimmten Vorbild folgen, aus kulturhistorischer und rezeptionsästhetischer Sicht zu untersuchen, um dann in einem systematischen Teil die Annahme der ‚Ähnlichkeit’ vom theatralischen Körper und artifiziellen Körper zu überprüfen. Die Auswahl ergibt sich deshalb aus der Tatsache, dass diese künstlichen Menschenfiguren ‚theatralisch’ gleichermaßen als dramatischer, lebendiger Anblick vor das Publikum traten. Ebenso wichtig für die Konzeption dieses Kapitels sind die mit dem Androidenkomplex in Zusammenhang stehenden Rezeptionsmöglichkeiten, bzw. das Phänomen als Gegenstand systematischer Wahrnehmung aufzuzeigen, die wir als Betrachter an die Androidenfiguren herantragen. Die Wechselwirkung zwischen der Intention des Portraitierten und der Erwartung des Rezipienten ist dabei die unerlässliche Frage, die sich stellen wird. Begriffe wie ‚natürlich’ oder ‚künstlich’, ‚eigen’ oder ‚fremd’ stoßen hier an ihre Grenzen, weil sie den Impetus der Interessenanlagen nicht zu fassen vermögen. Den Hauptteil der Arbeit bilden dann die Kapitel, die anhand ausgewählter Beispiele die Etappen der Erscheinung des Phänomens sowohl auf der historischen Avantgardebühne als auch Postmoderne nachzeichnen. Zunächst werden unterschiedliche Theaterkonzepte vorgestellt, deren Resonanz weniger in 16 der Praxis stattgefunden hat als vielmehr in der Theoriebildung der Theatergeschichte: E. G. Craigs ‚Der Schauspieler als Übermarionette’ und die Manifeste der Futuristen. Aus der Gemeinsamkeit zwischen der universellen Gültigkeit abstrakter Kunst und einer Ästhetik des individuellen Erlebens, der die Avantgardisten huldigten, eine Beziehung herzustellen, ist dabei Ziel dieses Abschnitts. Daran anschließend sollen die hierbei gewonnenen Erkenntnisse in einem weiteren Teil überprüft und abgesichert werden. Als geeignetes Mittel bieten sich zunächst die Theaterarbeiten zweier Künstler, Wsewolod E. Meyerhold und Oskar Schlemmer, an. Die beiden Künstler traten aus den Theateravantgarden hervor, da sie aus dem Phänomen ‚Androiden’ theaterpraktische Konsequenzen zogen, wenngleich sie sich auch mit einem verschiedenartigen ästhetischen Hintergrund beschäftigten. Ihre Arbeiten werden sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene analysiert. In einem nächsten einleitenden Schritt setzt sich dann die Arbeit mit der Phänomenologie des Androiden in der Nachkriegszeit fort. Es wird vor allen Dingen der Frage nachgehen, ob die theatralischen Bemühungen der historischen Avantgardekünstler abgebrochen wurden und in der Nachkriegsgeneration keine Fortsetzung gefunden haben. Peter Schumann, Tadeusz Kantor und Robert Wilson sind es, die diesen Weg beschreiten. 17 Die Auslegung des Androidenkörpers - Kulturhistorische Diskurse über dem Artifiziellen Körper oder Varianten des künstlichen Menschen 1. Beginn des heidnischen Körpers: am Beispiel Kruzifixe Es ist ein fast nackter Körper, der am Kreuz hängt.2 [Abb. 1] Er hat nur ein Lendentuch um seine Hüfte und steht an der Wand, dem Betrachter frontal gegenüber. Der entblößte Körper, dessen Kopf ein wenig zur rechten Seite neigt, ist dabei vom Leiden gezeichnet und trägt das Anzeichen; seine asketisch dürren Glieder - die bis in die Kopfhöhe angehobenen, überlang ausgebreiteten Arme und die geknickten, übereinandergelegten Beinen - sind mit Nägeln durchbohrt und befestigt; sein ausgezehrtes Gesicht, die klaffenden Wunden am Leib und nicht zuletzt das befleckte Lendentuch weisen die Spuren dieser drastischen Folterung auf. Die halb geschlossenen Augen verleihen dem Schmerzensmann dabei höchste Dramatik dieses Leidens. Der Kruzifixus gehört seit Jahrhunderten zu dem berühmtesten menschlich modellierten Schaukörper des Abendlandes. Er ist das lieux de mémoire der über tausendjährigen Epoche im Christentum, bzw. zentrales Erinnerungsmedium für die Gläubigen; an ihm wurde das Leben und Opfer Christi zelebriert und inszeniert, am Corpus Christi kreiert sich die heilige Bühne, deren liturgischer Protagonist die leblose Körperplastik ist. Körper ohne Leib Kruzifixe wurden auf unterschiedlichste Art und Weise durch die Jahr hunderte reproduziert. Die Darstellung Christi als Gekreuzigter variierte jedoch 2 Das 2,88 Meter hohe und 1,66 Meter breite Kruzifix aus Eichenholz ist die älteste erhaltene Großplastik des Gekreuzigten nördlich der Alpen. Das sog. Gero-Kreuz im Kölner Dom (um 970) galt als Wunder wirkend und hat das Bild des Gekreuzigten im deutschsprachigen Kontext entscheidend mitbestimmt. 18 nicht wesentlich. Sie folgte mehr oder weniger demselben Typ. Die Christusgestalt erfährt gleichwohl im Lauf der Jahre eine Akzentverschiebung: Wurde noch in der anfänglichen Christusstatue am Kreuz die leidenden Züge des Christus nur andeutend gezeigt, bestimmt die Expression der Kreuzfolterung mehr und mehr maßgeblich die Form. Die Betrachtung der arma christi wird immer wichtiger.3 In diesem Zusammenhang reduzierten sich die vier Nägel der Kreuzigung auf drei, was zu den Konsequenzen für Figurenhaltung und Körperauffassung führte. An die Stelle des romanischen Kronreifens trat die Dornenkrone und ebenso verzichtete man auf das Suppedaneum. Diese gestalterische Modifikation des Gekreuzigten führte bald zur Darstellung körperlicher Verzerrungen: Die lebensähnlichere Darstellung trat hervor. Die Bemalung der Plastik erhielt größere Bedeutung und näherte sich rein äußerlich zunehmend der Physiologie des jungen nackten Mannes an. Damit scheint der menschliche Körper als wichtiges Element einer neuen Wertigkeit der Gottesdarstellung. Während man sie noch anfänglich dem Gottesleib annähernd zu erschaffen versuchte, werden Kruzifixe nun im Zeichen des menschlichen Körpers inauguriert. Verletzlichkeit und somit Sterblichkeit des menschlichen Körpers wurden dabei konzentriert, seine Gefährdung durch Gewalt und Schmerz akzentuiert. Die blutende Seitenwunde ist gewissermaßen ad hoc sichtbarstes Merkmal und steht häufig im Mittelpunkt der Darstellung. Früher sakramental gemeint dient diese offene heilige Wunde am Körper Christi seit dem Spätmittelalter zur dramatischen Übersteigerung und mystischen Überhöhung. In Verbindung mit anderen realistisch ausgeführten Details4 sollte sie sowohl als ein Symbol für Christus in seiner Menschlichkeit als auch für den Zugang zu seinem Herzen den Eindruck von körperlichem Leiden verstärken helfen, mithin ausdrücklich eine direkte Beziehung zwischen dem Leidenden und den Mitleidenden herstellen. So rinnt das Blut aus den Wunden, oft in langen, über ganze Körperpartien hingezogenen Blutspuren. Das aber wohl anschaulichste Beispiel für die physisch leidende Präsenz, die diese dreidimensionale Menschenfigur hervorhebt, ist das Lendentuch. Das Tuch, 3 Eines der ältesten bekannten Kruzifixe (Bronzenkruzifixus, um 600 n. Chr., SchnütgenMuseum, Köln) zeigt beispielsweise Christus friedlich entschlafen in seiner Wohlleibigkeit, jenseits der Grausamkeit des Foltertodes. vgl. Christian Beutler: Der älteste Kruzifixus. Der entschlafene Christus, Frankfurt a/M 1991. 4 Der Holzkruzifixus aus dem 14.Jh. in der Kathedrale von Burgos hat beispielsweise echtes Haar, eine echte Dornenkrone und Kleider aus Stoff. 19 meistens vor dem Leib in der Mitte geknotet und lappenartig an beiden Körperseiten überhängend, akzentuiert die Plastizität des Körpers und verleiht der Figur zugleich die Nacktheit als Ausdruck körperlichen Ausgeliefertseins des menschlichen Daseins. Das Perizoma hat aber neben dieser ästhetisch-fiktiven Funktion eine weitere Aufgabe: Es bedeckt und verbirgt. Ohne die Verschleierung, ohne jenes Stück Stoff wäre für jedermann das ‚heilige Glied’ sichtbar, zumal in der Zeit die naturgetreue Darstellung am Kreuz seit Renaissance ihren Höhepunkt erreichte.5 Das Augenmerk des Betrachters fällt nolens volens auf den Genitalbereich der Gestalt. Die ‚Darstellung des Undarstellbaren’ im Zeichen von Opazität ist eng mit den Praktiken der Diaphanie verbunden; das Verschleiern und das Enthüllen befinden sich in ständigem Wechselspiel. Was sich hier jedoch über das Leichentuch ausbuchtet, ist kein männliches Glied; ‚es ist eine Form, die das Geschlecht evoziert, aber ohne auf dessen Präsenz hinzuweisen. Eine Anhäufung von Falten, irgendetwas wie ein ‚Luft-Geschlecht’.’ 6 Das Geschlechtsteil, einerseits als das Merkmal der männlichen Physiognomie und das Sinnbild der Geschlechtlichkeit des menschlichen Körpers andererseits, ist in der Tat an keinem Kruzifix sichtbar. Vergleicht man sie etwa mit Jesus5 Unter dem Eindruck einer sich langsam durch Akt -und Perspektivstudien verändernden, nach Naturalismus strebenden Kunst des 15. Jahrhunderts verändert sich das Sakralbild und mit ihm sein Personal: Christus, Maria, biblische Gestalten und viele Heilige nehmen nicht nur zunehmend ‚Fleisch’ an und werden anatomisch überzeugender gestaltet, sondern auch ihre Körper werden in einer nicht nur sakral, sondern erotisch aufgeladenen Dichotomie von Ver- und Enthüllung, Nacktheit und den Körper partiell modellierender, partiell entblößender, oftmals luxuriöser, modischer Kleidung präsentiert. Themen sind hier u. a. die ostentatio uberum stillender und fürbittender Madonnen und der Körper Christi, dessen Darstellungen zwischen 1300 und 1500 eine große Variationsbreite (anscheinend asexueller, androgyner, athletisch-männlicher Entwürfe) und eine komplizierte Entwicklungsgeschichte aufzuweisen haben. vgl. Leo Steinberg: The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion, New York 1983, 2. Auflage 1996; Carolyn Walker Bynum: Fragmentation and Redemption: Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1992/ dies.: Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin, in: Historische Anthropologie 4, 1996, 1-33/ dies.: The Body of Christ in the Later Middle Ages: a reply to Leo Steinberg, in: Renaissance Quarterly 39, 1986, 399-439. 6 Schmitt, Jean-Claude und Jérôme Baschet: La sexualité du Christ, zit. nach: Monika Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Zur Repräsentation des weiblichen Genitales, Frankfurt am Main/Basel 2001, S. 156-160. In jüngster Zeit beginnen sich Kunsthistoriker mit dem kontroversen Themen der Sexualität Christi zu beschäftigen und suchen nach einer Erklärung für die zahlreichen Beispiele der Zurschaustellung von Genitalien und ‚Manipulation’ in religiösen Darstellungen. vgl. Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990; Christoph Geissmar: Das wahre Bild. Modelle zur Simulation Christi, in: Ilsebill Barta/ ders. (Hg.): Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, Salzburg-Wien 1992, S. 4355. 20 kindreliefen, ist der Phallus Christi abwesend. Im markanten Unterschied zur kindlichen ostentatio genitalium - der sichtbare Beweis dafür, dass der Sohn Gottes ganz und gar Mensch geworden ist, und damit Sexualität und Sterblichkeit auf sich genommen hat - , scheint es sich hier eher um eine ‚Ostentatio des fehlenden Geschlechts’ zu handeln. Die Darstellung zeigt weder ‚Jesus’ als geschlechtlich differentes Wesen noch beweist sie die Annahme der Geschlechterdifferenz als Symbol für die conditio humana. Die Aufhebung oder Transformation vom Geschlecht hat vielmehr allegorische Funktion: Jenseits der anatomischen Funktionalität des männlichen Körpers symbolisiert sie die Dispensierung des den irdischen Bedingungen anhaftenden Gesetzes des physischen Geschlechts. Während der blutende Körper Zeichen der erlittenen Versehrung und Sinnbild für die Menschlichkeit ist, ist das fehlende Genital Inbild der Unversehrtheit und Überwindbarkeit des menschlichen Körpers, mithin die Figuration der Übermenschlichkeit.7 Das gewölbte, ‚leere’ Lendentuch am Kruzifix wird somit zum Medium bzw. zur absoluten Metapher, in der sich eine Kommunikation der Blicke zwischen dem Gläubigen und dem Göttlichen ereignet. Sie ermöglicht dem Gläubigen einen Blick durch jenen Schleier, der die Welt vom Göttlichen trennt. Körper als Puppe Diese doppelte Konnotation des Kruzifixus als ‚körperloser Körper’ expliziert dessen Funktion als heiligen Gegenstand für die Gläubigen. Als identifizierbarer Humankörper dient Corpus Christi zur Simulation, zur Meditation, ja zur Vermittlung des Glaubens. Den ornamentalen Interpretationen des Figürlichen und spielerischen Verfremdungen des Motivs stehen bildnerische Verfahrensweisen gegenüber, die das Assoziationsvermögen des Betrachters über den vorgefundenen Gegenstand ansprechen. So bedenken die Frommen das Objekt im Blick auf sich selbst und sehen in ihm ein Erlösungsgeschehen. Zumal der Gekreuzigte aber in erster Linie Puppengestalt ist, hat die Figur die Eigenschaft 7 Die Abwesenheit des Genitales am Körper Christi ist sogar gewöhnlich in der historischen Gottesdarstellung und sogar wünschenswert: ‚Die Religionen, in denen der Gottheit ein Geschlecht zugeschrieben werden konnte – und damit auch die Zweigeschlechtlichkeit -, haben denjenigen das Feld räumen müssen, in denen der Androgynismus höchstens noch spiritualisiert, gar oft in sein Gegenteil, die absolute Geschlechtslosigkeit, verwandelt, Platz hat, oder gar ganz aufgehoben ist, weil jede Beziehung der Geschlechtssphäre auf Gott abgelehnt wird.’ zit. nach: Ernst L. Dietrich: Der Urmensch als Androgyn, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 58 (1939), S. 297-348, S. 343f. 21 der Passivität inne, was eine aktive, handelnd voranschreitende Haltung ausschließt. Die Erlösungshoffnungen des Diesseits können bekanntlich allein von dem schaustellenden leblosen Gegenstand nicht erfüllt werden und auch als Vorbild für das eigene Leben kann das Objekt auf die Dauer nicht befriedigen. Dieses spielerische Selbstverständnis zwischen Menschen und Dingen läuft trotz oder gerade deshalb oft auf eine gegenseitige dreidimensionale Beziehung hinaus. Bedingt durch das frontale Gegenüber des Gekreuzigten hat die Statue aus totem Material in der Vorstellung der Frommen schon einen lebendigen Leib, bevor sie durch die rituelle Handlung ‚dinghaft’ wird. Man stellt die Darstellung des Körpers Christi mit allem Pathos in die reale Welt. Diese wird wiederum durch den affektiven Kunstgriff eines narrativen Realismus, der sie in diesem Moment selbst mit einbezog, in den imaginären Raum des Leidens Christi versetzt.8 Die persönliche Passionsbetrachtung, in welcher der Betende seines persönlichen Heils durch die künstliche Figur teilhaftig wird, nimmt ihren Anfang. In zahlreichen Kirchen gab es deshalb vollplastisch modellierte Christipuppen, die laufend in den Gemeinden in die Zeremonien einbezogen waren. Seit dem Mittelalter dienten es beispielsweise Kruzifixe aus Holz mit beweglichen Gliedern besonderen Zwecken in der christlichen Liturgie; die Gliedmaßen der Christusfiguren ließen sich vom Kreuz abnehmen und in verschiedenen Stellungen bringen, so dass die Figuren eine scheinbar regsame Rolle in der Liturgie einnahmen. 9 Es entstand somit die Illusion, die Figur nähme aktiv an dem liturgischen Tableau rund um den Gottesdienst teil. So fand ein regelrecht künstliches, szenisches Arrangement auf einer mitgedachten liturgischen Bühne statt, auf welcher der Gekreuzigte in seiner profanen Leiblichkeit rituell in Szene gesetzt wurde. Mit der Aufhebung der Grenzen zwischen sakralen und profanen Empfindungen wird er nun Teil jenes theatrum sacrum, das alle Sinne der Zuschauer ansprechen will. 8 Vor diesem Hintergrund wird auch ein weiteres Axiom fragwürdig: Die Unterscheidung zwischen dem ‚Bildnis’ einer abbildbaren, das heißt real existierenden und präsenten Person einerseits und dem ‚Bild’ einer Gottheit, einer lange verstorbenen Person oder einer Personifikation, der eben kein greifbares materielles Vorbild entspricht. Beide Gruppen von Bildwerken rücken vielmehr eng zusammen, wenn nach ihren Funktionen gefragt wird. Das gilt insbesondere für die Statuen des gekreuzigten Christus, denn Realismus meint ja ein überzeugendes Bemühen um Lebensechtheit und Wahrscheinlichkeit in der Personendarstellung, und zwar ganz unabhängig davon, ob es sich um ein abbildendes Porträt oder um ein erfundenes, aber deshalb nicht weniger wahrscheinliches ‚Porträt’ handelt. 9 Einer davon ist der Kruzifix mit beweglichen Armen aus Grancia, Tessin, fr. 16. Jh., 148 x 144 cm, Schweizerisches Museum, Zürich. 22 Diese Art von religiöser Inbrunst hat bald eine ganze magische und fetischistische Praktik zur Folge. Das Erblicken eines berühmten Kruzifixus verspricht bereits Heilung, wenn der Lebende den Leidenden erblickt. Die toten Materien fallen aus dem Bereich des Memento mori heraus, werden zum Medium für die Übertragung heidnischer Magier und verwandeln sich durch die Einbildungskraft in den lebenden Körper. Aus dem Funktionszusammenhang genommen löst der Gegenstand Erinnerungen, Wünsche, Ängste der Gläubigen aus. Je nach Art der Beziehung, die zu ihm hergestellt wird, eröffnet seine Kombination die Möglichkeit zu assoziativer Verknüpfung von Teilformen in einem neuen Sinnzusammenhang. Der Blick bzw. das Auge ist aber bekanntlich haptisch. Das Auge als Substitut des Tastsinns genügt bald nicht mehr. Es sollte für den Betrachter nicht nur etwas von dem heilschaffenden Gegenstand zu sehen sein, sondern ein Teil der heilsamen Gotteswirklichkeit ‚erlebt’, mit der Nase gerochen und den Händen ertastet werden können. Den Kruzifixus stellte man darauf ebenfalls in der Form eines kleinen Halsamuletts oder Anhänger her, als Reservat privater Frömmigkeit und Meditationsobjekt des Einzelnen, indem es selbst ein Fragment des Puppenkörpers bleibt. Es wird zusammengefasst: Am Kruzifixus wird ein menschlich erfassbares Bild des Gottessohnes angestrebt, indem emphatisch der leidende Körper als die ursprüngliche und einzige Basis von individueller Existenz hervorgehoben wird. Dadurch wird die Gottesdarstellung zwar dem Menschen nahe gerückt, durch die Abgrenzung auf derlei Körper wird das Menschenbild selbst aber in eine andere Sphäre erhoben. In den Bereich des Menschlichkörperlichens dringt nichts Sakrales ein. Ein Mensch definiert sich durch seinen Körper: Was verletzlich ist, ist menschlich. Der Beginn, an dem man den menschlichen Körper nicht mehr als eigenen, sondern fremden betrachtete. Damit tritt die an allen Kruzifixen eigentümliche Doppeldeutigkeit zutage: Einerseits bildet ein Kruzifixus die Unüberwindbarkeit des menschlichen Daseins mit seinem menschlichsterblichen Körper ab, lässt somit den Glauben ‚leibhaftig’ werden und andererseits ist der Gekreuzigte in effigie in seinem materiell nachgebildeten, auf Verwundbarkeit fixierten künstlichen Körper der ‚Metakörper’, der nicht zerfällt und damit in der Ewigkeit zu dem einen Vollkommenen wird. Der cartesianische Traum, das Bewusstsein vom toten Gewicht des Organismus zu befreien, nahm bereits seinen Lauf. 23 Exkurs: Die Genealogie der Augen oder eine kurze Geschichte des Sehens In der hellenistischen Kultur galt die bloße Betrachtung der Dinge bereits als Eigenwert, der den Menschen besondere Erfüllung bot. Erst im Christentum wurde die Schau der Welt allein um der Betrachtung willen als bloße Neugierde herab- oder gar einer Sünde gleichgesetzt. Das Streben des Menschen nach dem unbekannten, fremden, mithin anderen Körper ersetzten die sog. geistigen Augen der Lebenden auf das unsichtbare, himmlische Jenseits, welche das Bewusstsein für die Eitelkeit und Hinfälligkeit alles Irdischen niederhalten sollte. Um solch eine Demonstration menschlicher Vergänglichkeit geht es der Schaustellung heiliger Reliquien jedoch wenig. Vielmehr dient der jahrhundertealte christliche Reliquienkult der Kompensation menschlicher Ohnmacht und Armseligkeit. Während der eine im Reliquienkörper mehr die Erhabenheit, Größe und die Schöpferkraft Gottes wie auch die metaphysischen Bedeutungslosigkeit des Menschen zu erkennen glaubt, sieht der andere hingegen stärker die Erlösung vom Elend und die bedrückende Vergänglichkeit des Menschen hervorscheinen. Hierbei mögen sich disparate Wahrnehmungsgewohnheiten spalten, die Augenlust der meisten Gläubigen vergeht dennoch nicht. Im Gegenteil: Seit Anbeginn stand dieses spezielle christliche Schaubedürfnis maßgeblich im Dienste der Sicherung persönlichen Seelenheils. Die kirchliche Verehrung von Knochen und unverwesten Heiligenresten war ursprünglich eine Form frommer Andacht, bei der sich die Augen an sonst eher unzugänglichen Gegenständen ergötzen würden. Der menschliche Blick weidet sich jedoch gleichsam an heiligen Totenstücken und glaubt an deren wundertätige Kraft, ihre Hilfe und Fürbitte bei Gott, dessen Gnade er bereits durch das bloße Schauen dieser heiligen Gebeine teilhaftig zu werden hofft. Dann spricht die Kirche von ‚himmlisch-irdischer Bilokation’ 10 , der zweifachen Realpräsenz der Heiligen im Himmel und auf Erden. Auf diese Weise dient das Anschauen des toten Körpers der Wiederherstellung und Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, die jene zuvor verletzt hatten. Das Schauritual, zu dem sich die Menschen sammelten, hat nicht 10 A. Legner: Reliquien in Kunst und Kult zwischen Antike und Aufklärung, Darmstadt 1997, S.7. 24 nur den Charakter eines Volksfestes, gleichermaßen dient dabei dem Staat die Macht des Blicks als religiöse Kraft mit geradezu wundersamer Wirkung. Ein Indiz dafür: Die toten Körper der Heiligen wurden im Verlauf der Kirchengeschichte emsig gesammelt und teilweise für kostbarer als Gold und Edelsteine gehalten. Zu Beginn der Neuzeit wurde der reine Anblick des Gegenstandes wieder rehabilitiert. Wie in der griechischen Antike bejahten die vor allem an Naturwissenschaft orientierten Philosophen und Wissenschaftler wie Petrarca, Galilei oder auch Descartes die menschliche Neugierde, indem sie die Augenlust nicht mehr unter religiösen oder existentiellen Vorbehalt stellten. Nach Descartes reagiert der Körper auf die Umwelt und auf sensorische Wahrnehmungen, während der Geist über diese nachdenkt und Entscheidungen trifft. So nimmt etwa das Auge beispielsweise eine perspektivische Zeichnung als ‚real’ wahr, während der Geist weiß, dass es sich um eine Illusion handelt. Dies bedeutete, die dem Körper seit Jahrhunderten auf der Basis der Opposition ‚Seele vs. Leib’ oder als Widerspiegelung der Seele zugunsten von ‚Vergeisterung’, Disziplinierung, Produktivität und Effizienz sowie Makellosigkeit geraubte Materialität zurückzugeben; das Auge gilt nun als Triebfeder wissenschaftlicher Entwicklung und alltäglicher Unterhaltung. Der Reliquienkult der vergangenen Jahrhunderte und die gegenwärtige Körperwelten-Sammlung 11 , deren öffentlichen Schaustellungen echte menschliche Toten versprechen, haben ein Weiteres gemeinsam. Der Blick in die anderen Körper setzt immer auch Ansichten vom Anderen des Körpers frei. Es sind Blicke, die sehen wollen, setzen Handlungen ins Werk, führen Seziermesser an die Knochen, Haut, unter die Oberfläche.12 Es interessiert die Zuschauer vor allem der Blick in die Tiefe bzw. ins Innere des Körpers, um so die Oberflächen des Körpers vertiefter, das heißt näher ins Auge fassen zu können und um ihrem Tun ein legitimiertes Fundament zu errichten. Solche Behandlung des Körpers durch 11 Im Zentrum der seit 1996 weltweit gezeigten und von dem Anatom Gunther von Hagens organisierten Wanderausstellung ‚KÖRPERWELTEN’ stehen rund 180 echte menschliche anatomische Präparate - 25 kunstvoll präparierte Ganzkörperplastinate sowie einzelne Organe und transparente Quer- und Längsschnitte des Körpers. 12 Jedoch bestehen zwischen der Reliquienkult und der Leichen-Schau gravierende Unterschiede: Bei ‚Körperwelten’ bleiben nicht nur die Plastinate anonym, im Gegensatz zur Reliquienverehrung in Mittelalter; die Ausstellung umgibt weniger eine Aura des Irrationalen, Dunkeln, Mythischen als vielmehr eine Atmosphäre lichtvoller Bekenntnis zum ästhetischen Spektakel und Kommerz. 25 die Augen bezüglich Macht der Neugierde erweist sich im Rahmen der Poststrukturalistischen Theoriebildung als zentraler Untersuchungsgegenstand. In seinen Frühwerken befasste sich Michel Foucault mit dieser Frage, wie sich der menschliche Blick den Mitmenschen durch ‚Verdinglichung’ unterwirft. 13 Dabei beschränkten sich seine Ausführungen zur Konstruktion des menschlichen Subjekts als bloßen Objekts auf die klinische Psychologie und Medizin sowie auf die Überwachung von Strafgefangenen in Gefängnissen. Beide - Patient und Delinquent - würden unter den Blicken der Ärzte, Psychiater und Aufseher in bestimmten Situationen reine Objekte: depersonalisierte Gegenstände. Dieser nüchterne Blick der schonungslosen Erkenntnis kennt nach Foucault weder moralische noch existenzielle Rücksichtnahme, der Blick sieht dann den Körper als Medium, der die Krankheit als Text präsentiert. Das Arzt-Patient-Verhältnis wird somit zum Aufeinandertreffen von Auge und stummen Körper. Was Foucault hier als eine spezielle Wahrnehmungssituation beschrieb, bezeichnet Sartre als charakteristisch für jeden Blick. Durch die Macht der Augen würden die Menschen füreinander Objekte-Dinge, welche sich gegenseitig auf das festlegten, als was sie einander sähen.14 Sartre nennt dieses Ereignis des GesehenWerdens ‚Versteinerung’, wodurch sich die Erblickten erst als Teile des Ganzen oder als Weltstücke bewusst würden. Jeder erfahre hierbei die eigene Sichtbarkeit als Angreifbarkeit und Verwundbarkeit, weshalb nur derjenige vor den Blicken seiner Mitmenschen sicher sei, der ihnen entkomme. Die Menschen lassen sich also sehen, auch wenn sie unter den Blicken der anderen zu reinen Objekten werden könnten. Sartre zeigt, dass der Blick, der sich auf den Körper als etwas Vertrautes und stillschweigend Übergangenes zurückbezieht, den Vorgang des Übergehens selbst fixiert. Damit vermag der Mensch zu sich selbst in ein distanzierendes und distanziertes Verhältnis zu treten sowie sich selbst beim Handeln und Verhalten wie einen anderen zu beobachten bzw. wie einem anderen zuzuschauen. Er tritt sich selbst oder einem anderen gegenüber, um ein Bild von sich als einem anderen zu entwerfen, das er mit den Augen eines anderen reflektiert bzw. in den Augen eins anderen reflektiert sieht. Das heißt, jedes Anschauen des anderen bzw. jeder Blick des anderen vermag insofern Identität zu konstituieren und zu verwandeln. 13 vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969; ders.: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1978; ders.: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main 1988. 14 vgl. Jean Paul Sartre: Der Blick, in: der.: Das Sein und das Nichts, Hamburg 1976, S.338ff. 26 Beim diversen Diskurs, bei dem der Leib als Konstrukt der Augen im Vordergrund steht, schob sich erstmals eine Maschine zwischen Realität und Betrachter: Die Camera obscura. Die Erfindung der Vorläuferin der Fotokamera war damit gleichzeitig die Erfindung maschineller Augen - ein Auge, bei dem die Reproduktion der wahren Abbildung implizit mitgedacht und der Mensch nicht erst durch den Blick der anderen zum Objekt wurde, sondern ein solches bereits ‚von Natur aus’. Sie stellte in der Folge den Menschen in eine Reihe mit den übrigen Lebewesen, wodurch sie ihm seine jahrhundertelang geglaubte Ausnahmestellung als Höhepunkt der gesamten Naturentwicklung nahm. Die Technik ordnet in Komplizenschaft mit dem menschlichen Auge das Subjekt als abhängiges Objekt in den Zusammenhang der Dinge ein. 27 2. Körper als Sutur: Anatomische Wachsfiguren Ein weiblicher Körper liegt auf einer violettseidenen Matratze mit einem weißen Seidentuch.15 [Abb. 2] Die Haltung und Draperie der Figur erinnert an klassische antike Marmorskulpturen; der Kopf, der ebenfalls auf einem veilchenfarbenen Keilkissen ruht, dreht ein wenig nach links oben, die Augen scheinen starr ins Leere zu blicken und der relativ kleine, leicht geöffnete Mund lässt die obere Zahnreihe erahnen. Die Figur hat lange weißblonde Haare, ihre Haut ist rosa-weiß, haar- und makellos. Sie trägt einen Goldreif über der Stirn sowie eine doppelreihige Perlenkette um den Hals. Der Unterkörper der Figur mit den leicht geöffneten Beinen gibt indes den Blick auf den Genitalbereich frei, wobei das linke Bein, fast gerade und nur wenig nach links außen gedreht ist. Die Faszination der anatomischen Wachsfigur ist trotz ihrer Materialverwandtschaft mit den Herrschereffigien einer völlig anderen Perspektive auf die menschliche Physis zu verdanken; nicht das imaginäre ‚Hier und Jetzt’ eines abwesenden Körpers gilt es zu gestalten, sondern der Blick der Neugier führt in das Innere des Körpers. Die Inszenierung eines hyperrealistischen Makrokosmos folgt demnach nicht der Imitatio, sondern zeigt in ihrer dramatischen Form Ornamentales und Groteskes, worin Natur und Kunst changieren. Damit überschneiden sich in der Anatomiepuppe zwei unterschiedliche Felder, Anatomie und Plastik, in denen Laboratorium und Atelier, Experiment und Darstellung, Analyse und Inszenierung aufeinander treffen. Der Körper in perfectio natura Man begann bereits im 16. Jahrhundert für anatomische Lernzwecke Substitut für echte Organe und Leiber aus verschiedenen Materialien herzustellen. Nachdem sich der frühneuzeitliche Wissensdrang um den menschlichen Körperbau von den religiösen, mystischen Vorstellungen distanziert hatte und in der Anatomie die tatsächliche Analyse und Reduktion des Körpers in funktionelle Teilsysteme vollzog, begann man nach einem möglichst haltbaren und 15 Die lebensgroße Wachsfigur wurde 1782 von Clemente Susini modelliert. Diese sog. Mediceische Venus des Wiener Josephinums wurde erstmals in der dem Imperial Regio Museo di Fisica e Storia Naturale (La Specola) angegliederten Werkstatt für anatomische Wachsmodelle ausgestellt. 28 naturalistisch geformten Äquivalent zu suchen, zumal die Öffnung von Leichen trotz des wissenschaftlichen Vorwands noch kirchlichen und philosophischen Tabus unterworfen oder nur unter besonderen ritualisierten Bedingungen überhaupt möglich war. Außerdem veranlasste die Anatomen das steigende Interesse, bzw. zunehmender Bedarf am ‚toten Körper’ und ein erhöhter Anspruch an die Anschaulichkeit anatomischer Detailstrukturen, neue Möglichkeiten zu bemühen. Denn gegenüber Abbildungen in Büchern besitzen die anatomischen Modelle den Nutzen der Dreidimensionalität und die Möglichkeit des Auseinandernehmens einzelner Teile entsprechend dem Verlauf einer Sektion. Als geeignete Stoffe wurden zuerst Holz, Ebenholz, Papiermaché, Gips und Kunstharz verwendet. Besonders Wachs, das ab dem 17. Jahrhundert verstärkt produziert wurde, bot sich hier unmittelbar an. 16 Modelle aus Wachs hatten ökonomische und technische Vorzüge: es war billig, überall herzustellen, leicht modellierbar und durch direkte Einfärbungen im Material imstande, äußerst naturalistische Duplikate des menschlichen Körpers und seiner Teile hervorzubringen. Sie waren oft ‚naturgetreuer’ als konservierte echte Präparate. Damit schufen sich Wachsplastiken dank ihrer Plastizierbarkeit und Verfügbarkeit bald europaweit einen Platz als bedeutendes Anschauungsmaterial in der Körperbaulehre. Dem toten Körper folgte dessen Double. Parallel zur Zunahme der Produktion wächserner plastischer Körper entwickelte sich gleichzeitig eine konstruktive Linie, deren eifriges Ziel die Herstellung eines möglichst perfekt nachgebildeten Körpers war. Man gab sich nämlich mit der rein anatomischen Aussage einer angefertigten Wachskopie nicht mehr zufrieden. Es verknüpften sich anatomische Abbildungen und plastische Präparate, deren Oberflächengestaltung ohnehin der Widerschein der darunter gelagerten physiologischen Verhältnisse war, mit Fragen der Ästhetik.17 So begann die Differenzierung der anatomischen Wachsplastiken. 16 In Italien gab es bereits eine lange Tradition der Wachsmodellierkunst zur Herstellung von Reliquien- und Weihbildern. Als ihr Begründer - zu anatomischen Zwecken – gilt aber der aus Syrakus stammende Priester Gaetano Zumbo (1656-1701), der 1691 von Cosimo III. nach Florenz gerufen, von dort an die älteste Anatomieschule nach Bologna ging, um sich auf die direkte Nachbildung anatomischer Körper und Körperteile in farbigem Wachs zu spezialisieren. Er schuf eine Vielzahl religiöser Wachsplastiken wie etwa die ‚Anbetung der Hirten’, das ‚Urteil der Verdammten’. vgl. Reinhard Büll: Das Große Buch vom Wachs. Geschichte Kultur Technik, München 1977, S. 435-460; U. Pfistermeister: Wachs. Volkskunst und Brauch. Ein Buch für Sammler und Liebhaber alter Dinge. Bd. 2, Nürnberg 1983. 17 Die Geschichte der Anatomie ist daher seit ihren Anfängen immer auch die Kunstgeschichte. 29 Die Ästhetisierung der Anatomieplastik wurde besonders eindrucksvoll in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den ganzfigurigen Wachsstatuen demonstriert. Die Anatomen erkannten ‚durch Ultradetailismus der Injektions- und Korrosionspräprarate’18 den Verlust der Ganzheit des anatomischen Objekts und forderten eine neue anatomische Anschaulichkeit des Modells im Maßstab 1:1, bzw. die lebensgroße Figur. Eine der berühmtesten Wachsfiguren aus dieser Zeit ist die anatomische Venus des Wiener Josephinums. Das weibliche Modell in einer Vitrine aus Rosenholz und venezianischem Glas unterliegt dem hochartifiziellen Modus einschließlich der makellosen Ausstattung der Plastik, deren Konstruktion es ermöglichte, sie jederzeit zu intensiven Studien der Wachsmodelle zu öffnen. Unterhalb des Halses und der Schultern bis hin zur Scham wurde der Körper mit einem glatten Schnitt dem Betrachter sein Innenleben geöffnet und präsentiert. Gezeigt wurden die Lungenflügel, das Zwerchfell, Magen und Darm, die Nieren, die großen Gefäße sowie die Gebärmutter, die ebenfalls geöffnet war und den Blick auf einen Foetus im dritten bis vierten Monat freigab. Die anatomisch nach dem damaligen Wissensstand exakt dargestellten Organe sind in verschiedenen Farben naturgetreu und mit großer Sorgfalt ausgeführt.19 Neben der Verzierung der anatomischen Wachsfiguren vollzog sich deren prozessuale Inszenierung in der Öffentlichkeit: in den Wachsfigurenmuseen.20 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden die ersten auf einem enzyklopädischen und ästhetischen Anspruch ausgerichteten anatomischen Wachssammlungen errichtet.21 Beispielhaft ist dafür die bis heute erhaltene Sammlung 18 Heike Kleindienst: Ästhetisierte Anatomie aus Wachs. Ursprung-Genese-Integration, Marburg 1989, S. 25-31. 19 Anders als dieser merkwürdige morbide Reiz der weiblichen Wachspuppen versprechen die gehäuteten Muskelmänner des Wiener Josephinums in ihren imposanten Posen Kraft und Lebendigkeit. Damit scheint es hier eher um die Geschlechtsspezifik des menschlichen Körpers zu gehen, als um den Körper als Forschungsobjekt und Projektionsfolie. vgl. Susanne Greinke: Körper-Bild-Imagination: Über ein anatomisches Modell, in: Stefanie Zaun / Daniela Watzke / Jörn Steigerwald (Hg.): Imagination und Sexualität. Pathologien der Einbildungskraft im medizinischen Diskurs der frühen Neuzeit, Analecta Romanica (Heft 71), Frankfurt/Main 2004. 20 Zeitgleich hatte man ebenfalls privat anatomische Wachsplastiken gesammelt, und zwar für die sog. aristokratische Kunst- und Wunderkammer. 21 Um 1750 wurde erstmals in Florenz eine systematisch aufgebaute Sammlung anatomischer Wachsbildungen in großem Stil angelegt. Dort entstand dann 1775 im Palast der Torrigiani das weltweit erste Museum für Physik und Naturkunde, La Specola genannt, wo bis heute zahlreiche anatomische Objekte aus Wachs bestaunt werden können. Erster 30 anatomischer und geburtshilflicher Wachspräparate und -figuren im Wiener Josephinum.22 Darin sollte die zeitgemäße Anthropologie optisch ‚im Lichte der aufgeklärten Vernunft’ jedermann überzeugend vorgestellt werden, die anatomische Ceratheken zur Aufklärungsstätte über den menschlichen Organismus werden.23 Solche anatomische Museen führten Besucher neben den wächsernen Ganzfiguren auch Nachbildungen einzelner Körperorgane vor Augen. Es waren Aneinanderreihungen der geformten Plastiken und wurden als Block gezeigt. Nachdem gegen Ende des 18. Jahrhunderts der gesamte menschliche Körperraum in allen Facetten modelliert war und sich die plastische Anatomie mit dem ‚anomalen Körper’ zu beschäftigen begann, wurden dann pathologische Körper, historisch berühmte oder auch berüchtigte sowie phantastische bzw. märchenhafte Körper zum eigenständigen Schauwert. Es entstand folglich regelrecht eine neue Form der curiositas; wo grenzlose Wissensausdehnung zur Tugend wurde, dort herrschte curiositas, die den totalen Austausch von innen und außen antizipiert: Indem der Körper zur Szene des Wissens wird, entwickelt er sich zum Medium von Herstellung und Beherrschung. Insofern haben anatomische Sammlungen aus dem 18. Jh. nicht primär mit dem Mythos des menschlichen Körpers zu tun, sondern auch mit der spektakulären Zurschaustellung menschlicher Glieder. Ihre Protagonisten dienen nicht nur dem anfänglichen Einsatz an den Fronten der Medizin, des Abwehrzaubers und der Jenseitsvorsorge, sondern der Repräsentation, der Schaustellung, somit performativen Inszenierung. Die Unheimlichkeit und Hybridität, den menschlichen Körper zu öffnen, um an ihm das Geheimnis der Schöpfung zu studieren und in Wissen zu überführen, mündete in einem Fasziosum, das auf die Schaulust und nicht unbedingt aufklärerische Dialektik hinzielte. So wurden die anatomischen Plastikpuppen zum Privileg eines am Theatralisch-Spektakulären interessierten Publikums. Direktor des neuen Florenzer Museums war der Geistliche und Anatomiekünstler Felice Fontana, dessen Nachfolger 1805 der berühmte Wachsbildner Clemente Sussini wurde. 22 Der Monarch, Joseph II. gründete die ‚Medico-chirugische Militair-Academie’ im Jahr 1785. Isidor Canevale baute für sie ein nobles und weitläufiges Schulgebäude, das heutige Josephinum. Hier sollte der handwerklich ausgebildete Feldchirurg akademischen Unterricht erhalten und das praktische durch theoretisches Wissen ergänzt werden. 23 Wobei das politische Kalkül nicht übersehen werden darf. In machtpolitischer Hinsicht wurden diese Sammlungen zum denkmalhaften Statussymbol der Aufgeklärtheit und konnte dem Repräsentationsbedürfnis des besitzenden Machthabers in angemessener Weise gerecht werden. 31 Der Körper zwischen Natur und Artefakt Indem der menschliche Körper in seiner materiellen Physis und fassbaren Stellung sich selbst erstmals als dinghaftes, dreidimensionales Gebilde wahrzunehmen vermag, wurden ausgestellte anatomische Wachsmodelle einschließlich den Pathologischen und Kuriositäten sowie Monstergestalten nicht nur als faszinierend empfunden, weil sie eine ‚neue Welt’ öffneten, sondern auch gleichzeitig als bedrohlich. Ganz nach Analogie der vertrauten ikonographischen Darstellung erschienen sie dem bürgerlichen Publikum wie ‚ein Theater der Grausamkeit’. Insbesondere das Körperinnere erschien ihm in seiner Begrenztheit als Spektakel des Todes; die physiologischen Körperorgane offenbarten ihr offenes Geheimnis - die Sterblichkeit. Das sichtbare Zeichen hierfür ist gewiss die Nahtstelle zwischen dem Körper und seiner Inneren. [Abb. 3] Die Sutur der anatomischen Wachsfigur hat als reale Naht in erster Linie etwas mit Technik und dem Materiellen zu tun; sie schließt Wunden bzw. Risse, sie fügt Getrenntes aneinander. Die Bindelinie auf der wächsernen Venus der Wiener Sammlung, die. extra sauber und direkt wiedergegeben ist, scheint beispielsweise dem Plastikkörper eine Markierung zwischen dem geschminkten Antlitz und dem geöffneten, sezierten Rumpf mit seinen herausnehmbaren Organen einzuzeichnen. In ihrer fragmentierten Form, wo die Trennungslinie verstärkt und akzentuiert wird, gelingt es dem Zuschauenden, das Innere des menschlichen Körpers direkt ins Auge zu fassen. Gleichzeitig stellt jedoch diese Naht des naturwissenschaftlichen Schneidens die visuelle Übersetzung der menschlichen Glieder als Medium dar. Mit der Sutur werden Vorstellungen sichtbar und in Körperbilder transformiert, die im wissenschaftlichen Diskurs der Wahrheit und Objektivität fluktuieren. Die Schnittstelle an der wächsernen Haut unterstreicht somit immanentes Oszillieren zwischen Realem und Künstlichem und in ihrer vollkommenen, ganzen Form, in der die Naht verdeckt oder indirekt markiert, die Repräsentation einer Leerstelle, die unsichtbar bleiben soll, um das Phantasma des Systems zu überdecken. Die Betrachtung einer Wachspuppe bleibt auf diese Weise immer eine Instabilität des kontingenten visuellen Systems. Möglicherweise ist dies ein erstes Anzeichen, dass die Abbildung des Körpers immer eine Fiktion ist. Dieser imitierte menschliche Körper zwischen Realem und Imaginärem dient folglich den Lebenden als Vorbild und greift direkt in die Herstellung von Leben 32 ein, indem er sich selbst zur Anschauung bringt. Die Wachsplastiken stellen damit einen Ort der Anschauung, Entgegnung her und liefern ein Spiel der Blicke, bzw. einen Wechsel der Positionen, indem sie eine Art ritueller Annäherung an der Grenze von Ordnung und Chaos, Kontrolle und Angst versuchen. Distanzierung und Verweigerung, Achtung und Anziehung des Blicks der Davorstehenden gehen mit einem sie kontrollierenden oder begehrenden Blick einher. Vor allem der Blick des ‚normalen’ Publikums auf den ‚Anormalen’, ‚Mitleidigen’ oder ‚Phantastischen’ ermöglicht eine stabile, kohärente Identität als der des gesunden, somit überlegenen Menschen. Der Anblick ist aber zugleich beunruhigend, weil der beobachtete Blick plötzlich erwidert zu werden droht: Wachspräparate als lebloses Objekt in materieller Erscheinung, die keineswegs Subjektqualität besitzen, blicken selbst den Betrachter an, die Blicke zwischen Dargestelltem und Zuschauenden wechseln auf der Ebene des Spiels, indem sie das eventuell schwache Selbst des Betrachters potentiell in Frage stellen.24 Das Groteske, seiner Form nach gekennzeichnet durch die grenzverletzende Mixtur von Kunst, Natur und Ornament, von Organischem und Anorganischem, Mechanischem und Natürlichem, findet somit hier seine ästhetische Nobilitierung, indem es die ästhetische Ambivalenzstruktur, die bei der Annäherung an Tabus und Natur entsteht, erfüllt. Von dieser Ästhetik profitiert die Anatomieplastik, es geht ausschließlich um die sinnliche Annäherung an Leichen und die unheimliche, zwischen Faszination und Schrecken pendelnde Anordnung des vertrauten und fremdartigen Körpers. Nachdem die Grenze zwischen naturwissenschaftlichem und künstlerischem Interesse verschwamm, trieben die Wachsplastikmuseen dieses Attribut auf die Spitze, so dass ästhetische Präsentation, rituelle Inszenierung und rationale Erkenntnis zu konvenieren begannen.25 24 Man warnte deshalb bereits den ‚Betrachter der Betrachtenden’ aus sittlich moralischen Bedenken: ‚Schöne menschliche Körper in allen Stellungen mit allen seinen Theilen zu zeigen ist gewiß lehrreich und gut, wenn nur der Zeiger ein Mensch von Herzen und Sitten ist’. vgl. Ernst Moritz Arndt: Reisebericht durch einen Theil Teutschlands, zit. nach: Kleindienst 1989, S. 78. 25 Diese Tradition findet nicht von ungefähr gerade im Panoptikum statt. Zunächst noch als mobile ‚Raritätenkabinette’ auf den Jahrmärkten unterwegs wurden die Wachsfigurenkabinette mit dem beginnenden 19. Jh. in den großen Städten sesshaft. Sie bot unter dem Signum der vollständigen Präsentation alles Menschlichen ein Sammelsurium von Exponaten. So waren ausnahmslos alle Teile des menschlichen Körpers Objekt der Präsentation; Nachbildungen historischer Persönlichkeiten standen neben denjenigen berühmter Verbrecher, Märchenfiguren neben anatomischen und pathologischen Wachsfiguren. Wie die aristokratischen Wunderkammern versprachen sie hier den Makrokosmos im Mikrokosmos abzubilden, blieben jedoch bloß Zitate. 33 Es wird zusammengefasst: Anatomische Wachsfiguren, die als erste Androiden die ‚Wahrhaftigkeit’ des menschlichen Körpers in einer Euphorie eines Glaubens an die Vereinigung von Kunst und Naturwissenschaft ausstrahlen sollten und den Überblick des menschlichen Körper versprachen, wurden immer in doppelter Eifer angefertigt: Einerseits in der künstlichen Ambition nach einer Vollendung der menschlichen Glieder und andererseits in der Einbindung in die Todesikonographie. Als täuschend echte naturalistische Darstellung und unveränderlicher Ersatz für den menschlichen Körper strebten die Wachsmodelle nach einem vollkommenen Kunstwerk, gleichzeitig markierten die wächsernen Attrappen aber die Schnittstelle am veristisch nachgebildeten Wachskörper in seiner ganzheitlichen Oberfläche und damit verborgenen Tiefe eine imaginäre todesikonographische Illusion, deren Übergang sich ‚an der abgezogenen Haut und netter Disponierung der Glieder’26 in einem Akt ‚auf Leben und Tod’ drastisch akzentuiert wurde. Anfänglich als ein Ort der Kontemplation sowie ein Schauplatz der Imagination erfuhren anatomische Wachspräparaten damit eine Verkehrung: Wachsmodelle lassen ihre Anfertigung in den alten totemischen Ritualen die Toten in der Erinnerung der Hinterbliebenen weiterleben. Die Wachsfiguren haben sich bald mit Automaten in der Erwartung durchdrungen, in diesen natürlich bekleideten, beweglichen und sprachbegabten Kunstfiguren würde sich die höchste Lebendigkeit eines Kunstwerks finden. Eine Illusion, welche die Automaten in äußerster Konsequenz leisten werden. 26 Johannes Heinrich Zedler: Grosses Vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, zit. nach: Kleindienst 1989, S. 29. 34 3. En suite des Körpers: Automaten im 18. Jahrhundert Ein Knabe im feudalen Kostüm, der mit nachdenklicher Miene an einem Tisch sitzt, taucht seine Schreibfeder in ein Tintenglas, tropft überschüssige Tinte über dem Glas ab und beginnt einen Text von etwa vierzig Buchstaben auf ein Blatt Papier zu schreiben, wobei er zweimal absetzt, um den Tintenvorrat seiner Feder aufzufrischen.27 [Abb. 4] Die unheimliche, bis heute anhaltende Faszination der Automatenfiguren28 aus dem 18. Jahrhundert liegt bei genauem Hinsehen in dem Körper selbst. In der Beherrschung und Kontrolle scheinbar natürlichen Körper verbergen sich die künstlichen Spielformen menschlicher Erfindungsgabe. Ihre inszenatorische Bannkraft bzw. die Irritation, dass hierbei Natur und Kunst ununterscheidbar werden, ist dabei ästhetisches Programm. Damit haben menschliche Automaten mit anatomischen Wachsfiguren eines gemeinsam: Die Ästhetik dient nicht lediglich der Naturapotheose, sondern erweist sich als Moment einer Inszenierung der Kunst selbst. Die Mechanisierung des Leibes Mechanische Automaten machen bereits in der frühmaschinellen Zeit künstlerische Karriere. 29 Neben Alltagsanwendungen tauchten sie auch in der 27 Der Schreiber (1774) von Pierre Jacquet-Droz und Henry Louis Jacquet-Droz aus Musée d’Art et d’Histoire, Neuchâtel Schweiz. 28 Johann Heinrich Zedler, einer der wichtigsten Faktensammler im 18. Jh. und Begründer des ‚Universallexikons aller Wissenschaften und Künste’ definiert 1732 den Automat als ‚eine Maschine, bei welcher die bewegende Kraft einen Teil derselben ausmacht. Hierzu gehören alle Maschinen, welche durch Gewichte und Federn bewegt werden, und solchergestalt das Ansehen gewinnen, als wenn sie sich selbst bewegen.’ Federantrieb und eigenständige Bewegung schienen Zedler also wichtigste Kriterien seiner Definition. vgl. Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 2, Leipzig 1732, Sp. 2270 ff. 29 Der Begriff der Maschine, die Erfindung mit beweglichen Teilen, die Arbeitsgänge selbständig verrichtet und dem Menschen von Nutzen ist, wurde in der Antike nicht im heutigen Sinne mit der Arbeit verbunden, sondern mit der Kunst, insbesondere unmittelbar mit dem Theater assoziiert. Bei der späteren Begriffsbildung des deus ex machina ging es um ein dramaturgisches Phänomen. Hinter diesem Begriff steckt nichts anderes als die Idee, als Überraschungsmoment während der Vorstellung, Schauspieler in einem Korb über der Bühne herabzulassen, um sie damit göttergleich als maschinelle 35 Form von spielerisch angewandten Figuren auf. Eine von ihnen war die mechanische Puppe aus dem Automatentheater. Das erste historisch überlieferte szenische Automatentheater stammt von Heron von Alexandria (zweite Hälfte des 1. Jh. u. Z.), der als der Geschickteste unter den Automatenkonstrukteuren der Antike galt. Heron inszenierte unter anderem die Sage von König Nauplius, der aus Rache die von Troja heimkehrenden griechischen Schiffe kentern ließ. In seinem Traktat über die Kunst der Anfertigung von Automaten hielt Heron dabei fest, wie er die Figuren auf die Bühne brachte. Figuren wie Nauplius, Ajax, Göttin Athene und Delphine wurden durch hydraulische und pneumatische Kräfte angetrieben. Zum Erstaunen des Publikums drehten sich diese ‚Apparate’, Blitze, Feuerzeichen ertönten Trommelwirbel und Beckenschläge wie von selbst.30 Die Überlegungen und Darstellungen zum künstlichen Automaten in der frühen Neuzeit waren im Vergleich dazu keineswegs auf die affektierte, mystische, im Kern magische Ausdeutung beschränkt. Mittels neuster Erkenntnisse aus der aufstrebenden Naturwissenschaft‚ ein schlüssiges Bild des menschlichen Organs zu rekonstruieren, beschäftigte man sich mehr und mehr mit dem Thema als der technischen und intellektuellen Herausforderung. So findet man nun Automaten in der ‚überformten’ Natur, welche ‚gewöhnlich in der Figur eines Menschen oder Thieres, die eine Zeit lang, ohne Einwirkung von außen, durch einen im Innern verborgenen Mechanism in Bewegung gesetzt, wie ein belebtes Wesen selbsttätig [zu] wirken’31. Die technische Voraussetzung dafür leistete der technologische Quantensprung, der sich mit der Entwicklung des Federantriebs anstelle des raumgreifenden Gewichtantriebs vollzog und sehr bald in der Folge ganze Produktionsweisen des künstlichen Menschen veränderte. Simulation einer Schicksalsinstanz einzusetzen. vgl. Richard Emanuel Weihe: Die Theatermaschine. Motion und Emotion, Zürich 1992. 30 Die Zusammenfassung einschließlich Regieanweisungen der Aufführung durch Diels liest sich so: ‚I. Akt: Zwölf Griechen hantieren an den Schiffen, um sie vom Stapel zu lassen. Allerlei Handwerker arbeiten im Hintergrunde: sägen, hämmern, bohren usw., ähnlich wie bei den Hellbrunner Automaten, nur dass dieses altgriechische Automatentheater nicht durch Wasserkraft, sondern durch starke Gewichte getrieben wird, die mit Schnüren die Räder und Maschinen in Bewegung setzen. 2. Akt: Stapellauf der Schiffe. 3. Akt: Fahrt der Schiffe. Delphine tauchen neben den Schiffen auf und nieder. 4. Akt: Sturm. Nauplios errichtet das falsche Fanal. 5. Akt: Schiffbruch. Ajax schwimmt nach dem Lande. Da erscheint oben auf der Theatermaschine (ganz wie im alten attische Theater) die Göttin Athene, die den Blitz gegen ihn schleudert. Die Donnermaschine besorgt den obligaten Gewitterlärm. Ajax verschwindet in den Fluten, indem ein Prospekt sich verschiebt und den Schwimmer verdeckt.’ vgl. Hermann Diels: Antike Technik, Leipzig 1914, S. 56-57. 31 Ersch/Gruber: Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, Leipzig 1820. Bd. I, S. 484. 36 Bedeutend leichter und kleiner als der bis dahin gebräuchliche Energiespeicher und Motor, ermöglichte das Federwerk autarke Automaten mit verschiedenen, dezentral gesteuerten Bewegungen. Auf diese Weise konnte man alle für die Bewegung der mechanischen Androiden relevanten Teile integrieren. Dass Federantriebe durchaus Figuren antreiben können, zeigt der bereits um 1560 geschaffene ‚Münchner Mönch’; der mit Schrauben, Metallbändern und Scharnieren ausgestattete Automat konnte sowohl seine Arme auf- und abbewegen, als auch die Füße drehen, indem er den Kopf beugt und dabei den Mund öffnet und schließt. Der Bau des menschlichen Automaten erlebte dann in dem 18. Jh. seinen Höhepunkt. Das Jahrhundert brachte Automaten hervor, die mehr und mehr ‚anspruchsvollere’ Bewegungsabläufe beherrschten. Zu den Meisterleistungen der klassischen Automatenbaukunst, die in puncto Naturalismus und Leistungsfähigkeit gleichermaßen als Höhepunkt in der frühen Automatenentwicklung bezeichnet werden können, gehörte der ‚Fluteur’, den Jacques de Vaucanson (1709-1782) 1738 zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorstellte. Dieser knapp lebensgroße Automat konnte durch sein federwerkgesteuertes Fingerspiel und die Modulation sowohl der Zunge, seiner Lippenform und der Stärke seines Atemstroms die zwölf gespeicherten einfachen Melodien auf der Querflöte reproduzieren. Eine Lunge besaß der Flötenspieler dabei nicht, er wies auch weder ein Muskelsystem für das Ein- und Ausatmen von Luft auf, noch das Herz für die Zufuhr von Stoffen und keinen Blutkreislauf für den Transport von Gasmolekülen. Es handelt sich somit der Vaucansons Figur weniger um anatomisches Modell eines menschlichen Körpers, sondern vielmehr um ein Maschinenmodell, das die Komplexität einer Kunstfertigkeit zu bewerkstelligen suchte. Dadurch unterschied es ihn von den bis dahin gebauten Automaten, die gewöhnlich auf reine Körperbewegungen fixiert waren. In diese Reihe gehörte auch der ‚Schreiber’, einer der Automatikpuppen von Pierre Jacquet-Droz (1721-1790) und seinem Sohn Henry Louis Jacquet-Droz (1752-1791). Berauscht wurde das Publikum durch die technische Meisterleistung und Anmut dieser lebensechten Nachbildung eines Kindes. Die Konstrukteure legten besonderen Wert auf eine naturgetreue Nachbildung der Bewegungsabläufe bis hin zu den Augen, die dabei den Schreibbewegungen der rechten Hand folgen. Die Federführung vermittels mehrerer, miteinander verbundener Submaschinen, die ein kombiniertes Schreibprogramm ausführen lassen, besteht aus der Lenkung der Schreibband zum Tintenfass, von Tintenfass zum Blatt Papier, auf dem Buchstabe und Buchstabe 37 bis zum letzten Zeichen hingeschrieben wird. Damit kann er eingegebene Sätze ‚mühelos’ reproduzieren und dies in jeder Sprache, die sich der lateinischen Buchstaben bedient, wobei er, wenn er jedoch einen im Steuerungszentrum nicht gespeicherten Satz schreiben soll, umprogrammiert werden muss. Dank dieser Verfeinerung in der Automatenbaukunst wurden die mechanisch angetriebenen Männchen bald Unterhaltungsgegenstand; als reine Kunstobjekts, welche die Wirklichkeit täuschend echt kopieren und die lebensechte Kopie als solche vorführen, dienten sie der Schaulust. Zu ihren Konsumenten gehörten die gelehrten und aristokratischen Schichten in Kunst- und Wunderkammern, später auch das bürgerliche Salonpublikum in der Öffentlichkeit gegen Entgelt. In einer Zeit erwachenden Geschichtsbewusstseins fanden sowohl die Adligen als auch Handwerker in den Automaten Zeugnisse ihrer Profession und griffen auf dem Bau eines Automaten als Anfang und zugleich Höchstleistung ihres Könnens zurück. Die Kultivierung des Körpers Bei der Verfeinerung der mechanischen Vorgänge der Automatenbaukunst im 18. Jh. wendeten die Mechaniker folglich nicht einfach mechanische Gesetze im menschlichen Körper an, sie integrierten sie mehr und mehr in die künstlerische Form. Dies zeigt besonders, dass die Automaten je nach Formen andere Funktionen zur Verfügung stellten: Die Automaten in humaner Gestalt, anders als Tierautomaten32, beschäftigten sich mit einer scheinbar zivilisierten Tätigkeit; sie musizieren, schreiben oder spielen Instrumente. [Abb. 5] Die Automatikpuppen aus dieser Zeit besaßen in der Tat alle kulturellen Fähigkeiten, deren Aneignung bekanntlich strenge Disziplinierung und Koordination von Bewegungsabläufen erfordern sollte. Die mechanische Modellbauten schienen diese mühelos auszuführen und sogar ‚zu ermöglichen, alles Ideale und Schöne, wie das 32 Die Automaten, die zwischen Phantastik und Natur changieren, erfassen auch die natürliche Haltung von Tieren. Vaucansons mechanische Ente beispielsweise, gebaut um 1733/1734‚ ‚streckt ihren Hals, um die auf der Hand liegenden Körner zu picken [...]; sie schluckt, verdaut und scheidet sie völlig verdaut auf den üblichen Verdauungsbahnen aus. [...] Alle Bewegungen einer Ente, die schlingt, um eifrig die Speise in den Magen zu führen, wird naturgetreu kopiert.’ Der anatomisch-physiologische Kern der Ente besteht also in der mechanischen Darstellung des Verdauungsapparats. Dazu gehört die charakteristische Bewegung beim Verschlingen der Körner, dann eine mechanische Zerkleinerung der Nahrung und deren chemische Auflösung, schließlich die Ausscheidung via Schließmuskel. vgl. Vaucanson in einem Brief an Pierre-François Guyot Desfontaines, zit. nach: Alexandre Métraux: Marginalien zur Geschichte der Automaten, in: Neue Rundschau 114. Jg. 2003 Heft 2, S. 76. 38 Musizieren oder das Denken, als bloße technische Verfeinerung des Mechanischen zu betrachten’ 33 . In ihnen scheint sich alles Mechanische und das Kulturelle einander anzunähern. Hier liegt die Attraktion der Automaten, weshalb die damaligen Automaten in aller Regel so konzipiert waren, dass das Publikum auf Wunsch einen Blick in das Räderwerk des Mechanismus werfen konnte. [Abb. 6] Diese fortwährende, gleichmäßige, wenn nicht erzwungene Ausführung von vermeintlich kulturellen Tätigkeiten der Automaten beinhaltet jedoch einen subversiven Moment, der in sich verbirgt; nicht die einzigartige Fähigkeit des Menschen scheint für die Differenz zum ‚Wilden’ verantwortlich zu sein, diese konstituierte sich in der Tat durch die Nachahmung, bzw. Wiederholung. Kulturelles Können nicht als ‚einmalige Leistung’, sondern als ritualisierter und internalisierter Produktionsprozess. Weshalb dieser ästhetische Körper des Automaten das damalige Publikum verblüffte, welches sich durch seine kulturellen Leistungen als einzigartig von dem ‚Fremden’ zu unterscheiden glaubte, aber diese offensichtlich leicht von automatischen ‚Dingen’ blenden ließ. Die Faszination, die Automaten ausübten, mündete daher nicht immer in die Bewunderung der neuen technischen Realisierung, sondern zunehmend in Ängsten und libidinösen Phantasien; das Unheimliche artikulierte sich allmählich als Gegenpol zum Wunderbaren. In der Folge entwickelten sich Denkvorstellungen, im Kontext der anschwellenden Einbildungskräfte mechanischer Automaten, die Bewegung der Natur, bzw. des menschlichen Körpers zu erklären.34 Ihre Bedeutung liegt vor allem darin, die qualitative Veränderung der Wissenschaftskonstitution und des neuen Naturverhältnisses exemplarisch darzustellen und das Verhältnis des Erkenntnissubjektes, bzw. das Verhältnis zur Sinnlichkeit, zur äußeren Natur und schließlich zum menschlichen Körper im methodischen Vorgehen zu untersuchen. Damit gewannen die Automaten die Konstruktion von Maschinen als Menschen und gleichzeitig den philosophischen Entwurf des Menschen als 33 Leinhard Wawrzyn: Der Automatenmensch. E. T. A. Hoffmanns Erzählung vom Sandmann, Berlin 1976, S. 100. 34 Die erste bedeutsame Ausprägung erhielten diese Denkrichtung durch den Philosoph René Descartes (1596-1650) und Julien Offray de La Mettrie (1709-1751), die als erster streng methodisch den menschlichen Körper rein quantitativ erfassten. vgl. René Descartes: Traité de l’Homme (1633)/ ders.: Discours de la Méthode (1637); Julien Offray de La Mettrie: L’Homme Machine – Die Maschine Mensch. (Übers. u. Hg. von Claudia Becker). Hamburg 1990. 39 Maschine, das heißt, die Erklärung natürlicher Vorgänge im menschlichen Körper aus den Prinzipien der Mechanik als Metapher für einen monistischen Entwurf des Menschen als homme machine. Damit ist die technische Reproduzierbarkeit der künstlichen Tätigkeit zweifach sichergestellt. Es wird zusammengefasst: Die Automaten im 18. Jh., die als erste größte Annäherung an die perfekten Androiden gelten, lassen sich durch drei Ansprüche definieren. Äußerlich ähnelten die Automaten mit ihrem mimetisch modellierten Körper Menschen in Form und Gestalt. Sie bewegten sich mit ihren regelmäßigen, mechanischen Gliedern von selbst. Und schließlich erregten die mechanischen Puppen das Publikum durch ihre eigenständige Bewegung wie Musizieren, Schreiben, Kombinationsfähigkeit und auch Sprechen. Der Bau einer automatischen Kunstfigur kann damit durchaus als Verbindung neuer, mechanischer Rationalität mit traditionellen, altbekannten Formen gesehen werden: Automaten sind mechanische Strukturen, die menschlichen Wesen ähneln. Die Automatikpuppen begeisterten ihren Zuschauer vor allem durch ihren kultivierten Körper, der komplizierte kulturelle Tätigkeiten zu meistern wusste. Die vorgeblich einzigartigen menschlichen Aktivitäten wurden damit den Funktionen des Körpers untergeordnet und das Wissen um den menschlichen Körper wiederum wurde auf die Wiederholbarkeit körperlicher Prozesse reduziert. Trotz der Bewunderung für die Salon-Automaten und Spekulationen über das Konstrukt eines künstlichen Wesens war man sich deshalb der Maßlosigkeit und des schmählichen Ausgangs bewusst: Die ‚Apparatur’ trat in Konkurrenz zu den Möglichkeiten des menschlichen Körpers, dieser muss sich in die Schöpfung des Mikrokosmos einfügen. Nachdem die ‘natürliche’ Differenz zwischen Mensch und Maschine schwand, blieb nichts anderes übrig als zu trauern, in dem Nachfolger; Marionetten. 40 4. Biegsamer Körper : Marionetten und ‚Marionettentheater’ von Heinrich v. Kleist ‚Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben; wir brauchen ihn, um darauf zu ruhen, und uns von der Anstrengung des Tanzes zu erholen: ein Moment, der offenbar selber kein Tanz ist, und mit dem sich weiter nichts anfangen läßt, als ihn möglichst verschwinden zu machen.’35 Marionetten sind mit den Automatenfiguren nahe verwandt. Wie die mechanischen Puppen inszenieren sie die Ambivalenz von Kontrolle und Unkontrollierbarkeit des menschlichen Körpers, hier wie dort zelebrieren sich die Gegensätze. Der Unterschied ist es jedoch, dass der Automat mit einem eigenen Aggregat aufgetreten ist, die Gliederpuppe aber mittels Fäden vorgeführt wird. Die Faszination der Marionetten liegt folglich darin, dass sie mehr als andere Kunstwesen erst durch menschliches unmittelbares Mittun lebendig werden. Man hegt den Wunsch, einmal ‚die Puppen tanzen zu lassen’. [Abb. 7] Heinrich von Kleist verbindet jedoch in seinem Aufsatz Über das Marionettentheater diese alte Marionettenmetapher mit der neuzeitlichen Entdeckung der universellen Gesetzmäßigkeiten der Mechanik, indem er gleichzeitig die Deutung der Gliederpuppenmotive in die Dimension der Überwindung des natürlichen Körpers überführt. Künstlerischer Körper Marionetten werden ‚dank der besonderen Beweglichkeit und der damit verbundenen darstellerischen Möglichkeiten’36 seit jeher in der Bühnenillusion verwendet. Insbesondere seit dem 16. Jahrhundert, dem Beginn einer ersten Säkularisierungswelle, tauchten sie mit noch geistlichem Inhalt auf Jahrmärkten auf, indem sie dann im Lauf der Zeit mehr und mehr Elemente des Schauspielertheaters übernahmen. Ihre Typenhaftigkeit näherte sich etwa denen 35 Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Helmut Sembdner (Hg.) Bd. 2, München 1965, S. 342. 36 Manfred Brauneck/ Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon, Hamburg 1992, S. 575. 41 der Commedia dell’Arte an, weckte damit als ein mögliches Gegenmodell zum zeitgenössischen Schauspieltheater Interesse. Das Theater der Marionetten hat vor allem den Vorteil: Im Spiel der Marionetten wird die Illusion von vornherein vermittelt. Spielend lassen sie zwar eine eigene Welt erstehen, da aber die Protagonisten aus Holz und Stoff sichtlich verkleinert sind, ist ihr Kunstcharakter stets offenkundig. Die Situation mag somit vergnüglich oder bedrohlich, von der Liebe zur Prinzessin oder vom Schrecken des Teufels geprägt sein, immer kann sich aber Hanswurst oder Kasperl auf die für ihn typische burlesk-zupackende Art über sie hinwegsetzten. Dass die hölzernen Darsteller die Rollenvorgabe des Dramas unterlaufen, bedeutet auf der anderen Seite, dass sie von Anfang an die totale Bereitschaft der widerstandslosen Akzeptanz einer Rolle besitzen müssen. Mit anderem Wort: Puppenspiele setzten immer Puppenspieler voraus. Erst durch die Ausblendung der Spieler und das Verkennen der Fäden werden die Gliederpuppen als autonome Bühnengestalt auf dem Brett gebilligt. Es verbindet sich deshalb die Drahtpuppe immer schon mit der negativen Bedeutung eines am fremden Faden geführten Subjekts: Die Marionette hat sich als Sinnbild für den ferngesteuerten, manipulierten Menschen etabliert. Konnten die spielerischen Automaten mit ihrer mechanisch-technischen Selbstgenügsamkeit als autonome menschliche Subjekte betrachtet werden, wurde die Marionette zum Symbol der Fremdbestimmung schlechthin. Gerade aufgrund dieser widersprüchlichen Eigenschaften waren Marionetten im 18. Jh. das beliebte literarische Sujet in der Tradition des künstlerischen Menschen. Zwischen dem Symbol einer bloß von außen bestimmten Existenz und dem fernen Ideal eines allegorischen Charakters schwankt das Bild der Marionette. Das ganze Spektrum erstreckt sich stets zwischen dem Wunderbaren und Unheimlichen. Der kurze Aufsatz Über das Marionettentheater von Kleist hat in diesem Zusammenhang verschiedene Deutungen erfahren: Als Parabel der romantischen Ästhetik, als Allegorie der christlichen Rechtfertigungslehre, als eine Offenbarung der hermetischen Gnosis, als Schlüssel zu Kleists anderen Werken und nicht zuletzt als Satire aufs zeitgenössische ‚Ballett’.37 Reagierte Kleist sogar mit dem 37 vgl. Reiner Maria Rilke: Brief an Marie v. Thun und Taxis vom 16. Dez. 1913, in: Briefe Bd.1, Wiesbaden 1950, S. 446; Hugo v. Hofmannsthal: Deutsches Lesebuch Bd. 1, München 1922, S. XI; Helmut Sembdner (Hg.): Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen, Berlin 1967, S. 221; Hanna Hellman: 42 Essay auf die von der Mechanik formulierten Naturgesetze mit ihrer konsequenten Übersteigerung, die in der beunruhigenden Vermutung mündeten, dass Menschen die Puppen sein könnten, deren Bewusstsein der Grazie der technisch perfekten und damit quasi-natürlichen Gliederpuppe unterlegen sein könnte? Solche Interpretationen sind doch wenig hilfreich, um auf die elementare Frage antworten zu können, weshalb Kleist die leblose, mechanische Puppe als Beispiel des absolut graziösen Wesens gewählt hat, welches Fasziosum Kleists von der Kunstfigur ausgeht? Der folgende Überblick versucht, Kleists Gliederpuppen weniger in ihren philologischen, gesellschaftskritischen, mithin philosophischen Bedeutungszusammenhängen, vielmehr in ihrer besondern Natur nachzugehen; dem Verhältnis der Marionetten zwischen künstlichem Körper und natürlicher Schwerkraft im Bezug auf die Ausdrucksmöglichkeiten von Sprache, Verstummen und Gebärde. Graziöser Körper Die Abhandlung fängt mit dem Lob der Drahtpuppe an. Herr C., der erste Tänzer der Oper, stellt dem Ich-Erzähler gegenüber die Behauptung auf, ein Tänzer, der sich ausbilden wolle, könne mancherlei von der Puppe lernen. Denn die Gliederpuppen können viel graziöser als ein Mensch tanzen, weil jede ihrer Bewegungen von einem inneren Schwerpunkt ausgehe und daher völlig von den absoluten Gesetzen der Mechanik gelenkt werde: Dadurch, dass die Puppen von innen her durch die von Maschinisten ausgeführten Manipulationen des Schwerpunkts kontrolliert würden, seien die Puppenglieder nichts als Pendel und folgten den Verschiebungen im Schwerpunkt des Körpers, die durch Stellungsveränderungen entständen. Der Vorteil, den diese Puppe lebendigen Tänzern voraushaben würde, ist demzufolge, dass sie sich niemals ziere: ‚Denn Ziererei erscheint […], wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem anderen Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung.’38 Heinrich von Kleist. Darstellungen des Problems, Heidelberg 1911, S. 13; Freidrich Braig: Heinrich von Kleist, München 1925; Kurt Hohof: Heinrich von Kleist in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1958, S. 131. 38 Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, S. 341. Wenn Kleist hier die aristotelische Definition der Seele als vis motrix, als bewegende Kraft, wörtlich nimmt, hebt er die Zweiteilung von vermitteltem Inneren und vermittelndem Äußeren auf. Der Aufsatz bricht somit mit der von achtzehnten Jahrhundert übernommenen Ausdrucksästhetik. Kleist Miniatur einer Tanzästhetik bildet einen in seiner mechanistischen Kühle einen Gegenpol zu den um 1800 vorherrschenden Auffassungen, Tanz von seinen 43 Bühnenmarionette, deren Gliedmaßen, befestigt an einem Spielkreuz in der Hand des Puppenspielers, sich bekanntlich mittels Fäden und Drähten bewegen, sind nach Ansicht vom Herren C. dem physikalischen Gesetz der Schwerkraft untergeordnet sind, weshalb ihre Bewegungstendenz ein Ausbalancieren ihres Schwerpunkts ist, aus dem die einzelnen Glieder herausgehoben werden müssen. Ihr seelenloses, unselbständiges und nur reagierendes Gebilde, das den Gesetzen der Mechanik folgt, wird somit gerade aufgrund ihrer ‚Unbewusstheit’ zur absoluten Verkörperung von Harmonie und Grazie. Die menschlichen Bewegungen, befürchtet Herr C., sind dagegen von allerlei Unordnungen abhängig, da sie nicht von dem reinen und absoluten Gesetz der Mechanik, sondern von der Wirkung des individuellen Geistes oder Bewusstseins gelenkt werden. 39 Die Grazie ergäbe sich aus einer vollkommenen Integration des Geistes mit dem Körper, das Fehlen einer solchen Integration führe hingegen zum Ungraziösen. Seit der Mensch durch den Sündenfall der reflektierenden Erkenntnis seine ursprüngliche Harmonie mit der göttlichen Schöpfung verloren habe, bzw. an Uneinigkeiten zwischen Geist und Körper leide, wobei die Seele und der Körper kein harmonisches Ganzes, sondern eine Serie von gegeneinander strebenden Teilen bilden, zeige sich seine Unfähigkeit zu Anmut und Grazie der Bewegung. Dieses ‚Bewusstsein’ könne die Einbeziehung in ein Ganzes des Körpers derartig stören, dass sich menschliche Glieder oft in Disharmonie mitbewegen. Unter solchen Zuständen befinde sich, fasst Herr C. zusammen, die Seele in irgendeinem anderen Punkt als in dem Schwerpunkt der Bewegung und könne man die resultierende Bewegung nicht mehr graziös nennen. mimischen, mimetischen, und nicht zuletzt auch von seinen moralischen Qualitäten her zu begründen. Während seine Zeitgenossen Anmut aus dem gestisch-mimetischen Seelen-Ausdruck zu herleiten und sie moralisch im Konzept der schönen Seele zu fassen wussten, erklärt Kleist Grazie als Bewegungslinie eines Körpers, dessen Seele als vis motrix mit dem Körperschwerpunkt übereinstimmt. Die Grazie der tanzenden Marionette – in Kleists Worten ‚Ebenmaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit’ – ist in erster Linie Resultat des Spannungsspiels von Schwerkraft und Schwerelosigkeit. Nachzulesen etwa in Schillers ästhetischen Schriften, oder auch in der ‚allgemeinen Theorie der schönen Künste’ Johann Georg Sulzers. vgl. Matthias Sträßner: Tanzmeister und Dichter. Literaturgeschichte(n) im Umkreis von Jean-Georges Noverre, Lessing, Wieland, Goethe, Schiller, Berlin 1994; Roger Müller-Farguell: Tanz-Figuren. Zur metaphorischen Konstitution von Bewegung in Texten, München 1995. 39 Aus diesem Grund bezeichnet Kleist die Marionette als ‚Gliedermann’, den sie steuerten Menschen hingegen als ‚Maschinisten’. Das Humane wird somit zum Mechanischen und umgekehrt. 44 Durch die darauf folgenden beiden Binnentexte wird dieser menschliche Körper zu veranschaulichen versucht. Sie handeln von der Abwesenheit des Eigenlebens des Körpers, bzw. den Schwierigkeiten, ein lebendiges Bild des Körpers zu erfassen, das sowohl den jeweiligen Anforderungen von außen Genüge leisten, - als auch das ungezwungene Zeigen einer imaginierten Natürlichkeit des Körpers ausführen muss. Beide Male wird ein Verlust des Körpers thematisiert, beide Körper betrifft das Problem von intellektuellen Selbstbewusstsein und körperlicher Selbstwahrnehmung. Der schöne Knabe, ‚dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut’ verbreitete und mit dem der Ich-Erzähler gemeinsam kurz zuvor die antike Bronzestatue des ‚Dornausziehers’ im Louvre gesehen hatte, glaubte nach dem Besuch, mit seiner Bewegung des Fußabtrocknens der Position des ‚Dornausziehers’ zu entsprechen, und suchte die Bewunderung des älteren Freundes für die Schönheit seines nackten Körpers. Als jedoch keine Bestätigung kam, verlor er die Fähigkeit, sich natürlich zu bewegen: ‚Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außerstande, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen […]’40 Die Reduktion der Grazie auf mechanische Bewegungen nährt die Gesten der seriellen Bewegungen an. Die bewusste Wiederholung des Ausdrucks der Grazie missglückt jedoch; sobald der Jüngling agiert, ist die Wiederholung des Immergleichen in Frage gestellt. Das Ergebnis: Er stand ‚tagelang vor dem Spiegel’ und verlor endgültig den letzten Rest seiner Grazie. Herr C., der selber beim Fechtkampf von einem Bären geschlagen wurde, erinnert sich indes, dass es dem Vierfüßler gelang, dem Fechter ‚die Fassung zu rauben’ und in ihm die Selbstreflexion zu erregen, als dieser merkte, dass der Bär gar nicht auf seine ‚Finten’ einging; er rührte sich nicht einmal. Die Kreatur rief dadurch in ihm eine ganz besondere Reaktion hervor, die Eingebung, dass sie seine ‚Seele lesen könnte’. Im Gegensatz zu dem kampfunfähigen Fechter, dem sexuell unbestimmten Jüngling und nicht zuletzt dem ungeschickten Balletttänzer, deren Körper wegen ihrer Unzulänglichkeitsgefühle gelähmt und nach der Abweisung eines Anderen zu unintegrierten, fragmentierten Gestalten geworden sind, ist nach Ansicht von Herren C. die Gliederpuppe wieder einmal die starke Gestalt; sie ist ein besseres 40 ebd., S. 343. 45 Symbol für das integrierte, ganze Selbst. Denn die Marionetten können im Vergleich zu beiden Körpern nur durch das Eingreifen eines Anderen, des Marionettenspielers, ‚graziös’ werden. Ein idealer Körper also, dessen Glieder ‚tot’ sind und dessen Schwerpunkt vollständig dem Willen des Maschinisten unterworfen ist. Diese empfindungs- und bewusstlose Marionette verkörpere, so wiederholt Herr C. abschließend, auf einer künstlichen Ebene jene Absolutheit und Vollkommenheit, die ansonsten nur dem höchsten Wesen, Gott, zukomme: ‚[…] so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.’41 Es wird zusammengefasst: In Kleist Ideengeflecht arbeitet ein doppelter Blick auf die Gliederpuppen: Auch wenn Gliederpuppen als Bühnenakteure von einem Lenker oder Puppenspieler, dessen Idee und geistiger Gehalt die eigentliche Substanz der Bühnenkunst ausmacht, abhängig bleiben, sind sie in der Lage, die reine, bzw. perfekte Bewegung auszuführen. Die scheinbare Haltlosigkeit der Marionettenglieder, die sich bei Kleist geradezu als Vorzug im Vergleich zum brüchigen, starren menschlichen Körper erweist, ist die Abwesenheit der Eitelkeit, unbewusste Existenz, mithin Rückkehr zu einer Grazie. Der menschliche Körper besitzt sich nach Kleist im Übermaß oder unvollständig. Dieser Gedanke, dass es hier das Bewusstsein ist, welches zur Spaltung des Menschen führt und seine natürliche, spontane Grazie in der Bewegung und Tätigkeit verdirbt, indem es Überlegung zwischen Idee und Tat einschaltet, ist Gemeingut der Romantik. Kleists Bewunderung der künstlichen Menschen ist jedoch ein Widerspruch zur romantischen Ideologie der Zeit, in der das Organische und Natürliche verehrt, das Mechanische und Leblose aber abgelehnt wurde. Kleist erkennt im Menschen ein tragisches Bewusstsein, denn der Mensch kann weder Gott noch Marionette werden. Obwohl er Akteur ist, bleibt der Schauspieler gleichzeitig immer manipuliertes Wesen. Die ‚Rettung’ scheint bei Kleist in dem artifiziellen Wesen zu liegen; in dem Ausdruck der planmäßigen, maßvollen Bewegung des Kunstkörpers auf die Schöpfung der vollkommenen und göttlichen Ur-Körper hin. 41 ebd., S. 345. 46 5. Körper als Kleiderpuppe42: Schaufensterpuppe Sie stehen regungslos hinter einem Schaufenster, mit ihren anmutig geschwungenen Lippen, kleinen Nasen und perfekt modellierten Körpern. Die Augen blicken dabei leer. Als wären sie soeben aus der Garderobe gekommen, tragen sie mondäne Kleidungen und stehen dem Betrachter direkt oder schräg gegenüber. [Abb. 8] Es sind durchaus ‚Personen’, zu denen man aufblicken kann. So ähneln sie zuweilen der 30er-Jahre der Greta Garbo oder dem Herzog von Windsor oder Twiggy aus den 60er-Jahren, deren Gesichter und Körper übertrieben lang und mager ausschauen. Keine andere anthropomorphe Kunstfigur ist so eng verbunden mit der Bühnenfigur wie die Schaufensterpuppe. Sie ist in ihrem öffentlichen Auftreten das figurative Medium, die menschliche An- und Abwesenheit zu simulieren und zu verkörpern. Ihr nackter somit scheinbar natürlicher Körper wird durch eine gewollte Künstlichkeit, wie z.B. Schminke, Garderobe, Geste usw. ersetzt. Nicht zuletzt tritt in ihr das klassische Verhältnis vom Schau-Stellen und der InsSzenierung vor dem Zu-Schauenden auf. Körper der Authentizität Dass das Theater eine zentrale Metapher für die Wahrnehmung des Schaufensters und seiner Protagonisten innehat, registrierten bereits zu Beginn des 20. Jh. einige Zeitgenossen: ‚Schauspiele angewandter Kunst genießt man jetzt nicht mehr allein in den Ausstellungen unserer Salons, in den Inszenierungen unserer Theater, sondern auch in den Straßen der großen Städte. Die Wände der Straßen, in vergangenen Zeiten ein streng, abschließendes Bollwerk, sind jetzt transparent geworden, gläsern, lichtdurchflutet, bieten sie bunte Bühnen, changierende Panoramen an.’43 42 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, in: Sylvia Bovenschen (Hg.): Die Listen der Mode. Frankfurt am Main 1986, S. 310. 43 Felix Poppenberg: Schaufenster-Regie, in: Arena, Dezember 1906, S. 963. 47 In der Großstadt wie Paris erwies sich das Schaufenster als besonders spannend, so beschreibt ein anderer Flaneur: ‚Ich gehe jeden Tag spazieren […] Es ist meistens derselbe Weg aber es ist nie dasselbe Paris. Meine Museen bewahren es vor jeder Monotonie. Meine Museen sind deine Schaufenster, oh mein Paris! […] Großartiges, wechselvolles Schauspiel […].’44 Die Laufbahn der Schaufensterpuppe bewährt sich folglich außerhalb der etablierten Kulturinstitutionen bzw. innerhalb der Straße: in der Konsumkultur.45 Das Mannequin verdankt nämlich seine Existenz dem Entstehen des kommerziell arrangierten Haut Couture, die um 1860 das Phänomen der Vorführkörper hervorgebracht hatte. Als Stammvater dieser Entwickelung gilt der Pariser Schneidermeister Lavigne, der um 1850 ein Verfahren entwickelte, Schneiderbüsten nach dem Wachsabdruck menschlicher Körper herzustellen. Der Erfolg dieser bald darauf patentierten Schneiderpuppen veranlasste ihn zur Gründung einer eigenen Serienfabrikation. Waren es zuvor noch Bühnenschauspielerinnen 46 oder Vorführdamen, welche die Nouveauté feilboten, treten nun sukzessiv Schaufensterpuppen an ihrer Stelle. [Abb. 9] Diese steigende Nachfrage nach Mannequins und die Industrialisierung der Produktion, nachdem die Verzierung der Warenhäuser mit Mannequins zum integralen Bestandteil der Schaufensterdekoration wurde, verlangte bald entsprechende Körper für Szenarien und Inszenierungen. Um sich als Ort des Warentausches zu kreieren, reichte allein die Präsenz der menschlich modellierten Gestalt nicht aus, das indirekte Verführungspotential sollte sich von dem mäßigen Vorführkörper auf ihren ‚arrangierten Gesamtkörper’ verlagern. Mit anderen Worten: Ein Körper, der mehr als eine plumpe Schneiderbüste sein sollte. Die neuartigsten mannequins articulés waren deshalb mit Sägespänen 44 Colette (1933), zit. nach: Nicole Parrot: Mannequins, Bern 1982, S. 129. 45 Die Veränderung der Lebensbedingungen der Zeit in Paris bot eine unmittelbare Anschauung der Entwickelung der Konsumkultur und bezeugten sogar Veränderungen der städtischen Topographie wie die sog. Haussmannisation, worunter die von Baron Haussmann zwischen 1850-60 gebauten großen Boulevards und die Dezentralisierung der alten Arbeiterviertel verstanden wurde. Dadurch wurden nicht nur dem Verkehr Tür und Tor geöffnet, sondern auch für die Passanten und die Konsumkultur völlig neue Dimensionen geschaffen. 46Die ersten Modemannequins waren Theaterschauspielerinnen. Modeaufnahmen in den frühen Modefotografien zeigen dies deutlich; vor einer nachgebildeten Kulissen inszenieren sich zeitgenössische Schauspielerinnen in einer höchst künstlichen – oder auch künstlerischen Pose. 48 gefüllte Leiber, die über holzgeformte Arme und Beine samt Handschuhen verfügten. [Abb. 10] Die Köpfe waren je nach Ausführungswunsch aus Pappmaché oder Wachs mit Echthaar oder aufgemalten Haaren versetzt. Es wurden hinzu nicht nur in sich bewegliche, sondern auch bewegte Schaufensterpuppen entworfen, unter anderem eine rotierende Halbbüste mit dem Kopf, die, auf einem maschinellen Sockel befestigt, sich Stunden lang um ihre eigens Achse drehte.47 Es tauchten auch, neben der ‚braven und aufrechten Bürgersfrau’, die Reitende oder Radfahrerinnen, die mit goldenem Puder mattiert oder silbrigglänzend lackiert waren. 48 Sobald am Schaufenster Repräsentation und Präsentation eins werden, erhalten die Mannequins eigene Gesichtszüge und Namen, schälen sich mehr und mehr erkennbar heraus. Bereits die Schneiderbüste aus den Ateliers von Pierre Imans, denen man zu Beginn des 20. Jh. in allen Modegeschäften begegnete, richteten sich beispielsweise nach dem Zeitgeschmack bzw. den Namen wie Lucile, Linette, Roberte, Manon. 49 Einst anonyme Kleiderständer rückten damit als eigenständige Persönlichkeiten in den Mittelpunkt: Mit ihren unverwechselbaren Gesichtszügen wurden sie durch die Namensgebung und würdige Umgebung endgültig zu ‚Einzelwesen’ erhoben. Die bekleideten Kunstkörper aus der Vitrine waren auf dieser Weise nicht mehr reiner Zulieferer der Produkte. Sie priesen nicht bloß die Ware Mode an, sondern ein bestimmtes, längst selbst als Kunst zu verstehendes Bild – sich selbst. Der anfängliche Vorbehalt der Kritiker, ob diese ‚dürftige Kleiderständer-Ikonen; diese Simulakren weiblicher und männlicher Geschöpfe’, etwa im Konkurrenz zur klassischen Kunst, ‚überhaupt über eine Geschichte verfügen, die es wert wäre, erzählt zu werden’, ließen sie damit verstummen, indem die Schaufensterpuppen mit ihrem Podest determiniert zu Ersatzmuseen für Mode und Gegenstände, Kultur und Kitsch und, als ‚Spiegel der Wirklichkeit, als 47 Diese sog. Stockmanns-Mannequins haben den bedeutenden Impuls zu ihrer Industrialisierung der Mannequinsproduktion gegeben. vgl. Parrot 1982, S. 43. 48 vgl. Elisabeth von Stephani-Hann: Schaufensterkunst. Lehrsätze und Erläuterungen. Berlin 1926. 49 vgl. Parrot 1982, S. 24. 49 Spiegel der Passanten’ 50 darauf ‚ein Theater mit durchgehender Vorstellung’ 51 wurden.52 Körper als Kleiderpuppe Im Lauf der Jahre avancierten die Schaufensterpuppen mit materieller Erleichterung und technischer Perfektionierung zum Kunstwesen aus Realen und Idealen, wurden endgültig Hauptakteure der Moderne. Die Mannequins sind gleichwohl in erster Linie ein Kunstprodukt, dessen Bestehen erst und ausschließlich dem Vorführen mondäner Bekleidungen dient. Sie sind industrielle Produkte in zeitgemäßer Gewandung, und zwar des stets Allerneuesten, bedienten darin meist den Zeitgeschmack und überakzentuierten ihn oft. Ihr artifizieller Körper ist reine Projektionsfläche, in der sich die Mode und ihre flüchtige Existenz im Augenblick des Verkleidens durchqueren. Menschlicher Körper und Kleidung stehen seit jeher in einem komplexen Verhältnis zueinander. Da Bekleidung immer mit dem Körper verbunden ist, bzw. nah auf der Hautoberfläche aufliegt, geht sie mit ihm im Tragen ein inniges Verhältnis ein. Die beiden sind durch Abdruck und Nachahmung eng miteinander verknüpft und bringen sich wechselseitig als Plastik und Passform hervor. So bilden sie sich gegenseitig als Positiv und Negativ, sie sind beide immer Bildner und Objekt zugleich. Zu dieser engen Bindung zwischen Körper und Kleid kontrastiert jedoch der Abstand, welcher das Paar voneinander trennt; obwohl ihre konzeptuelle Verbindung den beiden die Autorität eines Trägers verleiht, impliziert dieses Prinzip der Verbindlichkeit auch, dass ihre Berührung nur eine flüchtige ist und immer dann stattfinden kann, wenn es sich das In-EinsSetzen von Kleid und Körper ereignet. Das Kleid bringt augenblicklich nur opake Oberfläche eines dichten Korpus hervor. Es gibt daher kein ‚ewiges Gewand’, das den Körper restlos identifizierbar machen würde und umgekehrt. Die Annährung und Trennung zwischen dem Kleid und Körper evoziert die ewige Bewegung ihrer Überbrückung. Und sie ist es, die immer wieder einen Handlungsspielraum zwischen Identitätsfixierung und Identitätsentwurf eröffnet. 50 Tilman Osterword (Hg.): Schaufenster. Die Kulturgeschichte eines Massenmediums, Stuttgart 1974, S.8. 51 Parrot 1982, S. 121. 52 zit. nach: Parrot 1982, S. 148; Berliner Tagblatt 1937, zit. nach: Wolfgang Brückner: Mannequins. Von Modepuppen, Traggestellen, Scheinleibern, Schandbildern und Wachsfiguren, in: Barbara Krafft (Hg.): Traumwelt der Puppen. München 1991, S. 10. 50 Diese ‚oberflächlichen Hüllen des Selbst’ 53 unterliegen derweil durch ihre alltägliche Berührung bzw. den Gebrauch dem Prozess der Alterung. Einerseits durch den materiellen Verschleiß von Textilien und andererseits die veränderlichen ästhetische Kriterien. Somit zeichnet die ‚zweite Haut’ die Erinnerung an ihre imaginäre Geschichte des Trägers aus und weist auf seinen Geschmack indirekt hin. Im Vergleich dazu weist die Garderobe aus der Vitrine keine ‚Erinnerung’ auf. Während das Kleid sich am menschlichen Körper den wechselnden Bedürfnissen, Identitäten und Wünschen des Individuums anzunähern sucht, erstrebt es auf der artifiziellen Haut nichts davon. Das Wissen um den künstlichen Körper, bzw. seine Vergangenheit, sein Alter und Sehnsüchte sind rein in der Phantasie des Außenstehenden bzw. Fußgängers relevant. An der Schaufensterpuppe amalgamieren stattdessen Körper und Kleid direkt. An ihr wird die dekorative Schnittstelle zwischen Humangebilde und Industrieprodukt unmittelbar angezeigt, die Differenz von menschlicher Gestalt und technischen Gerät tendenziell getilgt. Mit der Aktualisierung der Mode und künstlerischen Technik ist die Schaufensterpuppe ihrem Wesen nach ein Gleiten zwischen Sein und Schein, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Dieses Oszillieren zwischen Körperlichkeit und Dinghaftigkeit macht die anthropomorphen Kleiderständer zum direkten Objekt des Ortes, an dem sich die Veränderungen von Körperformationen durch künstlerische Entwürfe und technische Konstruktionen verflechten. Der Puppenkörper korrespondiert mit dem Erscheinungsbild der Zeit, umgekehrt kommt die Idee der technischen Moderne in den einheitlichen Körpern der Schaufensterpuppen zum Tragen. 54 Die Schaufensterpuppe wird damit eine bessere Trägerin jeglicher Mode, keine körperliche Unzulänglichkeit lenkt von der Kunstfertigkeit des Kleides ab. So entsteht eine scheinbare Einheit zwischen Kleid und Träger, die in der Realität nie erreicht werden kann. 53 vgl. Birgit Richard: Die oberflächlichen Hüllen des Selbst. Mode als ästhetischmedialer Komplex, in: Kunstforum 1998, Bd. 141, S. 48-95. 54 ‚Das modische Schaufenster plagiiert das Leben, nur so kann es heute noch lehren, was getragen wird und wie das getragen wird, nur so zum Kauf reizen, der die Nachahmung ermöglicht. [...] es soll aber auch unterhalten. Also müssen die Puppen interessant sein im Sinne des geltenden Schönheitsideals, interessant auch [...] in dem Reiz, den sie atmen und ausströmen. Gewiss, sie sind bei aller Normung, die die Produktion bedingt, Kopien nach irgendeiner individuellen Wirklichkeit [...]. Aber die Menge sieht nur den Typ und meint, dass so auszusehen das Ideal sei – und bewusst oder unbewusst, sie kopiert die Kopie. Die Schaufensterpuppe als Bildner, das Schaufenster als schöpferisches Institut [...] so entstehen Zeitmenschen.’ zit. nach: Ludwig Sternaur: Puppen wie Du und ich, in: Velhagen und Klasings Monatshefte, 47. Jg. 1932/33, Bd. I, S. 522. 51 Körper der Moderne Die Figuren im Schaufenster werden durch das Medium ‚Fenster’, hinter dem sie stehen, stets von dem Passanten auf Abstand gehalten. Der Blick auf sie kann daher ebenso identifikatorisch, im Sinne einer narzisstischen Projektion des eigenen Selbst auf das schöne, perfekte Spiegelbild, wie ‚magisch’ sein. [Abb. 11] Dieses besonders erotische, provozierende Moment der Schaufensterpuppe, welches der Sublimierung, der Vergeistigung widersteht, ist aber vor allem durch das Oszillieren des Wesens, durch das Verbergen und Erscheinenlassen des Köpers bzw. Geschlechts, gekennzeichnet. Dem Idealen, das man sehen, aber nicht berühren darf, fungiert das Geschlecht als Ersatz: es verkleidet den Körper, indem die Kleidung das Geschlecht verbirgt bzw. zur Schau stellt. Denn an dem Schaufensterkörper interessiert den Zuschauer das, was es zeigt, indem es das Gezeigte jedoch nicht zeigt: Das künstliche Geschlecht als Körpermaske verdeckt das reale Geschlecht und legt es zugleich frei. Diese ‚eindeutige Zweideutigkeit’ manifestiert sich bereits in der Sprache: Das Mannequin oder das Modell - ein Neutrum benennt die beiden Geschlechter. Diese Angleichung im sprachlichen Ausdruck, die sowohl das weibliche, als auch das männliche bezeichnet, wirft den Schatten eines Zweifels auf den Ort, an dem der Blick so verführerisch zum Verweilen eingeladen wird. Nicht bloß die Travestie, durch welche die binäre Opposition der Geschlechter entlastet wird, ohne dass die Struktur des Binären selbst zerstört würde, sondern die Mode als Maskerade - im Sinne eines erweiterten Maskenbegriffs, wo das fiktive Geschlechts die Macht auszuüben vermag. Dass dieses Einverständnis des Geschlechts immer mehr an Bedeutung für den Schaufensterpuppenkörper gewinnt, impliziert gleichzeitig die Artifizialisierung der Lebensräume der Moderne. Die Grenzen dessen, was früher als privat oder intim galt, werden hier erstmals verschoben. ‚Authentizität’ meint ja bekanntlich die Wunschvorstellung von einer Sphäre, in der das Individuum vorgeblich ganz es selbst ist, sich ohne Inszenierung als autonome Persönlichkeit frei entfalten kann, frei von der Kontrolle durch die Öffentlichkeit, frei von der Notwendigkeit zur Verstellung. Das Phänomen ‚Schaufensterpuppe’ macht aber diese Sphäre der Intimität öffentlich und den damit einhergehenden Versuch, Authentizität neu zu schaffen. Dabei lässt sich zwischen Trugbild und Bild, zwischen Kopie und Original nicht mehr unterscheiden. Und mehr noch: die Unterscheidung wird hinfällig, weil es auf sie einfach nicht mehr ankommt. Die künstlichen Menschen strebten stattdessen das Credo der Moderne von der 52 universellen Machbarkeit an. Man kann jedes Kleid, jede Rolle annehmen, man kann alles sein, alles tun, seinen Körper und sein Selbst buchstäblich zu dem modeln, was man sein möchte. Man lebt vom Zitat mit dem Vorhandenen und dessen Kombination dank Make-Up, Frisieren, Fotografien, Beleuchtung und Blickwinkel zu etwas Neuem. Ein Grund, weshalb die besondere Ausprägung der Verquickung von Warenkörper und Kultobjekt ihr Optimum aber erst in dem Entwurf der gesichtlosen Schaufensterpuppe fand, die von ihrer Körperhaltung und nicht von ihrem Antlitz profitiert. Mit der Auflösung der Gesichtszüge findet eine Überblendung von Objekt und Subjekt statt. Wer keine Namen hat, bietet sich an als ideale Projektionsfläche für jene Namen, die der Zuschauer imaginieren will. Wer keine Namen hat, kann beliebige annehmen. Zu lebensnahe naturalistische Puppen lenken vor allem von der Präsentation der Mode ab. Die Umgebung, die äußere Hülle, das Kleid sollen durch die ‚Entleerung’ belebt werden und eine stärkere Aufmerksamkeit erfahren. Die Phantasie soll das Fehlende ersetzen. Es sind z. B. die terrakottaähnlichen monochromen Skulpturen ohne Augenpartien mit abstrahierten Frisuren. Das gesichtslose Mannequin erweist sich als Dernier cri, als ‚der Triumph des Geschmacks und der Raffinesse’ und wurde gleich von vielen andern Herstellern kopiert. Das Spezifische einer technischen Moderne lässt sich in dieser Angleichung ans Gegenständliche, der Vergabe eines industriellen Finishs, der Präsenz des Warencharakters lesen: Schaufensterpuppen sind objet moderne, die perfekte Verkörperung des modernen Bewusstseins. Es wird zusammengefasst: Die Schaufensterpuppe als die jüngste Ausprägung des Androiden des 20. Jh. stellt zwei der bis dato grundlegenden Puppenästhetik in Frage: die erkennbare Authentizität von Objekten einerseits und den Glauben an die schöpferische Instanz des Herstellers andererseits. Die Puppe ist noch kein ideales Einzelwesen, der ein für alle Mal fest steht, sondern hüllenlose Gestalt, die erst durch die industriell-kommerzielle Bearbeitung bzw. modische Gewandung und Umgebung ‚an-ziehend’ gestaltet wird. So entsteht eine vermeintlich existente Persönlichkeit hinter der Fassade, solange man sie als Modell-Dekorationen konzipiert. Der Doppelgänger, also Schaufensterpuppe, ist damit nicht ein zweites Individuum vom Hersteller, sondern erweist sich als generelles Mode-Bild: Ein Ausdruck der ständig im Fluss befindlichen Wechselbeziehung zwischen Körper und Kleid, 53 Kunst und Kommerz, Intimität und Bekenntnis - der Körper als Tableaux vivants in Permanenz. Exkurs: Androgynität des Schauspielkörpers Die Frage nach dem künstlichen Menschen als anthropologischer Grundfigur geht mit der Thematisierung des Geschlechts bzw. seiner Differenzierung und Problematisierung einher. Denn dort spricht sich geschlechtsspezifisch Bewusstes wie Unbewusstes besonders deutlich aus, dort erst werden Vorstellungen von Geschlechtsdifferenz suggestiv imaginiert (Kruzifixus), mehr sichtig abgebildet und neu gestaltet (Wachsfiguren, Automaten) und nicht zuletzt in Fiktionen erprobt und inszeniert (Marionetten, Schaufensterpuppe). Die Beobachtung über den artifiziellen Menschen lässt sich daher wie folgt festhalten. Androiden sind asexuelle Figuren, deren Geschlecht formbar und oft zweigeschlechtlich, mithin androgyn ist. Der Begriff ‚Androgyn’ bezeichnet ein Kulturphänomen ersten Ranges: Er weckt die Aufmerksamkeit für Kunstformen menschlicher Kultur, die im Spannungsfeld von männlichem und weiblichem Körper einerseits und von originalem und artifiziellem Körper andererseits changiert. Die zahlreichen Konnotationen, die in dem Wort liegen und zwischen denen die Bedeutungsinhalte oszillieren, nämlich Doppelgeschlechtlichkeit und Geschlechtslosigkeit, Asexualität und Intersexualität, Hermaphroditismus und Bisexualität, Homosexualität und Transsexualität, sind deshalb keineswegs durch eine simple semantische Eingrenzung der Bedeutung zu bändigen. Bezüglich seiner Entstehungsmythen ist der Androgyne eher eine undefinierbare, aus uralten esoterischen Vorstellungen zusammengesetzte Imago. Ursprünglich bildete der Androgyn den Ausdruck der Sehnsucht des Menschen nach harmonisierender Vervollkommnung; der Wunsch nach Androgynie gehörte zu dem Verlangen nach Aufhebung der Grenzen, bzw. nach Wiederaufhebung der Geschlechtergrenze. Der Androgyne besteht somit nicht zwischen männlich und weiblich 54 sondern zwischen Einheit und Differenz. Das Phänomen der Androgynen ist vielmehr eine Kategorie, die dualistisches Denken anzweifelt und eine Krise herbeiführt. Der Androgyne subvertiert, sei es als reale Gestalt in der Geschichte oder als Kunstfigur in einem literarischen Kontext, die binäre Unterscheidung in männlich und weiblich und zeigt im Zeichen der Überdeterminierung die kulturelle Konstruiertheit von Geschlechterdifferenz auf. So übernimmt der Androgyne die kulturelle Funktion, den Ort einer ‚category crisis’ zu bestimmen; ‚a failure of definitional distinction, a borderline that becomes permeable, that permits of border crossings from one (apparently distinct) category to another’55. Zur Zeit der Antike viel zitiert, in der Alchemie unverzichtbar und in der Romantik eine erneute Blüte erfahrend, verändert sich die Gestalt des Androgynen im Wandel der Jahrhunderte mehrfach und nicht immer entspricht seiner Charakterisierung der ursprünglichen Anlage einer im männlichen und weiblichen Anteil ausgewogenen Idealgestalt. Den jeweiligen Stand der Geschlechterbewertung seiner Zeit repräsentierend konnten die religiöse Doktrinen, verschiedene philosophische Vorstellungen, moralische Gesinnungsvorschriften und die oft strikte Geschlechtercharakterisierung die Vorstellung vom Androgyn zeitweise sogar unterdrücken. Je bigotter das Zeitalter, desto heftiger wird er abgewertet, auf seine sexuellen Komponenten reduziert, mithin als abartig deklariert. Das Theater hat immer schon seinerseits diese Beschaffenheit der Androgynie zu nutzten gewusst. Das Spiel der Ununterscheidbarkeit vom biologischen Geschlecht und semantisch maskierten Geschlecht des spielenden Körpers ist eine der häufig verwendeten Bühnenkunstformen. Männer in Frauenkleidern oder Frauen in Männerhosen auf der Theaterbühne decken den illusionären Charakter der Darbietung auf, und zwar auf zwei sich anscheinend widersprechende Arten, die aber eine doppelte Inversion darstellen. Einerseits beglaubigt beim Mann in Frauenkleidern das Äußere (die Kleidung des Trägers) das Weibliche und das Innere (der Körper unter der Kleidung) das Männliche, andererseits bekräftigt aber das Äußere (der Körper des Trägers) das Männliche und das innere (die Bühnengestalt) das Weibliche. Der gleiche ‚Widerspruch’ gilt im umgekehrten Fall auch für Frauen in Männerhosen. Diese Spannung zwischen anatomischem Geschlecht, Geschlechter-Performance und Geschlechtsidentität 55 Majorie Gaber: Vested Interests. Cross-Dressing and Cultural Anxiety. New York 1993, S. 10. 55 ist es, die als eine Leseart der Doppeldeutigkeit repräsentiert. Für jede lesbare Zeichen der Geschlechtszugehörigkeit umzudrehen bedeutet ein sichtbarer Aktivismus von nicht zu unterschätzender kontroverser Kraft. Solche offene Zurschaustellung auf der Bühne barg natürlich die Gefahr in sich, das Klischee der beiden Geschlechter neu zu beleben. Eine Frau, gehüllt in Männerkleider, etabliert z. B. eine allzu gern wahrgenommene Normalität, die mit dem weiblichen Fetischismus einhergeht; die Unsichtbarkeit, damit NichtTheoretisierbarkeit des weiblichen Fetischismus, das sog. weibliche Begehren nach dem Phallus in Bezug auf den männlichen Körper, wird auf der Bühne visualisiert, zur Norm menschlicher Sexualität erhoben und somit einmal mehr Heterosexualität mit Natur und Normalität gleichgesetzt. Die Substitution von ‚richtigen’ Schauspielerinnen für ‚falsche’ Knaben in Frauenrollen ist daher nicht als Rückkehr zu einer ‚natürlichen’ Form der Mimesis zu sehen, sondern eher als ein doppelter Tausch, ‚a re-recognition of ploy’. Ein Schauspielkörper ist kein geschlechtlicher, realer Körper. Er ist weder biologisch feststellbar noch sozial identifizierbar. Ihm fehlen sämtliche persönlich-gestische Register und existentielle Verklammerung zwischen dem individuellen Körper und Sozialkörper. Vermeintlich natürliche Zeichen, etwa wie Gesichtsmerkmale, Geste, Körperhaltung etc., die als typische Attribute bei der Rollenverkörperung verwendet werden, erweisen sich deshalb als austauschbar, prothesenhaft, mithin künstlich. Der Schauspielkörper ist zudem abstraktes Medium aus dem Bühnentext, das zwar durchaus körperliche Attribute aufweist, aber erst in der Vorstellung des Zuschauers zum kognitiven Konstrukt wird. Nicht individuelle Merkmale für ein bestimmtes Geschlecht sondern die universelle soziale Bedeutung als charakteristisch begriffenes Attribut trifft den Kern der Herstellung und Funktion dieses Kunstkörpers. Jeder Rollenkörper an sich ist daher von Anfang an ‚androgyn’. Der zwittrige Charakter des Schauspielkörpers ist nicht auf eine sog. ‚core gender identity’ zurückzuführen, d. h. auf eine identifizierbare, reale Geschlechtsidentität, vielmehr ist die Identität eines Schauspielkörpers als ein komplexes ‚interplay’, als eine parodische Rekontextualisierung von Geschlechtskategorien zu verstehen. Durch äußerliche Veränderungen des Körpers wird ein performatives rhetorisches Spiel mit Kleidungscodes, Namensgebung und Darstellung in Gang gesetzt, die Opposition zwischen Konstruktion und Essenz wird im theatralischen Kontext in Frage gestellt. Unter diese Prämissen kann sich die Geschlechts- 56 performance auf der Bühne nicht als ontologisch fixierte Materialität verstehen, sondern als Ergebnis einer prozessualen Genese von Form und Bedeutung. Der dekonstruktive Effekt der Performance als solche liegt in dem Sich-zur-SchauStellen und dem Prozess des Sich-in-Frage-Stellens, der letztlich in einem Infragestellen des/der Anderen kulminiert. Die Kategorie ‚Geschlecht’ wird dabei Konstrukt, das in performativen Akten ständig reinszeniert werden muss. Diese Annahme lässt sich mit der historisch gegebenen Situation prüfen, in welcher das Theater, wo Männer Frauen spielen und das zeitlang als Norm galt, verschwindet und Frauen daraufhin die vorher für Männer reservierten Rollen zu spielen beginnen. Die Bühne als scheinbar sicherer Raum, die dem Schauspieler in Bezug auf die ‚Re-Kostümierung’ einerseits den ‚falschen’ sozialen Rang und andererseits das ‚andere’ Geschlecht legitimierte, wird von nun an fraglich. Mit dem Verzicht auf das Geschlechtsneutrale des früheren Theaters sind der Tendenz die Tore geöffnet worden, die theatralische Gemachtheit aus den Augen zu verlieren. Das ‚Nicht-Reale’ vom ‚Realen’ getrennt, wird das ‚Geschlecht’ daraufhin anstelle des Standes zum dominanten Strukturmuster der Theaterbühne. Die Polarität der Geschlechterrollen prägt fortan stärker denn je zuvor Wahrnehmungs- und Denkstrukturen; ein männlicher Schauspieler spielt eine männliche Rolle, das heißt Männer-Darstellung durch Männer in übertriebener Virilität und Frauen in Frauenrollen, was später im Naturalistischen Theater seinen Höhepunkt erreichen wird. Eine der radikalen Anliegen der Historischen Theateravantgarden war es, solche binäre Geschlechterkonstruktionen ‚männlich und weiblich’ zu dekonstruieren: War überhaupt die Geschlechterrollenfixierung das Schauspielkunstmuster des vorigen Jahrhunderts gewesen, wurde die Aufhebung der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung modernes Darstellungsprinzip. Nicht selten waren daher die literarischen Figuren von den Avantgardisten nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen, auch die Schauspieler selbst verweigerten sich einer solchen Klassifizierung. Mehr noch: Die Figur der Androgynie war ein Angelpunkt innerhalb der modernen Kultur, der soziale und politische Brüche anzeigen sollte. Die Faszination der Androgynität lag nämlich in ihrer bis an die Grenzen gehenden Inversion nicht nur der Geschlechterfrage, sondern auch des kulturellen Textes überhaupt. Das so modellierte Konzept von Geschlechtern wirkte sich, als wichtiges kulturelles Dispositiv, seinerseits erneut auf die Wahrnehmung und Gestaltung der Lebenswelt aus. Die Destabilisierung der geschlechtlich kategorialen Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht 57 und dem sozialen Geschlecht wurde zum politischen Akt, da sie die Diskussion um Konstruktivismus und Essentialismus in Bezug auf die Genderfrage erneut anfachte und Theater als Alternative dem binären System entgegenstellte. Ob männlich oder weiblich, Outsider oder Insider, die androgynhafte Figur war ein einziger crossover style, eine Parodie der Grenzziehung, mithin ein Universalmodell der Bühnenfiguren. 58 Dynamik des Phänomens: Fazit Von der anfänglich mystischen Struktur als beseeltes Bild über wissenschaftliche Reproduktionen als das Schauobjekt bis die Mischform von natürlichem und industriellem Körper als fortschrittliches Schattenwesen ist das Phänomen ‚Androiden’ in der Entfaltung der abendländischen Kultur konstant. Die Dynamik des Phänomens richtet sich dabei sowohl auf das Materielle als auch das Immaterielle. Sie ordnet sich nicht primär auf der realen, rationalen Ebene, sondern auch auf der irrationalen, phantastischen Sphäre. Interessant ist daher nicht so sehr die situative Dynamik, sondern der Bewegungsantrieb, in dem kontingente Elemente innerhalb der Struktur immer wieder neu ersetzt werden können. In der Dynamik der ‚Verpuppung’ vereinigt sich damit die widersprüchliche Disposition untrennbar, was vor allem mit der Herstellung des künstlichen Menschen einhergeht. Die Androiden sind immer in zwei Schritten konstruiert, einem ‚realen’ und einem ‚idealen’. Der Erste geschieht in der Zusammensetzung einfacher Teile zu einer komplexen Gesamtheit, während sich die Einrichtung der Letzteren nach der gewünschten Reihenfolge ereignet. Beide Handlungen liegen miteinander in Widerstreit, gehen aber in den komplexen Relationen zwischen Objekt und Subjekt auf. Menschlich modellierten Kunstgeschöpfe sind demzufolge, im Vergleich zu Kunstobjekten, keineswegs mechanische Nachbildung eines ‚Originals’, sondern Matrix, d. h. Ausgangspunkt für unendlich viele weitere Abdrücke, die es selbst zu generieren imstande ist. In der Abbildung sind sie nicht nur retrospektive stabilisierende Bestätigung eines fixen Ur-Bildes, sondern prospektives Versprechen einer modifizierenden Wiederholung durch permanente Bildgenerierung. Die bildliche Emanzipation von Schöpfer und Modell findet nicht mehr auf der ikonografischen Ebene der verdoppelten Form statt, sondern in der Medialität der Reproduktion und des damit verlorenen Originals. Einer leblosen Puppe jenen Subjektstatus zu verleihen, der längst mit dem Objekt des Begehrens zusammenfällt, scheint deshalb denkbar, weil das, was wir vor unseren Augen haben, Artefakt ist, welches sich zugleich als subjektiv ausweist. Die Androiden sind somit in Funktion und Bedeutung, Realisierung und Vorstellung, Wirklichkeit und Mythos synthetisch. Die Dynamik des Phänomens besteht aus einem ständigen Dialog zwischen diesen beiden Positionen. 59 Körperlichkeit ist immer Dreidimensionalität. Dem Dreidimensionalen haftet wiederum etwas Materielles von seinem Vorbild an. Es kann so stark sein, dass eine Rückverwandlung vom Bild zum Lebewesen möglich scheint. Der Körper ist schon da, es fehlt nur noch das Leben. Die Tatsache, dass die anthropomorphe Kunstfigur aufgrund ihres dreidimensionalen Status in enger Beziehung zum menschlichen Körper steht, bzw. sich auf vertraute Oberflächen und Verhaltensmuster stützt, fügt den Androiden einen weitern Modus zu und bringt eine essentielle Ambivalenz zum Tragen: Künstliche Menschen sind in ihrer Erscheinung ästhetisches Objekt und Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Überlegungen zugleich. Eine Puppe spiegelt das Phantasma des ‚ganzen’ Körpers wider, dessen Komplexität sich jedoch möglicherweise nur als Leerstelle kennzeichnen lässt. Denn die Entsprechung für die ästhetische Dominanz eines Körperideals hat immer auch soziale Konnotationen. Der sog. 'makellose Körper’ ist ein ästhetisches Zeichen, das sich in besonderem Maße als Identitätssymbol eignet, in dessen Zeichen aber zugleich um die Hegemonie in einer Gesellschaft gestritten werden kann. Mit dem ästhetischen Zeichen des schönen Körpers wird ein soziales Wertesystem aufgerufen, aktualisiert und dem Gedächtnis eingeprägt. Kunstgeschöpfe, denen ästhetische Körpervorstellungen bewusst entsprechen, dienen somit in aller Regel nicht nur dazu, Normen zu bieten, sondern auch soziale und weltanschauliche Differenzen zu artikulieren, zu schärfen oder gar zu polarisieren. Kunstmenschen als überaus potente und wirksame Bedeutungsträger des idealen Körpers transportieren insofern Konzepte über Körperlichkeit, Leben, Tod, Sexualität, Kreativität, Wissen und viele andere existenzielle Themen, ohne dass ihnen das auf den ersten Blick anzusehen wäre und dies immer in der Intention ihrer Schöpfer gelegen hätte. Der artifizielle Körper hat darum trotz aller Verkünstlichung im Lauf der Jahre keineswegs ausgedient und kann offenbar immer neu semantisch aufgeladen werden. Um einen artifiziellen Kunstkörper kreist das Theater schon seit seiner Erfindung: den Schauspielkörper. Wie die künstlichen Geschöpfe schwankt der der optisch hergerichtete Bühnenkörper im Zeichen des Natürlichen stets zwischen Realität und Symbol, Präsentation und Repräsentation, Sein und Schein. Die daraus resultierenden leibhaftigen Abbilder offerieren das Abwesende als Anwesendes, sein Ziel ist dabei die körperliche Illusion, und sei sie noch ‚einmalig’. Die nachfolgenden Kapitel haben die Ambition, das Phänomen 60 ‚Androiden’ in Hinblick auf diesem Bühnenkörper zu erklären, dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszustellen. Es geht vor allem um den Schauspielkörper, dessen Ziel keineswegs die Imitation eines natürlichen Körpers ist und dessen Bühnenpräsenz eher an Kunstgeschöpfe erinnert. 61 Die Faszination des Androiden auf der Bühne - Praxen der Puppenästhetik auf der Theaterbühne Wiederentdeckung der Puppen: Fragestellung I Die bildende Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war in vollem Umfang von Androiden bevölkert. Zunächst fanden sie als künstlerisches Ausdrucks-mittel und Bereicherung der bis dahin statischen menschlichen Körper Eingang in die Kunstszene. Als kinetische Objekte findet man die menschähnlichen Kunstwesen bei Man Ray, Marcel Duchamp, László MoholyNagy und Naum Gabo, deren konstruktivistische Figurenmodelle von den Vertretern der holländischen Gruppe De Stijl vorbereitet worden waren. Mit der sog. mechanisch tanzenden Figur aus den Jahren 1917-20 des De Stijl-Vertreters Vimos Huszár wurde eine erste freistehende roboterähnliche Figur (102 cm) aus Aluminium, Holz und Mica-Glimmer überliefert, deren Gliedmaßen ähnlich denen eines Hampelmanns beweglich verbunden waren. Während sich diese verrückbaren, auf den ersten Blick jedoch zwecklosen und sinnfreien Objekte von der Illustration oder Nachahmung von bis dato vertrauten Bewegungsabläufen lösen wollten sowie ironisch und hintergründig die moderne Gegenwart befragten, bezogen sich die mechanoiden Körperbilder Giorgio de Chiricos, Carlo Carràs, Max Ernsts und Francis Picabias auf das Modell des künstlichen Menschen selbst und auf der Suche nach Innerem. [Abb. 12] Unter anderem spielte das Sujet der Puppe, des Automaten, des Mannequins im Kreis der Surrealisten eine besonders große Rolle; 1938 auf der Pariser SurrealistenAusstellung Exposition Internationale du Surréalisme in Form von einer von Schaufensterpuppen bevölkerten surrealistischen Straße mit Kreationen von Salvador Dalí, Marcel Duchamps, Max Ernst und andern an der Ausstellung beteiligten Künstlern erlebte sie nicht von ungefähr die künstlerischen Höhepunkte der Avantgardisten und markierte einen entscheidenden Schritt in der europäischen Kunstgeschichte. [Abb. 13] Diese überaus intimen ‚PuppenFrauen’ und ihr inszenierter Anblick, die sich Surrealisten dort schafften, haben durchaus Parallelen in der Beziehung Hans Bellmers zu Frauenmodellen und seinen Photographien. [Abb. 14] Der in Kattowitz geborene Künstler, der gewiss Oskar Kokoschkas ‚Blaue Frau’ [Abb. 15] kannte, jene lebensgroße Puppe, die sich 62 dieser von einer Stuttgarter Puppenmacherin 1919 anfertigen ließ, stellte in seinen nackten, verstümmelten und fragmentarischen Puppenfiguren und diese begleitenden Fotoserien wie La Poupée (1936) eine Intimzone des weiblichen Körpers sichtbar und anatomisch vorstellbar dar. Für ihn war der Puppenkörper das Sinnbild eines erotisch-begehrenden und eines medizinisch-sezierenden Blicks zugleich. Theoretisch einschlägige Aufsätze, die Puppenthematik behandelten, erschienen ebenfalls um diese Zeit. Sie wurden vor allem im ‚Minotaure’ gedruckt und zwar in rascher Folge. Es genügt, auf Benjamin Pérets Essay Auf Paradis des Phantômes hinzuweisen, der im Doppelheft ¾ des Jahres 1933 erschien, oder auch auf André Bretons Beitrag Les Messages automatiques in der gleichen Nummer. Diese vermeintliche Hochkonjunktur der Puppenfiguren in der bildenden Kunst, die so einer Handvoll von Künstlern zu verdanken war, hing in erster Linie mit der damaligen Kunstszene zusammen. Die Sättigung des Marktes mit abstrakter Malerei, die Umkehrung der Figuration, mithin die Ablehnung einer erstarrten, reaktiven Moderne begünstigten eine Rückkehr zur figurativen Darstellung und zu Strategien der Repräsentation. Die menschenähnlichen Kunstfiguren, die der Moderne keineswegs verachtend gegenüberstanden, boten mit ihren rückwärts gewandten Eigenschaften zum Handwerklichen und zur figurativen Syntax den Erhalt eines paradoxen Gegenparts. Wenn aber diese überholten Geschöpfe in der Avantgarde eine ‚Rolle’ fanden, so gerade aufgrund ihres Verschleißes. Man besetzte ihre leere Form, diese tote Rhetorik mit neuen Inhalten. Ein Paradigmenwechsel zeichnete sich innerhalb aller Bereiche der Gesellschaft in Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts ab: Die verstörende Modernitätserfahrung und als deren Folge der neue Körperdiskurs. Diesem verdankt sich wiederum die Infragestellung des Individuums, das sich angesichts der rasant verändernden, beschleunigenden Sozialsphäre und technischen Umwelt nicht mehr als substanzielle, in sich ruhende und mit sich identische Person imaginieren konnte. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges geriet der Fortschrittglaube in eine tiefe Krise. Das Menschenbild schwankt von nun an zwischen der Projektion von Hoffnungen und Sehnsüchten, aber auch Zweifeln und Ängsten. Dieser grundlegende Wandel führte dazu, dass der menschliche Körper weder als naturhaftes Relikt noch als authentischer Ausdruck des Selbst oder als soziale Utopie zu denken war. Der Körper ist nicht mehr die natürliche Basis des Menschen, sondern längst zum Produkt des Menschen geworden: zu 63 seinem Artefakt. Diese Erkenntnis der Realität des individuellen Körpers verblieb doch keineswegs im Stadium der Kulturkritik, die sich in den marionettenhaft kostümierten Zeitgenossen in einigen zeitgenössischen Bildern grotesk verdichtete. Die gesellschaftliche Realität wurde als unhintergehbare Tatsache angenommen, mit der man umzugehen hatte. Vor allem historische Avantgardisten reagierten auf die bereits von ihnen formulierte Überzeugung, bzw. auf Friedrich Nietzsches Postulat eines selbst bewussten ‚Übermenschen’. Der Mensch könne und werde sein Bewusstsein erweitern, ein ethisch besseres Leben führen und sich demnach erneuern. Die Avantgardisten griffen diese philosophischen, teilweise mystischen Vorstellungen in ihren programmatischen Arbeiten auf, bezogen sie auf den ihnen eigenen Bereich und entwickelten sie in dem Kunstkonzept weiter. Die sowohl augenfällig exakte als auch ruppige Imitatio des Menschen schien dies für sie augenscheinlich auszudrücken. Einerseits als technologisch-naturwissenschaftlicher Optimismus und andererseits als soziogesellschaftlich unterlegter Defätismus sind die künstlichen Menschen die Verkörperung zwischen Verdinglichung und Auflösung des modernen Körpers. Als Schatten seines Selbst konnte das Kunstwesen zu unzähligen Strategien der Umkehrung benutzt werden. Sein Hang zum Zierbild, Andenken oder gar Kitsch machte es von vornherein zu einem Objekt der Nostalgie, zum Chiffrierschlüssel von Traum und Phantasie, mithin zum Werkzeug einer anderen Logik. So hofften die Avantgardisten durch die Wiederbelebung des trivialen Gegenstandes zugleich auf ein distinguiertes Publikum, das derart auf vom Üblichen abweichende Lesarten versteht und durchtriebene Strategien zu schätzen weiß. Die Verkörperung des menschlichen Körpers unterliegt bis in die Gegenwart dem Epochenwandel und wird durch sich auf vielfache Art und Weise überschneidende oder entgegengesetzte Attitüden dokumentiert. Besonders das Theater bietet sich als Hauptzeichensystem für diese Aufzeichnung an. Die darstellende Kunst war und ist immer die Geschichte des räumlichen Ausdrucks des menschlichen Körpers. Im Theater kann das Materialhafte des Körpers mehr als in jeder anderen Kunst zur Geltung kommen. Als Einheitsform steht dabei die ‚Natürlichkeit’ im Zentrum dieses figurativen Unternehmens. Insbesondere seine Protagonisten ‚Schauspieler’ setzen Gegebenheit, Wahrhaftigkeit, somit Unmittelbarkeit des Körpers in den Mittelpunkt der Bühnengeschehnisse und 64 werden gleichzeitig anhand dieser medialen Strategie als ‚echt’ und ‚unecht’ oder ‚Wahrheit’ und ‚Lüge’ betrachtet. Der Schauspielkörper wurde allerdings lange Zeit rein als ikonisches Zeichen eingesetzt bzw. auf ein sprachliches Zeichen verdichtet, lesbar doziert und als kognitives Medium genutzt. Er war der Träger von Dialogen, Späher von Geschehnissen und Botschafter von Thesen. Dies war vor allem in Werken des literarischen Theaters der Fall, in dem die Sprache den Körper überwog, und zwar derart, dass jene diesen räumlich und zeitlich sowie gestisch und klanglich bis ins kleinste Detail bestimmte. Die dort sorgsam einstudierten Körpersprachen einschließlich der pedantisch anmutenden Körperhaltungen wie Mimik, Akrobatik, Bewegungen begleiteten die Bühnenereignisse, existierten aber lediglich in dem Augenblick, wo diese ihre metonymische und metaphorische Aufgabe erfüllten. Hier ging es weniger um die Darstellung einer Subjekt- und Realitätsempirie als Folge der Konstruktion von Ursprung und Wahrheit, sondern vielmehr um das genuine Interesse, den ‚sprachgebildeten’ Körper zu bilden. Dies änderte sich rasch mit dem Phänomen der Sprachkrise zu Beginn des 20. Jh. bzw. dem Zweifel an der Sprache als Medium der Wahrheitsfindung. Der seit der Renaissance dramatische Produktion bestimmende Dialog als geeignetem Mittel zur Darstellung des menschlichen Körper versagte in einem infiniten Prozess der sinnstiftenden Synthetisierung, er verfügte bald nicht mehr über das Konzept eines begrifflich Ganzen, das er beanspruchte, sondern die Sammlung eines Additiven. Der neue Bühnenkörper widersetzte sich indes dem klassischen Anspruch, zentrale Behausung der Sprache zu sein, und konzentriert sich auf seine materielle Begebenheit. Dieser Idee des ‚natürlichen Körpers’ lag jedoch ein Theaterverständnis zugrunde, das die Bühnekunst seit alters her jenseits zivilisatorischer Ideologie und kulturkritischer Perspektive ansiedelt. Theater ist per se eine multimediale künstliche Form. Je nach Genre - Sprechtheater, Musiktheater, Tanztheater wirken dort Sprache, Gestik, Musik, Tanz, Bewegung, bildnerische Elemente wie Maske, Kostüm, Bühnenbild, Licht zusammen. Als im weiteren Sinne technische Unterstützung von Multimedialität wurden schon in antiken Kulturen aufwendige, zunächst architektonische und mechanische Hilfsmittel entwickelt und eingesetzt, um z.B. die Wirkung akustischer Anteile der Aufführung zu verbessern, schnelle Szenenwechsel zu ermöglichen, mithin Illusionen zu erzeugen. Nach den von Hand zu kontrollierenden modernen Beleuchtungssystemen sind diese heutzutage programmierbar, im Sinne kybernetischer Systeme sogar 65 selbststeuernd. Angesichts solcher künstlichen Elemente wurde die Frage nach der Grenze zwischen künstlich und natürlich im Theater absurd, die Schauspieler fühlten sich durch die Durchmischung von künstlichen und natürlichen Elemente ausgeliefert. Damit wäre gleich ein zentrales Anliegen der vorliegenden Kapitel angesprochen, nämlich die Untersuchung der technischen Wirkungsmöglichkeit der Schauspielkunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und des obsessiven Umgangs des Schauspielers mit seinem Körper angesichts des aufkeimenden technischen Wunderapparats. Es muss dabei herausgestellt werden, ob die ‚Puppenästhetik’ das ephemere Wesen der Schauspielkunst im zweifachen Sinne in sich aufhebt: Setzte die animistische Qualität des Puppenkörpers die ‚erstklassige’ Schauspielkunst voraus, welche sich im Grunde durch die eigene raumzeitliche Unzulänglichkeit und ausschnitthafte Flüchtigkeit auszeichnet? Ist ein der äußeren Wirklichkeit abweisend gegenüberstehender, transzendenter Moment der Puppenästhetik in der einen oder anderen Weise in die modernen Konzeptionen eingegangen? 66 1. Androiden-Abhandlung - Die Androiden an der Front der Historischen TheaterAvantgarde 1. 1. Artifizielles Überwesen in Trance - Edward Gordon Craigs Übermarionetten-Theater Craigs Theater- und Kostümentwürfen enthalten einige Szenenskizzen, worin die Figuren abgebildet sind. 56 [Abb. 16] Die Physiognomien sind schwer zu erkennen, zumal die gezeichneten Bühnenfiguren ein maskenhaftes, fast stilisiertes Gesicht aufweisen. Sie stehen meistens dem Betrachter frontal gegenüber. Die Arme sind enganliegend dargestellt, wodurch die Gestalten bewegungslos an ihrem Ort zu verharren scheinen. Die Akteure tragen dabei, zum Teil von einem hohen, massiven Turm umgeben, langwallende, bodenlange Gewänder, die ohne Taillierung in einem Schwung von den Schultern fallen. Diese reduzierte Haltung und die Kostüme der Figuren erinnern insgesamt an alte ägyptische Marmorstatuen. Der Gedanke, den Schauspieler auf der Bühne durch ein unbelebtes Wesen zu ersetzen, wurde von Craig erstmals 1908 in seinem Aufsatz Der Schauspieler und die Übermarionette formuliert. Verfolgt man jedoch seine Biographie und Äußerungen andernorts, so trifft man auf einen interessanten Widerspruch.57 Er 56 Diese bewusst markierte Linie unterhalb der Bildfläche lässt deutlich erkennen, dass es hier um eine Bühnenrampe handelt, die sich in Augenhöhe des Publikums befindet. vgl. Bühnenskizzen von Craig, in: J. Michael Walton: Craig on Theatre, London 1983, S. 137-151. 57 In einem Brief schreibt Craig, dass ‘I’m not at work creating a work of theatrical art ... I shall make its shape and colour, its sound and sense, its movement and tone. I shall not employ atcors nor pantomimists but what I shall call ‘figures’ (über-marionette is too complicates)’ Dies lässt vermuten, dass Craigs Übermarionette tatsächlich eine mechanische Figur war. In der Folge war jedoch sein Gedanke nicht konsequent. Er verneinte beispielsweise in einem 1912 publizierten Aufsatz einen mechanischen Charakter der Übermarionette, er glaube nicht an das Mechanische; die Drähte, die Gott mit der Seele des Poeten verbänden, müssten auch jene Drähte sein, welche die Übermarionette bewegten: ‘What the wires of the Übermarionette shall be, what shall guide him, who can say ? I do not believe in the mechanical, nor in the material. The wires which stretch from divining to the soul of the poet are wires which might command him. Has God no 67 war selbst lange Jahre Schauspieler am Lyceum Theatre und lernte von dem berühmten Henry Irving die Grundbegriffe seiner schauspielerischen Darstellung. Er bewunderte Schauspielerinnen und Schauspieler wie Elenora Duse, Sarah Bernhardt oder Konstantin Stanislawski58. Hinzu arbeitete Craig an der legendären ‚Hamlet’ Inszenierung von Stanislawski am Moskauer Künstlertheater, deren Darsteller sich aus dem Ensemble des Künstlertheaters rekrutierten. Er schloss sich ebenso einem Projekt zur Inszenierung von Bachs Matthäus-Passion ausschließlich mit menschlichen Sängern und Schauspielern an. Dieser Widerspruch hat die bestehende Forschungsliteratur aus-führlich beschäftigt. Sie zielt meist darauf ab, die Grundlage dafür zu schaffen, das Wesen der Übermarionette zu erklären. Die einen gehen davon aus, die Übermarionette sei tatsächlich ein mechanisches, unbelebtes Objekt 59 . Die anderen sprechen dagegen, sie sei eine Metapher Craigs für einen perfekt disziplinierten Schauspieler.60 Letztere findet sich in nahezu allen Arbeiten wieder und gilt als allgemein etabliert. Um welche Marionette es sich in diesem Aufsatz handelt, d. h. ob diese von Craig befürwortete Bühnenfigur ausgebildete oder mechanische Figur sei, soll daher im Rahmen dieser Arbeit unbeantwortet bleiben. Im Vordergrund steht vielmehr, wie Craig auf den Reiz der künstlichen Figur reagiert und welche künstlerische Bedeutung ihr innerhalb Craigs Theater zu eigen ist. more such threads to speare for one more figure? I cannot doubt it. I will never believe anything else.’ vgl. Craig: ein Brief an Martin Fellas Shaw, zit. nach: Thomas Spieckermann: The worlds lacks and needs a Belief, Tübingen 1998, S. 161; Craig: Gentleman, The Marionette! (1912), in: J. Michael Walton (Ed.): Craig on Theatre, London 1983, S. 24-26. 58 Stanislawski beschrieb in seiner Autobiographie, wie Craig bei der Zusammenarbeit echtes schauspielerisches Talent der Ensemblemitglieder bewunderte. vgl. Konstantin Stanislawski: Mein Leben in der Kunst, übers. von Klaus Roose, Berlin 1951, S. 406. 59 Besonders war diese Interpretation zu der Zeit der ersten Veröffentlichung verbreitet. 60 So schreibt Bablet in seiner Monographie aus dem Jahre 1962: ‚Die Übermarionette, das ist der Schauspieler, der sich durch die Aneignung bestimmter Eigenschaften der Marionette von seinen Zwängen befreit hat.’ vgl. Denis Bablet: Edward Gordon Craig, Köln und Berlin 1965, S. 134. Auch Brauneck vertritt diese Ansicht: ‘Die ÜberMarionette wurde zur programmatischen Metapher, in der der Gegensatz von Mensch und Automat aufgehoben ist’. vgl. Manfred Brauneck: Klassiker der Schauspielregie, Hamburg 1988, S. 82. 68 Die Ausgrenzung des Körpers Craig resümiert in seiner Schrift Der schauspieler und die übermarionette zur Kritik der gegenwärtigen Schauspielkunst folgendes: ‚Die schauspielkunst ist keine echte kunst. […] Denn alles zufällige ist feind des künstlers. Kunst ist das genaue gegenteil des chaotischen, und chaos entsteht aus dem zusammenprall vieler zufälle. Kunst beruht auf plan. Es versteht sich daher von selbst, dass zur erschaffung eines kunstwerks, nur mit den materialien gearbeitet werden darf, über die man planend verfügen kann.’61 So führt dieser Gedanke schließlich zur Folge: ‚Der schauspieler muss das theater räumen, und seinen platz wird die unbelebte figur einnehmen - wir nennen sie die übermarionette, bis sie sich selbst einen besseren namen erworben hat.’62 Craig stellte bereits in Über die kunst des theaters fest, dass die Theaterkunst weder die Schauspielkunst noch der Dramentext ist. Sie sei vielmehr die Ganzheit der Elemente, aus denen diese einzelnen Bereiche zusammengesetzt sind: ‚Sie besteht aus der bewegung, die der geist der schauspielkunst ist, aus den worten, die den körper des stückes bilden, aus linie und farbe, welche die seele der szenerie sind, und aus dem rhythmus, der das wesen des tanzes ist.’ 63 Die Bühnenkunst, die sich durch solche beteiligten Einzelkünste definieren lasse, entstehe aus der Reduktion der einzelnen Kunstgattungen auf ihre konstitutiven Elemente, wie Bewegung, Linie, Farbe, Wort und Rhythmus, und deren Zusammensetzung. Dieses Axiom enthält das Grundpostulat des Craigschen Theaters. Es umreißt in seiner antimetaphysischen Stoßrichtung die Betonung der Selbstwertigkeit eines Kunstwerkes gegenüber einer außerhalb befindlichen Realität und zugleich die Konzeption von Bühnenkunst als die Kombination der verschiedenen Materien faktisch als Gegenkonzept zum literarischen Theater. Weder bezieht es sich mimetisch auf die Welt, noch hat es symbolischen Verweischarakter auf eine immaterielle Sphäre. Demnach ist die Bühne für Craig keine Widerspiegelung realer Gegebenheiten, sondern eine selbstwerte Realität. Signifikat und Signifikant implodieren gleichermaßen, fallen ineinander und 61 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, in: ders.: Über die kunst des theaters, Berlin 1969, S. 52. 62 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 66. 63 Craig: Über die kunst des theaters, S. 101. 69 werden identisch. Diese Kunstkonzeption schuf zugleich die Voraussetzung dafür, dass im weiteren Verlauf das seines Signikats entledigte Bühnenwerk einer außerhalb seiner selbst liegenden Notwendigkeit bzw. Sinnhaftigkeit unterworfen werden konnte. Dabei fungiert nach Craigs Auffassung ebenfalls der Schauspieler als das zu zerlegende Material, welches genau wie andere Bestandteile - Licht, Raum, Musik etc. - an diesem künstlerischen Prozess teilnehmen soll. So, wie das Kunstwerk in Analogie zur materiellen Produktion zum Ding erklärt wurde, galt nun der Bühnenkünstler als ‚Künstler-Handwerker’ oder ‚Künstler-Apparat’. Nach Craig ist der Bühnendarsteller aber von Anfang an als Bühnenmaterial ungeeignet, denn ihr Instrument, also der Körper, ist von seiner eigenen ‚Emotion’ abhängig, somit von Akzidenzien gelenkt. Da Emotionen bekanntlich das Denken manipulieren und dadurch den Körper befangen machen, gibt es auf der Bühne nur eine gewisse unvollständige Perfektion, ja ein Produkt des Zufalls. Der Zufall könne aber unmöglich eine Kunst beherrschen. Er muss im Bühnengeschehen so weit wie möglich vermieden werden. Aus diesem Grund lehnt Craig die Darstellung des menschlichen Körpers auf der Bühne ab. Während seine Zeitgenossen die ideale Schauspielkunst ausschließlich in der vollkommenen Verkörperung der darzustellenden Figur sehen, verurteilt Craig dieses Schauspiel aufs schärfste. Es erscheint ihm nicht anders als ‚eine Faksimile-Ansicht der Dinge’64 und ‚die plumpe Nachbildung des Lebens’65. Mehr noch: ‚es ist eine folge vom zufall gelenkter bekenntnis. Ursprünglich wurde der menschliche körper nicht als material für die theaterkunst verwendet. Ursprünglich galt es als unschicklich, die privaten menschlichen gefühle vor einer menge öffentlich zur schau zu stellen.’66 64 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 55. 65 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 71. 66 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 53. Mit diesem Gedanken kritisierte Craig indirekt den damaligen Kultstatus von Schauspieler-Persönlichkeiten, die den Blick auf die integre Rolle im Grunde versperrten. Das grundlegende Spannungsfeld der Zeit, das sich in der Kunst im Kampf um den Realismus spiegelte, fand sich auch im Bereich der Schauspielkunst. In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts dominierte das Illusionstheater, besonders der historische Realismus. Von den Melodramen über die wiederentdeckten Stücken Shakespeares bis zu den ‘französischen Salonstücken’ fand er überall sein begeistertes Publikum. Doch begann sich dort gleichzeitig auch Widerstand gegen die realistische Darstellungsweise zu regen. Eine Gruppe, Symbolisten genannt, wollte das Prinzip der Schönheit anders definieren und theatralische Geste jenseits des Alltäglichen suchen: Die Welt der Seele, das Mysterium des Seins und der Dinge. Dieser 70 Je unpersönlicher der Schauspielkörper werde, das heißt je weiter er sich von dem psychologisch kausal-logisch gestalteten Bühnencharakter entferne, umso näher befände er sich dem Ursprung des Theaters. Der Körper der Ferne Die Diskussion, ob die emotionale Identifikation des Mimen mit seiner Rolle die formale Perfektion des Spiels in Frage stelle und der menschliche Körper durch ein Artefakt, ein künstliches Lebewesen ersetzt werden soll, wurde nicht erst von Craig angestoßen, sondern war ein häufig anzutreffendes Thema im europäischen Bühnenraum seit der Aufklärung.67 Der Theoretiker Riccoboni verteidigte beispielsweise in L’Art du Théâtre die Dominanz der technischen Beherrschung des mimischen Ausdrucks über die psychologische Einfühlung in die Rolle.68 Diese Position der Überlegenheit des ästhetischen Aspekts über den psychologischen tauchte auch in Das Paradox über den Schauspieler von Denis Diderot auf: ‚der große Schauspieler ist […] eine Marionette, deren Fäden der Dichter in der Hände hält und der er mit jeder Zeile die Gestalt vorschreibt, die die wahre ist und die sie anzunehmen hat’.69 Ansatz wurde in Großbritannien früh für ein neues Konzept des Theaters akzeptiert und vertreten. 67 Der von Craig verwendete Begriff der ‚Über-Marionette’ nimmt außerdem zweifelsohne Bezug auf die Idee des ‚Über-Menschen’ bei Friedrich Nietzsche, wobei das Präfix ‚Über’ im Sinne der Präfixe von ‚Trans’ und ‚Meta’ auch auf die Überwindung des allgemein üblichen Begriffs der Marionettentheaters oder des Puppenspiels zielt. Der ‘Über’-Gedanke von Nietzsche fand Eingang in die Literatur und in den Sprachgebrauch des täglichen Lebens. Seine vehemente Ablehnung christlicher Moral, gesellschaftlicher Konventionen und altruistischer Ethik, seine Verherrlichung des Individuums, das einzig auf der Grundlage seines Willens zu einer neuen Menschen, dem ‘Übermenschen’, zu werden imstande war, prägte die Künstler in Europa nachhaltig. Schon 1892 erschien ein Aufsatz Camile Mauclairs, der einen ‘idealisierten’ Ansatz für Dramen forderte, in denen eine superman figure Ideen und Gefühle verkörpern sollte. 1903 erschien dann George Bernard Shaws ‘Man and Superman’. vgl. Günther K. Lehmann: Der Übermensch. Friedrich Nietzsche und das Scheitern der Utopie, Berlin 1993; Sally Peters: Bernard Shaw. The ascent of the superman, Yale Univ. Press 1996; George Bernard Shaw: Mensch und Übermensch, Zürich 1946. 68 vgl. Francesco Riccoboni: L’Art du Théâtre (Paris 1750), in: Klaus Lazarowicz, Christopher Balme (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart 1991, S. 144-149. 69 Denis Diderot: Das Paradox über den Schauspieler, in: ders.: Ästhetische Schriften. Bd. 2, Frankfurt am Mein 1968, S. 514. Wobei Diderots Plädoyer, die Marionette sei der bessere Darsteller, gewiss als eine These der vielen für ein von der Ratio geleitetes Rollenspiel anzusehen ist. Diderot benutzte dabei bloß ein Bild der Marionette. Er postulierte eine Aufspaltung des Schauspielers in die eigene Persönlichkeit und in die Rollenfigur, wobei der eigene, bewusste Part den Rollenpart kontrollieren und steuern 71 Auch Kleist führte diesen Diskurs in seiner hier bereits erwähnten Schrift Über das Marionettentheater fort. Die Verdrängung des Schauspielers durch die Kunstfigur war zudem mehrfach im symbolistischen Kreis thematisiert worden. Stéphane Mallarmé (1842-1898) war ein Befürworter eines Theaters ohne Schauspieler. Er stellte die Forderung auf, dass die besondere symbolische Dimension des Wortes nicht eingeengt werden dürfe. Dies erfolge in exemplarischer Weise durch die Überwindung des Schauspielers, der nach Mallarmés Auffassung in der bisherigen Bühnentradition eine zu große Eigenfunktion aufwies.70 Gleiches forderte Maurice Maeterlinck (1862-1949) und noch radikaler: ‚Vielleicht wäre es notwendig, alles Lebendige ganz von der Bühne fern zu halten’, denn ‚jedes große Meisterwerk ist ein Symbol, und Symbole ertragen keine aktive menschliche Gegenwart’.71 Maeterlinck begriff in seinen frühen Bühnenwerken L’Intruse, Les Aveugles und Intérieur den Menschen als durch seine Sterblichkeit determiniert. Er erkannte, dass ‚hinter der täuschenden Ruhe des Daseins’ das unentrinnbare Schicksal des Menschen lauert; der Tod. Maeterlinck verzichtete daher in seinen Stücken auf die dynamisch-logische Handlung. Seiner Ansicht nach hat die Bühne vielmehr das rational Nichtbestimmbare, das Atmosphärische, das Erstaunliche des alltäglichen Lebens darzustellen, weshalb z. B. das im Dialog Unausgesprochene auf der Bühne zum Entscheidenden würde und die weitgehend entindividualisierten Figuren, d. h. typisierte Gestalten ohne Namen szenisch darstellungswürdig wären. Auf seiner Bühne dominierten die Figuren, welche den Tod und dessen Gewalt als ihr Schicksal auf sich nehmen und völliger Passivität sowie Fatalismus ausgesetzt sind. Denn diese Figuren hätten den Vorteil, menschliche Fatalität auf der Bühne zu gestalten und zu ergründen, während sich der menschliche Schauspieler ‚in einer, der passiven dichterischen sollte, um eine totale Identifikation des Darstellers mit seiner Rolle zu vermeiden. Allein der Zuschauer habe sich in die Emotionen des Charakters einzufühlen, nicht aber der Mime. Dieser müsse vielmehr danach streben, seine Kunst zu vervollkommnen, ohne die Natur zu imitieren, und dies gelinge ihm nur durch eine bewusste Steuerung seiner Ausdrucksmittel. So stellt Diderot sich die Marionette als Lösung des Paradoxons vor. 70 Denis Bablet: The revolutions of stage design in the 20th century, New York 1977, S. 23. 71 vgl. Maurice Maeterlinck: Androidentheater. Ein Paar Überlegungen 1: Das Theater, in: Stephan Gross (Hg.): Maurice Maeterlinck. Prosa und kritische Schriften, Bad Wörrishofen 1983, S. 54-55. 72 Vorlage fundamental entgegengesetzten Richtung’ 72 bewege. Wachsfiguren, Marionetten, Puppen, mithin Androidenfiguren wären es, die den Schauspieler ersetzen sollen, um durch diese Verfremdungstechnik neue anthropologische Sichtweisen zu eröffnen: ‚Es geht ein seltsamer Reiz von den Figuren aus, die aus Wachs gemacht sind. Vielleicht können sie uns den Weg zu einer neuen Kunst weisen, in der Wesen ohne Existenz die Persönlichkeit des Helden nicht länger bedrohen.’73 Diese symbolistischen Ansätze sind tatsächlich sichtbar in Craigs Aufsatz ‚Übermarionette’. Sie haben offenbar bei Craig theaterpraktische Konsequenzen bewirkt. Dennoch gibt es zwischen dem Symbolisten und dem Engländer unterschiedliche Ausgangspunkte, die festzustellen sind. Der von Maeterlinck als ‚unüberwindbares’ Schicksal des Menschen begriffene Tod wird bei Craig als ‚schöne imaginäre Welt’ positiv konnotiert: ‚Die vergessenen meister in Asien […] haben jeden gedanken, jedes zeichen ihres werkes mit dem geist der stillen bewegung durchdrungen, die dem tode verwandt ist, ihn feiernd und grüssend.’74 Die Symbolisten sahen außerdem die Kunstfigur auf der Bühne eher als ein Medium der Abstraktion an, das wegen seiner mechanischen Eingeschränktheit die dramatische Aktion auf ihren essentiellen Kern konzentriert. Damit sind ihre ‚Marionetten’ noch einem ästhetischen Ideal verpflichtet. Craigs Adaption der unpersönlichen Bühnenfigur geht aber weiter zurück. Die Beschäftigung mit den Kunstfiguren sucht er in dem europäischen Theater der Vergangenheit und in Formen der außereuropäischen Bühnenkunst. Es kann daher kaum verwundern, dass Craig das ideale Theater in den alten Theaterformen wieder findet.75 So beginnt Craig in seinem Essay A note on Marionettes mit dem Ursprung der Schauspielkunst im klassischen Altertum.76 Dort bemerkt der Autor zunächst, dass es im alten Ägypten kein Theater im heutigen Sinn 72 ebd. 73 ebd. 74 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 68. 75 ‘Think of the great dramatic collaboration of the past. … religious ritual uniting audience and performes in ecstatic worship … Mingle with the forty thousand people on a Greek hillside, watching in the clear Attic sunshine a phallic procession; hear the sublime words ‘when mortals have to do with more than man’ … In the nave of the cathedral witness drama reborn as spectators kneel before a miracle enacted by their priests.’, vgl. Craig, zit. nach: Spieckermann 1998, S. 49. 76 Craig veröffentlichte den Aufsatz unter dem Pseudom Adolf Furst in ‘The Mask’ im Jahr 1909. vgl. Spieckermann 1998, S. 163-173. 73 gegeben habe, sondern religiöse Zeremonien, in der die beweglichen Figuren wichtiger Bestandteil waren. Der Hohepriester hätte sich bei sakralen Ritualen den goldenen, durch Magnete bewegten, zur Feier des Baccus-Festes von ihnen selbst von Dorf zu Dorf getragenen Figuren genähert und ihnen eine Frage gestellt, worauf diese Statuen durch eine Bewegung das Orakel verkündet hätten. Dieser historische Befund sei von großer Bedeutung. Der Verfasser sah in den ‚steinbilder[n] in den alten tempeln’ direkte Vorfahren seiner Übermarionetten. Indem Craig auf die Prozessionen Altägyptens eingeht, identifiziert er diese monumentalen Gestalten mit seinen ‚Marionetten’, deren letzten großen Nachkömmlinge die großen Figuren der maurischen Könige in Spanien wären, welche noch im 17. Jahrhundert mit Hilfe von in ihren Innern verborgenen Männern Tanzbewegungen ausübten. Solche Figuren sind aber nach Craig seit der Neuzeit in ‚grobe und niedrige Hände’ gelangt, weshalb sie heute ‚nur noch erbärmliche Komödianten’ sind; in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform seien Marionetten als Spielzeug und Objekt zur Erheiterung der Zuschauer degeneriert. Damit das Theater seinen ursprünglichen Charakter wieder findet, müsse diese Figur deshalb so abgewandelt werden, dass sie ihre anfängliche Natur bewahre, um sich in das stilisierte, mystische theatrale Ambiente der Aufführung einzureihen und sich von der gewöhnlichen zeitgenössischen Marionette, der mit Fäden manipulierten Gliederpuppe, abheben könne. Die neue alte Marionette sei demzufolge keine Nachahmung aus Fleisch und Blut, sie sei ‚der körper in trance’: ‚Die Übermarionette wird nicht mit dem leben wetteifern, sie wird über das leben hinausgehen. […] sie wird sich in eine schönheit hüllen, die dem tode ähnlich ist und doch lebendigen geist ausstrahlen.’77 Anstatt menschliche Schauspieler oder zeitgenössische Gliederpuppen zu verwenden, schlägt Craig auf der Bühne deshalb eine Figur vor, die sich durch ihre Größe und Erhabenheit auszeichnet. Was ist aber denn mit dieser Figur tatsächlich gemeint? Der erhabene Körper Auffallend an diesen von Craig zitierten ‚vergangenen’ Marionetten ist, dass die Kunstfiguren offenbar eine Dimension übernatürlicher Mächte besitzen, die 77 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 67. 74 aktiv in das Geschehen eingreift, wenngleich durch die Interaktion mit menschlicher Anwesenheit bzw. mit den Priestern. Dies vollzieht sich meistens durch einfache, stilisierte Gesten, erzeugt von der scheinbar selbst ausgelösten Bewegung der Kopfes oder des Armes der Figuren. 78 Craig versteht diese ‚unheimliche Bewegung’ auf seine Weise: ‚In der Marionette liegt mehr als ein genialer einfall, mehr als das flüchtige aufblitzen der sich entfaltenden grossen persönlichkeit. Die marionette ist für mich der letzte abglanz einer edlen und schönen kunst vergangener kulturen.’79 Die Bewegung, beschrieben hier mehr als ein genialer Einfall einer großen Persönlichkeit, nimmt im Craigschen Theater einen besonderen Stellenwert ein. Innerhalb der theatralischen Darstellung sei sie kein Mittel, andere theatrale Elemente in ihrer Aussage zu verstärken, sondern Mittelpunkt: ‚In gewisser hinsicht ist vielleicht die bewegung der wertvollste bestandteil. Die bewegung verhält sich zur kunst des theaters genauso, wie die zeichnung sich zur malerei, die melodie sich zur musik verhält. Die kunst des theaters ist entstanden aus bewegung: gebärde und tanz.’80 Craig sieht den Ursprung in der Bewegung, in der Musik und im Tanz. Sie sei die konstituierende Kraft seines Theaters. Gemeint ist aber mit den Übermarionettenfiguren auch eine elementare, universelle Ausdrucksform; eine unbewusste Bewegung, die nicht durch die Spannung zwischen architektonischer Statik und rhythmischer Dynamik, sondern durch die Balance zwischen der Künstlichen und der Natürlichen entsteht. Sie impliziert damit zwei Forderungen: Zum einen nimmt die Bewegung einen absolut autonomen Status innerhalb der theatralen Darstellung ein und zum anderen wird das Medium, das diese Bewegung ausführt, unbelebt, mithin mechanisch sein müssen, damit die Darbietung und die Funktion bzw. die Wirkung der Bewegung auf der Bühne gleichermaßen bewerkstelligt werden können. Der stilisierte Auftritt einer überdimensionalen, simplen Statue aus dem Altertum wirkte z. B. intensiv auf die Emotionen der Zuschauer. War dies spontan gelungen, so erwies sich die 78 Die Prozessionen von ‘Götterstatuen’ waren ein entscheidendes Element in Religion und Gesellschaft der alten Hochkultur. Die sog. ‘Orakelsprüche’ wurden während solcher Prozessionen abgegeben, bei denen die Statuen eine Art deux ex machina übernahmen. 79 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 66. 80 Craig: Die kunst des theaters, S. 102. 75 Wirkung noch größer als man von dem berechneten Auftreten erwartet hätte. Man kann also folgern, dass Craig auf der Basis stilistischer Abstraktion und Reduktion zu einem expressiven Kanon einfacher Bewegungen zu finden glaubte, die sich den Zuschauern auf symbolischen und rein ästhetischem Wege vermitteln. Wenn Craig in seinem Aufsatz gerade einen Reisenden aus dem alten Griechenland berichten lässt, der angeblich das Marionettentheater besuchte, führt er uns seine Gedanken vor Augen: ‚Ich sank auf mein ruhebett und beobachtete ihre [UrMarionetten] symbolischen bewegungen. Ihr rhythmus änderte sich mit derselben leichtigkeit, mit der ihre bewegungen von glied zu glied glitten, und mit denselben zeichen der ruhe offenbarte sie uns die gedanken ihrer brust. So ernst und schön verharrte sie im zustand ihres grams, dass es uns schien, als könne kein gram sie angreifen. Keine verzerrung des körpers und gesichts liess ahnen, dass sie ergriffen war […] Die ‘kunst des zeigens und verhüllens’ […].’81 In der Tat blieb Craigs Forderung nach der Figur mit der absoluten Bewegung auf der Bühne nicht bloß metaphysisch. Craig legte ein Notizbuch für Ideen zu seinem Theater an, das er später ‚Notebook Puppets’ nannte.82 In diesem Buch finden sich zahlreiche Skizzen, Entwürfe und Notizen zu Marionettenfiguren. Auch in seinem Artikel ‚Rearangements’ aus dem Jahre 1915 hatte Craig die artifiziellen Darstellungsmittel diskutiert und in einer Liste zunächst die gegensätzlichen Ausdrucksmittel des Theaters aufgezählt, in einer weiteren Liste kennzeichnet er jene Elemente mit einer Sigle, die verändert werden sollten, um damit ihre Künstlichkeit zu betonen.83 Hier forderte Craig unter anderem eine unnatürliche Art der Vermittlung durch den Schauspieler, der so verkleidet werden sollte, dass dessen Bewegungen einem System formalisierter Bewegungen folgen sollten und man ihn als Schauspieler nicht mehr erkennen würde. Der Schauspieler, gekleidet wie eine Marionette, bedeutet letztlich eine Umkehrung der Marionetten-Spezifik: Nicht die leblose Figur soll den lebendigen Menschen ersetzen, sondern ein Mensch wie eine Marionette wirken, wobei Masken und formalisierte Bewegungen den Eindruck unterstützen sollten. Ist die Übermarionette ein Bildungsideal einer neuen Schauspielkunst, welche die 81 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 67. 82 vgl. Craig: Notebook, Puppets (1905), The Craig-Duncan-Collection, New York Public Library. 83 vgl. Craig: Rearrangments, in: Benjamin Blom (Ed.): The Theatre Advancing, New York 1963, S. 201-209. 76 traditionelle Rolleninterpretation ersetzten sollte? Craig hätte wohl nie geantwortet, bloß: ‚[…] ich sehe einen ausweg, wie die schauspieler ihrer jetzigen knechtschaft entfliehen können. Sie mussen sich selbst eine neue schauspielform schaffen, die im wesentlichen in einer neuen symbolische gebärdensprache besteht.’84 84 Craig: Der schauspieler und die übermarionette, S. 54. 77 1. 2. Aufstand der Dinge - Die Bühnenästhetik der Futuristen Stürmischer Gott einer Rasse aus Stahl, raumtrunkener, jagender Wagen, du stampfst voll Unmut, den Biß in knirschenden Zähnen. O furchtbarer Drache mit Augen wie Schmiedefeuer, gespeist mit Erdöl und Flammennahrung, gierig nach Horizonten und Sternenbeute, Ich entfeßle dein Herz, das teuflisch pocht Und deine gigantischen Reifen zum Tanz, den du tanzt auf den weißen Straßen der Welt. […]85 Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944), der Begründer des Futurismus, vermenschlicht in seiner Dichtung ein Auto. Der Rennwagen verfügt über ein pochendes Herz, feurige Augen, eiserne Lungen und eine bellende Stimme, ist hungrig, es brüllt und tanzt. Das lyrische Ich, beseelt vom Rausch der Geschwindigkeit und fiebrigem Verlagen nach diesem Wesen, begibt sich mit ihm auf die Fahrt. Ihr gemeinsames Ziel: bis ‚über die berauschende Fülle des Sternenstromes im Großen Bette der Nacht’86 ins Unendliche. Es war die Faszination des mechanischen Objekts, der sich keiner der Futuristen entziehen konnte. Die Avantgardisten sahen in dem Maschinenwesen nicht nur eine Inspirationsmöglichkeit für eine neue Ästhetik, in der ein Abbau der Trennung von Kunst und Technik und dadurch eine Anknüpfung der Kunst an die Ideen des Fortschritts und deren Anwendung zusammenfielen. Sie sahen in der maschinellen Kreatur den neuen Menschentypus. Der Körper in der ‚neuen Sensibilität’ Das Bild der Maschine und die Maschine selbst fanden vehementen Ausdruck in der historischen Avantgarde. Das Motiv der Geschwindigkeit, bzw. das Motorische und die zügige Aufeinanderfolge von Bewegungsabläufen der 85 Filippo Tommaso Marinetti: All’Automobile da corsa (An meinem Pegasus), übers. von Christa Baumgarth, in: dies.: Geschichte des Futurismus, Hamburg 1966, S. 262 f. 86 ebd. 78 Maschine wurden als Errungenschaft des modernen Zeitalters charakterisiert und visualisiert. Umberto Boccioni (1882-1916), eine der Schlüsselfiguren der Moderne, schuf drei Jahre vor seinem Tod eine Bronzefigur mit dem Titel Forme uniche della continuitá nello spazio (Urformen der Bewegung im Raum), welche die zentralen Anliegen des damaligen Zeitalters umsetzen sollte. Als ein aus der Fusion von Organischem und Technischem entstandener Körper, der Mensch als im Raum bewegliche Maschine, lässt sich die Figur von Boccioni als Vorläufer des Cyborg oder kybernetischen Organismus interpretieren. An dieser Zeitströmung knüpft die futuristische Bewegung an, die nach Mitteln suchte, um die ‚verknöcherten, orthodoxen Strukturen der Akademien zu stürzen’ und an ihre Stelle die neue dynamischen Modalitäten zu setzen, bejubelt die Maschine als Kraft der Moderne und erhob zum Kernstück ihrer Ideologie.87 Ihre Manifeste spiegeln dabei die provokative Grundeinstellung der Zeit wider, unüberhörbar ist darin das zentrale Motiv der durch die moderne Technik erzeugten ‚allgegenwärtigen’ Geschwindigkeit, die als Quelle einer neuen technischen Schönheit dienen sollte. Besonders die darstellende Kunst dient den Futuristen als besonders wirkungsvolles Medium zur Verkündigung ihrer künstlerischen Formulierungen, zugleich auch als deren Experimentierstätte. Die Futuristen sehen zunächst im Umbruch der Zeit ein Verständnis für die ‚Sensibilität der Maschine’, die gegen die Sentimentalität des menschlichen Herzens ausgespielt werden sollte. Die gegenwärtige Ästhetik, schreibt Marinetti in seiner futuristischen Programmatik Der multipizierte Mensch und das Reich der Maschine, setze eine Umgestaltung des Menschen, die auf einer vollständigen Erneuerung der menschlichen Sensibilität beruhen sollte, voraus. 88 Um die Bildung dieser neuen Sensibilität zu verwirklichen, müsse jedes Bedürfnis nach Gefühl, das man heute in den Adern spürt, vermindert oder gar vernichtet werden. Es liege also in den Menschen selbst, den Fortschritt einer neuen 87 Gegenüber der Mechanisierung des Alltags und dem Einfluss der Technik auf die Gesellschaft und Geschichte haben die Dadaisten aus der bildenden Kunst hingegen ihrer tiefen Skepsis in ironisch grotesken Objekten, Collagen und mit Bühnenauftritten ihren Ausdruck verliehen. Die Maschinenmetaphern wurden in den Werken von Max Ernst, Francis Picabia, Marcel Duchamp und anderer Künstler zwischen Mechanisierung der Menschlichen und Anthropomorphisierung der maschinellen Gestalt folglich negativ angewendet. vgl. Eberhard Roters: fabricatio nihili oder Die Herstellung von Nichts. Dada Meditationen, Berlin 1990. 88 Marinetti: Der multipizierte Mensch und das Reich der Maschine, in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Hamburg 1993, S. 107-110. 79 Lebensform zu aktivieren oder zu verzögern: Befreie man sich von der Gefühlsduselei und Wollust, vergehe das moderne Krankheitsbild, das nichts anderes ‚als ein Produkt dongiovannesker Eitelkeit’ 89 sei. Entlasse man die ‚Anspannung der Epidermen’ durch jedes erregende Geheimnis, durch jeden ‚appetitanregenden Pfeffer’90, verschwinde der ‚Dongiovanismo’ und die stereotype Figur des Gehörnten aus dem Leben, aus der Kunst und aus der kollektiven Vorstellungswelt. Der ‚kränklichen Vergangenheit’ wird die Liebe des Autors zur Gefahr gegenübergestellt, die romantische Liebe wird bloß auf die Erhaltung der Art reduziert. Gegenwärtig, glaubt Marinetti zu kennen, gibt es bereits: ‚Menschen, die in schöner, strahlfarbener Stimmung beinahe ohne Liebe durchs Leben schreiten. […] Anstatt abends eine süße Geliebte aufzusuchen, lieben es diese energischen Wesen, morgens mit liebender Sorgfalt dem perfekten Betriebsbeginn in ihrer Werkstatt beizuwohnen.’91 Der erste Schritt wäre demzufolge die unvermeidliche Identifizierung mit der Maschine, indem man sich gleichzeitig eine dauernde Wechselwirkung von Intuition, Instinkt, Rhythmus und der metallischen Disziplin ins Bewusstsein bringe. Dem menschlichen Körper verbleibe dann nur noch eine einfache Körperfunktion wie Trinken und Essen: ‚Der zukünftiger Mensch wird sein Herz auf seine tatsächliche Distributionsfunktion reduzieren. Auf irgend eine Weise muß das Herz zu einer Art Magen fürs Gehirn werden, der sich methodisch füllt, damit das Gehirn arbeiten kann.’92 Dies könne man allerdings nicht von einer unwissenschaftlichen Menge erwarten, sondern nur von den erlesenen Geistern. Den Menschen, der keine moralische Überladung kennt und sowohl Güte wie Liebe als ‚verderbliche Gifte’ wie auf Knopfdruck unterbrechen kann, gäbe es nicht. Marinetti erträumt sich daher die Möglichkeit einer Transformation des menschlichen Wesens in den ‚multiplizierten Menschen’. Er, zugleich der Titel Abhandlung, wäre mit bisher unbekannten dieser futuristischen ‚überraschenden Organen’ ausgestattet, welche den Erfordernissen eines Ambientes entsprechen würden, 89 ebd., S. 109. 90 ebd. 91 ebd. 92 ebd. 80 das sich aus dauernden Anstößen und Impulsen zusammensetzt. Dieses mechanische transhumane Wesen werde mit einer Geschwindigkeit befähigt sein, die ihm Allgegenwärtigkeit garantiere. Die Schöpfung des mechanischen Menschen mit Ersatzteilen, so beschwört der Autor, bringe schließlich der Menschheit die Befreiung vom Tode: Die Überwindung des Todes bestünde in eine Transsubstantiation von Körperteilen durch maschinell funktionierende Geräte. Schließlich fordert Marinetti seine Zeitgenossen auf: ‚Los, sagte ich, los, Freunde! Gehen wir! Endlich ist die Mythologie, ist das mystische Ideal überwunden. Wir werden der Geburt der Kentauren beiwohnen, und bald werden wir die ersten Engel fliegen sehen! … Man muß an die Pforten des Lebens rütteln, um ihre Angeln und Riegeln zu prüfen! … Gehen wir! Da, seht auf der Erde, die erste aller Morgenröten! Nichts gleicht dem Glanz des roten Sonnenschwertes, das zum erstenmal in unsere tausend-jährige Finsternis hineinsticht! … .’93 Der ‚futuristische Mensch’ geht unmittelbar in die Künste über. Den Futuristen zufolge dürfen die Künste von der mechanischen Schöpfung nicht unberührt bleiben und sollen sich ihre Gesetze zu Eigen machen. Serieller Körper Marinetti formuliert in Das Varieté die Vorzüge des Varietés in 19 Thesen. Auffallend an diesen Thesen ist ihre betont antinaturalistische Bühnenauffassung: ‚Während das heutige Theater das verinnerlichte Leben, die schulmeisterliche Meditation, die Bibliothek, das Museum, die monotonen Gewissenkämpfe, die dummen Analysen der Gefühle, Kurzum die Psychologie […] verherrlicht, preist das Varieté die Tat, den Heroismus, das Leben im Freien, die Geschicklichkeit, die Autorität des Instinktes und der Intuition.’94 Nach Auffassung des Futuristen muss die Wirklichkeitsnachahmung des gegenwärtigen Theaters durch eine neuschöpferische Originalität, die historische Rekonstruktion durch die Darstellung des modernen Lebens abgelöst werden. Das heutige Theater soll der ‚Veränderung der Psyche’ der Menschen Rechnung tragen, denn an die Stelle der Psychologie trete ‚das Wesen der Materie’. Die 93 Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus (1909), in: Schmidt-Bergmann, S. 75. 94 Marinetti: Das Varieté, in: Schmidt-Bergmann, S. 224. 81 Materie als Objekt dieser Bühnenkunst, deren Wesenheit weder fröhlich noch traurig ist, sei: ‚Unsere höchst moderne, zerebrale Auffassung der Kunst, derzufolge keine Logik, keine Tradition, keine Ästhetik, keine Technik, keine Opportunität dem Genie des Künstlers auferlegt werden darf, dessen einziges Anliegen es sein muss, synthetische Ausdrucksformen zerebraler Energie zu schaffen, die einen absoluten Neuheitswert besitzen.’95 Die wichtigste Voraussetzung für die Darstellung des Wesens der Materie sieht Marinetti in der ‚Zerstörung der Syntax’. 96 Die aufgehobene Logik der dramatischen Handlung, die mit der von der regelmäßigen Syntax und dem lyrischen Ich befreiten Worte korrespondiert, ermögliche eine Art ‚drahtloser Phantasie’. Es werden realistische Bilder oder Analogien durch entfernte und scheinbar entgegengesetzte Analogiefelder- und Ketten substituiert mit dem Ziel, das Flüchtige und Unfassbare in der Materie zu umfangen und in einem orchestralen Stil, ‚der gleichzeitig polychrom, polyphon und polymorph ist’97, das moderne Leben zu erfassen. Fasziniert vom Fehlen jeglicher Nachahmung der Wirklichkeit und dem elementaren Darstellungsprinzip ist das Varieté für die Futuristen deshalb formales Vorbild: Das Varieté, das auf der Ebene ‚der Höchstgeschwindigkeit und höchsten Gleichgewichtsakrobatik’ den präzisen, raschen Nummern- und Programmwechsel sowie die alogische Struktur der szenischen Partikel bietet, ist für die Avantgardisten sogar ‚das hygienischste aller Schauspiele’ 98 . Bei starker Betonung des artistischen Elements realisiert der Akteur im Varieté keine literarisch fixierte Rolle oder Dramenfigur. Er agiert nicht als Privatperson, sondern legt sich für seinen Auftritt ein bestimmtes Aussehen und ein bestimmtes Verhaltens- und Handlungsmuster zurecht, was dazu dient, seine ‚Kunststücke’ möglichst publikumswirksam zur Geltung zu bringen. Um das Publikum anzulocken und zu unterhalten, muss er sich also auf die Kunst verstehen, seinen eigenen Körper und Leistung auf eine möglichst interessante und attraktive Art zu präsentieren. Kunst kommt vom körperlichen Können, heißt es. Der individuelle Körper wird dabei verdrängt oder völlig 95 Marinetti: Das futuristische synthetische Theater, in: Schmidt-Bergmann, S. 229. 96 vgl. Marinetti: Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite Worte, in: Schmitdt-Bergmann: Futurismus, S. 210-220. 97 Marinetti: Technisches Manifest der futuristischen Literatur, in: Schmidt-Bergmann, S. 283. 98 Marinetti: Das Varieté, S. 222. 82 weggelassen. Er wird zur Serialität99. Die Lust am maschinellen Funktionieren wird zum Index des Kollektivs. Die neuen ‚Akteure’ sind das Licht, das Kostüm, die Maschine und andere Kunstobjekte. So wird das Varieté, ‚ohne Zerknirschtheit, wie eine x-beliebige Attraktion’ ein kurzweiliges, leicht konsumierbares und optisch in jeder Hinsicht faszinierendes Amüsement, speziell zugeschnitten auf die Bedürfnisse des Großstadtmenschen, der nach Entspannung und der leichtesten Form der Zerstreuung verlangt.100 Diese extreme Dezentrierung des menschlichen Subjekts wird im ‚Theater der Kürze’ noch einmal proklamiert. Die Futuristen bezeichneten diese Kurzform des Theaters als ‚sintesi’. Darin soll das szenische Geschehen auf der Stufe absoluter Reduktion und damit höchster Konzentration sowie Komplexität vorgestellt werden. Aus diesen als kleinste dramatische Einheit verstandenen, für sich selbständigen Elementen der ‚sintesi’ bauten sie dann durch Reihung größere Zusammenhänge auf, die schließlich zum langen Schauspiel zurückführten. 101 Weder Motivation noch Erklärung werden dargestellt. Das Wort wird in größtenteils improvisierten Dialogen herabgemindert und gleichzeitig der visuelle Aspekt der Szene betont. Um den Einklang mit der raschen und lakonischen futuristischen Sensibilität herzustellen, wird ‚in wenigen Minuten, in wenige Worte und in wenige Gesten […] eine Unzahl von Situationen, Empfindungen, Ideen, Sinneswahrnehmungen, gedrängt’ 102 . Ereignissen und Symbolen zusammen- Das Prinzip beruht folglich auf einer scheinbar unmotivierten Aktionskette clownischer, akrobatischer und exzentrischer Dar-bietungen. Ziel des Theaters ist die extreme Überforderung des Publikums: Das Bühnengeschehen soll mit Hektik und Heftigkeit die Nerven der Zuschauer attackieren, sie durch ein ‚Labyrinth der Sinneswahrnehmungen’ schleudern, mithin für die 99 Hier wird der Begriff ‚Serialität’ verwendet in Anlehnung an sog. ‚Ars Multiplicata’, ‘die Kunst in Serie’. In der ‚Ars Multiplicata’ geht es um ‚auf Vervielfältigung angelegter Kunst, die zumeist ohne handwerklichen Zutun des Künstlers, der nur die Konzeption liefert, durch Assistenten und an Maschinen hergestellt und in großer Zahl auf den Kunstmarkt gebracht wird’. vgl. Katharina Sykora: Das Phänomen des Seriellen in der Kunst. Aspekte einer künstlerischen Methode von Monet bis zur amerikanischen Pop Art, Würzburg 1983, S. 4-5. 100 Marinetti schreibt weiter: ‚So billigen wir bedingungslos die Aufführung des Parsifal in 40 Minuten, die in einem großen Varieté in London vorbereitet wird.’ Marinetti: Das Varieté, S. 224. 101 vgl. Klaus Ley: F. T. Marinettis Einakter Elttricitá und die ‚sintesi’ als Theaterform der Futuristen, in: Winfried Herget/ Brigitte Schultze (Hg.): Kurzformen des Dramas. Gattungspoetische, epochenspezifische und funtionale Horizonte, Tübingen/ Basel 1996. S. 187-214. 102 Marinetti: Das futuristische synthetische Theater, S. 227. 83 Reizüberflutung in der modernen Welt konditionieren. Auf diese Weise suchen die Futuristen die dem Gag eigene und notwendig gedrängte Dramenstruktur, durch die das Zuschauen aus seinen gewohnten Bezügen gerissen und auf andere Bahnen gelenkt wird. Die unmittelbare, durchschlagende Betroffenheit des Publikums manifestiert sich in der Mischung von Schrecken und Gelächter, die aufgestaute Spannung löst sich in Irrwitz und Aufruhr, aber auch in plötzlicher Orientierungslosigkeit und Stille. Solche unerwarteten Publikumsreaktionen bilden dadurch für die futuristischen Dichter einen Teil der Inszenierung, die ebenso wichtig ist wie die Textvorlage, nach der gespielt wird. Sie folgen dem Programm eines offenen Kunstwerks, der Zuschauerraum wird dabei zum Forum ‚futuristischer Sensibilisierungsprozesse’ und zur Zielscheibe unvorhergesehener Theatereffekte.103 Das Theater wird zum Ort der Utopie einer die Erstaunen und Reaktionen erregenden ‚amüsanten Ideen’, reinen ‚Körpertollheiten’ und vollkommen durch die Technik funktionierende Welt.104 103 Zuvor haben Marinetti und seine Gruppe in mehreren italienischen Städten Aufführungen aufgeführt, die sich aus der Praxis der serate ergeben hatten. Besonders die unerwarteten Situationen in serate, in denen Künstler ihre wilden und aggressiven Reden an die Menge richteten und durch die heftigen Reaktionen des Publikums dazu getrieben wurden, ihre Antworten, ihre Haltung und ihre Gesten zu improvisieren, ermöglichten es ihnen den neuen ästhetischen Begriff der Überraschung zu entwickeln. 104 Damit stehen die Futuristen und die Surrealisten in einem Gegensatz zueinander; formal führten die beiden Gruppen zur Auflösung des individuellen Körpers, schufen damit die Voraussetzung zu einer neuen Sehweise und Darstellung der Welt. Der Futurismus, der zwar die Bildsprache revolutionierte, stellte aber den Abbildcharakter der Kunst nicht infrage. Im Vergleich dazu bestand das Hauptanliegen der Surrealisten darin, die Prozesse rationalen Verstehens zu destabilisieren. Sie glaubten ‚an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.’ (Breton, 1924) Mit seinem Interesse für die Psychoanalyse Freudscher Prägung und seinem Vertrauen in den Traum und den ‚reinen psychischen Automatismus’, der rationale Denken ausschaltet, stellt der Surrealismus den Wendepunkt dar, an dem der Körper nicht mehr Gegenstand einer bewusst geordneten Erforschung und Analyse ist. Das bedeutet aber nicht, dass der Körper in der Kunst der Surrealisten ausgeschlossen war oder nicht mehr vorkam; er spielte nach wie vor eine wesentliche Rolle als Träger unterbewusster Wünsche, Gefühle, Phantasien und Ängste. Er war jedoch in den surrealistischen Werken meist unterschwellig - zwischen den Zeilen gegenwärtig -, eher angedeutet als ausgeformt. Der Konflikt, wie man diese tief im Innern des Menschen verschlossenen unbewussten Kräfte‚materialisieren’ könnte, ohne dass ihre spontane Wirkkraft durch die bildlichsprachliche Entschlüsselung verloren ginge, wurde von den Surrealisten über verschiedene künstlerische Vorgehensweisen anvisiert: den direkten Zugang zu den schöpferischen Kapazitäten des Menschen bildete die authentische Erfahrung des Traumes, der festgehalten in Traumprotokollen als natürliche Quelle des unbewussten geistigen Flusses nutzbar gemacht werden konnte. Zudem wurde die Technik der écriture automatique bzw. des ‚psychischen Automatismus’ in der Kunst angewandt, um in streng authentischer Erfahrung die assoziativ fließenden Binnen-Energien des Menschen zu 84 ‚Der Sieg über die Sonne’: Die Oper Die futuristische Bühnenästhetik erlebt ihren Höhepunkt jedoch in der Oper Der Sieg über die Sonne aus dem Jahre 1913.105 Dort wurde die Technik und deren Sieg über die Natur, über Verstand, Sinn und Logik der technischen Welt verherrlicht, die seit der Aufklärung, dem Zeitalter des Lichtes ihren Siegeszug angetreten hatten. 106 Dort wurde die futuristische Bühnendarstellung von der Dezentrierung des menschlichen Subjekts bis zur mimetischen Annäherung an die Maschine demonstriert. Dabei boten die zergliederten und fragmentierten menschlichen Körper der Darsteller unmittelbar den deutlichsten Vorschein auf den Verlust der alten Weltordnung und die Orientierungsnot in der neuen Welt. Die Oper folgte einer festgefügten Dramaturgie mit stark vereinfachten Typen. Die Figuren waren keine Handlungsträger, sondern Verkörperungen, ja Personifizierungen, wie man den Namen der Figuren entnehmen konnte: ‚der Kraft- erfassen. Die Surrealisten gingen davon aus, dass der Strom der Gedanken im Unbewussten ununterbrochen fließt, dass man sich in ihn sozusagen nur einschalten muss. In der Folge wurde diese Methode des automatischen Schreibens oder Malens von den Surrealisten experimentell erforscht, mit dem Ziel, sie systematisch anwenden zu können. Im Verlauf dieser Experimente entwickelten sich einige von ihnen zu ‚Schlaf-Genies’, die den Übergang vom wachen in den halbwachen ‚Schlafzustand’ des Automatismus nahtlos vollzogen und augenblicklich zu schreiben oder ihren Gedankenfluss zu diktieren begannen’. vgl. Holger Fock: Der psychische Automatismus, in: Fock: Antonin Artaud und der surrealistische Bluff I, Berlin 1988. 105 Die Oper wurde am 3. Dezember 1913 im Lunapark-Theater in Petersburger uraufgeführt. Der Dichter Alexej Krutchonych und Wladimir Majakowski verfasste das Libretto, der Komponist Michail Matjuschin schrieb die Musik. Kostüme, Bühnenentwürfe und Lichtregie stammen von Kasimir Malewitsch. Der Sieg über die Sonne war ihre erste gemeinsame Arbeit, nachdem sie das erste russische-futuristische Manifest herausgegeben hatten. Die erste russische futuristische Gruppierung, die das noch im Zeichen des Realismus stehende Russland mit dem radikalen Rückgriff auf das Material provozierte, schienen im Vergleich zu den Italienern jedoch weniger eine Gruppe zu sein, sondern eher ein loser Zusammenschluss von Einzelgängern. Sie unterschrieben zwar gemeinsam Manifeste, im Übrigen hingen sie aber ihren eigenen poetologischen Vorstellungen an. Die Manifeste bieten wenige Hilfestellungen zum Verständnis konkreter Texte einzelner Futuristen. 106 Wobei einige Unterschiede festzustellen sind: Anders als die Italiener waren die russischen Futuristen eher der marxistischen Lebensanschauung verpflichtet, die sie in ihrem künstlerischen Schaffen zu verwirklichen suchten. Ihre Aufgabe war es, an der dynamischen Weiterentwicklung der Gesellschaft mitzuarbeiten. Man hatte demnach die Hoffnung, dass die Technik im Dienste der fortschrittlichen Klasse zu einer wahren Selbstverwirklichung der Menschen führen würde. vgl.: Alexander Krutschonych: Libretto der Oper ‚Sieg über die Sonne’, in: Ausstellungskatalog: Sieg über die Sonne. Aspekte russischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Akademie der Künste Berlin, 1983. 85 mensch’, ‚der Feigling’, ‚der Totengräber’ und ‚der Neue’. 107 Die von Kasimir Malewitsch (1879-1935) entworfenen Kostüme unterstützten dabei diesen semantischen Charakter und trieben ihn auf die Spitze. [Abb. 17] Es waren: ‚die Figuren selbst […] durch die Klingen der Scheinwerfer zerstückelt und abwechselnd der Hände, Füße und des Kopfes beraubt [wurden] denn für Malewitsch waren sie lediglich geometrische Körper, die nicht nur in der Zerlegung in ihre Bestandteile, sondern auch in der völligen Auslösung im malerischen Raum unterlagen.’108 Durch die geometrisierte, asymmetrische Verteilung stark farbiger und scharfkantiger Flächen sowie durch kontrastreiche und anorganische Muster Dreiecken, Trapezen, Kreisen, Zacken - wurden die Glieder des Darstellers vereinzelt und voneinander abgekoppelt. Die beiden futurististischen Übermenschen z. B. konnten ihre Arme nur nach oben bewegen. Sie führten ein Eigenleben, das die organische Einheit und Achsensymmetrie der Körperganzheit zerstörte. Das grelle Scheinwerferlicht, welches Malewitsch zum ersten Mal in der Geschichte der Bühnenkunst als Gestaltungsmittel einsetzte, um die einzelnen Figuren im dunklen Raum des zweiten Aktes herauszuheben, trug weiterhin dazu bei, die Körperkonturen zu zerschneiden, die organische Einheit des Leibes zu zergliedern, seine Bewegungen ruckartig und desintegriert erscheinen zu lassen. Die Darsteller trugen dazu Masken, die den heutigen Gasmasken ähnlich waren. Sie ‚wirkten wie laufende Maschinen’109, wobei ihre Bewegungen auf der Bühne ‚durch den Rhythmus des Ausstatters und Regisseurs gebunden und dirigiert wurden’. Später wurden diese Figuren tatsächlich von El Lissitzky (1890-1941) durch eine Art Roboter ersetzt.110 107 Diese plakativen Rollen entsprachen der vereinfachten politischen Botschaft des Agit-Prop-Theaters um 1920, das mit ebenso plakativer Agitation die Massen für die Ziele der russischen Revolution zu begeistern suchte. 108 Bededict Liwschitz, zit. nach: Evelyn Weiss (Hg.): Kasimir Malewitsch. Werk und Wirkung. Köln, 1995, S. 29. 109 Alexander Krutschonych: Errinerungen, in: Ausstellungskatalog: Sieg über die Sonne, S. 51. 110 El Lissitzky nahm zehn Jahre später diese Motive für seine Figurinenmappe wieder auf. Seine Figurinen tragen zwar Namen wie ‚die Ängstlichen’, ‚die Totengräber’ oder ‚der Neue’; der Habitus jeder Figurine gibt den Charakter der jeweiligen Rolle wieder; die Ängstlichen zeigen sich in gedruckter Haltung, der Alte krümmt seinen Rücken, und die Aggressivität des Zankstifters ist an seinen scharfkantigen Formen ablesbar. Jedoch hatte die Gestaltung dieser Figuren nur wenig mit Malewitschs Entwürfen zu tun: Lissitzkys Figurinen führen nicht mehr Kostüme vor, sondern stellen die Schauspieler selbst dar. Diese scheinen aber nicht mehr aus menschlichen Darstellern zu bestehen. 86 Diese ‚futuristische’ Vorstellung vollzieht sich in einer ‚Schaumaschinerie’, welche sich nahtlos in die Projekte des zeitgenössischen russischen Theaters um 1922 eingliedern wird, bei denen insbesondere die Ideen der konstruktivistischen Bühnenkünstler zum Tragen kommen.111 Es wird zusammengefasst: Die Entindividualisierung oder Typisierung der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhundert zeugte von einer Beschädigung oder gar der Zerstörung des Menschenbildes, wie anderswo vielfach beklagt wurde. Dieses Allgemeine wurde aber von Craig und Futuristen auf ihre Weise auf der Bühne individualisiert, vergegenwärtigt und veranschaulicht. Sie trennten dabei die Bühnengestalt von der Ordnungsmacht des Theaters und zerlegten sie in ihre Elementarteile. Die Folge: Die Befreiung der Figuren aus ihrer illusionistischen Funktion lässt Raum, Licht und Bewegungen als eigenständige und eigensinnige theatrale Zeichensysteme wieder zu ihren Rechten kommen. Die Pluralisierung der theatralen Codes löst die sukzessive Wahrnehmung aus der permanenten Rückbindung an Einheit und Simultaneität der Gesamtgestalt der Darstellung. Das klassisch geschlossene Körperbild des Schauspielers weicht der Marionette, Puppen, Objekten und Maschinen. Craig glaubte nicht an die Persönlichkeiten des menschlichen Darstellers, sondern an die Magie des Unpersönlichen des Artefakts. Akzentuiert war dabei die Hoffnung auf Kontinuität des Subjekts: Metaphorisch verdichtet in der Kunstfigur und deren künstlerischem Spannungsfeld zwischen Typisierung und Annäherung an die Ewigkeit. Der Mensch sucht im ICH nach einem festen Ort in der Unübersichtlichkeit der Lebensumstände, Vielmehr erinnern sie an Maschinen bzw. Roboter. vgl. Figurinenmappe ‚Sieg über die Sonne’ (1923), in: Ausstellungskatalog: El Lissitzky 1890-1941, Sprengel Museum Hannover, 1988, S. 180-183. 111 Die auf dem Titelblatt der Figurenmappe dargestellte Konstruktion des Spielgerüsts erhebt sich über einem schwarzen Ring, der wie eine Arena gebildet ist. Zwei himmelwärts ausgefahrene Teleskopstangen halten einen Parabelbogen, der aus der Unendlichkeit zu kommen und in die Unendlichkeit zu führen scheint. Auf ihm ist der letzte, von den ‚Kraftmenschen der Zukunft’ gesprochene Satz der Oper ‚Anfang gut, alles gut, was ohne Ende ist’ in vier Sprachen dadaistisch verfremdet zu lesen. Der Satz und die Parabel markieren den Standort der Schaumaschine als Geburtsort einer neuartigen offenen Zukunft, die von anthropomorphen Spielautomaten bevölkert wird. Die Schaumaschinerie, in dem sich diese androidehaften Spielkörper bewegen, wächst aus dem schwarzen Ring hervor, an dem die Totengräber’ der Sonne, d. h. der alten Welt, platziert sind. ‚Die Sonne als Ausdruck der alten Weltenergie wird vom Himmel herabgerissen durch den modernen Menschen, der Kraft seines technischen Herrentums sich eine eigene Energiequelle schafft.’ vgl. El Lissitzky: Vorwort zur Mappe ‚Sieg über die Sonne’, in: Ausst.Kat.: El Lissitzky. 87 vor der Unermesslichkeit von Raum und Zeit, die einstens durch mythische, religiöse Bedeutung vermittelt wurden. Was bei Craig aber eine allgemeine Utopie blieb, haben die Futuristen in ihren Manifesten lebhaft beschildert und in ihrem Theater weiter verfolgt. Wie La Mettrie im 18. Jh. im Glauben an Vernunft, Fortschritt und Wissenschaft die Welt aus den Prinzipien der Mechanik und den Menschen als selbstbewegte Körpermaschine erklärt hatte, so blickten die Futuristen voller Enthusiasmus auf die futuristischen Menschen, die zum Modell des Funktionierens der gesamten Gesellschaft werden sollten. Als Vorbild des zukünftigen Menschen diente den Avantgardisten der sog. multiplizierte Mensch, dessen Synthetik durch erneuerte Theaterformen und kubistische Verkleidungen angeregt werden sollte. Er wäre mit traditionellen Körper- und BewegungsStereotypen des Geschlechts nicht definierbar. Das Weibliche und das Männliche erschienen ihm als pure Differenz-Struktur, die aus den althergebrachten Gender-Symbolen rekonstruiert würde. Maschinen-Mensch wurde damit proklamiert. Ein unsterblicher androgyner 88 2. Soziale Automaten - Wsewolod E. Meyerholds ‚Der großmütige Hahnrei’ ‚Der in blaue Kombination gekleidete Schauspieler verwandelte sich in einen mechanischen Roboter, ein bloßes Zubehör zu den sich drehenden Rädern und Drehtüren der Konstruktion […].’112 So beschreibt ein Zuschauer verblüfft seinen unmittelbaren Eindruck von einem Darsteller auf der Bühne. Ein anderer Zeuge sieht den Schauspieler und sein Ensemble indes: ‚Sie [Darsteller] spielten exzentrisch, vor der ‚Maschine’, auf der ‚Maschine’, alles ist potenziert, das sind lautstarke Szenen, Salti mortali, groteskes Tragen auf den Schultern, alles in den karikierten Linien einer Zirkusvorstellung […] auch wenn nur eine Physiognomie auf der Bühne ist, wirkt sie, als wären es wenigstens ein Dutzend.’113 Geeignet sei daher für diese Aufführung ein Auditorium aus ‚neuen Menschen’: ‚Hier werden die Nerven nicht eingeschläfert, sondern gepeitscht, sie müssen stark sein, damit sie nicht zerreißen; überhaupt ist zu erkennen, daß eine neue, gesündere Rasse die Voraussetzung für dieses Theater ist.’114 Diese im wahrsten Sinne des Wortes höchst merkwürdigen Theatererlebnisse wurden am 25. April 1922 nach der uraufgeführten Inszenierung Der großmütige Hahnrei von Wsewolod E. Meyerhold im Theater des Schauspielers in Moskau aufgezeichnet. Was jedoch diese Rezeption herausarbeitete, scheint kaum mit einem Theaterstück bzw. Bühnenfiguren zu tun haben. 112 zit. nach: Jelena Rakitin: Darüber, wie Meyerhold nicht mit Tatlin zusammenarbeitete, und was sich daraus ergab. Zum Theater der Avantgarde, in: Ausst.Kat.: Die große Utopie. Die russische Avantgarde 1915-1932, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 1992, S. 225. 113 Aleksander Flaker: Kroatische Zeugnisse über Mejerchol’ds Theater, in: Herta Schmid/ Hedwig Král (Hg.): Drama und Theater. Theorie - Methode - Geschichte, München 1991, S. 399. 114 ebd. 89 Im Zentrum von Meyerholds gesamtem künstlerischen Schaffen steht der spielende Kunstmensch: Im Streben nach einem nichtnaturalistischen, kunsthaften, damit plastischen Theater experimentierte der ehemalige Schauspieler von Stanislawski mit einer Bühnenfigur, deren Aufgabe statt der zufälligen, ungeformten, auf lebensechte Abbildung zielenden Körperlichkeit eine bewusst geformte Bildhaftigkeit sein sollte. So provozierte Meyerhold, durch die deutschen Romantiker, die Symbolisten und nicht zuletzt Craig mit ihren Kunstfiguren und deren modellhaftem Bewegungsprinzip vertraut, seine Zeitgenossen mit seiner Schauspieler in ihrer hölzernen Plastizität und damit Puppenhaftigkeit. Der Regisseur träumte dabei von einer Wiedergeburt der Antike, deren rhythmisch gegliederte Spielweise an das statuarische, reliefhafte Ausdrucksprinzip gebunden war. Als wichtigste Inszenierung Meyerholds gilt Der großmütige Hahnrei. Das folgende Kapitel untersucht, wie nah seine Inszenierung diesem Zusammenhang steht, mit welchen Methoden er diesen Gedanken verfolgt. 1. Der Stand der Dinge Ausgang: Textauswahl Die Handlung des Fernand Crommelyncks Farce Le cocu Magnifique (UA Paris 20. Dez. 1920) ist bekannt, schon der Titel lässt sich als Replik auf den Titel von Molières Komödie Sganarell ou le Cocu imaginaire (der Hahnrei in der Einbildung, 1660) verstehen. Man findet hier ebenfalls ‚einen pathetischen Hahnrei, der sich, um nicht mehr an der Treue der geliebten Frau zweifeln zu müssen, von ihrer Untreue überzeugen will. Trotz all ihrer Reinheit, trotz ihrer Liebe muß Stella seine Forderungen erhören, sie ist gezwungen, mit seinem Neffen Petrus zu schlafen [...] und dann muß sie mit allen Dorfburschen schlafen - im Glauben, sie werde damit zur Heilung ihres Mannes von seiner Krankheit beitragen’115. 115 J. Pillement, zit. nach: Alexander Flaker: Die erotische Farce und das revolutionäre Theater, Theater (Krommelynck-Meyerhold-Cesarec), in: Herta Schmid/ Jurij Striedter (Hg.): Dramatische und theatralische Kommunikation. Beiträge zur Geschichte und Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert. Forum Modernes Theater Bd. 8, Tübingen 1992, S. 262-263. 90 Der Text ist demzufolge konventionell. Die Handlung führt zwar zum Paroxysmus, doch löst er sie mit einer traditionellen Wendung: Als Bruno, der Hahnrei, in Verkleidung selbst zum Karneval geht und seine Frau Stella verführt, nimmt er dies als Beweis und Grund, sie dem Mob der lynchwütigen Dorfweiber zu überlassen. Nur der tumbe Ochsenhirte kann sie retten und nimmt die schließlich Einwilligende mit. Es sind folglich repräsentative Themen der etablierten Dramen: Liebe und ihre Verwicklungen, mithin Liebeskummer, Eifersucht, Kampf der Geschlechter und melodramatischem Mord bzw. Selbstmord. Anlässlich der Wiederaufführung des Stückes schrieb der Kritiker Boris Kusmann in der Prawda 1926 unterdessen: ‚Das Thema, das Liebe und Eifersucht, die aus den Besitzerinstinkten des Mannes entspringt, und die aufopfernde Liebe der Frau behandelt’, wurde hier, ‚unerhört zugespitzt […] Gerade diese thematische Zuspitzung, die dialektische Schärfe, die äußerste Anspannung war notwendig, um dem Theater zu helfen, neue Formen der Bühnenkunst zu finden.’ 116 Kusmann fand es ferner ‚unmöglich’, ein für den Anbeginn der erneuerten Theaterkunst passenderes Stück zu finden. Um ein neues Theater, wenn nicht ein revolutionäres zu schaffen, braucht man ein Stück mit einem konservativen Wert und ohne Belang? Ein Stück mithin, das kleinbürgerlicher Ästhetik huldigt und seine Form jeder Vulgarität und Trivialität aussetzt? Wenn man von Meyerhold und seiner Inszenierung spricht, muss man unbedingt die Theatersituation in Russland am Anfang des 20. Jahrhunderts berücksichtigen. Denn Russland erfährt in den zwanziger Jahren noch einmal eine kräftige Veränderung. Während sie vor der Revolution den herrschenden Realismus bekämpften, sich aber von der Kunst als eine Form sozialen Engagements noch distanziert hatten, stellten die Avantgardisten in der 20er Jahren den gesamten ‚Ästhetizismus’ selbst in Frage. Der sog. auratische Mythos des Künstlers, welcher aus seinem ‚Innern’ schöpft und als der unteilbare Kern des Individuums galt, wurde angesichts der Zerrissenheit und der Ungewissheit dieses ‚Inneren’ radikal in Frage gestellt und mit ihm der bürgerliche 116 zit. nach: Bernd Vogelsang: ‘Popova’ in Raumkonzepte, in: Ausst.Kat.: Konstruktivische Tendenzen in Bühnen- und Bildkunst 1910-1930, Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt am Main 1986, S. 55. 91 Subjektbegriff sowie seine Erscheinung als subjektiv-psychologisches Konstrukt. An dessen Stelle tritt das Material eines Kunstwerkes in den Mittelpunkt: Linien, Farben und Formen in der Malerei, Wortwurzeln und Worte in der Dichtung, Bewegungen und Laute in der Musik. Jenes wurde bald im Theater aktiviert und laut. Statt auf ‚intuitive’, mystische Schauspielerpersönlichkeit oder den psychologisch feinen Charakterdarsteller, wurde auf allgemeingültige, erkennbare Prinzipien gesetzt, der Schauspieler nur noch über sein Material, seinen Körper erfahrbar und bestimmbar. Für dieses Theater suchten die Bühnenkünstler in der Folge nach einem passenden Pendant, um es auf dem Weg rein formaler Experimente an einem Repertoire zu verwirklichen. Der Verzicht einer Kunst, die aus der Psyche des Individuums schöpft, war ebenfalls die generelle Ausrichtung von Meyerhold. Schon seit seiner Trennung von MChAt (Moskauer Künstlertheater) spiegelt seine Ablehnung der ‚neurasthenischen Zuckungen des Naturalismus’, der Zufälligkeiten des Erlebens und des Innerlichen sein prinzipielle Misstrauen in die ‚Subjektivität der Bühnenfiguren’ wider. Bei der Entfaltung seiner Auslegung geht Meyerhold zunächst von der ‚Stilisierung’ der Bühnenfiguren aus. Das seit seiner Tätigkeit am Studio-Theater beim MChAt (1905) entwickelte Konzept eines ‚bedingten Theaters’ sollte dies systematisieren. Entfaltung: Stilisierung Der Begriff uslowny teatr117 (wörtlich übersetzt: bedingtes Theater) stammt ursprünglich von Waleri J. Brjussow (1874-1924). Nach Brjussow ist das Theater Kunst der Schauspieler, insofern er als lebender Mensch konstitutiv für die Bühnenkunst ist. Die Aufgabe des Theaters bestehe folglich darin, ‚alle Bedingungen zu schaffen, damit sich das Schaffen des Schauspielers so frei wie möglich entfalten’118 kann. An sich ist jedoch der lebende Mensch auf der Bühne noch kein Kunstwerk. Er wird es erst durch die stilisierende, das heißt abstrahierende Formierung seiner selbst und der Dinge in seiner räumlichen Umgebung. Ein Schauspieler müsse also 117 Ein Theater, das die ‚Bedingtheit’ bzw. den Spielcharakter bewusst als Prinzip der Bühnenkunst setzt. vgl. Rosemarie Tietze: Vsevolod Meyerhold. Theaterarbeit 19171930, München 1974, S.11; Brjusov: Realism and convention on the stage, in: Laurence Senelick: Sammelband Russian dramatic theory from Pushkin to the Symbolists, University of Texas Press1981, S. 171-182; Meyerhold: Zur Geschichte und Technik des Theaters (1907), in: ders.: Schriften (Bd.1), Berlin 1979, S. 118-120. 118 Brjussow, zit. nach: Meyerhold: Zur Geschichte und Technik des Theaters, S. 119. 92 ,wie der Bildhauer, in einer sinnlich wahrnehmbaren Form den gleichen Inhalt verkörpern: die Erlebnisse seiner Seele, ihre Gefühlsregungen. Was dem Pianisten die Töne seines Instrumentes sind, ist dem Sänger die Stimme und dem Schauspieler der Körper, die Sprache, Mimik und Gestik. Das Werk, das der Schauspieler aufführt, dient für sein Schaffen als Form’119. Meyerhold formuliert diese brjussowische Stilisierung auf seine Weise um: ‚Nicht für diese schablonhafte, sinnlose, kunstfeindliche Stilisierung, […] sondern für die mit A b s i c h t g e s c h a f f e n e S t i l i s i e r u n g als künstlerische Methode, einem eigenen reizvollen Kunstgriff der Inszenierung.’120 Denn die Schauspielkunst ist, und hier spricht Meyerhold mit den Worten Andrej Belys, ‚nicht imstande, die Fülle der Wirklichkeit wiederzugeben, das heißt die Vorstellungen und ihren Wechsel in der Zeit. Sie zerlegt [bloß] die Wirklichkeit, indem sie diese bald in räumlichen, bald in zeitlichen Formen darstellt. Deshalb verweilt sie entweder bei der Vorstellung oder beim Wechsel von Vorstellungen: Im ersten Fall entstehen räumliche Kunstformen, im zweiten zeitliche’121. Die Stilisierung ist für Meyerhold demnach eine künstlerische Methode, bzw. die Tätigkeit der ‚Analyse’, indem sie die ‚Fülle der Wirklichkeit’ mit Hilfe der sinnlichen Erscheinung des Körpers hervorbringt. Da aber der menschliche Körper stets von beiden Kategorien, bzw. Zeit und Raum beeinflusst wird, gilt dann Schematisierung, das heißt Konturierung, wobei oft eine Kategorie dominant gesetzt wird. Diese formale Schematisierung geht dann einher mit der Typisierung. Darin werden die identitätsbestimmenden, einheitlichen Dominanzphänomene der wahrgenommenen dramatischen Person nicht nur auf dieser Ebene, sondern auch auf der Ebene der Psychologie erfasst. 119 ebd. 120 ebd., S. 120. 121 Andrej Bely: Der Symbolismus, zit. nach: Meyerhold: Balagan (1912), in: ders.: Schriften (Bd.1), Berlin 1979, S. 215. Bely lehnt aber überzogene Stilisierung, die von der russischen Symbolisten praktizierte, ab: ‚Die Stilisierung verwandelt die Persönlichkeit in eine Gliederpuppe. Diese Verwandlung ist der erste und entscheidende Schritt zur Zerstörung des Theaters. Was bliebt...die Schauspieler von der Bühne des ‚Balagantschik’ zu verbannen und sie durch Marionetten zu ersetzen [...].’ zit. nach: Jörg Bochow: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin 1997, S. 26. 93 Diese ‚analytische Stilisierung’ trägt nach Meyerholds Auffassung allerdings ‚noch einer gewissen Wahrscheinlichkeit Rechnung’122; sie verbinde sich noch mit dem Realismus. Die ästhetische Groteske sei daher ‚die zweite Etappe auf dem Wege der Stilisierung’123. Sie ist, so Meyerhold, keine ‚Synthese’ des stilisierten Analysierten nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit, sondern nach dem eines freien künstlerischen ‚Reichtums’: ‚Die Groteske kennt nicht nur das Niedrige oder nur das Höhe. Sie vermischt die Gegenstände, spitzt die Widersprüche bewußt zu und läßt mit ihrer Originalität spielen […] Die Groteske vertieft das Alltagsleben bis zu der Grenze, wo es aufhört, das nur Natürliche zu sein.’124 Groteske, derzeit oftmals adjektivisch für das Irritierende, Fremde, mithin nicht Beschreibbare verwendet, äußert sich bei Meyerhold als ernst zu nehmendes Bühnenelement. Im Sinne eines historischen und ästhetischen Phänomens zeigt sie sich bei Meyerhold als Medium künstlerischer Vermittlung gesellschaftlich relevanter Themen und bekräftigt dessen Funktion als Mittel der Verfremdung im Prozess künstlerischer Gestaltung. Groteske meint folglich ‚Trennmittel’ zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und einer künstlerischen Bühnenrealität. Es geht um das Moment der Verfremdung, das heißt um ein Mittel der beschriebenen Stilisierung, mit dem aus der gesellschaftlichen Realität entlehnte Sujets in ein ‚nach der künstlerischen Vision erstelltes Ganzes integriert’ werden: ‚Die Groteske, die das Übernatürliche sucht, verbindet in einer Synthese die Extrakte der Gegensätze, schafft ein Bild des Phänomenalen und lässt den Zuschauer das Rätsel des Unbegreiflichen erraten.’125 Die Methode der Kontrastierung und Pointierung sei dabei explizites Mittel der Groteske. In einem breiten Spektrum von feinsten Verschiebungen bis hin zur Hyperbolisierung und Vulgärisierung lassen sich ihre verschiedenen Spielarten feststellen. All diese Aspekte nehmen die Schlüsselposition in Meyerholds Bühnenkonzept ein. Die Darstellung und der Bühnenraum werden ihrerseits in 122 Meyerhold: Balagan, S. 215. 123 ebd. 124 ebd., S. 215-216. 125 ebd., S.216. 94 ein rein künstliches, nach der künstlerischen Vision erstelltes Ganzes integriert. Der Bühnenraum wird verfremdet, der Schauspieler wird zur Kunstfigur. Orientierung: Sozialer Körper, kollektiver Leib Nach 1917 versuchte Meyerhold, dieses Abstraktum der stilisierten Bedingtheit in der konkreten Form zu überwinden. Wie die ‚linken’ Künstler seiner Zeit hoffte auch er, Leben und Kunst nach den gleichen wissenschaftlichen Prinzipien neu zu gestalten. 126 Dieser Versuch korrespondierte einerseits mit dem Aufkommen der neuen Kombination von Massenkultur und Militärisierung vieler Lebensbereiche, andererseits mit der Vision einer neuen Körperkultur 127 des Landes, die sowohl im Ästhetischen als auch im Sozialen allgegenwärtig war. Maßgebend für Meyerhold war jedoch Gastews Theorie, deren proletarischer Maschinismus auf die folgende nachrevolutionäre Avantgarde in Russland einen großen Einfluss ausgeübt hatte. Der Metallarbeiter und Dichter Aleksej K. Gastew gründete 1920 im Auftrag der Metallarbeitergewerkschaft das ZIT, das Zentrale Institut für Arbeit und entwickelte dort eine Konzeption, in der ein Arbeiter über die perfekte Beherrschung einfachster Arbeitsgeräte in die Lage versetzt werden sollte, komplexe Maschinen zu beherrschen. Er sah zunächst in der ‚Metallurgie der neuen Welt, Automobil- und Flugzeugfabriken Amerikas und Europas und schließlich Kriegsindustrie der westlichen Heimsphäre’ die ‚gigantischen neuen Laboratorien, in denen die Psychologie und die Kultur des Proletariats geschaffen werden’. 128 Diese gewaltige Maschinisierung, so Gastew, ‚normt sich nicht nur die Gesten, nicht nur die Produktionsmethoden, sondern auch die täglichen Gedanken und 126 Die revolutionäre Umgestaltung im Jahr 1917 wurde auch vom Theater erwartet. Das Theater als ‚experimentelles Laboratorium’, als ‚Werkzeug zur Umgestaltung des Lebens’ soll mit der sozialen Praxis kooperieren, indem die Kluft zwischen Leben und Kunst geschlossen wird. Das Theater verliert demnach seine künstlerische Autonomie, wird medialisiert und instrumentalisiert für das gesamtgesellschaftliche Experiment. In Meyerholds Frühphase der ‚stilisierten Bedingtheit’ blieb dieser soziale Aspekt noch außer Betracht. vgl. Joachim Paech: Das Theater der russischen Revolution. Theorie und Praxis des proletarisch-kulturrevoutionären Theaters in Rußland 1917-1924, Kronberg/ Ts. 1974. 127 Zur jenen Hinwendung zu einer neuen Kultur des Körpers und damit zur Projektion eines neuen Menschen gehört die Dalcroze-Bewegung, wie sie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. in Russland vor allem im Theater sichtbar wird. Sie erstrebt die Erlösung von der Zerrissenheit des Bewusstseins durch eine neue Erfahrung des Körpers und entwickelt eine ‚transzendentale’ Tendenz; der Körper des Menschen spiegelt als Mikrokosmos den Makrokosmos. 128 A. K. Gastev: Über die Tendenzen der proletarischen Kultur, vgl. Paech 1974, S. 303. 95 die Psychologie des Proletariats in der auffälligsten Weise und vereinigt alles in einem äußeren Objektivismus.’ 129 Daraus entwickelte er die Vorstellung einer absehbaren Gesellschaft und ersehnt die neue gesellschaftliche Tendenz, in der alle Lebensbereiche durch exakte wissenschaftliche Kenntnis bestimmbar gemacht werden können. Dies verlange eine objektiv-wissenschaftliche Theorie, eine mathematisch verifizierbare These. So entwickelte Gastew das Konzept einer ‚Kultur der Arbeit’, die kulturelle Leistung als ‚technische und soziale Geübtheit’, ‚als Organisationsfertigkeit von Material und Menschen’ begreifen soll. 130 Er schrieb aus diesem Zusammenhang: ‚Die Menschheit hat gelernt, Dinge zu bearbeiten. Nun hat die Zeit der sorgfältigen Bearbeitung des Menschen begonnen. Es wird so viel von vergeudeten Kräften und von der Ökonomie der Arbeit geredet. Jedoch besteht unsere erste Aufgabe darin, uns mit der wunderbaren Maschine zu befassen, die uns so nahe ist – mit dem menschlichen Organismus.’ 131 Er kennzeichnet dies als ‚mechanisierten Kollektivismus’ und summiert: ‚Die Erscheinung dieses mechanisierten Kollektivismus ist jeder Personalität derartig fremd, ist derart anonym, daß die Bewegungen dieser Kollektivkomplexe sich der Bewegung von Dingen annähern, in denen es schon keine menschliche Individualität mehr gibt, sondern nur gleichförmige, normierte Schritte, Gesichter ohne Ausdruck und ohne Seele, die keine Lyrik, keine Emotionen mehr kennen und nicht durch Geschrei oder Gelächter bewegt, sondern mit Manometer und Taxometer gemessen werden. […] der neue Massen-Ingenierismus verwandelt das Proletariat in einen sozialen Automaten.’132 Dies führte zu einer Art Neuorientierung in Meyerholds Theaterarbeit: Das Prinzip des Proletkult fand Eingang in seine Bühnenarbeit und leitete zusammen mit der Übernahme der produktivistischen Konzepte eine Neubestimmung der Rolle des Schauspielers ein. Die in das Gesellschaftsexperiment der realisierten, sozialistischen Utopie integrierte Ideologie des Neuen Menschen, der nicht mehr Individuum, sondern Teil eines sozialen, kollektiven Körpers ist, soll in die konstruktive Ausdrucksform der theatralischen Aufführung eingehen. Es geht 129 ebd. 130 vgl. Hannelore Kersting: Raumkonzepte, in: Ausst.Kat.: Konstruktivistische Tendenzen in Bühnen- und Bildkunst 1910-1930, Städtische Galerie in Städelschen Kunstinstitut: Frankfurt 1986, S. 56. 131 Gastew, zit. nach: Kersting 1986, S. 56. 132 Gastew, zit. nach: Paech 1974, S. 303. 96 dem Theater nicht mehr um die Gestaltung einzelner Rollen, zumal sie für das Kollektiv keine nützlichen Erkenntnisse liefern, sondern um den Zusammenschluss der Einzelkräfte zu einem reibungslosen Gesamtablauf. Meyerhold verwandelte damit das Theater in eine Art Produktionsstätte, seine Arbeit betrachtete er ‚als eine Produktion’133. Er verließ zunächst das Theatergebäude, verlagerte das Geschehen in Fabriken der Werktätigen und an historische Schauplätze der ‚realen Revolution’. Dieser Ortswechsel implizierte zugleich Veränderungen des Schauspielkonzepts: Die von den Kulissen befreiten Schauspieler bilden für sich einen betont dreidimensionalen Aktionsraum. An der Stelle der statisch wirkenden Schauspielerkörper steht die plastische Dreidimensionalität. Dies erforderte ebenso wichtige Umgestaltungen des Bühnenraumes. Neben der Senkung der Bühnenplattform auf das Niveau des Zuschauerraums, welche das Publikum aktiv in das szenische Geschehen mit einbeziehen sollte, entstand ein architektonisch konstruierter Bühnenraum. Die Theatertechnik wurde auf das Notwendigste reduziert und die Rampe abgeschafft, so dass sich Akteure und Zuschauer in einem einzigen durchgehenden Raum befanden. Bald experimentierte Meyerhold mit Pantomimen und Etüden nach der Commedia dell’Arte sowie dem Kabuki-Theater, er trat selbst in einem Studio-Ballett Fokins als Pierrot auf. All diese Erkenntnisse seiner bisherigen Experimente ermöglichten es ihm, eine neue Dimension der Schauspielkunst zu entwickeln, die nach der Revolution Bestandteil seines Schauspielkonzeptes und seiner Regiepraxis werden sollte. 1. 2. Übungssache Übung: der Körper als Material ‚Wahrscheinlich hält das naturalistische Theater das Gesicht für das wichtigste Ausdrucksmittel einer schauspielerischen Absicht. Die Folge davon ist, daß es die übrigen Ausdrucksmittel aus dem Blick verliert. Das naturalistische Theater kennt die Vorzüge der Plastik nicht, zwingt den Schauspieler nicht, seinen Körper zu trainieren, und in den Theaterschulen begreift man nicht, daß physischer Sport das Grundfach sein muß […].’134 133 Meyerhold: Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik (1922), in: ders.: Schriften (Bd.2), S. 478. 134 Meyerhold: Zur Geschichte und Technik des Theaters, S. 106f. 97 Meyerholds Kritik an der psychologischen Rollenauffassung des Naturalismus tritt noch einmal in diesem Satz als Inversion der Beziehung Psyche/Physis, Innen/Außen zutage. Auch hier wiederum mit dem Hinweis auf die Unproduktivität einer derartigen Charakterverkörperung und der impliziten Unkontrolliertheit der herkömmlichen Darstellungsvorgehensweise. Man könne kein Theater auf den ‚Lehrsätzen der Psychologie aufbauen’. Psychologische Zustände seien allein das Resultat physiologischer Prozesse, die Entstehung von Gefühlen habe immer physische Ursachen. Erforderlich wird deshalb für jeden Schauspieler die ‚Mechanik seines Körpers’; eine Ausbildung des Körpers im Sinne eines elementaren Materials und einer physiologischen Komponente. Dieses Primat des Körperlich-Äußeren gegenüber dem Psychologisch-Inneren zeigt sich in der von Meyerhold selbst geprägten Formel für Schauspieltechnik fassbar: N = A1+ A2. Im Schauspieler säßen immer zwei: A1 erteile den Auftrag, A2 nehme die Rolle des Materials ein. In Bezug auf die Arbeit des Organisators gibt A1 das formale Bewegungsparadigma für das Element A2 vor; er stellt choreogra-phisches Zusammenspiel im Bühnenraum und zeitlichen Ablauf der Aufführung als Gestaltungsaufgabe. A2, der Körper, arbeitet eine zunächst bewegungs-haft-pantomimische plastische Form des szenischen Rollenbildes aus, bringt dann die visuell wahrnehmbare Form hervor. Ein Schauspieler hat somit eine Doppelaufgabe zu erledigen; als Organisator des vorgegebenen Materials bzw. seines Körpers und als organisiertes Objekt selbst. Er ist Kommittent und Material, Subjekt und Objekt zugleich. Auf diese Weise ‚vereinigen sich der Organisator und Organisierter (also der Künstler und Material) […] Der Schauspieler muß sein Material, den Körper, so trainieren, daß er augenblicklich alle von außen erhaltenen Aufgabe (vom Schauspieler, vom Regisseur) ausführen kann’135. Bereits bei dem französischen Schauspieler und Theoretiker Constant Coquelin (1841-1909) ist von dem Doppelcharakter eines Schauspielers nachzulesen: ‚Das Instrument des Schauspielers ist er selbst. Die Materie seiner Kunst, die er bearbeitet und sich gefügig macht, um ihr seine Figur zu entlocken, ist sein eigenes Gesicht, sein Körper, seine Existenz. Daraus folgt, dass der 135 Meyerhold: Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik, S. 479. 98 Schauspieler ein Doppelwesen sein muss. Er besteht aus dem einen, dem Spieler, und dem zweiten, der als Instrument fungiert.’136 Bei Coquelin folgt daraus: ‚dass beim Schauspieler der eine der Meister des zweiten sein muss: Derjenige, der sieht (Einsicht hat), muss denjenigen, der (die Anweisung des ersten) ausführt, wenn irgend möglich absolut beherrschen. […] Mit andern Worten: Der Schauspieler muss immer Herr seiner selbst sein. Sogar dann, wenn das von seiner Darstellung hingerissene Publikum glaubt, er sei außer sich, muss er sehen, was er macht, muss sich selbst beurteilen und beherrschen; kurz: Er darf Gefühle, die er ausdrückt, nicht erleiden, selbst dann nicht, wenn er sie mit größtmöglicher Wahrheit und Ausdruckskraft spielt. […] Kunst ist, ich wiederhole es, nicht Identifikation, sondern Darstellung (représentation).’137 In dieser Traditionslinie steht ebenfalls Meyerholds krtisch-distanzierte, politisch-sozial wertende Spielweise, bei welcher der Schauspieler seine Haltung zur Figur mitspielt. Im Vergleich zu Coquelin betont aber Meyerhold zudem die Differenz zwischen Darsteller und dargestellter Figur und hebt die Bedeutung der Ausbildung des Materials des Schauspielers, seiner physiologischen Komponente hervor. Der Körper des Schauspielers wird dabei von Meyerhold dem Stein oder Marmor der bildhauerischen Plastik gleichgesetzt. Er steht als fügsames Material dem ‚Organisators’ stets zur Verfügung. Er ist damit die ‚mechanische Puppe’. Meyerhold begründet dies damit: ‚[…] auch jedes beliebige in Freiheit lebende Tier können, insoweit ihre Bewegungen organisiert und mechanisiert sind, als Objekt für ein Schema der puppenartigen Bewegungen dienen. Das ist es ja gerade, daß im Menschen (wie auch im Tier – die Glieder aller Tiere sind sich ja ähnlich) nebeneinander existieren: Körperbewegungen, die manchmal anarchisch frei erscheinen, und jenes […] System, das den sich im Raum Bewegenden in die Situation einer mechanischen Puppe versetzt.’138 Schauspielkörper als ‚mechanische Puppe’ ist der entscheidende Ansatz der Meyerholdschen Schauspielkunst. Nicht nur überwindet er die Dualität des Schauspielkörpers, die ‚Verpuppung des Körpers’ befähigt darüber hinaus die Verdoppelung bzw. Vervielfachung eines Bühnencharakters. Diese artifizielle 136 Constant Coquelin: Die Kunst des Schauspielers, in: Klaus Lazarowicz, Christopher Balme (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart 1991, S. 217. 137 ebd., S. 218. 138 Meyerhold: Über Aufzeichnungen eines Regisseurs von A. J. Tairow (1921-1922), in: ders.: Schriften (Bd.2), S. 33. 99 Körperlichkeit der Schauspieler und den kodierten, symbolhaften Charakter dieses Theaters entdeckte Meyerhold unter anderem im traditionellen asiatischen Theater. Er beruft sich dabei auf die Marionetten im japanischen Theater: ‚Im japanischen Theater gelten bis heute die Bewegungen und Posen der Marionetten als Ideal, dem die Schauspieler folgen sollen. Ich bin überzeugt, dass man das liebevolle Verhältnis zur Marionette im weisen Weltempfinden der Japaner suchen muss.’139 Das Paradox, mit der Verleugnung der Individualität die Möglichkeiten des Schauspielers zu erweitern und ihn zu einer überindividuellen Darstellung zu führen, entlehnt Meyerhold auch den europäischen Formen des traditionellen und zeitgenössischen Theaters.140 Er entdeckte beispielsweise in der Figur des Harlekins den Träger idealen Schauspieltypus. Meyerhold setzt dabei den manierierten Spielcharakter des Harlekins als Grundhaltung seiner Schauspieler dem ‚Erlebenskonzept’ gegenüber und rühmt die Figur in seiner überrealen Dimension; er sei dualistisch, einerseits ein harmloser Tropf, andererseits ‚ein mächtiger Magier, ein Zauberer und Hexenkünstler; er ist Repräsentant infernalischer Kräfte’141. Nicht für eine Rekonstruktion der historischen Theaterfigur, sondern eine neue Körperlichkeit sei der Harlekin wichtig. Um diese Schauspieler-Puppe in eine perfekt funktionierende Bühnengestalt umzugestalten, entwickelt Meyerhold eine neue Trainingsmethode. Erreicht werden sollten Grazie und Harmonie des Körpers in allen szenischen Situationen, unerwünscht sind Emotionen und ‚Stimmungen’ oder gedankliche Interpretationen der Rolle und des Stücks. Statt ‚Einleben’ und ‚Verkörperung’ wird ein ‚exzentrisches’ Verhältnis des Schauspielers zur Rolle verlangt. 139 Meyerhold, zit. nach: Bochow 1997, S. 30. 140 Im Bezug auf den Schauspieler als Material für eine antinaturalistische Darstellung formulierte der ehemalige Student am Meyerholds Laboratorium Sergej M. Eisenstein (1898-1948) den Zusammenhang von Kleists Marionettentheorie, Craigs ÜberMarionette und der Biomechanik: ‚Kleists Worte über die richtige organische Bewegung werden gerade hier gefühlsmäßig erfasst, wo er sagt, dass eine echte organische Bewegung nur der Marionette und dem Halbgott erreichbar sei (organisch im Sinne der Mechanik, die den Naturgesetzen und vor allem dem Gesetzte der Schwerkraft gerecht wird). Die Lehre von der ‚Hypermarionette’ von Craig oder die ersten zwei, drei Leitsätze der Biomechanik werden den von Kleist eingeschlagenen Weg weiterfolgen.’ vgl. Sergej Eisenstein: Yo-Ich selbst. Memoiren, Bd.1. Frankfurt/M. 1988, S.464. 141 vgl. Meyerhold: Balagan, S. 208. 100 Die Darstellung bis in die Auflösung oder Maschinelle Improvisation Bereits vor der Revolution hat Meyerhold begonnen, sich für die systematische Ausbildung von Schauspielern zu interessieren. Seit seinem Petersburger Studio entwickelte er eine Reihe von Übungen; sportliche, akrobatische und tänzerische Bewegungsübung, Übungen des isolierten Körpers und solche des Zusammenspiels mit anderen Körpern sowie mit Gegenständen. Die Aufgaben beschäftigten sich unter anderem mit den geometrischen Formen wie Kreis, Rechteck und Dreieck, dem Körper im Verhältnis zu den Grenzen und Umrissformen des Bühnenraums und schließlich dem Zusammenspiel von körperlichen Aktionen mit Musik, Schrei, Geräusch, Atem usw. Diese Übungen lehnten sich dabei an das asiatische Theater und die Zirkus- und Clownssphäre an. Sie zielten auf die Einübung konzentrierter Rhythmik, bzw. der Zeitlupenbewegung und anderer Techniken wie der mechanikähnlichen Unterbrechung und Zerlegung von Gesten in einzelne Abschnitte ab. Aus ihnen entstanden die berühmten Etüden, aus welchen sich Pantomimen entwickelten.142 Solcher Übungsentwurf wäre aber ohne ein wissenschaftlich-physiologisch durchkonstruiertes System und darauf basierende, theoretisch fundierte Erklärungen undenkbar. Auf der Suche nach einer objektiven, wissenschaftlichen Grundlage kam Meyerhold einerseits zum Taylorsystem und andererseits zur objektiven Physiologie allgemein und speziell zur Reflexologie.143 142 Die Etüden bilden das Kernstück der Ausbildung in Biomechanik. In ihnen sind alle Prinzipien der Biomechanik konzentriert. Sie werden in einzelne Bewegungsphasen aufgelöst, ihre einzelnen Phasen werden dann nach dem Schema: Otkas (Absicht oder vorbereitende Gegenbewegung), Posyl (Ausführung), Stoika (Stand oder Reaktion) einstudiert bzw. aufgeführt, um dann zur Gesamtetüde zusammengesetzt zu werden. Eine der wichtigsten der Biomechanik gehörten Etüde ist Der Bogenschütze. Die Etüden bilden gleichzeitig auch den Abschluss des Trainings. Danach beginnt die Arbeit an der Rolle. vgl. Gennadi Nikolajewitz Bogdanow: Die Biomechanik des Theaters – Ziele und Aufgaben. Analyse der biomechanischen Grundprinzipien und ihrer wichtigsten Etüden, in: Mime Centrum Berlin (Hg.): Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. 143 Sergej M. Eisenstein führte Biomechanik seinerseits auf wissenschaftliche Grundlagen zurück und kennzeichnet in drei Prinzipien: ‚1. Das Prinzip der ‚Totalität’, nach welchem der Körper als Ganzes an der Realisierung einer jeden Bewegung teilnimmt. 2. Das Prinzip des ‚Schwerpunkts’. Entsprechend der anorganischen Natur des Prozesses der Übertragung von Anstrengungen auf einzelne Muskeln kann nur der Schwerpunkt einziger Kraftangriffspunkt des gesamten Systems sein. Hieraus ergibt sich, dass die Bewegungen der Extremitäten nicht selbstständig sind, sondern, mechanisch betrachtet, lediglich das Resultat einer Bewegung des Körpers insgesamt. 3. Das Prinzip der ‚Entspannung’. Das heißt, bei allgemeiner Arbeitskonzentration werden entsprechende Muskelentspannungen einer Extremität, mehrerer Gliedmaßen oder des ganzen Körpers periodisch den rein mechanischen Wirkungsweisen der Gravitations- und Trägheitskräfte überlassen’. Damit lieferte Eisenstein dazu noch eine physiologische Erklärung für 101 Das amerikanische Taylorsystem wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Russland praktiziert. 144 Das System bestand darin, durch Segmentierung der Arbeitsbewegungen in kleinste Einheiten aus diesen eine minimale Arbeitsbewegung zu entwickeln. Aus dieser Theorie eines mechanischen Materialismus leitete Meyerhold seinerseits ein ‚Taylorsystem der Schauspieler’ ab. Das System sollte unter optimaler Nutzung der Zeit und der perfekten Beherrschung des körperlichen Materials dem Darsteller einen Weg zur Rationalisierung der gestischen Ausdrucksmittel bieten.145 Allein der ‚taylorisierte Mensch’, d. h. die Ökonomie der theatralen Bühnengeste genügt es jedoch nach Meyerhold nicht, wenn man ‚vom Äußeren zum Inneren’ gelangen will. So bezieht er sich auf die Reflexologie, welche in Russland unter anderem von Iwan Pawlows und Wladimir Bechterews entwickelt wurde und für die ‚linke’ Künstler der Zeit zu einer der populärsten Theorien gehörte. Schwerpunkt dieser Methode war vor allem die Entfaltung der ‚Fähigkeit zur reflektorischen Erregbarkeit’. Um in kürzester Zeit verschiedene Rollenfächer bewältigen zu können, die sich aus dem ‚Prinzip der Transformation’ ergeben, sieht Meyerhold diese Methode als besonders geeignet an.146 Er expliziert direkt das berühmte Beispiel nach dem wesentliche Elemente der Biomechanik nach. vgl. Sergej M. Eisenstein: Das Dynamische Quadrat, Leipzig 1988, S. 35. 144 Das Konzept einer rationalisierten, restfreien Organisation der Arbeit bzw. des Arbeitsprozesses wurde von dem Amerikaner Frederik Winslow Taylor in seinem Buch The Principles of Scientific Management (1911) entwickelt. Sein Konzept wurde in Russland intensiv rezipiert und von den Leninisten in die Politik überführt. In der russischen Variante wurde die Taylorisierung jedoch zu einem gesellschaftswissenschaftlichen und technischen Konzept. Dass diese letztendlich auf verstärkende Ausbeutung und Erhöhung des Profits ausgerichtete Methode gerade in der Sowjetunion zu solcher Bedeutung gelangte, lässt sich nur aus der historischen Situation des Landes erklären, das möglichst schnell an den Standard des Westens herangeführt werden sollte. Das System wurde nicht nur als Mittel der industriellen Rationalisierung verstanden, sondern ganz allgemein als Instrument zur Ausbildung der Körperkultur und damit des ‚Neuen Menschen’. 145 ‚Das Taylor-System des Theaters ermöglicht uns, in einer Stunde so viel zu spielen, wie wir jetzt in vier Stunde geben können.’ Meyerhold: Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik, S. 479. 146 Das von Meyerhold vorgeschlagene ‚Prinzip der Transformation’, das einem Schauspieler während der Aufführung mehrere Rollen zuwies, um ‚zu zeigen, wie man die Maske wechselt, wie man mit einfachen Mitteln die Gestalt wechselt’, wollte die gewöhnlich einer Aufführung vorausgehende oder die sie insgeheim begleitende Theaterarbeit selbst ins ‚Rampenlicht’ rücken; die Arbeit des Schauspielers, seine sog. ‚Verwandlungskunst’. Dazu ist zu bemerken, dass dieses ‚Transformationsprinzip’ keineswegs neu ist. Es wurde jedoch bislang verschleiert, um das Publikum in dem Glauben zu belassen, es handle sich hier um verschiedene Rolleninterpreten. Meyerhold hingegen wollte das Publikum schon auf den Programmzetteln über den wahren 102 amerikanischen Philosoph und Mitbegründer des Funktionalismus in der Psychologie William James (1842-1910): ‚Ein Mann tut so, als laufe er erschrocken vor einem Hund davon. Es ist kein Hund da, aber er läuft, als ob er ein Hund hinter ihm her wäre. Beim Laufen entsteht in dem Mann tatsächlich ein Angstgefühl. So ist die Natur des Reflexes. Ein Reflex erregt den andren. […] Wenn ich mich wie ein betrübter Mensch hinsetze, kann ich betrübt werden. Lassen Sie uns nicht in der Weise suchen, wie es das Künstlertheater eine Zeitlang hat – etwa so: Wir spielen ein trauriges Stück, seien Sie so liebenswürdig und schlendern Sie durch dunkle, abgelegene Gassen, sammeln Sie Material und konzentrieren Sie Ihr inneres Leben. Wir sagen einfacher: Bitte grübeln Sie nicht nach, machen Sie sich keine Sorgen, wir werden die szenischen Arrangements so aufbauen, dass diese Sie in die Stimmung bringen, die den physischen Situationen entsprechen, in die wir Sie versetzen wollen.’147 Ein ‚betrübter Mensch’ löst nach Meyerhold noch keine betrübte Stimmung aus. Er muss die Vorstellung von Kummer durch Wiederholen eine Reflexbindung von Sitzhaltung und betrübter Stimmung herstellen. Diese Verbindung müsste so lange trainiert werden, bis der Weg vom äußeren Reiz nicht mehr über das Gehirn, sondern direkt zum Zentralnervensystem führt und die Reaktion auslöst. Meyerhold forderte aus diesem Grund auf der Bühne einen dem Fabrikarbeiter ähnlichen Schauspieler auf: ‚Beobachten wir einen erfahrenen Arbeiter, bemerken wir an seinen Bewegungen: 1. das Fehlen überflüssiger, unproduktiver Bewegungen; 2. Rhythmik; 3. das richtiges Gefühl für den Körperschwerpunkt; 4. Ausdauer.’148 Die Formen und Wirkungsweisen, die Meyerhold hier als theoretische Grundlage seines Theaters aufzählt, einerseits die ökonomischen Bewegung und deren ‚reflektierten Erregbarkeit’ andererseits, entsprechen zentralen Termini aus der Arbeit der Maschine. In ihren produktiven Bewegungen sei jenes gesuchte rhythmische Moment zu erkennen, das aus dem Unbewusstsein des Schwergewichtszentrums zu resultieren schien. Sein Schauspielerideal ist somit eine Art Maschine. Sachverhalt aufklären. Was er damit sichtbar machte, war die bisher ununterscheidbare Einheit des Produktionsmittels und des Produktionsmaterials. 147 Meyerhold: Ideologie und Technologie im Theater, in: ders.: Schriften (Bd.2), S. 274-275. 148 Meyerhold: Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik, S. 478. 103 ‚Der moderne Schauspieler muss von der Bühne wie ein vollkommener Auto-Motor gezeigt werden können. In der Epoche der Biomechanik arbeitet der Körper des SchauspielerBiomechanikers wie eine Maschine. Jede Bewegung einzelner Muskelgruppen muss vom Zuschauer wie ein motorischer Reflex der Arbeit des ganzen Körper-Apparats wahrgenommen werden. Die Schaffung der Biomechanik wird die Erschaffung eines Menschen sein […].’149 Öffentliche Demonstrationen der Biomechanik finden erst mit der Inszenierung von Crommelyncks Theaterstück Der Großmütige Hahnrei statt. 1. 3. Verfahrensweise Die Inszenierung: Die Bühne in Konstruktivismus Nach einigen Versuchen der politischen und ästhetischen Neuorientierung seiner Regiearbeit gelang Meyerhold erst durch die Verbindung mit der bildenden Kunst die Kreation eines neuen und originären Theatermodells. Besonders wichtig für sein Theater waren die dynamischen Elemente des Bühnenbildes, die ihm erlauben sollten, den Rhythmus der Bewegungen der Schauspieler zu koordinieren und zu unterstreichen. In diesem Zusammenhang bedeutet die konstruktivistische Bühne eine pragmatische Lösung des Bühnenraumes.150 Seine programmatischen Ansichten bzw. sein proklamierter Taylorismus, seine Definition des Theaters als Produktion, sowie seine Ambition, die Arbeitsteilung aufzuheben und den Schauspieler mit dem Arbeiter gemeinsam arbeiten zu lassen, scheinen den Forderungen der zeitgenössischen Konstruktivisten sehr nahe zu sein.151 149 Meyerhold: Der Moderne Schauspieler (Aus einem Gespräch mit Laboranten). in: Bochow 1997, S. 13. 150 Meyerhold hatte bereits die konstruktionsartige Elemente in Morgenröte und der zweiten Inszenierung von Misterium Buffo (1918) eingebaut, doch diese Bühnen verblieben noch in weiten Teilen im Dekorativen und damit ‚Nicht-Konstruktivisten’. 151 Den Konstruktivisten ihrerseits bot das Theater die Möglichkeit, ihre utopischen Vorstellungen von der idealen Gesellschaft und einem Gesamtkunstwerk, das alle Lebensbereiche miteinschloss, zu realisieren. Zieht man noch die politisch-kulturelle Bewusstseinsbildung in Betracht, dann schien für die Künstler das Theater der geeigneteste Ort, direkt durch ihre Arbeit entsprechend auf die Bevölkerung einzuwirken. Im Theater konnten die utopischen Vorstellungen von der idealen Gesellschaft am besten realisiert und die erarbeiteten Konzepte am einfachsten verwirklicht werden. Alexej Gwosdew schreibt in seinem Artikel Konstruktivismus und die Überwindung der Theaterästhetik der Renaissance: ‚Der moderne Konstruktivismus im Theater ist die 104 Die Bühne besteht aus zwei verschiedenen hohen Gerüsten mit Stufen, die jeweils zu einer Plattform führen. [Abb. 18] Auch eine Rutschbahn und Drehtüren sind vorgesehen. Die Räder, davon eines eine große schwarze Scheibe mit den Buchstaben CR, ML, NCK, und die anderen weiß und rot, drehen sich im Uhrzeigersinn oder ihm entgegengesetzt in willkürlichen Geschwindigkeiten, welche die ‚kinetische Bedeutung jedes einzelnen Augenblicks der Handlung unterstreichen und steigern sollte’152. Das Stützgerüst ist dabei mit Schuhcreme geschwärzt, die Leitern und die Treppe sind mit Schminke rot angemalt worden. Das übrige Bühnenbild besteht aus unbemaltem Holz. Die Theaterkulisse reduziert sich demnach auf ein absolutes Minimum. Durch ein funktionelles Design, echte Materialien und einen strukturell geringfügigen Aufbau entsteht ein reales Forum, das szenische Handlung unterstreicht und artikuliert. Diese Bühnenkonstruktion schafft damit eine sog. ‚Werkbank’, deren Spiel von der ästhetischen Ebene auf die Ebene der materiellen Produktion verlagern sollte. So könnte das Bühnenbild gleichsam das Innere einer Windmühle, ein Schlafzimmer, einen Balkon oder eine Rutsche für Mehlsäcke andeuten. Das Bühnenbild ist im Großen und Ganzen ‚kein Bild, das man bewundert. Es ist eher eine Art Maschine, die im Verlauf einer Inszenierung Leben annimmt’153. Es ist mehr eine konstruktivistische kinetische Bühnenplastik als ein Bühnenbild, ein Raum szenischer Architektur, der nicht abbildend, sondern zeichenhaft auf die Realitäten des Stücks verweist.154 Reaktion auf einen gewaltigen historischen Prozess, genannt das Theater in der Epoche der Renaissance. Dieses italienische Theater der Bühnenattrappe hat im Laufe der Jahrhunderte ein anderes Theatersystem verdrängt ... das aus dem mittelalterlichen Jahrmarktsbalagan hervorgegangen war, das seine Lebensfähigkeit im ShakespeareTheater bestens unter Beweis stellte (und teilweise im spanischen Theater), das ohne Dekoration und ohne Bühnenattrappen auskam, das die Bewegung im Drama an die erste Stelle setzte – nicht nur in horizontalen, sondern auch in vertikalen Ebenen der Bühne.’ Alexej A. Gwosdew. zit. nach: Bochow 1997, S. 76. 152 Ljbow Popowa: Einführung zur InChuk-Diskussion über die Inszenierung von ‘der großmütige Hahnrei’, zit. nach: Magdalena Dabrowski (Hg.): Ljubow Popowa 18891924, München 1991, S. 160. 153 E. Rakitina, zit. nach: Zander Rudeustine (Hg.): Russische Avantgarde Kunst. 19101930. Die Sammlung George Costakis, Köln 1982, S. 399. 154 Meyerhold selbst äußert in einem Brief über das Bühnenbild von Popowa: ‘I consider it my duty to point out that in the creation of the performance the work of Professor L S Popowa was significant, ... that the model of the construction was accepted by me before the beginning of the planning of the play, and that much in the tone of the performance was taken from the constructive set.’ Meyerhold: ein Brief an Izvestia, 9. Mai 1922, zit. nach: Edward Braun: Meyerhold. A revolution in theatre, London 1988, S. 180. 105 Auf dieser konstruktivistischen Bühne bringen die Bühnendarsteller ihrerseits eine kollektive, vollkommen synchronisierte Bewegung hervor. Sie behalten ihre individuellen Eigenheiten der Bewegung bei, setzten sie jedoch als Teil eines übergeordneten Ganzen ein, in das sie sich einfügten. So ist ein ausgestreckter Arm oder Bein nie als isolierte Geste zu sehen, sondern als Wiederholung bestimmte Merkmale der Bühnenarchitektur: Menschlicher Körper und Apparatur greifen ineinander, so dass sie zusammen eine sich ständig verändernde Struktur zu konstituieren scheinen. [Abb. 19] Über die Spielweise der Hauptdarstellerin Stella schreibt eine Kritikerin beeindruckt folgendes: ‚Her performance is based on rhythmus, precise and economical like a construction. Not the rhythmus of speech, of words and pauses. No, the rhythmus of steps, surfaces and space. Few words to speak of. The part ist built on movement, and the words are thrown at the audience with unusual power, like a ball hitting a target. No modulation, no crescendo or piano. No psychology […].’155 Ein Anderer preist ihre mechanische Darbietung sogar als ‚wahrhaftig’: ‚Auf der kahlen Bühne, vor dem Hintergrund der skelettartigen Konstruktion, unter Halbmenschen/ Halbautomaten, wurde ein reales menschliches Drama von betrogenem Vertrauen und beschmutzter Reinheit gespielt. Es ist schwer zu erfassen, mit welchen Mitteln die Schauspielerin eine solche psychologische Tiefe der Figur erzielen konnte. In ihrem ganzen Spiel blieb sie in den Grenzen der präzis-physischen Aktion, die detailliert von der Regie vorgezeichnet war.’156 Ähnliches gilt auch für das Spiel der anderen Darsteller. Die Geste der Schauspieler erfüllt die Funktion, Beziehungen herzustellen: zwischen dem Schauspieler und anderen Schauspielern, dem Schauspieler und der Rollenfigur, zwischen der Rollenfigur und Objekten, der Rollenfigur und der Bühnenarchitektur etc. Die Bewegungen der Schauspieler werden dabei nicht als Zeichen eingesetzt, denen eine bestimmte Bedeutung zugeordnet ist, sondern als Zeichenträger, dem je nach der Beziehung, in die er gerade eingetreten ist, jeweils eine andere Bedeutung beigelegt werden kann. Besonders auffallend ist es bei den großen Mühlflügeln: Ein Entführer packt auf der Bühne Brunos Frau Stella; aber als er sie hochhebt, beginnen die Räder sich protestierend zu drehen, bis er 155 zit. nach: Edward Braun 1988, S. 182. 156 B. W. Alpers, zit. nach: Bochow 1997, S. 170. 106 wieder von ihr ablässt. Der Mensch, der auf diese Weise auf der Bühne präsentiert wird, erscheint daher als ein Wesen, das sich ausschließlich aus den Beziehungen heraus definiert, in die es eintritt oder gestoßen wird. Da diese sich jedoch ständig ändern, wandelt sich auch der Mensch: Ihm eine individuelle, bestimmbare Identität zu geben, ist daher unmöglich. Sie sind Automaten, die sozial bedingt sind. Dieser Spielcharakter findet seinen optischen Ausdruck zusätzlich in den Bühnenkostümen. Übertragung: Kostüme Die Darsteller tragen jeweils lose blaue Kostüme mit einheitlichem Grundschnitt, die sich voneinander lediglich durch kleine Zeichen bzw. durch die Hinzufügung einfacher Details wie eine rote Quaste, eine Cape, ein Monokel, ein weißes Taschentuch, eine Schürze, oder eine kurze Reitpeitsche unterscheiden. Sie stellen dabei bestimmte typisierte Charaktere dar, so z. B. den Bürgermeister, den Soldaten usw. Die Kostüme werden aus dem zu jener Zeit einzig verfügbaren Material – Sackleinwand – hergestellt. Insgesamt erinnern die Bühnenkostüme in ihrer Form an stilisierte Monteuranzüge, wie sie die damalige Arbeiter in gleicher Weise in den Fabriken tragen. Diese Kostüme des ‚Hahnrei’ wurden in verschiedenster Weise rezipiert und stoßen dabei auf recht unterschiedliche Standpunkte. Über die ‚Bühnenarbeitskleidung’ war Alexandra Exter z. B der Ansicht, dass der Schauspieler ‚produktionsmäßig keinerlei Bedarf an einem Kostüm, das wie Arbeitskleidung wirkt, oder an einer Schürze hat. Schließlich arbeitet er nicht und macht sich folglich auch nicht schmutzig; und wenn es überhaupt eine Arbeitskleidung für den Schauspieler geben sollte, dann wäre es ein Trikot’157. Der Regisseur Waleri Bebutow veröffentlichte einen Artikel, in dem er den Regisseur aufforderte, dem Schauspieler nicht Maske und Kostüm zu nehmen, denn das seien Werkzeuge und Produktionsmittel. Die Kostümbildnerin Ljubow Popowa158, die ebenfalls die Bühnenausstattung entwarf, verteidigte aber ihrerseits: 157 Chr. Hamon: Die bildenden Künstler und der Konstruktivismus im Theater, in: Ausst.Kat.: Die Maler und das Theater im 20. Jahrhundert. Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main 1986, S. 82. 158 Bevor sie als Kommunikations- und Textdesignerin zur Produktion von ‚nützlichen Dingen’ überging, entwarf Ljubow Popowa (1889-1924) eine Serie der ‚Figurenbilder’ (1919/1921) - geometrisch schematisierte menschliche Gestalten in zumeist heftig bewegten Posen: Tänzer, Musikanten, Sportler; stehende, sitzende, schreitende und laufende mechanoide Körper, die sich im Tanz, im Spiel, im Sprung, im Gespräch bewegen. Mit ihren auf Rechtecke, Dreiecke und Kreise reduzierten Körpergliedern 107 ‚Wir lösten uns von den ästhetischen Prinzipien der historischen, nationalen, psychologischen oder alltäglichen Kostüme. Wir wollten für diese besondere Aufgabe ein allgemeines Prinzip der Arbeitskleidung für Schauspieler finden, das seinen beruflichen Bedürfnissen unter einem zeitgenössischen Aspekt entsprach.’159 Bei Theaterkostümen gehe man im Sinne der Produktionskunst ebenso von der Überlegung aus, die ästhetische Reflexion ordne sich dem funktionalen Gesichtspunkt des Designs unter. Ähnlich wie der Bühnenaufbau seien die Kostüme eine für vorgegebene Handlungen streng nach rein nützlichen Kriterien erarbeitete Form von Hilfsmittel, so dass die Produktionsvoraussetzungen sowie die praktischen Bedürfnisse des Trägers beachtet werden müssen. Dabei formulieren sich Bühnenkostüme, zusammen mit dem Bühnenbild und Darsteller, zu einem in sich geschlossenen, vollkommen organisierten System, in dem jedes Element seine festgelegte Funktion zugewiesen bekommt. Diese Betonung des rein utilitaristischen Charakters der Bühnenkostüme konstruiert einen völlig neuen Stil, der mit den bisherigen Bildern von Kleid und Körper bricht: Ausgehend von den elementaren, geometrischen Formen des menschlichen Körpers unterstreichen Kleider in ihren einheitlichen Schnitten und Mustern die physischen Bewegungsabläufe der Träger und Trägerinnen. Sie weisen in erster Linie auf den Menschen im Produktionsprozess hin, der selber wiederum durch seine Tätigkeit mit dem Prozess verbunden ist. Dadurch wird der industrielle Arbeitsvorgang - hier durch die Kleidung - zu einem schöpferischen Prozess. Die Entblößung der Funktion eines Gegenstandes lässt den Körper hingegen zu einem Teil der inneren Organisation des Produktionsprozesses werden. Auf diese organisieren die Figuren die Bildfläche wie ein oranamentales Fries mit stark dekorativer und dynamischer Wirkung. In den Bildern kündigen sich schon jene Flächenmuster an, die von Popowa seit 1921 für die Kleidungsindustrie entwickelt werden. vgl. Dabrowski 1991. 159 Popowa umriss dort die Gestaltungsgrundsätze der Kostüme, bestimmt dabei drei elementare Grundprinzipien, die sie als äußerst wichtige Elemente des Kleiddesigns auf der Bühne begreift: das technische, das analytische und das weltanschauliche Prinzip. Diese drei Prinzipien entsprachen offenbar den konstruktivistischen Arbeitsbegriffen Tektonik, Faktur und Konstruktion. Der technische Aspekt umfasse das Materialstudium und die Produktionsart, der analytische Grundsatz zeige sich in der Untersuchung des Kostüms als formbares Objekt in seinen konstituierenden Elementen – der Konstruktion, der Linie, der volumetrischen und räumlichen Form, der Farbe, der Textur, des Rhythmus und der Bewegung. Der ideologische Aspekt schließlich bestehe darin, dass die Kostüme als materielle Elemente in Beziehung zu der gesamten Theaterproduktion, für unser Interesse, zu den biomechanischen Gesetzten zu sehen waren und damit als Produkt den utilitaristischen Prinzipien folgen. vgl. Rowell 1984. S. 326. 108 Weise fügen sich die Bühnenkostüme im ‚Hahnrei’ einerseits als funktionale Komponenten in den absoluten konstruktivistischen Mikrokosmos ein, auf der anderen Seite nähern sie sich den Prototypen einer Produktionskleidung der Massen. Die Kostüme werden als Objekte innerhalb des speziellen Kontextes des Theaters angesehen, das wiederum Auswirkungen auf die reale Umwelt haben sollte. Sie sind beispielsweise so ausgerichtet, dass die Schauspieler sie nicht nur auf der Bühne sondern auch in gleicher Weise im Alltag tragen können.160 Das Publikum selbst, direkt vom Arbeitsplatz in die Aufführung kommend, sollte sich in den Schauspielern wieder erkennen. Die Bühnenakteure und Publikum sind dadurch in ihrer äußeren Erscheinung einander angeglichen und somit identifizierbar in ihrer ‚professionellen Kluft’161. Dieser ‚Annäherungsversuch’ wird besonders in dem geschlechtsindifferenten Kleidentwurf deutlich. Popowa formuliert: ‚Ich suche jeden Unterschied zwischen Männer- und Frauenkleidung zu vermeiden; im Endeffekt wurden nur Hosen in Röcke oder Hosenröcke umgewandelt.’162 Die ‚Hosenröcke’, besser gesagt, Monteuranzüge der Schauspieler seien nur noch ein Zugeständnis an die Figuren bzw. an die Zuschauer. In der Vereinheitlichung des äußeren Erscheinungsbildes spielt das Geschlecht keine Rolle. Es ist von seinen individuellen Merkmalen entlassen und nur noch in klar definierte 160 Für die Konstruktivisten ist die Arbeitskleidung überhaupt das bevorzugte und eigentlich einzige tolerierbare Kleidungsstück, weil sie den menschlichen Körper vor allem als Werkzeug in einem allumfassenden Pruduktionsprozess sehen, dessen Funktionen vervielfacht und dessen Arbeitseffektivität optimiert werden soll. Eine Serienfertigung von Alltags- und Arbeitskleidern konnte jedoch wegen der so gut wie nicht existierenden Industrie für textile Erzeugnisse der damaligen Zeit nicht realisiert werden. Die gesamten Industrien waren unterentwickelt. Daher verlagerten die Künstler ihre Aktivitäten auf das Theater, um über das Bühnenkostüm ihre Ideen von neuer Kleidung zu einem Ort, an dem sie Versuche und Experimente durchführen, und ihre theoretischen Ziele dem Publikum vorstellen konnten. Ada Raev konstatiert in ihrem Artikel Varvara Stepanova. Konstruktivisten aus Überzeugung, dass ‚das Theater sich als eine Art Sprungbrett und Experimentierfeld [erwies], von dem aus der Schritt in die Dreidimensionalität und damit in die Lebensrealität vollzogen werden konnte, ohne dass gleich die theoretisch geforderte Bindung an die Industrie nötig gewesen wäre.’ vgl. Raev, in: Sykora/Dorgerloh/Noell-Rumpeltes/Raev (Hg.): Die neue Frau. Herausforderungen für die Bildmedien der Zwangziger Jahre, Marburg 1993, S. 78/ Hubertus Gaßner: Konstruktivisten. Die Moderne auf dem Weg in die Modernisierung, in: Ausst.Kat.: Die große Utopie. Die russische Avantgarde 1915-1932, Frankfurt am Main 1992, S. 109-149. 161 Dabrowski 1991, S. 41. 162 Dabrowski 1991, S. 160. 109 Funktionen aufgelöst bzw. auf seine Funktionalbeziehungen in Raum und Zeit konzentriert. Die Kleidungen lösen sich in der trennenden Divergenz zwischen Mann und Frau auf, während der Körper die geschlechtliche, damit ‚natürlichorganischen’ Polaritäten aufgibt.163 Erhebung in Egalitärisierung Dabei sind die Figuren in Der großmütige Hahnrei weder geschlechtslos, noch vereinen sie beide Geschlechter. Im Gegenteil: Das Thema Geschlecht scheint sowohl bei dem Theaterstück als auch der Inszenierung eine große Rolle zu spielen. Die Liebeseifersucht, Sexualtrieb der beiden Geschlechter sowie deren Schmerzen und Tragödien sind im Text als charakteristische Bedingtheit der menschlichen Affekte abgebildet. Um den Menschen von seinen Unzulänglichkeiten der Geschlechter, bzw. seinen seelischen Qualen und leiblichen Leiden zu erlösen und ein freieres Verhältnis der menschlichen Beziehung zu experimentieren und zu ausprobieren, ist das Auswahl des Stückes für den Regisseur entscheidend. Das Geschlecht lässt dennoch Meyerholds Inszenierung unbestimmt. Das biologische Geschlecht ist hier nur ein Aspekt unter vielen, in der die ästhetische Vision von den Kleinlichkeiten der Geschlechterrollenidentität befreit wird und sich folgerichtig der Raum für ein, zwei oder viele Geschlechter öffnen kann. Das Geschlecht ist von Meyerhold als Kategorie eingesetzt, in das jede eingeordnet werden kann. Diese Metapher vom geschlechtsneutralen Körper, die hier anklingt, weist zum einen die Maschine als Kunstprinzip der Konstruktivisten aus, zum anderen expliziert sie das wesentliche Charakter163 In die konstruktivistischen Einheitskleidung floss damit die ‚Imagination von der Utopie egalitärer Geschlechtsverhältnisse’ mit ein. Der Kunsthistoriker Andreas Haus, der sich mit dem Frauenbild in der russischen Avantgarde auseinandersetzte, zeigt in seinem Artikel am Beispiel eines Plakates von EL Lissitzky von 1929 auf, dass der Künstler von einem ‚einheitlichen, geschlechtssolidarisch zusammengewachsenen Wesen’ ausging. Haus Formuliert: ‚Beide [Mann und Frau] sind gleichermaßen an der Produktion, am Aufbau, an der Konstruktion der neuen Gesellschaft beteiligt. Rollenunterschiede sind nicht mehr vorhanden. Die tiefe Kluft zwischen den menschlichen Wesen beiderlei Geschlechts, [...] ist behoben, die Heimat der Seeelen, die schon Platon beschrieben hat: die Sehnsucht der männlichen und der weiblichen Hälfte des Menschen, wieder zusammenzuwachsen, scheint gefunden, die menschliche Natur mit sich selbst versöhnt und wieder in sich selbst beheimatet.’ Diese von Haus in Bezug auf die ‚utopische Geschlechts-Indifferenz der neuen Gesellschaft’ beschriebene Intention El Lissitzky’s könnte schon im Kern in den Kleidmodellen von Popowa enthalten sein. vgl. Andreas Haus: Mütterchen Russland und Proletarier aller Länder. Transformation des Frauenbildes in der russischen Kunstmoderne, in: kritische berichte 4/1992, S. 38.; Schmidt-Linsenhoff: Die Ikonographie der Gleichheit und die Künstlerinnen der russischen Avantgarde, in: Kritische Berichte 4/1992, S.18. 110 istikum der Theaterarbeit Meyerholds nach der Revolution, damit der neuen gesellschaftlichen Realität und der neuen sozialen Ordnung. Seine Ansicht, dass der Preis der Vereinigung, damit der Egalitarisierung auf der Bühne nur über den Antiindividualismus zu erreichen sei, ist dem Verständnis der Maschine entlehnt. Sie ist aus einzelnen Teilen zusammengesetzt, auf diese Weise gleich demontierbar. Die einzelnen Teile fügen sich zu einem Ganzen wieder zusammen. Die Gesamtheit hat somit Priorität vor dem Einzelnen, so dass der anonyme Teil zur Erzeugung eines homogenen Kollektives beiträgt. Dieses ‚überindividuelle’ Ordnungsdenken mit Hilfe der Maschinen, jede Idee der Subordination, wird in der aufkeimenden sozialistischen Kultur der 20er Jahre als fortschrittlich und humangemäß begriffen. Das Axiom geht mit der Utopie der Naturbeherrschung einher. Wenn die Natur mittels der Maschinisierung durch die Menschen beherrscht werden könnte, wie es Trotzki formuliert, so würde gleichfalls der natürliche Körper des Menschen durch die Produktionsästhetik und Maschinenkunst beherrscht sein. Ein Grundgedanke, der in der Kontinuität der frühen Utopisten steht, die in der Unterordnung des Einzelnen unter die Gesamtheit die beinahe einzige Möglichkeit für die Schaffung einer harmonischen Gesellschaft sahen: Indem er als Einzelner sich dem Ganzen unterordne, befreie sich der Mensch aus der vorangegangenen Isolierung von Natur und sozialer Gemeinschaft. Damit ist die Vorstellung vom Menschen als Maschinenwesen im prometheischen Denken der revolutionären Intelligenzija verwurzelt, welche in sich die widerstreitenden und doch miteinander verbundenen Tendenzen der russischen Kultur und des russischen Denkens zusammenfasst. Sie hat folgendes im Sinn: keineswegs Anpassung an das industrielle Zeitalter, sondern Überbrückung der bürgerlichen Trennung von Maschinen als Berechnung. Der Umbau des Menschen in seiner Psyche und sinnlichen Wahrnehmung, Sprache und Habitus, sowie seiner Bewegung und von Gewohnheiten geprägten Alltagsleben in all seinen Aspekten ist ihr Ausgang. Sie hat daher mit den Automatenmechanikern des 18. Jahrhunderts eines gemeinsam: Den Menschen auf künstliche Weise neu zu erschaffen, auch wenn diese Neuschöpfung keine rein technische Konstruktion ist, sondern aus der psychophysischen Umformung des vorhandenen ‚Menschenmaterials’ nach technoiden Parametern erfolgen sollte. 111 Es wird zusammengefasst: Der großmütige Hahnrei irritierte die Zeitgenossen durch seine auf Automaten reduzierten Bühnenfiguren. Die Schauspielmarionetten erzeugten im Rezipienten eine Grundemotion des grotesken Schauders, hervorgerufen durch die Zweiheit von lebendem Menschen und toter Maschinerie auf der Bühne. Meyerhold erreichte damit eine Irritation konventionalisierter Wahrnehmungseinstellungen, indem er mit seiner schematisierten Darstellung der nüchtern fortschreitenden Technisierung aller Lebensbereiche in den zwanziger Jahren einen angemessenen Ausdruck zu verleihen sucht. Im Theater sollte der letzte Rest von Lebenswahrscheinlichkeit beseitigt werden und die ‚konventionelle Unwahrscheinlichkeit’ der Theatergroteske erreicht werden. Seine SchauspielAutomaten stellten dabei Träger einer alten und einer neuen Ordnung dar. Da sie ‚das Gesetz der Welt’ als ‚Änderung der Welt’ bereits in sich tragen, werden sie einem entpersönlichenden Abstraktionsprozess untergeordnet, der dem Ausdruck des revolutionären Kollektivs entsprechen sollte. Diese Darstellungsweise lag vor allem darin, dass die Figuren in Arbeitsanzügen nicht nur utopische Dimensionen verkörpern, sondern zugleich von Persönlichkeitsverlust gezeichnetes, ausgebeutetes ‚Menschenmaterial’ sind. Diese gespensterartige Wirkung der blauen Arbeitskleidung wurde ebenso in den schwarzen Bühnengerüsten wiederaufgenommen. So vermischte sich die Verkörperung einer unterdrückten Natur mit der schemenhaften Darstellung der Utopie einer ‚geschlechtslosen Gesellschaft’. Die Bewertung der durchtechnisierten Welt hing von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, unter denen die ‚Arbeitsmänner’ leben. Indem Meyerhold diese Darstellung in ein programmatisches Orientierungssystem einband, abstrahierte er sie auf ‚kollektive Verständigungszeichen’: Die Utopie von einer idealen, kollektiven Gemeinschaft. 112 3. Der Weg zum Stil über die Puppe - ‚Das Triadische Ballett’ von Oskar Schlemmer ‚Zwei die Bühnenhöhe einnehmende Monumentalgestalten, Personifikationen pathetischer Begriffe wie Kraft und Mut, Wahrheit und Schönheit, Gesetze und Freiheit. Ihr Dialog: die durch Schalltrichter proportional der Figurengröße verstärkten Stimme, ein Auf und Ab der Rede, gegebenenfalls der Figuren orchestral unterstützt. Die Gestalten - auf Rollwagen schiebbar sind reliefplastisch gedacht: Stoffröcke, die beim Auftritt schleppend nachziehen; cachierte Metallmasken und - leiber, die Arme beweglich zu sparsamen gewichtigen Gesten. Dazu konstrastierend und Maß gebend - der natürliche Mensch mit natürlicher Stimme, in den drei Zonen der Bühnenausdehnung sich bewegend, die Dimensionen stimmlich und bewegungsmäßig fixierend.’164 So beschreibt Oskar Schlemmer seine beiden Puppengestalten aus einer Werkzeichnung im Jahr 1923, die den Titel Die beiden Pathetiker trägt. [Abb. 20] Schlemmers Erläuterung zu den Figuren befremdet den Leser insofern, das er diese als Bühnenfiguren identifiziert. Obgleich sie keinerlei individualisierenden Merkmale oder psychologische Erkundung, mimische Gegenwärtigkeit oder auch nur Hinweise zeigen, vermag der Zeichner sie als Bühnenakteure zu bestimmen. Während der Betrachter an den Kunstfiguren die bloße Ähnlichkeitsrelation mit einer humanen Physiognomie zugunsten eines Formgebildes wahrnimmt, sieht Schlemmer darin, konfrontiert mit ‚natürlichen’ Menschengestalten, die hier im Vergleich zu den monumentalen Figuren zwergenhaft klein erscheinen, die Anwesenheit von etwas Unbekanntem, das gleichwohl nicht präsent ist. Die Puppe, Marionette, mithin Kunstfiguren tauchen im gesamten Oeuvre Oskar Schlemmers auf; von den ersten Anfängen der Malerei an der Stuttgarter Akademie, wo der Künstler eine Schneiderbüste und eine kopflose Gliederpuppe in seinem Atelierbild darstellte 165 [Abb. 21], bis zu dem Bemühen um einen 164 Oskar Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, in: Hans M. Wingler (Hg.): Die Bühne im Bauhaus (Oskar Schlemmer. Laszlo Moholy-Nagy. Farkas Molnar) Nachwort von Walter Gropius (3. Aufl.), Mainz und Berlin 1985, S. 22. 165 Das Bild ‚Kopflose, Atelier mit Gliederpuppe’ stammt aus dem Jahre 1909 (Öl auf Pappe; 48.3 x 29.5 cm). Mitten im Bild scheint ein weiblicher Akt zu sein, der jedoch durch das Fehlen des Kopfes fast wie eine Puppe wirkt. Neben dem Akt steht eine Kleiderpuppe. Sie wendet sich, den Akt nachahmend, zu dem Fenster links. Das Gemälde zeichnet sich besonders durch eine geglätterte, objektivierende Malweise aus; die 113 malerischen Stil Ende der zwanziger Jahre steht Schlemmers Entwurf eines neuen Menschenbildes stets im Zeichen des künstlichen Menschen. Die puppenähnlichen Figuren erweisen sich dort als Integrationspunkte seines vielgestaltigen, auf den menschlichen Körper konzentrierten künstlerischen Schaffens. Schlemmers Hang zur Puppe erreicht aber erstmals durch seine Bühneninszenierung Das Triadische Ballett ihr Optimum, in der seine gesamte Idee verwirklicht werden sollte. 3. 1. Tanz der Puppen oder die Verpuppung der Figuren Die Aufführung: Rezensionen Das Ballett, uraufgeführt am 30. September 1922, besteht aus insgesamt 12 Tanzszenen, in denen die drei Akteure wechselweise einzeln oder zu Paaren auf der Bühne agieren, deren Auftritte wiederum auf die drei übergeordneten ‚Reihen’ aufgeteilt sind; Gelb, Rosa und Schwarz. 166 Die Tanzoper folgt dabei nicht logischen Handlungssträngen, erzählt keine Geschichte. Der Inhalt ist lediglich ‚reine Lust am Fabulieren […], ein Fest in Form und Farbe’167. Es ist demzufolge eine Aufeinanderreihung elementarer Grundformen wie Gerade, Diagonale, Kreis, Ellipse etc. Über den Verlauf und die Resonanz der Aufführung gibt Schlemmer einen ausführlichen Bericht an seine Freunde: ‚es war - man kann sagen - ein Erfolg. […] Die Urteile sind zum Teil von Bauhäuslern, deren über zwanzig gekommen waren (einschließlich Gropius) und sich, wie sie sagten, wie Sieger fühlten, dem Ganzen gegenüber. Es war eine Begeisterung […].’168 Der ‚Erfolg’ seines Balletts verdankt er aber offenbar den Tänzern. Ein Zeitungsartikel berichtet über die Leistung der Akteure: ‚es gehört schon Bildfiguren werden durch harte und präzise Konturen begrenzt und in die Fläche bzw. den geometrisch definierten Bildraum gebannt. Das Gemälde erscheint bewusst artifiziell und stilisierend. vgl. Karin von Maur: Oskar Schlemmer, München 1982, S. 43. 166 Das Programmheft zu Uraufführung gibt detailliert Auskunft über die Abfolge der Tänze, die Verteilung der Kostüme, die Musik, die teils von einem Orchester, teils von einem Pianisten gespielt wird. vgl. Programm der Uraufführung des Triadischen Balletts, in: Dirk Scheper: Oskar Schlemmer. Das Triadische Ballett und die Baushausbühne, Berlin 1988, S. 52-53. 167 Das Stuttgarter Neue Tageblatt (29. September 1922), zit. nach: Scheper 1988, S. 33. 168 Schlemmer: Brief an O. M. [Otto Meyer-Amden], 25.Okober 1922, in: ders.: Briefe und Tagebücher, Tut Schlemmer (Hg.), München 1958, S. 136-137. 114 Selbstentäußerung und nicht geringes Können dazu, um so wie unser bekanntes Tänzerpaar Marionette zu werden […] Die Glieder wie losgelöst, frei.’169 Darin wurde also nicht der körperliche Ausdruck als tänzerische Leistung der Akteure gepriesen, sondern ihre marionettenhafte Darbietung, welche durch eine Beobachtung eines anderen Zeitgenossen bestätigt wird. Dieser schreibt in Bezug auf den Körper der Tänzer: ‚Der menschliche Körper [der Tänzer] ist nicht mehr Instrument individuellen Ausdrucks, sondern Beauftragter des Typischen. Die Bewegung dient nicht Stimmungskomplexen und pantomimischen Assoziationen, sondern formaler Spannung. So steht hier überall Gesetzmäßigkeit gegen Improvisation. Präzis Festgelegtes gegen die Überraschungen des momentanen Einfalls. Persönliches wird aufgehoben, mediatisiert durch die Mechanisierung […] nicht stumpf und steril, sondern überall durchleuchtet vom Geist der Form.’170 Diese entpersönlichte Bewegung auf der Bühne sei aber offenbar durch das Bühnenkostüm erreicht worden [Abb. 22], erfährt man von einem andern Zeitungsbericht: ‚Das Kostüm des Tänzers war bisher mehr oder minder nur dekorative Zutat: Schlemmer gibt ihm gleichsam konstruktive Bedeutung […] seine einzige Funktion ist die Ermöglichung, ja Erzwingung eines bestimmten Tanzes. Schlemmer hat das fließende, ständig die Form wechselnde Gewand beseitigt und meist durch starre Hüllen aus Papiermasse ersetzt […] Diese Hüllen wandeln nur ihre Lage zu den bewegten Gliedern, ihre Stellung im Raum, zu dem sie stets in klarer, eindeutiger Beziehung stehen […].’171 Gerade dieser kostümierte Körper als ‚Träger von formaler Spannung’ soll jedoch nicht alle Zeitgenossen begeistert haben. Als Exponent der Gegenposition erklärt ein anderer Zuschauer, der das Ballett von Schlemmer als formalistische Spielerei ablehnt: ‚Die exakt funktionierende Konstruktion triumphiert oder möchte triumphieren. Kann jedoch nicht über den Menschenkörper und seine organischen Bedingnisse hinaus. Es gibt für ihn eine Grenze des künstlichen Verhaltens. Die erweitert Schlemmer (scheinbar) 169 Schwäbische Mercur vom 2. Oktober 1922, zit. nach: Scheper1988, S. 54. 170 ebd., S. 55. 171 ebd. 115 durch mechanischer Behilf […] Es gibt einen aparten Augenschmaus, dieses Bewegungsspiel absonderlicher Figurinen in den rhythmischen Kurven einer schwerelosen Musik […] Zu Gunsten einer Schaubild-Idee ist die Bewegungsmöglichkeit des menschlichen Körpers unterbunden und verkümmert.’172 Für diejenigen, welche den Tanz als einen durch den lebendigen Körper unmittelbar übertragenen Ausdruck individueller seelischer Regungen definieren, scheint Schlemmers mechanisch abstrakte Choreographie ziemlich fremd gewesen zu sein. So bezeichnet der Tanzkritiker John Schikowski in seiner 1926 erschienen Geschichte des Tanzes das Ballett vom Stuttgarter Theater als Versuch, ‚den abstrakten Stil der rhythmischen Körperbewegungen bis zu seinen letzten denkbaren Konsequenzen durchzuführen’, und folgert daraus: ‚Auf diese Weise wurde freilich jede Spur von akrobatischen, sinnlich-dekorativen und naturalistisch-pantomimischen Elementen aus dem Tanz getilgt. Zugleich aber verzichtete dieser extremste Tanzstil auch auf ein Fülle künstlerisch wertvoller Ausdrucksmöglichkeiten, die nur der bewegte menschliche Körper mit seinen wechselnden Konturen, den An- und Abschwellungen seiner Muskeln, dem Spiel seiner Gedanken besitzt.’173 Trotz dieser unterschiedlichen Resonanzen bleibt festzuhalten: 1. Die Tänzer im Triadischen Ballett bewegen sich auf der Bühne marionettenhaft, sie sind noch wahrnehmbar, allerdings nicht in ihrer Individualität, sondern unpersönlich als ein zum Wesenhaften abstrahierter Typus. 2. Die Figuren des Balletts sind Ganzmasken, das heißt, sie tragen teilweise eine Gesichtsmaske, sind aber allesamt durch ihre Kostüme ‚kaschiert’. Ihre einzelnen Glieder sind dementsprechend bewegungsmäßig behindert, da ihre Tanzschritte der plastischabstrakten Formung ihrer Kostüme folgen. 3. Die Bühnenfiguren sind darum nicht nur Träger von plastischen Kostümen, sondern auch selbst bewegte Plastiken. ‚Triadisches Ballett’ und die Bauhausbühne Schlemmers Beschäftigung mit seinem ‚Puppentanz’ geht bereits zurück auf das Jahr 1912. Am 30. November 1912 teilte er diese erste Idee seinem Freund Otto Meyer-Amden in einem Brief mit. 174 Der dort niedergeschriebene 172 ebd., S. 55-56. 173 John Schikowski: Geschichte des Tanzes, Berlin 1926, S. 148. 174 Schlemmer, zit. nach: Scheper 1988, S. 18-19. 116 Handlungsentwurf konzentrierte sich auf ‚die Entwicklung vom alten zum neuen Tanz’, worin er auch ein zusammen mit dem Tänzerpaar Albert Burger und Elsa Hötzel entwickeltes Tanzprojekt andeutete. Schlemmer plante nämlich bereits mit ihnen ein Tanzstück, bei dem zwei Liebende ins Zentrum rücken, die von einem Dämon gejagt werden, wobei die Liebenden rhythmisch zur Erlösung geführt werden sollten. Er selbst fügte diesem inhaltlichen Plan noch eine Farbund Formsymbolik hinzu, die sowohl vom Entwurf eines abstrakten Theaters Kandinskys Der Gelbe Klang als auch von der synästhetischen Farboper Prometheus Aleksander Skrjabins inspiriert wurde. 175 Dadurch nahmen Schlemmers erste Pläne bereits die Tendenz zur Abstraktion an, welche jedoch vorerst nicht weitergeführt und erst nach dem Weltkrieg im Jahr 1919 vorangetrieben werden konnten. Schlemmer verließ die Stuttgarter Akademie und zog sich mit den Burgers nach Cannstatt zurück, baute mit seinem Bruder Carl ab 1920 die Dekoration, wählte die Musik aus und entwickelte anhand der Kostüme und der Musik die Tanzbewegungen.176 Am 20. September 1922 wurde das Stück im Württembergischen Landestheater uraufgeführt. Von den ursprünglichen Plänen des Jahres 1912 blieben in der endgültigen Fassung nur noch die Dreizahl der Tänzer, die Dreiheit von Tanz, Farbe und Klang und die Dreiheit der Stufen des ehemaligen Themas erhalten.177 175 Der Gelbe Klang erschien 1912 erstmals im Almnach ‚Der Blaue Reiter’. Das Stück enthält kaum Dialoge, hingegen ausführliche Szenenanweisungen. Es folgt keiner narrativen Handlung und besteht nur noch aus einer Reihung von bewegten Bildern. Die Farben sind die eigentlichen Protagonisten des Stückes, und die szenischen Gegenüberstellungen und Auseinandersetzungen sind der Versuch, eine Kandinskys Farbtheorie räumlich-dynamisch zu gestalten und zu choreographieren. Auch Skrjabin träumte davon, farbiges Licht und Musik in den Zusammenhang einer gemeinsamen Ausdrucksform zu bringen. Dies führte zu seiner Prometheus-Symphonie (UA 1915 in der New Yorker Carnegie Hall). vgl. Richard Sheppard: Kandinsky’s Abstract Drama ‚Der Gelbe Klang’, An Interpretation, in: Forum for Modern Language Studies. 11, 1975, S. 165-176. 176 In der Entwicklung des Triadischen Balletts folgt nach dem Herstellen der Kostüme und der Auswahl der Musik die Fixierung der Schritte, Gesten und Bewegungen, die aber wieder selbst vom Kostüm bestimmt sind. Die genaue Fixierung der Weglinien der Tänzer, von Schlemmer als ‚Bodengeometrie’ bezeichnete, steht in Analogie zur Kostümform. Beispielsweise stellt die Bodengeometrie des sog. ‚Spiralenkostüms’, das das zweite Kostüm der ‚Schwarzen Reihe’ ist, analog hierzu ebenfalls eine sich auf dem Boden abzeichnende Spirale dar. 177 Nach der Uraufführung kommt es zum Streit zwischen den Burgers und Schlemmer. Die Kostüme werden per Gerichtsverfahren aufgeteilt. Zu Lebzeiten Schlemmers kommt das Triadische Ballett nur noch zweimal vollständig - 1923 in Weimar und 1932 beim Tanzfestival in Paris - zur Aufführung. Desweiteren finden die Kostüme 1926 bei der Grossen Frankfurter Brückenrevue sowie bei einer Revue im Metropoltheater in Berlin Verwendung. Einzelne Tänze werden 1927 auf der Dessauer Bühne gezeigt. 117 Schlemmers Das Triadische Ballett entstand also unabhängig von der Bauhausbühne, wurde jedoch allgemein als ein Synonym für deren Theaterarbeit betrachtet. Dies lässt sich nicht nur damit begründen, dass er die hier gesammelten Erfahrungen in seiner Bühnenwerkstatt im Bauhaus konsequent weiter entwickelt, sowie diese Arbeit den Grundelementen und Voraussetzungen seines Theaters gewidmet hat. Es schließt apart auch damit zusammen, dass Schlemmers Bühnenfigurenkonzept eng mit der Idee der Bühnenwerkstatt des Bauhauses verknüpft war. Das Leitfaden des ‚Stattlichen Bauhaus in Weimar’, errichtet im Jahr 1919 aus dem Zusammenschluss zwischen der Großherzoglich Sächsische Kunstgewerbeschule und der Großherzoglich Sächsische Hochschule für bildende Kunst, war die Zusammenführung aller Künste unter dem Leitbild des Bauwerks sowie die Rückkehr zum Handwerk, wobei ‚das Einheitskunstwerk - der große Bau -, in dem es keine Grenze gibt zwischen monumentaler und angewandter Kunst’178, angestrebt wurde. Das Erlernen eines Handwerks wurde aufgrund der Annahme, wahre Kunst könne nur daraus entstehen, als unbedingt erforderlich erachtet. Das 1923 von Walter Gropius, dem Gründer und ersten Direktor des Bauhaus, formulierte Motto fasst diese Konzeption summarisch als ‚eine neue Synthese von Kunst und Technik’ 179 zusammen. In diesem Zusammenhang konstituierte sich die Bauhausbühne im Jahr 1921, deren Theaterarbeit in erster Linie in architektonischer Hinsicht stattfand: Gropius begründete die Errichtung der Bühne am Bauhaus durch die inneren Affinitäten zwischen Bau und Theater und stellte folgende Richtlinien heraus: ‚Klare Neufassung des verzwickten Gesamtproblems der Bühne und ihrer Herleitung von dem Urgrund ihrer Entstehung bildet den Ausgangspunkt unserer Bühnenarbeit. Wir erforschen die einzelnen Probleme des Raumes, des Körpers, der Bewegung, der Form, des Lichtes, der Farbe und des Tones. Wir bilden die Bewegung des organischen und des mechanischen Körpers, den Sprachton und den Musikton und bauen den Bühnenraum und die Bühnenfiguren. Die bewußte Anwendung der Gesetze der Mechanik, der Optik und der Akustik ist entscheidend für unsere Bühnengestalt.’180 178 Walter Gropius: Programm des Staatlichen Bauhaus Weimar, in: Hans M. Wingler (Hg.): Das Bauhaus 1919-1933, Weimar/ Dessau/ Berlin 1962, S. 40. 179 Walter Gropius: Die Aufgaben der Bühne im Bauhaus, in: Wingler 1985, S. 87. 180 Walter Gropius: Die Bauhausbühne - Erste Mitteilung - Dezember 1922, zit. nach: Scheper 1988, S. 65. 118 Damit wurden die wichtigsten Aufgaben der Theaterarbeit am Bauhaus angesprochen: Das Verhältnis von Figur und Raum, die Synthese von Farbe, Licht, Musik, Klang, Raum, Figur und Bewegung, die Erforschung der geometrisch-mathematischen Gesetze des Bühnenraumes und nicht zuletzt das Wesen der Körpermechanik. Dabei war die Bauhausbühne eine Art ‚Theaterlabor’ in Sachen Tanz, Theater und Bühne, in dem bei ständig wechselnder Besetzung szenische Grundlagenforschung betrieben wurde.181 Als Schlemmer 1925 zum Bühnenwerkstattleiter berufen wurde, stand die Theaterarbeit am Bauhaus noch ganz im Zeichen des bühnenmäßigen Expressionismus.182 Gedanklich beruhte seine Theaterkonzeption zwar ebenfalls auf dem expressionistischen Ideengut: Mit den zentralen Begriffen der ‚Abstraktion’ und der ‚Metaphysik’ sind durchaus auch Übereinstimmungen in der Theaterkonzeption der beiden Bühnenleiter, sowohl für Lothar Schreyer, den ersten Leiter der Bauhausbühne, als auch für Schlemmer gegeben. Im Vergleich zu Schreyer ‚bleibt aber in Schlemmers tänzerischen Pantomimen und Sketchen stets Platz für den Scherz, für das Komödiantische und vor allem für das bildnerische Experiment’ 183 . Unter der Leitung Schlemmers setzt sich die Bauhausbühne nun zum Ziel, die Problematik der Bühnengestaltung umfassend anzugehen. Es sollten keine begabten Bühnenbildner ausgebildet werden, 181 vgl. Jochen Krüger: Die Bühne als Laboratorium. Bemerkungen zu Oskar Schlemmers Bauhaustänzen, in: tanzdrama 4. 1988, S. 7. 182 Lothar Schreyer (1886-1966)‚ der Leiter der Bühnenwerkstatt, war in erster Linie Maler und Dichter, dessen kultischen ‚expressionistischen Wortkunstwerke’ am Bauhaus zunehmend auf Kritik stieß. Für ihn hat das Theater religiöse bzw. ethische Bedeutung. Das Ziel eines Bühnenkunstwerks ist seiner Ansicht nach nichts Geringeres als die Erschaffung eines Ortes der Reinigung und Erlösung des Menschen. Das Wort ist dabei das Bühnenelement, dem Schreyer die größte Bedeutung beimisst. Das Mondspiel, seine erste und einzige Inszenierung für die Bauhausbühne, ist ein kurzes Maskenspiel, welches in der Druckfassung des Sturms aus 364 Versen besteht. Eine inhaltliche Logik oder eine auf ein Spiel zu beziehende Intentionalität sind nicht erkennbar. Auch eine dramatische Handlung findet nicht statt: Zwei Spieler verbergen sich hinter zwei an der Rückseite geöffneten, halbplastischen und bemalten Ganzmasken aus Pappmaché und Gips. Die überlebensgroße Figur der ‚Maria im Mond’, der Mittelpunkt des Spiels, ist während der gesamten Spieldauer völlig unbewegt, die bedeutend kleinere Figur des ‚Tänzers mit dem Tanzschild’, eine aus verstärkter Pappe bestehende, mit dem ‚Mondauge’ bemalte ovale ‚Ganzmasken’ hockt zu Füßen der ‚Maria’ und wird von Zeit und zu Zeit durch ‚Drehen um den Mittelpunkt und Heben und Senken in der Vertikalen’, Hin- und Herbewegen in der Horizontalen, Kreisen lassen oder sanftes Schwenken bewegt. Die Figur ‚Maria’ weist im Gegensatz zum ‚Tanzschild’ trotz geometrischer Abstraktion noch vage Grundformen des menschlichen Körpers auf. vgl. Scheper 1988, S. 69 183 Wingler 1974, 32. 119 sondern innovativ arbeitende, allseitig interessierte Theatermacher. Im Studienplan der Bühnenabteilung heißt es dazu: ‚sie [die Aufgaben] beziehen sich vor allem auf die bühnenelemente der form, der farbe, der raumes und der bewegung. […] im weiteren auch auf sprache und ton: ferner auf theatralische idee und komposition. alle diese gebiete sollen in ihren elementaren formen und erscheinungsarten erforscht, erprobt und angewandt werden mit dem ziel, zu einer neuen bühnengemäßen darstellungsweise zu gelangen.’184 Der Unterricht konzentriert sich folglich auf die handwerkliche und theoretische Erforschung vor allem der nonverbalen Mittel des Theaters. Damit wendet sich der Bühnewerkstattleiter entschieden gegen eine Hierarchisierung der Ausdrucksmittel, die seiner Ansicht nach in der herkömmlichen Bühnenkunst, im Schauspiel oder in der Oper, der Literatur bzw. Musik existiert. Das Theater am Bauhaus soll das Gegenteil anstreben: Eine Unabhängigkeit der Ausdrucksmittel, bzw. die präzise, gesetzmäßige Zusammenführung und Synthetisierung der einzelnen Bühnenelemente. Den entscheidenden Impuls für die Erneuerung des Theaters erhofft sich Schlemmer von den stummen Formen, bzw. dem Tanz, dessen praktische Umsetzung in den Bauhausfesten erfolgt.185 So wie die Avantgardekünstler seiner Zeit ist Schlemmer Gegner des bürgerlichen Theaters, wo das ‚Dichterwort’ als bedeutendste Ausdrucksmöglichkeit erkannt wurde. Dort nehme der Schauspieler die Funktion des Vermittlers der Literatur oder Dichters des Textes ein, wobei der Letztere heutzutage ‚der Edeltyp ist’.186 Doch wenn ‚das Wort verstummt, wo allein der Körper spricht und dessen Spiel zur Schau getragen wird’ 187 , also der Schauspieler seine Existenz nicht mehr auf das Wort des Dichters gründet, verschwinde diese Funktion. Schlemmer interessiert der Schauspieler damit als dynamische Figur: 184 Schlemmer: Bauhaus, zit. nach: Andreas Bossmann: Theaterreform-Lebensreform, in: Ausst.Kat.: oskar schlemmer tanz theater bühne, Stuttgart 1994, S. 25. 185 In einem Gespräch erinnert sich der ehemaliger Schüler Albert Mentzel; ‚ich muß das Schlemmer-Theater immer wieder in Verbindung setzen mit den Bauhausfesten [...] die Festvorbereitungen dauerten 14 Tage, da wurde viel gearbeitet, und das alles, glaube ich, gehörte ein bißchen zu den Schlemmerschen Initiativen’. vgl. Albert Mentzel Floch im Gespräch mit C. Raman Schlemmer, in: Ausst.Kat.: Düsseldorf, S. 66. 186 vgl. Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 10. 187 ebd. 120 ‚Vom Standpunkt des Materials aus gesehen, hat der Schauspieler den Vorzug der Unmittelbarkeit und Unabhängigkeit. Sein Material ist er selbst; sein Körper, seine Stimme, Geste, Bewegung.’188 In dem menschlichen Körper bzw. in Stimme, Geste, Bewegung sieht Schlemmer die entscheidende Möglichkeit der Erneuerung des Theaters. Dieses Interesse an den Bewegungsgesetzen des menschlichen Körpers führt ihn bald zum Tanz: Nach seiner Ansicht kann gerade diese Kunstform ohne Worte ‚seiner Herkunft nach dionysisch und ganz Gefühl, apollinisch-streng in seiner endlichen Gestalt, Sinnbild des Ausgleichs von Polaritäten’ 189 zwischen Organik und Mechanik, zwischen Natur und Geist, zum Ausgleich führen, denn ‚ in dem schweigsamen Bühnentanz, dieser unverbindlichen Muse, die nichts sagt und alles nur bedeutet, Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten liegen, wie sie in solcher Reinheit Oper und Schauspiel nicht gestatten’, und weil der theatralische Tanz, einst die Urform für Oper und Schauspiel, zufolge seiner Freiheit und Bindungen prädestiniert ist, immer wieder zu Keimzelle und Ausgangspunkt für eine allgemeine theatralische Wiederkunft zu werden.’190. Für den Schauspieler bedeutet dies: ‚als Tänzer ist er frei und der Gesetzgeber seiner selbst.’191 Während der Bauhausfestwochen werden in der Folge Formen-, Gesten- und Kulissentänze aufgeführt. [Abb. 23] Schlemmer, welcher mit der Übernahme der Bühnenwerkstatt der bestehenden Aufgabe distanziert entgegnete, sah in den Bauhaus-Tanzstücken seine bisherigen, unabhängig vom Bauhaus durchgeführten Theaterarbeiten bestätigt. Gemäß der utopischen Idee einer Synthese von Kunst und Technik wird innerhalb des Programms ebenfalls die mechanische Bühne ausprobiert. Schlemmers erste Arbeit, die im Rahmen dieser Bauhausbühne entstand, sollte sein Theaterkonzept visualisieren: Das Figurale Kabinett. Das ‚Kabinett’ besteht aus einem ca. 4 Meter hohen und 5 Meter breiten schwarzen Bühnenraum von relativ geringer Tiefe. Zwischen den 3 Meter hohen Seitenteilen sind Drähte befestigt, an die diverse mechanisch hin- und herbewegte reliefmäßig aneinandergereihte abstrakte Figuren in bunten und 188 ebd. 189 Schlemmer: Tagebuch, September 1922, S. 135. 190 Schlemmer: Tagebuch, 5. Juli 1926, S. 202. 191 Schlemmer: Tagebuch, September 1922, S. 135. 121 metallischen Farben gehängt sind. Das sind die Ganz-, Halb- und auch Viertelfiguren, die eine Viertelstunde lang gehen, stehen, schweben, rutschen, rollen und tollen. [Abb. 24] Am rechten Kulissenteil ist ein Band angebracht, welches mit Zeichen und Aufschriften bemalt ist und eine Art filmischer Einblendungen zu adaptieren scheint. Dieses ‚Triebrad’, womit die Apparatur in Gang gesetzt wird, bedient der das Spiel leitende ‚Magister’, begleitet von Lichteffekten und Geräuschen. 192 Das Stück wird in fragmentarischer Form anlässlich der Bauhaus-Fassnacht im Jahr 1922 uraufgeführt. Schlemmer selber beschreibt es wie folgt: ‚Es sind […] Spiele zu denken, deren Geschehen lediglich in der Bewegung von Formen, Farben und Licht besteht. Geschieht die Bewegung auf mechanische Weise, unter gänzlicher Ausschaltung des Menschen, so erfordert dies eine technische Einrichtung gleich dem Präzisionswerk eines grandiosen Automaten.’193 Gedacht als eine Art Zerrbild des Maschinenkultes der zeitgenössischen Vorwärtsbewegung und die sich auch am Bauhaus abzeichnenden Tendenzen zur Verherrlichung des Mechanischen, Konstruktiven und Funktionalen sollte das Stück ein ‚mechanisches Kabarett’ 194 aufstellen, in dem der hohe Stellenwert, welcher der Technik zugewiesen wird, die Beschäftigung mit dem Aspekt des Mechanischen an der Bauhausbühne begünstigt. Im Zusammenhang mit den praktischen Resultaten der Bauhausbühnenarbeit formuliert Schlemmer eine in zahlreichen Schriften und Vortragsmanuskripten niedergelegte Grammatik der Bühnenelemente und seine Bühnentheorie. Im Mittelpunkt eines solchen Theaters steht der menschliche Körper. 192 Anlässlich der Magdeburger Theater-Ausstellung 1927 erarbeitet Schlemmer eine zweite Fassung des ‚Figuralen Kabinetts’. Es werden hierfür weitere Figuren angefertigt. Diese werden, wie im ‚Mechanischen Ballett’, von sich dahinter befindlichen schwarz gekleideten Spielern getragen. Zusätzlich wird eine ‚eine Begleitmusik für ein Instrumentalensemble [...], die – unter reichlicher Verwendung musikalischer Zitate – im Pseudo-Jazzstil auf parodistische Effekte hingearbeitet ist’, komponiert. vgl. Scheper 1988, S. 149. 193 Schlemmer, 1927, S. 3. 194 Scheper 1988, S. 74 122 3. 2. Die Annäherung - Mensch und Kunstfigur Kosmischer Körper Wie viele Zeitgenossen war sich auch Schlemmer der Erneuerung des Menschenbildes auf der Bühne bewusst. Ausgangspunkt sind dabei die menschlichen Körperformen und Bewegungen. Er schreibt seinen Gedanken erstmals in dem Aufsatz über Mensch und Kunstfigur (1925) nieder. Schlemmer bestimmt dort die Theatergeschichte als ‚die Geschichte des Gestaltwandels des Menschen; der Mensch als Darsteller körperlicher und seelischer Geschehnisse im Wechsel von Naivität und Reflexion, von Natürlichkeit und Künstlichkeit’195. Der Mensch ist, so Schlemmer, ‚Anfang und Ende des theatralischen Geschehens’ 196 . Schlemmer sieht aber den Menschen nicht bloß als gegenständliches Motiv für das Theater, er betrachtet ihn vielmehr ‚als kosmisches Wesen’, als die Einheit von Körper, Geist, Seele, Gesellschaft und Natur. Er schrieb in seiner Programmschrift unterrichtsgebiet: der mensch folgendes: ‚Für das neue Leben, das sich als modernes Welt- und Lebensgefühl darstellen soll, ist die Kenntnis des Menschen als kosmisches Wesen unerläßlich. Seine Existenzbedingungen, seine Beziehungen zur natürlichen und künstlichen Umwelt, sein Mechanismus und Organismus, seine materielle, spirituelle und intellektuelle Erscheinungsform […].’197 Er beruft sich dabei auf das Wort von Ricarda Huch (1864-1947), die den Kosmos eine Dreiheit aus Geist, Natur und Seele definiert hat. 198 Der bloße Gegenstand ‚Mensch’ sei also nichts, wenn er nur eine vereinzelte Sache sein soll. Erst als kosmisches Wesen in einem universalen Bezugssystem gewinnt er im 195 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, in: Die Bühne im Bauhaus, S. 7. Schlemmer unterscheidet dabei die Sprachbühne (die Bühne des Autors, der Autorin), die Spielbühne (die Bühne des Schauspielers, der Schauspielerin) und die Schaubühne (die Bühne des Bühnenbildners, der Bühnenbildnerin). 196 Schlemmer: Zum Problem des Theaters, zit. nach: Scheper 1988, S. 262. 197 Oskar Schlemmer: unterrichtsgebiet: der mensch, in: Oskar Schlemmer. Der Mensch. Unterricht am Bauhaus, redigiert, eingeleitet und kommentiert von Heimo Kuchling, hrsg. von Hans M. Wingler, Mainz/ Berlin 1969, S. 28. 198 ‚[…] diese drei Wesenheiten bestehen nur miteinander verbunden. Die Natur ist körperlich und erscheint in der Sphäre des Raumes, der Geist ist das Innere der Natur und ist zeit- und raumlos, die Seele ist das Verbindende und bewegt sich in der Sphäre der Zeit’. vgl. Ricarda Huch: Vom Wesen des Menschen, Natur und Geist, zit. nach: Bossmann 1994, S. 23. 123 Theater Bedeutung. Für Schlemmer ist dies zu erreichen vor allem durch die Vereinfachung, bzw. die Reduzierung auf das Wesentliche, auf das Elementare und auf das Primäre, denn ‚in der Einfachheit eine Kraft liegt, in der jede wesenhafte Neuerung verwurzelt ist. Einfachheit […] daraus sich organisch das Vielfältige, Eigentümliche entwickelt, Einfachheit verstanden als tabula rasa und Generalreinigung von allem eklektizistischen Beiwerk aller Stile und Zeiten, müßte einen Weg verbürgen, der Zukunft heißt!’199. Die Zeichen seiner Zeit sei deshalb: ‚die Abstraktion, die einerseits wirkt als Loslösung der Teile von einem bestehenden Ganzen, um diese für sich ad absurdum zu führen oder aber zu ihrem Höchstmaß zu steigern, die sich andererseits auswirkt in Verallgemeinerung und Zusammenfassung, um in großem Umriß ein neues Ganzes zu bilden.’200 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Schlemmers künstlerisches Denken des Menschenbildes von der Spannung zwischen Metaphysik und Abstraktion geprägt ist. Durch die Schematisierung des menschlichen Körpers gelangt Schlemmer zu einer Auffassung, die auf die mittelalterliche Beziehung von Mikro- und Makrokosmos zurückgeht: Mensch und Raum, Akteur und Bühnenraum sind von einer Reihe gesetzmäßiger Analogien bestimmt. War früher der Mensch Abbild der im Makrokosmos waltenden göttlichen Kräfte, so ist Schlemmers Blick des einen neuen Menschen des 20. Jahrhunderts ein kosmisches Wesen, ein ‚Hochbild’ des Menschen. Dies auf der Bühne zu entwerfen, ist sein Ziel.201 Vom dualistischen Raumkörper zum Tänzermenschen 199 Schlemmer: Tagebuch, April 1926, S. 199. 200 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 7. 201 Diese Einheit einer ‚rationalistisch’ definierten künstlerischen Praxis einerseits und eines ‚transzendentalen’ Bewusstseins vom Menschen andererseits kommt in Schlemmers Texten oft zum Ausdruck, dessen ‚metaphysische Sehnsucht’ Walter Gropius als charakteristisch für die an der Bauhausbühne wirkenden Künstler bezeichnete: ‚In ihrem Urgrund entstammt die Bühne einer metaphysischen Sehnsucht, sie dient also dem Sinnfälligmachen einer übersinnlichen Idee. Die Kraft ihrer Wirkung auf die Seele des Zuschauers und Zuhörers ist also abhängig von dem Gelingen einer Umsetzung der Idee in sinnfällig-optisch und akustisch wahrnehmbaren Raum. Das Bauhaus arbeitet an der Entwicklung dieser Bühne.’ vgl. Paul Pörtner: Experiment Theater. Chronik und Dokumente, Zürich 1960, S. 60-61. 124 Der Mensch als kosmisches Wesen ist für Schlemmer folglich einerseits ein Repräsentant einer höheren Ordnung, andererseits ein mathematisch- geometrisch bestimmter Typus. Er ist, so Schlemmer, ‚gegenüber der rationalistisch bestimmten Raum-, Form- und Farbenwelt das Gefäß des Unbewußten, Unmittelbaren, Transzendentalen; Organismus aus Fleisch und Blut sowohl als ein maß- und zeitbedingtes Fänomen’202. Ein Wesen, verstanden als Maß und Zahl aller Dinge, gleichnishaft eine Synthese von Organismus und Mechanismus. ‚Dieser dualistische Grundzug des Menschen’, beobachtet Schlemmer, ‚diese Zwiefalt, die häufig zum Zwiespalt wird, tritt in den verschiedensten Formen in Erscheinung. Sein Verhalten kann ein exzentrisches sein, nach außen gerichtet, von außen bestimmt; oder ein konzentrisches oder egozentrisches, nach innen verlegt, innerlich bestimmt. Er kann ‚Sender’ und ‚Empfänger’ sein; Strahlen senden oder empfangen’203. In welcher Form oder Gattung sich auch immer der Mensch auf der Bühne darstellt, gelte es daher, das Problem zu lösen, wie dieser dualistische Körper und sein Umraum aufeinander zu beziehen sind. Schlemmer selbst fragt sich darauf: ‚Der Organismus Mensch steht in einem kubischen, abstrakten Raum der Bühne. Mensch und Raum sind gesetzerfüllt. Wessen Gesetz soll gelten?’204 Ein (Bühnen)Raum wird, nach Ansicht Schlemmers, stets durch die Bewegung einer Figur in diesem geschaffen. Die dem Raum innewohnenden Gesetzmäßigkeiten wirken ihrerseits auf die Figur selbst zurück. Es gibt daher, so Schlemmer, zwei grundsätzliche Möglichkeiten, in der sich diese beiden Konfigurationen ‚Raum-Körper’ aufeinander beziehen können: Entweder der Raum wird mit Rücksicht auf den Organismus Mensch umgebildet, oder umgekehrt der Mensch selbst wird in Bezug auf den Raum umgestaltet. Dort, wo eine ‚naturillusionistische Bühne’ entsteht, richtet sich die Bühnengestaltung nach dem ersten Prinzip, d. h., nach den natürlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen des Menschen. Die abstrakte Bühne hingegen orientiert sich an dem zweiten. Letzteres hält Schlemmer für den organischen Körper des Menschen für idealistisch, denn: 202 Schlemmer: Bühne, zit. nach: Scheper 1988, S. 262. 203 ebd., S. 263. 204 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 13. 125 ‚Die Gesetze des kubischen Raumes sind das unsichtbaren Liniennetz der planimetrischen und stereometrischen Beziehungen. Dieser Mathematik entspricht die dem menschlichen Körper innewohnende Mathematik und schafft Ausgleich durch Bewegungen, die ihrem Wesen nach mechanisch und vom Verstand bestimmt sind.’205 Das interferierende Verhältnis von Mensch und Raum erlaubt nach Schlemmer, den Menschen als ein Wesen zu begreifen, das zum einen von den körperlich-biologischen Gesetzen des Körpers und zum anderen von den mathematisch-geometrischen Vorgaben des Raumes bestimmt ist. Die Bewegung der Figur im Raum macht dabei die Beziehung dieser beiden ‚Welten’ sichtbar. Der sich bewegende Darsteller schafft selbst mit seinen Schritten, Gesten und Handlungen den Aktions-Raum, der seinerseits auf die Figur zurückwirkt. Schlemmer stellt sich daher einen sog. ‚Tänzermensch’ vor, der diese beiden Aspekte, Raum – Figur, vermitteln und die Gesetzmäßigkeiten vereinen soll: Eine Instanz, die ‚sowohl dem Gesetz des Körpers als dem Gesetz des Raums und als auch dem Gefühl seiner selbst wie dem Gefühl vom Raum’ 206 folgt. Der Tänzermensch führt, nach Schlemmer, die Vermittlung zwischen Figur und Raum zunächst durch das Abschreiten der auf dem Bühnenboden gezeichneten Linien aus, indem er letztere ‚verräumlicht’. Hervorgehoben wird dann dieses geometrisch-räumliche Ereignis bzw. die Verbindung des Organischen mit mechanischen ‚Gesetzmäßigkeiten’ des Raumes durch die Gesten und das Tragen von Masken und Kostümen, wobei insbesondere die Maskierung und Kostümierung der Tänzermenschen eine unverzichtbare Voraussetzung für die erwünschte Abstraktion darstellt. Schlemmer entwickelt darauf Grundtypen der Tänzermenschen und unterscheidet dabei vier grundsätzliche Möglichkeiten für die Umwandlung des menschlichen Körpers durch das Bühnenkostüm: 1. Sind die Gesetze des kubischen Raumes bestimmend, so entsteht ein räumlichkubisches Kostümgebilde, das als ‚wandelnde Architektur’ bezeichnet wird [Abb. 25]; 2. werden die Bewegungsgesetze des menschlichen Körpers im Raum in einen Kostümtyp übersetzt, führt das zu einem ‚technischen Organismus’ [Abb. 26]; 3. die Anwendung der Funktionsgesetze des menschlichen Körpers in Beziehung zum Raum führt zur Typisierung der Körperformen und ergibt die sogenannte ‚Gliederpuppe’ [Abb. 27]; 4. legt man die ‚metaphysische Anatomie’ 205 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 13. 206 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 15. 126 des Menschen zugrunde, z. B. die verschlungenen Arme, die das Unendlichkeitszeichen symbolisieren, so bringt dieser Kostümtyp den Begriff der ‚Entmaterialisierung’ zum Ausdruck.207 [Abb. 28] Die letzten drei Verwandlungsmethoden dienen ganz dem Zweck, das ‚Wesen’ des Menschen zum Ausdruck zu bringen. ‚Wesen’ wird hier aber nicht im Sinne allgemeiner Charaktertypen oder Urbilder, sondern hauptsächlich im Sinne des allgemeinen organischen und mechanischen Körpers verstanden. Sie dienen in erster Linie zur Demonstration der Körpermechanik. Soweit aber die Kostüme die Funktion haben, den menschlichen Körper weitgehend verdecken oder zumindest optisch zurückzudrängen, wird der Mensch als Individuum nicht durchschaubar. Schlemmer bewertet dies in Bezug auf das Theater positiv: ‚Kostüm und Maske unterstützen die Erscheinung oder verändern sie, bringen das Wesen zum Ausdruck oder täuschen über dasselbe, verstärken seine organische oder mechanische Gesetzmäßigkeit oder heben sie auf.’208 Um die Eindeutigkeit der Figur, um die Reduktion auf einen klar erkennbaren Typus hervorzuheben, löst sich der ‚natürliche’ Körper des Schauspielers auf, dadurch dass er von dem ‚imaginären’ Körper, dem Kostüm, stark eingeengt und beschränkt wird. Aus diesem Grund ist der Schauspielkörper nicht mehr geschlechtlich natürlicher Körper, sondern dreidimensionaler Raumkörper. Die Kostüme verdeutlichen, worum es Schlemmer in seinem Theater geht: Um die Erkundung des Raumes mit Hilfe von dreidimensionalen Kleiderkörpern, die traditionellen Sehgewohnheiten radikal widersprechen. Sie folgen nicht dem anatomischen Körper oder versuchen, ein gerade als schön geltendes Körperideal zu erzeugen, sondern sie sind eigenständige Gebilde, die den menschlichen Körpern zwar nicht widersprechen, aber zugleich dem Auge den Reiz des völlig Eigenartigen, Unerwarteten bieten. Damit wird nicht nur ein künstlerisches Bedürfnis nach visuellen Reizen befriedigt, sondern zugleich werden herkömmliche Wahrnehmungs- und Denkweisen in Frage gestellt. Nach Schlemmer kann offenbar die strenge Geometrisierung der Kostüme, wie Kreisel, Kugel und Spirale, dies erleichtern, bis zu dem Punkt, an dem ‚Alles Mechanisierbare mechanisiert [wird]. Resultat: die Erkenntnis des Unmechanisierbaren’209. Der 207 vgl. Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 16-17 208 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 15. 209 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 7. 127 Körper des Tänzers wird somit zur scheinbar mechanisch funktionierenden Figur, die Schlemmer später als die letzte und endgültige Kunstform auf der Bühne erklären wird.210 Mathematischer Körper Die Begründung für die Wahl der Mechanisierung des menschlichen Körpers, der Bewegungen und der entindividualisierten Darstellung durch Kostüme als Mittel liegt für Schlemmer in deren mathematisch-geometrischer Präzision. Seiner Meinung nach sind diese Elemente nicht imstande, die Bedingtheit der menschlichen Gestalt, das Gesetz der Schwere, dem sie unterworfen ist, aufzuheben. Schlemmer sieht daher die zweite Möglichkeit für den Instanz des autonomen Bühnenraumes in den Zahlen: in der Mathematik. Die Bezeichnung ‚triadisch’, die erst kurz vor der Uraufführung gefunden wurde, leitet sich aus dem griechischen Wort ‚triade’ für Dreiheit ab und steht für das Ordnungsprinzip des Balletts. Ganz der romantischen Vorstellung der Zahlenmystik verhaftet, behauptet Schlemmer, die Drei sei eine ‚eminent wichtige, beherrschende Zahl […], bei der das monomane Ich und der dualistische Gegensatz überwunden sind und das Kollektive beginnt’ 211 . Die Bedeutung der Zahl ‚Drei’ sei ferner ‚Form, Farbe, Raum; die drei Dimensionen des Raumes: Höhe, Tiefe, Breite; die Grundformen: Kugel, Kubus, Pyramide; die Grundfarben: Rot, Blau, Gelb. Die Dreiheit von Tanz, Kostüm und Musik, und so weiter.’212 Die Dreiheit von Kostüm, Tanz und Musik setzt sich in Raum, Farbe und Form weiter fort, die wiederum in die drei Dimensionen des Raums, die drei geometrischen Grundformen und die drei Grundfarben aufgeschlüsselt werden. Nach Schlemmers Überzeugung bezieht die Kunst aus der formstrengen 210 Bei der Uraufführung ist das Ballett mit traditioneller Musik unterlegt, zumeist Partituren von Haydn oder Mozart, später schrieb aber Paul Hindemith anlässlich der Wiederaufführung in Donaueschingen Musik für mechanische Orgel dazu. Eine mechanische Orgel sei besser geeignet, meint Schlemmer, ‚weil der mechanische Spielapparat der Stereotypie der Tanzweise [...] entgegenkommt, andererseits die Parallele bildet zu den körpermechanischen, mathematischen Kostümen. Zudem wird das etwas Puppenhafte der Tänze mit dem spieldosenähnlichen Musikalischen konform gehen oder aller Voraussicht nach eine Einheit schaffen, die dem Begriff Stil entspricht’. Schlemmer: Tagebuch, 5. Juli 1926, S. 202. 211 Schlemmer: Tagebuch, 5. Juli 1926, S. 202. 212 ebd. 128 Abstraktion ihre Kraft, die Ordnung des Universums sichtbar zu machen: ‚Alle große Kunst enthält ebensoviel Konstruktives, Konstruiertes, in Form von realer und metaphysischer Mathematik.’ Schlemmer beruft sich dabei das Wort von Novalis und preist Mathematik als höchste Kunstform: Das höchste Leben ist Mathematik (Novalis, Fragmente). 213 Es ist daher nicht überraschend, wenn Schlemmer immer wieder Philipp Otto Runge (1777-1810) zitiert: ‚Die strenge Regularität sei gerade bei den Kunstwerken, die recht aus der Imagination und der Mystik unserer Seele entspringen, ohne äußeren Stoff oder Geschichte, am allernothwendigsten.’214 Schlemmers künstlerische Seelenverwandtschaften zu Runge zeigt sich besonders in dessen Komposition ‚Mystische Kreisfiguration’. [Abb. 29] Anfang April 1803 begleitete Runge seinen Brief an Ludwig Tieck (1773-1853) mit einer von dem Mystiker und Naturphilosoph Jakob Böhme (1575-1624) inspirierten geo-metrischen Figuration aus sechs gleichen Kreisen, deren Mittelpunkte im Abstand ihrer Radien auf einem ebenso großen, siebten Kreis in der Mittel liegen. Die Verbindungslinien der sechs Kreismittelpunkte ergeben ein regelmäßiges Sechseck, das dem siebten Kreis zusammen mit einem gleichseitigen Dreieck einbeschrieben ist. Die zentrale Kreisfigur ist identisch mit der geometrischen Figur, aus der Runge später seinen sechsteiligen Farbenkreis entwickelte. Die briefliche Erklärung der mystischen Figuration lautet: ‚Das ist die erste Figur der Schöpfung. Die 6 ist nach dem Sündenfall nicht verstanden, und wird nicht verstanden, bis der Tag kömmt, wo alles zum Licht zurückkehrt, das ist der siebente Tag. – Die Welt hat sich gesondert in Ich und Du, in Cirkel und Linie, da ist die 3 in die Welt gekommen, und durch Gutes und Böses, die 5; in 7 ist alles wieder vereinigt: Das ist das allerheiligste; der Punct hat sich ausgebreitet im Cirkel […]’.215 213 Schlemmers Stellung zu dieser ‚künstlerischen Mathematik’: ‚Nicht Jammer über Mechanisierung, sondern Freude über Mathematik! Und wiederum nicht über jene, die man auf der Schulbank schwitzt, sondern über jene künstlerische Metaphysische Mathematik, die sich notwendigerweise einstellt, wo, wie in der Kunst, das Gefühl am Anfang steht und sich zur Form verdichtet, wo das Unter- und Unbewußte zur Klarheit des Bewußtseins wird. ‚Mathematik ist Religion’ (Novalis), weil sie das Letzte, Feinste, Zarteste ist [...].’ Schlemmer: Tänzerische Mathematik, in: Musikblätter des ‚Anbruchs’. Sonderheft ‚Tanz in dieser Zeit’. 8. Jg. Nr. ¾, Wien 1926, S. 123. 214 Philip Otto Runge, zit. nach: Schlemmer: Tagebuch, November 1924, S. 163. 215 zit. nach: Jörg Traeger: Phillip Otto Runge und sein Werk. Monographie und kritischer Katalog, München 1975, S. 339-340. 129 Die Überwindung der dualistischen Schärfe des Menschenbildes sucht Schlemmer demgemäß in der Kunstfigur. Die Einheit einer rationalistisch definierten künstlerischen Praxis einerseits und eines transzendentalen Bewusstseins andererseits spiegelt sich darin wider: ‚Das Bestreben den Menschen aus seiner Gebundenheit zu lösen und seine Bewegungsfreiheit über das natürliche Maß zu steigern, setzte an Stelle des Organismus die mechanische Kunstfigur: Automat und Marionette.’216 3. 3. Das Wesen der Kunstfigur Der Begriff ‚Kunstfigur’ Oskar Schlemmer schreibt in seinem Aufsatz ‚Mensch und Kunstfigur’ folgendes: ‚Die Kunstfigur erlaubt jegliche Bewegung, jegliche Lage in beliebiger Zeitdauer, sie erlaubt – ein bildkünstlerisches Mittel aus Zeiten bester Kunst – die verschiedenartigen Größenverhältnisse der Figuren: Bedeutende groß, Unbedeutend klein. Ein ähnliches sehr gewichtiges Phänomen bedeutet das In-Beziehung-setzen des natürlichen >nackten< Menschen zur abstrakten Figur, die beide aus dieser Gegenüberstellung eine Steigerung der Besonderheit ihres Wesens erfahren. Dem Übersinnlichen wie dem Unsinn, dem Pathetischen wie dem Komischen eröffnen sich ungeahnte Perspektiven. Vorläufer sind im Pathetischen die durch Maske, Kothurn und Stelzen monumentalisierten Sprechen der antiken Tragödie, im Komischen die Riesenfiguren von Karneval und Jahrmarkt. Wunderfiguren dieser Art, Personifikation höchster Vorstellungen und Begriffe, ausgeführt in edelstem Material, werden auch einem neuen Glauben wertvolles Sinnbild zu sein vermögen […].217 Die Kunstfigur ermöglicht nach Schlemmer auf der Bühne jede beliebige Bewegung, und jede beliebige Position kann dadurch so lange wie gewünscht erhalten werden. Dabei tun sich erstmals die Perspektiven auf, vom Übernatürlichen zum Unsinnigen, vom Tiefsinnigen zum Grotesken. Diese bizarren Figuren einer neuen Art seien damit Personifikationen hochkonzentrierter Konzepte sowie Ideen und geeignet, auch symbolisch einen neuen ‚Glauben’ zu 216 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 18. 217 Schlemmer: Mensch und Kunstfigur, S. 18-19. 130 verkörpern. Aus dieser Sicht gesehen kann Schlemmer folgend sogar vorausgesagt werden, dass die Bühnensituation sich vollständig umkehren wird: Das Theater mit Kunstfiguren wird optische Ereignisse entwickeln und sich dann einen neuen ‚Dichter’ suchen, der diese Ereignissen in der passenden Sprache mit ‚Wort- und Tonideen’ wiedergibt. Der Begriff der ‚Kunstfigur’ als Verkörperung einer künstlichen Gestalt und nachgemachtes Bild eines lebenden Wesens wurde erstmals von Clemens Bretano 1811 in seinem Märchen Gockel, Hinkel und Gackeleia verwendet. Schlemmer selbst bezieht sich oft in seinen Tagebüchern und Schriften auf die literarischen Schöpfungen der Romantik. Im Programm der Uraufführung des Triadischen Balletts formuliert er dazu: ‚Heinrich von Kleists ‚Über das Marionettentheater’ ist die überzeugende Mahnung an das Künstliche, und vollends sind es E.T.A Hoffmanns Phantasiestücke.’218 Mit dieser Aussage steht Schlemmer gewissermaßen in Einklang mit Craigs Schrift ‚Übermarionetten’. Schlemmer setzt aber seine Kunstfigur gegen den ‚cultischen Seelentanz’, der die Nacktheit des Körpers und den Tempel als Spielort fordere. Er wirbt stattdessen für einen ‚ästhetischen Mummenschanz’, der die Vermummung durch das Kostüm und die Bretter des Theaters voraussetzt. 219 Die Verkleidung des Körpers öffne dann, über die Bewusstwerdung der körperlichen Gebundenheit hinaus, die symbolische Transzendierung der Bindung durch Raum und Zeit. Die ästhetische Besonderheit der Kunstfiguren Schlemmers liegt somit im totalen Kunstcharakter. Sie sind Inbegriff des Naturfernen, Unorganischen, ja Künstlichen. Ihre zentrale Positionierung gleicht deshalb einem programmatischen Bekenntnis zur Artifizialität von Kunst: ‚Die Mittel jeder Kunst sind künstliche, und jede Kunst gewinnt durch das Erkennen und Bekennen ihrer Mittel.’ 220 Diese Kunstauffassung zeigt sich deutlich an Schlemmers Verbindung zum symbolischen Denken der Goethezeit; besonders Goethes Begriff des Gestaltsymbols muss als Folie für Schlemmers ideelle Bestimmung der Kunstfigur vorausgesetzt werden: ‚Es werden immer Formungen sein, die im goetheschen Sinne ‚antikisch’ sind: Schöpfungen, entsprungen aus der Verbindung 218 Schlemmer: Ballett?. Programm der Uraufführung des Triadischen Balletts, in: Scheper 1988, S. 53. 219 ebd. 220 Schlemmer: Tagebuch, September 1922, S. 134. 131 und dem Idealen gleichmaß von Abstraktion, Messung, Gesetz einerseits, andererseits aus Natur, Gefühl, Idee.’221 Die klassische Version des Symbolbegriffs in der Ästhetik um 1800 geht davon aus, das Kunstwerk müsse sich selbst aussprechen und deuten. Das Symbol wird als autonomes, ‚in sich ruhendes Zeichen’ charakterisiert, bei dem Außen und Innen, Zeichen und Bedeutung notwendig und unauflöslich miteinander verbunden sind. Die griechische Plastik galt daher als Vorbild des organischen, sich selbst aussprechenden und von einem inneren Ausdruckswert getragenen Symbols. Diese Bindung der Kunst an eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit begeisterte Schlemmer ebenfalls für Goethes Stil-Begriff: ‚Seine [Goethes] einfache und doch so grundlegende Einteilung in die Gattungen der Naturnachahmung, der Manier und des Stils verdiente […] wieder in Erinnerung gebracht zu werden […] (Goethes Schlußwort jener Abhandlung lautet: Wie die einfache ‚Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart beruht; - die Manier eine Erscheinung mit dem leichten, fähigen Gemüt ergreift; - so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.).’222 All diese Bestimmungen der Goethe-Zeit finden sich in Schlemmers Entwurf einer idealen Kunstfigur wieder. Seine Aneignung des Goetheschen Symbol- und Stilbegriffs für die avancierte Kunst der zwanziger Jahre funktioniert jedoch nur über eine paradoxe Konstruktion, für die der Vexierbildcharakter der Puppe die notwendige Voraussetzung ist: Indem die Puppe auf das Naturvorbild des Menschen anspielt, treibt sie für Schlemmer ein Bewusstsein ihrer ausgeprägten Künstlichkeit hervor. Ihre ‚gefährliche Nähe’ zur menschlichen Gestalt wird damit zum Garanten für die angestrebte Künstlichkeit von Kunst. Jene Qualität, im 19. Jahrhundert allzu oft als Argument für die ästhetische Abwertung der Puppe eingesetzt wurde223, wird bei Schlemmer damit zum zentralen Argument für ihre Aufwertung. Sie ist einerseits als Versinnbildlichung des Allgemeinen im Besonderen, als Schöpfung aus ‚dem idealen Gleichmaß von Abstraktion, Messung und Gesetzen, andererseits aus Natur, Gefühlen, Idee’ zu betrachten. In 221 Schlemmer: Tagebuch, April 1929, S. 244. 222 Oskar Schlemmer: Vortrag ‚Perspeiktiven’ (1932), in: Karin von Maur: Oskar Schlemmer. Band I: Monographie, München 1979, S. 340. 223 vgl. Karina Türr: Farbe und Naturalismus in der Skulptur des 19. und 20. Jh., Mainz 1994, S. 95-142. 132 dem absoluten, mit sich selbst identischen Mechanismus der Kunstfigur realisiert sich die Synthese von Unnatürlichem und Übernatürlichem, von Idee und Wirklichkeit, von Freiheit und Notwendigkeit. Die Versöhnung dieser Polaritäten entsprach Schlemmers eigenem Anliegen, die Signaturen der reflektierenden, disharmonischen Moderne im Bild einer zugleich zeitlosen und zeitgemäßen Kunstfigur aufzuheben. Die Marionette als ästhetisches Modell dient ihm letztlich dazu, eine metaphysische Dimension im Bild des Menschen zu restaurieren. So präsentiert sich Schlemmers Das Triadische Ballett als die Tendenz zur Typisierung, zur Mechanisierung und zur tektonischen Umbildung und Abstraktion am Beginn von Bewegungen, welche die europäische Avantgarde in allen Bereichen der Kunst, in der Malerei und in der Literatur, in Theater und Tanz auszeichnen: ‚Ich habe die Überzeugung, daß die Quelle alles Neuen, einerlei auf welchen Gebiet es auch sei, das elementare und damit auch das originale Erfassen des Wesentlichen ist. Jede Sache hat einen Wesensursprung, einen Ursinn, der im Lauf der Entwicklung zumeist in Vergessenheit gerät, aber immer der Keim bleibt für alle weiteren Neubildungen. Freilich darf es kein wissenschaftliches Sezieren sein, sondern es muß gefühlt und voll empfunden sein. Das ABC kann sozusagen immer wieder neu erlebt werden.’224 Es ist verständlich, dass Schlemmer den Stilbegriff wiederum über die Puppe als höchste und letzte Objektivation des Künstlerischen bestimmt. In einem Aufsatz mit dem Titel Holzpuppenmalerei von 1930 schreibt er, offenbar reagiert auf ein Kritikerwort: ‚Holzpuppen! Puppenmalerei! Das Schlagwort ist geprägt und einer sagt’s dem anderen. Keiner aber sagt dem anderen, daß immer, wo es um diese Probleme ging, zu allen Zeiten des großen figürlichen Stils, es ein leichtes ist, die mehr oder weniger nahe Verwandtschaft mit dem Puppenhaften festzustellen. Sind die indischen, ägyptischen, frühgriechischen Plastiken und Malereien etwa nicht in dieser gefährlichen Nähe des menschlichen Ebenbildes, das, da es Kunst ist und nicht Natur und da es mit den Mitteln der Kunst erzeugt ist, notwendigerweise eine Abstraktion bedeutet: Puppe, Reflexgestalt, Symbol.’225 224 Schlemmer: Neue Formen der Bühne. Eine Unterhaltung von Oskar Schlemmer, in: Schünemanns-Monatshefte (H. 10) 1928, S. 1072. 225 Schlemmer: Tagebuch, 23. August 1930, S. 267-268. 133 Schlemmers Artikel endet mit dem emphatischen Ausruf: ‚Der Weg zum Stil führt über die Puppe!’226 Es wird zusammengefasst: Das Triadische Ballett bzw. seine bewegten Bühnenfiguren weckten im Zuschauer eine weite Skala von Empfindungen: Staunen, Lächeln oder auch Ablehnung. So wie bei Meyerhold geht es in Schlemmers ‚Triadischen Ballett’ um die Suche nach einer radikalen Künstlichkeit der visuellen und auditiven Zeichen, die in ihrer Reduktion und Präzision das Wirkliche erst erkennbar machen und als Zeichen nicht abstrakt, sondern emotional verständlich sind. Schlemmer setzte die Sinnlosigkeit hinter alltägliche Zweckgebärden und entdeckte zugleich Sinn und Gesetz im zweckfreien Spiel. Damit schaffte er die Symbiose zwischen Tänzer und Bühne nicht nur als Instrument, sondern in der Bewegungs- und Raumerfindung als Schritt zur Ganzheit. Puppen übernahmen in diesem Zusammenhang eine Vorbildfunktion. Die künstlichen Menschen sind die ‚Idee’ in ihrer skulpturalen Ausformung und in ihrer mechanischen Funktionalität. Dort werden charakteristische Merkmale stilisiert und menschliche Körper zu Skulpturen geführt. Als Raum dient dabei ein zweidimensional wirkender Grundraum mit sich verändernden Dimensionen, mit minimalen Zeichen. So verschwindet der Körper im Triadischen Ballett völlig in den skulpturalen Kostümen, wird zum anonymen, austauschbaren Motor lebender Kunstfiguren und damit zur vollkommenen Synthese von Mensch und Kunst. Schlemmer möchte zwar nicht wie Craig oder Futuristen den Schauspieler durch eine Übermarionette oder mechanisierte Puppen ersetzen, doch erkennt er in der Kunstfigur die Möglichkeit einer Erweiterung des künstlerischen Spektrums. 226 ebd. 134 Die Wiederentdeckung der Puppen: Fragestellung II Seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurden die Kunstfiguren in der bildenden Kunst einem zunehmenden Angriff ausgesetzt. Der Bruch mit der historischen Avantgarde in den Nachkriegsjahren zugunsten eines realistischen und politisch engagierten Individuums, welches das menschliche Subjekt und seine alten Werte restaurieren wollte, trug vorläufig dazu bei, den künstlichen Körper als ästhetisch eigenständiges Zeichen, als Signifikant zu verdrängen. Für den großen Teil des Kunstestablishments der Nachkriegsjahre war das synthetische Geschöpf doppelt verdächtig. Es verstieß einerseits die Anschauung, dass ‚das Ursprüngliche’ wiederherstellt werden muss und andererseits gegen den modernistischen Widerstand, Realität abzubilden sei. Viele Künstler dieser Zeit hatten das Ziel, dem humanen Körper wieder einen Primat zu geben, beispielsweise durch Präsentationen innerhalb konventioneller Kunsteinrichtungen. Während demzufolge die Kunstszene überwiegend geometrische, abstrakte Tendenzen des Körpers dominierten, bezogen auf die konkrete Wahrnehmung von Fläche, Raum und Licht, finden sich die künstlichen Menschen nun in gewandelter Form wieder; teils belustigend, teils spielerisch, aber auch Befremden und Ängste auslösend wirken die Figuren. So waren Puppenfiguren abermals mit dem Realismus gegangen oder mit jenen Formen der gegenständlichen Kunst, die das Dekorative betonten, damit insbesondere die Affekte. Der Anspruch der Avantgardisten auf die Desemantisierung des Körpers wurde somit vorerst aufgegeben. Trotz solcher zeitgenössischer Abneigungen fühlten sich einige Künstler weiterhin zu Puppenfiguren hingezogen, und zwar besonders zu einer sozialrealistischen Darstellung des menschlichen Körpers. Dabei handelte es sich jedoch zum Teil um eine Reaktion auf die dominierende formalistische, abstrakte Ästhetik, zum Teil um ein zeitgemäßes Bedürfnis. Im Hinblick auf seinen Environment-Charakter entsprachen die Puppen mit ihrer Betonung dinglicher Objekte im realen Raum ganz dem mondänen Stil in der Kunst der sechziger Jahre. 135 In den siebziger und achtziger Jahren kam es zu einem deutlich auffallenden Zuwachs des künstlichen Menschen in der Kunstszene, was in erster Linie auf die kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen Krisenerfahrungen des Subjekts zurückzuführen war. Das vorläufige Ende der politisch relevanten Kunst - die Frustration des Vietnamkriegs, das Wunschbild und dessen Entfremdung der 68er Bewegung und Terrorismus in Deutschland sowie die Verfolgung der RAF stellen ihre bekanntesten Wegmarken dar -, eine Abkehr vom sozialen Engagement und Rückkehr des Archetypischen führten zu dem Verschwinden der pikturalen und ikonischen Differenz als Charakter eines energischen Körpers, beziehungsweise zur Wiederbelebung des komplementären Körpers als ästhetische Methode in den avancierten Kunstformen und Ereignissen. Hinzu schloss sich der neue Zeitstil dieser Tendenz an; die Postmoderne. Die auch als Postavantgarde benannte kulturelle Bewegung stellt wie ihren Namensgeber den Anspruch des Kunstwerks auf die Dauerhaftigkeit in Frage. Indem sie an der Bedeutung von musealen Werken zweifelte, fordert die frisch gekürte Zeitströmung die radikale Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben. Gleichzeitig rückt das Spiel mit der Kunstgeschichte, mit dem Zitieren und Paraphrasieren vergangener ‚Meisterwerke’ in den Vordergrund. Während die vorangegangene Epoche das ‚Neue’ dominierte, steht in der Postmoderne jedoch nicht primär die Realisierung des Neuen im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses, sondern eine Rekombination oder neue Anwendung vorhandener Ideen. Allein die begriffliche Aus-, und Indifferenzierung weist auf die Absichten und Funktionsbestimmungen hin: Kopie, Replik, Remake, Surrogat, Modellbildung, Paraphrase, Nachbildung oder Imitation.227 Dem liegt das Hinterfragen der Bedeutung des Originalen zugrunde, das bis dahin stets als das ‚Ursprüngliche’, ‚Eigentliche’ und ‚Echte’ beschworen wurde. Diese Spiele könnten bis zur Simulation getrieben werden, bei der es keine Vorbilder mehr geben muss. Austauschbarkeit der Rollen und Verhaltensmuster ist dabei ein typisches Zeichen, das alles verfügbar und kaum etwas bindend ist. Das Zitat auf der Grundlage dieser Haltung wird damit auf der Folie einer postmodernen Welt zu einem bestimmenden Prinzip in der Kunst. 227 vgl. Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren. München 1995, S. 186 136 Die Wiederkehr des Androiden in der Postmoderne war folglich nicht als Abkehr von der Vorigen zu verstehen, sondern als deren Konsequenz und Radikalisierung: Gerade durch die Aufhebung des Signifikats im Signifikant wurde letzterer freigesetzt und aufgrund seiner Gleichsetzung mit außerästhetischen Phänomenen auch für außerästhetischen Funktionen einsetzbar. Mit anderen Worten: Wenn ein Kunstwerk ein reales Ding gleichwertig mit anderen realen Dingen gleichstellt, kann es auch vergleichbare Funktion erfüllen. Die utilitäre Funktionalisierung der Kunst fällt zusammen mit einem Übergriff des Ästhetischen in die Sphäre des realen Lebens. Die ‚Durchschnittsmenschen’ des amerikanischen Bildhauers Duane Hanson vertreten diese Kunstauffassung par exellence. [Abb. 30] In seinem Photorealismus arrangierte der Künstler lebensgroße, photorealistisch nachgebildete Figuren aus von realen Menschen abgenommenen Formen mit charakterisierender Kleidung und Objekten zu Darstellungen der US-amerikanischen Alltagswelt: Individuen auf der Straße (Bowery Relicts, 1969), beim Konsum (Florida Shopper, 1973) oder Putzen und Einkaufen (Putzfrau, 1972, Frau mit Umhängetasche, 1974). Diese spielerische Hybridisierung des Alltags und die Befragung des Körpers durch Kunstmenschen, wie sie etwa in der Popart auftauchte, wurden aber vielfach über die neuen Medien der Photographie, des Videos, des Films oder auch der Musik vermittelt, im Kino von den Helden des Film Noir oder in Science-Fiction-Filmen. In einer Zeit, in der Computersimulation und elektronische Zaubereien den Glauben an Wirklichkeit und Abbild, an Reality und Virtual Reality durcheinander gebracht haben, wirken die Kunstkörper noch eindringlicher, noch stärker und nachhaltiger, zumal die dreidimensionale Präsenz der künstlichen Mitmenschen die gewohnten Reaktionen auf zweidimensionale, flache Bilder an emotionaler Stärke bei Weitem übertreffen. Viele Plattencovers aus diesem Zeitraum präsentierten beispielsweise die Tonkünstler hinter Sonnenbrillen im Halbdunkel versteckt wie Nachtwesen, Maskenfiguren, ja Menschmaschinen. Ihre morbide Romantik wagte mit Aussehen, Auftreten und Werkthematik eine beliebte Neuinterpretation der schwarzen Romantik des 19. Jh. Es waren ästhetische Figuren, deren Leben in der Nacht immer ein wenig nach Kostümball aussah und deren vorgestellten Gefühle einen überdeutlichen Zug hin zum Kitschigen besaßen. Die Apathie solcher solipsistische Haltung, die offensichtlich stoischen Hang vorführen sollte, war aber auch von den 20er Jahre beeinflusst. Die Futuristen jener Zeit sehnten sich wie ihre Vorläufer nach ihrer Maschinenwerdung, um das Seelenleben 137 zugunsten einer mechanisch-elektronischen Funktionsregelung aufgeben zu dürfen: ‚I want to be a machine’. Der Aufstieg des Androiden war hier jedoch etwas anderes, so dass sich nur unter Vorbehalt von der ‚Wiederauferstehung’ sprechen lässt. Dem erneuten Interesse in den neuen Medien fehlte nämlich der unmittelbare Erscheinungsmodus, der in den historischen Avantgarden maßgeblich war. Das Faible für die Kunstfigur war vielmehr mit dem künstlerischen Anspruch der Zeit verbunden. Das ästhetische Prinzip der Kunstfiguren war eine suggestive Vereinigung von Mensch und Kunstwerk, daher ideal für die Unnahbaren, Coolen, ja OberFlächlichen des zeitgenössischen Künstlerstatus, dessen ästhetische Grenzen und traditionelle Gattungen überschritten werden sollten. Wenn die Künstler in ihren Arbeiten den Puppenkörper thematisierten, so stellten sie weniger den menschlichen Körper an sich in Frage, sondern vielmehr deren Auswirkungen auf das Selbstbild. Es ging dabei um die funktionale Umbestimmung: Sie erprobten am Kunstkörper die sog. Reinkarnation durch mediale Wiedergeburt. Gleichzeitig nahmen die Künstler Kritik an der medialen Konstruktion von Identität, Rassen, Geschlecht des Körpers vorweg, dort illustrierten sie mit visueller Überzeugungskraft der Puppe Theoriekonzepte wie die Feministische Theorie. Die amerikanische Künstlerin Cindy Sherman, die seit Mitte der 80er Jahre vor allem in der Reihe der ‚Modefotos’ oder in den nachgestellten ‚Historischen Portraits’ reüssierte, beleuchtete z. B. kritisch mit Puppen das Bild der Frauen. [Abb. 31] Ihre Objekte sind Puppenkörper, vornehmlich Schaufensterpuppen, ungelenke, sperrige Kunststoffmenschen. Jenseits der Schönheit suggerieren Shermans Puppenbilder Abstoßendes, Widerwärtiges, Ekelgefühle. Während der menschliche Körper in ihren Arbeiten als absichtsvoll inszeniertes Ideal angesehen wird, ist der Puppenkörper dem Schrecken, der sexuellen Perversion und der Angst einer ausschließlich sozialen Topik ausgesetzt und kann argwöhnisch hinterfragt werden: Der künstliche Leib als eine subtile Metapher für den schutzlosen Körper und gleichzeitig das Medium seiner Botschaft. Seit den 70er Jahren weist das Theater eine Tendenz zur Selbstreflexion und Selbstthematisierung auf, nachdem es sich als funktioneller Apparat dem sozialen Auftrag unterstellt hat.228 In der Literatur werden Merkmale dieser Zeit genannt 228 Von den zahlreichen, in der allgemeinen Theatertheoriebildung von Körperperformance im zweiten Hälfte des 20. Jh. seien exemplarisch Eugenio Barbas Konzept des ‚pre-expressive body’ und Richard Schechners ‚restored behaviour’ angeführt. vgl. 138 wie das Theater als Prozess, das Postmoderne Theater, das Postavantgardistische Theater oder auch das ‚Postdramtische Theater’ 229 , die allesamt durch Destruktion, Pluralität, Zusammensetzung der Gesten und Bewegung geprägt sind. Ihr Prinzip ist die Dissoziation, die Zerrissenheit von individueller Erfahrung und Wahrnehmung steht im Mittelpunkt der Stücke. Eine Reaktion darauf, dass unmittelbare Sinneserfahrung, Wahrnehmung der Welt und des Selbst kontaminiert scheinen, nicht zuletzt wegen der Beanspruchung der Sinne durch den Bilder-Overkill, das geforderte Tempo des Sehens und die Verflüchtigung des Körpers. War das Theater also in den 50er und 60er Jahren Ort von Selbstdarstellung, -entwurf oder -entfaltung, so geht es jetzt um Selbstverzweiflung und -erkundung der eigenen leibsinnlichen Befindlichkeit. Viele Theaterformen dieser Zeit haben daher eher investigativen Charakter, das heißt, sprechen mehr intellektuelle, kognitive Fähigkeiten an, als dass sie rein körperliche Sinnlichkeit vermitteln. Eine Flut von Zitaten wird in ihrer collagenhaften Art auf der Bühne gesprochen, deren Strukturprinzipien sich obstinat dem Zugriff des Rezipienten entziehen. Postmodern oder auch postdramatisch ist hierbei das Spiel mit Intertexten und Zitaten, die dazu beitragen, dass die Zeichenstruktur mit zusätzlichen Sinnbezügen und Assoziationen aufgeladen wird, die zugleich zu einer Störung der Kontinuität bei der Perzeption der repräsentativen Vorgänge führen. Das überdimensionierte Zeigen des Körpers mit den Mitteln der Betonung und Isolierung von Körperteilen sind konstitutive Elemente der zeitgenössischen Inszenierungen auf der Bühne. Das folgende Kapitel untersucht drei der Repräsentanten des zeitgenössischen Theaters aus jener Zeit, die auf den ersten Blick paradigmatischen Beispiele auffallender Gegensätzlichkeit hervorzuheben scheinen, was Inszenierung und Inhalte angeht; das Bread and Puppet Theatre, Tadeusz Kantors ‚Theater des Todes’ und das sog. ‚Bildertheater’ von Robert Wilson. Sie haben jedoch eines gemeinsam. Die Puppen zählen für ihre Bühne zu den wichtigsten Eugenio Barbar/ Nicola Savarese (ebd.): The Secret Art of the Performer, London 1991, S. 203; Richard Schechner: Between Theatre and Anthropology, Philadelphia 1985, S. 35. 229 Postdramatisches Theater ist das ‚Theater nach dem Drama’ und die Kernaussage der aktuellen Forschung zum Theater der 70er bis 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ein entschiedener Vertreter dieser Auffassung ist Hans-Thies Lehmann; dort bezeichnet Er das Theater der Antike ‚prä-dramatisch’ und die gegenwärtigen Formen ‚postdramatisch’. vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999. 139 Bühnenelementen, die künstlichen Geschöpfe sind für die Künstler Plattform für die intensive Auseinandersetzung mit dem menschlichen Schauspieler. Ausgehend vom Vergleich der Programmatik und Ästhetik der Ensembles wird daher jeweils eine repräsentative Inszenierung beschrieben und analysiert, um am Beispiel dieser konträren Modelle einige zentrale Fragen zur Dialektik von Puppenfiguren und Schauspieler sowie zum Verhältnis von Wort und Bild im Theater der Postmoderne zu diskutieren. Und nicht zuletzt soll die Frage beantwortet werden, ob die theatralischen Bemühungen Ende der zwanziger Jahre abgebrochen wurden und in der Nachkriegszeit keine Fortsetzung gefunden haben. 140 4. Die mediale Funktion der Puppen Die Schauspielgruppe ‚The Bread and Puppet Theatre’ und Tadeusz Kantor haben die Puppe stets mit großer Aufmerksamkeit betrachtet. Für sie war das künstliche Geschöpf wesentliches Medium der dramaturgischen Funktion im Theater, das zugleich der darstellenden Kunst ästhetische Bedeutung gewährleistet. Ausgehend vom traditionellen Puppentheater und auf der Suche nach den passenden Ausdrucksmitteln der neuen, grenzüberschreitenden Spielformen zwischen bildender und darstellender Kunst fanden sowohl die experimentelle Theatertruppe aus New York als auch der polnische Bühnenregisseur, die auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Formen für verschiedene ästhetische Ansätze zu pflegen scheinen, in den Kunstfiguren die Erneuerung ihrer Bühne und beeindruckten dabei die Zuschauer durch die vermeintlich zufälligen Begegnungen zwischen den leblosen Gestalten und lebendigen Schauspielern. Somit entwarfen sie beide ein ‚Puppen-Theater’, welches mit dem traditionellen Image der Gliederpuppen unvereinbar scheint. In den Bildnissen vom Bread and Puppet Theatre und den Gliederpuppen von Kantor zeichnet sich ein Wandel im artifiziellen Bewusstsein ab. Die vorliegende Studie befasst sich mit den unterschiedlichen Erscheinungsweisen des künstlichen Körpers auf der Bühne und versucht eine Annäherung an das Spezifikum der beiden Theater im Hinblick auf die praktische und theoretische Aussage einschließlich ihrer Essays, Manuskripts und Aufzeichnungen, in denen sie ihre Aktivitäten, Überlegungen und auch kritisch die Erfahrungen ihrer Werke resümierten. Ziel der Studie ist es dabei, herauszuarbeiten, inwiefern dieser anagrammatische Körper den natürlichen (Schauspiel)Körper beeinflusst und welche mediale Konstruktion bzw. Funktion dieses Wesen sowie die theatrale Vermittlung innerhalb des Schauspieler-Theater hat. 141 4. 1. Stille Geste der Puppen - The Bread and Puppet Theatre Politische Abstrahierung durch den Körper Die auffälligsten Bühnenelemente des Bread and Puppet Theatre sind offenkundig Puppen und Masken, die seit der Gründung der Truppe als das neben Licht und Klang einflussreiche Bühnenmaterial der Gruppe die Straßenparaden, politischen Demonstrationen sowie alltägliche Theatersäle bevölkern. [Abb. 32] Die Ausdrucksskala der Puppengestalten ist dabei breit. Die durch sie erzeugten Bilder und Symbole bleiben jedoch dieselben. Sie alle verkörpern menschliche Themen und Regungen, wie Geburt und Tod, Freude und Leiden, Liebe und Hass, Leben und Tod. So verleihen die künstlichen Menschen in ihrer Abstraktheit und Spektakula den jeweiligen Vorstellungen Sinnesreiz, Emotion, somit magische Ausdruckskraft. Auf der schwach beleuchteten Bühne ist ein knapp vier Meter großer Hahn erkennbar. Zu einzelnen, voneinander abgesetzten Paukenschlägen hebt er den Kopf und lässt laute Hahnenschreie hören. Unterdessen wird eine zwei Meter große Figur aus dem Schnürboden langsam auf die Bühne abgesenkt: Es ist die Gestalt eines Gekreuzigten, dessen Ärmel, welche ohne Hände enden, an den Querbalken eines Kreuzes gebunden sind. Die Bühne wird langsam ein wenig heller. Rechts ist ein schwarz bekleideter Mann mit einer Kopfmaske in der Form eines großen Eselskopfes zu erkennen. Der Mann hält zwei an Stangen fixierte disproportional riesige Hände mit ausgestreckten Fingern. Synchron zum Ton gestikuliert er mit ihnen. Sobald der Gekreuzigte wieder hochgezogen ist, erscheint nun auf der Bühne die zweite Puppe in der nicht ganz lebensgroßen Gestalt eines alten Mannes in nachdenklicher Pose. Es überqueren bald ein buckliger Gnom, eine Tiergestalt und noch andere Puppenfiguren die Bühne. In der nächsten Szene steht eine kleine Hütte am linken Bühnenrand. Im Inneren des Hauses sitzt eine alte Frau. Sie hält ein Papierschild, das mit Why und Nobody knows beschriftet ist, bis die zwei schwarz gekleideten Schauspieler in das Haus reingehen und es wegnehmen. Die Männer zünden dieses Schild an. Auf der Bühne erscheint danach ein Ehepaar, das ein überdimensionales Puppengesicht trägt. Der Mann und die Frau wenden sich aneinander zu, 142 begrüßen sich und küssen sich. Sie wiederholen sich diese Bewegung drei Mal. Abrupter Stimmungswechsel. Es folgen etliche Szenen von Kriegs- und Folterbildern mit Soldaten in einer bedrohlichen Stimmung. Die Inszenierung ‚Goya’ wurde erstmals im Jahre 1981 aufgeführt.230 Sie ist eine szenische Realisierung, für die der Regisseur und Gründer des Bread and Puppet Theatre Peter Schumann 231 sich durch Goyas Caprichos (1799) und Desastres del Guerra (1810-1815) inspirieren ließ, angeregt von einer kurzen Zeitungsnotiz über einen Guerillaführer in El Salvador, der unter den Namen Goya bekannt war und sich den Rebellen angeschlossen hatte, nachdem Regierungssoldaten seine Familie ermordet hatten.232 Obwohl der Kontext der Bürgerrechts- und Antikriegsgeste in dieser Aufführung mitzudenken ist, gibt es aber in dem Stück keine direkte semantische Aufteilung zwischen den einzelnen Episoden, die einer linearen Erzählstruktur folgen würden. Es gibt auch keine dramatischen Zuspitzungen, weder was das Figuren- und Zeichenarsenal noch was die Bewegungschoreographie oder die Squenzierung der Szenarios anbelangt. Jede Szene steht für sich, alles scheint beiläufig zu geschehen. Der Handlungsaufbau des Stückes liegt stattdessen in den affektiven Szenenbildern, die so aufgebaut sind, dass sich der Zuschauer direkt in seiner Betroffenheit angesprochen fühlt. Die Thematik der Inszenierung löst sich von der vordergründig einfachen Fabel in einer bewusst nicht argumentativen Vorgehensweise und emotionalen Intensität der Bilder auf. Ohne Kausalität oder unmittelbare Implikationen des Sujets anzudeuten, dringen die allegorischen Bühnengestalten direkt ins Bewusstsein des Zuschauenden, wo der stumme Ausdruck von keinerlei Rationalisierung abgefangen wird, sondern sich umso tiefer festkrallt. Der Zuschauer sieht sich folglich konfrontiert mit mehreren Einzelbildern, die semantisch relevant sein könnten, einer Abfolge verschiedener Sequenzen von Bildtableaus, deren tiefere Bedeutungsebenen sich letztlich zusammen mit der Musik, Bewegung und Farbe erschließen. Durch solche affektive und appellative Ausrichtung des Szenenaufbaus ist die sozial- und gesellschaftskritische Komponente gerade charakteristisch für das Bread and Puppet Theatre. Die so 230 vgl. Stefan Brecht: The Bread and Puppet Theatre. Band II, New York/ London 1988, S. 557-562. 231 Das Bread & Puppet Theatre gründete Peter Schumann 1961 in New York, nachdem er bereits in München mit Masken und Puppen in Tanzaufführungen u. a. gearbeitet hatte. 232 vgl. Brecht 1988. 143 genannte pazifistische Aussage korrespondiert mit den empirischen Elementen wie etwa der antitraditionellen und antirationalistischen Konzeption. Das Bread and Puppet Theatre zählt zu jenen politisch motivierten Theaterensembles aus den USA, die seit den sechziger Jahren der radikalen Gesellschaftskritik alternative Modelle der Neubelebung und Weiterentwicklung eines engagierten Theaters entwickelt hatten. Die sog. aufklärerischen Theater aus dieser Zeit boten den nachdrücklichen wie ebenso verhaltenen Appell zum Umdenken und Umschauen, indem sie die Zuschauer mit ihren Vereinfachungen, Zuspitzungen oder auch Aufreizungen emotional zu berühren versuchten. Sie lehnten vor allem die Trennung zwischen Leben und Kunst ab und standen für die Formen des ‚Theaters der Erfahrung’, welche sich an den Visionen von historischen Avantgardisten, u. a. Antonin Artaud orientierten, dessen ‚Theater der Grausamkeit’ auf einer radikalen Veränderung des Theatererlebnisses basierte. Ihre Theateraufführungen wurden somit im Sinne der Theateranthropologie zu rituellen Festen, in denen es weniger um Vorführen als um das Erleben ging.233 In dieser Hinsicht ist das Bread and Puppet Theatre sowohl inhaltlich als auch formal die prägnanteste Form des politischen Theaters aus der zweiten Hälfte des 20. Jh.234 Zeigten die anderen alternativen Theatergruppen, wie Living Theatre oder San Francisco Mime Troupe überwiegend radikale konkrete Aussagen und eventuell auch Lösungen für die Situation im Sinne eines anarchischen Pazifismus, bzw. ein mit viel Wort, Witz und Musik agierendes Revuetheater der ideologiekritischen Demontage aktueller Sujets der Tagespolitik, steht das Bread and Puppet Theatre für eine nahezu völlig auf Sprache verzichtende Plattform, 233 Wofür ebenfalls der Name ‚Bread & Puppet’ steht. Für Schumann ist die Kunst ‚as important to life as bread’. vgl. Peter Schumann: Puppen und Masken. Das Bread and Puppet Theatre, Frankfurt am Main 1973. 234 Die andere Bezeichnung des politischen Theaters ist das Straßentheater. Das alternative Theater oder auch freies Theater, entstanden aus der 68er Bewegungen mit einem eindeutigen Aufklärungsinteresse, ist eine Form des Theaters, die die Gegensätzlichkeit zum ‚Theater Theater’ mit dem Verweis auf die andere Spielart manifestiert. Ästhetische Fragen waren ihm unwichtig, eher verpönt, gar tabuisiert. Die Gruppen spielen nur kurze, aktualitätsbezogene, improvisierte Szene und Stücke. Eine weitere radikale Form des politischen Theaters ist dann Guerilla Theatre. Der Name wurde von der Strategie des Befreiungskampfes des vietnamesischen Volkes auf das Theater übertragen. Die Theatergruppe versteht sich als radikale Antwort auf die Gleichgültigkeit der US-Bevölkerung angesichts der Gräuel des Vietnamkrieges. In seiner strengsten Form bedeutet das Guerilla Theater eine inszenierte Aktion, die sich als Theater nicht mehr zu erkennen gibt; es geht schlicht in Realität über, statt Stücken spielen die Theatergruppen ‚Versuchsanordnungen zu den Themen’. 144 die allein mittels des universalen Charakters der Bilder und deren visuelle Kraft argumentiert. Die meisten Inszenierungen des Bread and Puppet Theaters bestehen aus Abfolgen von Handlungsfragmenten und Bildertableaus, die ohne Narration aneinander montiert sind. Akteure tragen oft Masken und Kostüme, verhalten sich daher schematischer als die auf physiognomische Eigenheiten und gewissermaßen auch auf ‚Charakter’ getrimmten Figuren. Letztere sind zwar nicht im mimischen und psychologischen Verständnis narrativ, wohl aber im künstlerischen Sinne rhetorischer. ‚The Story is all pictures and the actors (the word simply does not apply) merely present the images. There is no playing of emotions and no character portrayals, actors are simply the mechanisms which convey the moving sculpture through which the story is unfolded. It is thoroughly unhuman, even spectral, but this reinforces the nightmarish quality of what is being depicted. This theatrical form is more closely related to effigy and sculpture than to the performing arts.’235 Diese undurchdringliche und spirituelle Komponente im Bread and Puppet Theatre fließt vor allem in die Auffassung vom Theater als Ort der Begegnung und politischen Öffentlichkeit mit ein. Schon das gemeinsame Verzehrritual des selbst gebackenen Brotes während und nach einer jeden Vorstellung visualisiert das Theater als der Instanz des Kommunizierens. Für solche nicht minder ungewöhnliche Verknüpfung von religiöser Kontemplation und volkstümlichen Impetus fand das Bread and Puppet Theatre in den mittelalterlichen Mysterienspielen sowie in den Pageants des Renaissancetheaters und den allegorischen Maskenaufzüge und höfischen Trionfi des Barock seine Vorbilder. Schaut man das Gesamtspektakel der Straßenfeste der Truppe genau an, so kann man Anklänge karnevalesken Treibens von Markttagen, Kirchfesten und sonstigen Festlichkeiten feudalistischer Epochen als prägende Einflüsse ableiten. Und was ‚kleinere’ Inszenierungen angeht, so sind hier ebenso Vorbilder bürgerlicher Theatertraditionen aufzuzählen; etwa der Moritatenstil, Echos des barocken Kuriositätenkabinetts oder auch Anlehnungen ans japanische Bunraku. Solche konträren Einflüsse tragen zur Aufhebung dramaturgischer Konventionen von Raum und Zeit bei, bringen die Originalität des Ensembles in seiner eigenwilligen Form hervor und rücken damit das Bread and Puppet Theatre konzeptionell 235 Charles Marowitz, Village Voice vom 23. 3. 1968, zit. nach: Robert C. Hamilton: The Bread & Puppet Theatre of Peter Schumann. History and Analysis, Indiana University 1978, S. 100. 145 vielmehr in die Nähe der Performance Art und des Happenings. Eine Synthese verschiedener Gattungen und Genres korrespondiert darin mit der Skulptur, Tanz, Musik, Pantomime etc. In diesen universalen, aber sperrig verschlüsselten Parabeln nimmt die Puppe einen zentralen Platz in den Inszenierungen von Bread and Puppet Theatre ein. Wo es den andern alternativen Theatern ums Detail, um Tempo, ja Können der menschlichen Darsteller geht, steht für die Truppe das bisweilen geradezu steif zu nennenden Vorzeigen allegorischer Bildsymbole der Puppengestalten im Vordergrund. Körper als Spektakel Schon seit seiner Gründung versteht das Bread and Puppet Theatre die menschlichen Kunstfiguren bei zahllosen Beteiligungen an Demonstrationen und Festumzügen zu nutzen. Dabei handelt es sich um Hand-, Stab- oder Stockpuppen, die überlebensgroß zum Teil bis vier Meter hoch auf Stelzen oder an Stöcken gehalten mitgetragen werden. Diese monumentalen Puppen werden während des Umzuges vor Stellen innegehalten, auf die man die Aufmerksamkeit lenken will. Sie deuten wiederholt mit ihrer Riesenhand oder festgebundenen Requisiten auf einem Objekt, das dabei weder ironisch noch anklagend kommentiert wird. Das Puppenspektakel des Bread and Puppet Theatre baut dabei auf zwei Elemente: Einmal auf die figurale Ausdruckskraft der riesigen Puppengestalten bzw. die von ihnen erzeugten Bilder, zum zweiten auf die Bewegungschoreographie, ausgeführt durch die Spieler, die sich hinter den Puppen verbergen, in der Regel aber offen bzw. unversteckt zeigen, wie die Puppen von ihnen manipuliert, unterstrichen werden. Die Verdoppelung von Puppe und Puppenspieler wird erst dann aufgegeben, wenn sich der Spieler am Ende der Aufführung von der Vortragepuppe löst, die sonst nicht sofort als solche zu erkennen gewesen wäre. Diese von den Puppen bzw. Puppenspielern gewählten Gesten und Symbole verstärken diejenige Mechanik, welche einzelne Puppengestalten hinterlassen. Für das Publikum selbst ist dieser stumpfsinnig wirkende Bewegungsrhythmus der Puppenfiguren das Markenzeichen des Bread and Puppen Theatre schlechthin. Unter dem assoziativen Eigennamen der Truppe identifiziert der Zuschauer solche Affinitäten mit der Originalität der Truppe. Das Bread and Puppet Theatre bewegt sich allerdings an diesem Punkt in einem Dilemma, liegt im Widerstreit mit sich selbst: Einerseits will es das Theater als Medium konkreter Stellungnahme nutzen, doch auf der anderen Seite 146 versucht es, die aktuellen Ereignisse unkommentiert bis zum Passiven hin zu lassen. Die Puppe, die sich bekanntlich durch plastische Bildhaftigkeit und nonverbale Beredtheit auszeichnet, ist vom Beginn an Inbegriff des Bread and Puppet Theatre und Hauptidiom gleichzeitig. Schumann spricht von seinem Theater sogar als ‚an extension of sculpture’ 236 . Die Puppen besitzen, so Schumann, ‚ungeheuer intensive Kraft’; sie können z. B. über Dinge sprechen, über die menschliche Schauspieler nicht reden können. Bei den künstlichen Menschen werde die Aussagekraft durch Einfachheit, Unkompliziertheit und daraus resultierende sparsame Details für den Zuschauer gesteigert: ‚in a puppet theatre [there] is movement that is simple and uncomplicated – there isn’t so much detail, and so there seems to be increased size and power.’237 Puppen wären deswegen ‚just by their size’ im Stande, auf Worte zu verzichten. Ihre ureigene Stärke ist die starre Skulpturierung der Mimik, mithin die ins Überlebensgroße oder auch Überlebenskleine verzerrte Geste. Gerade in dieser Stummheit und Starrheit entwickeln die menschenähnlichen Kunstfiguren ihre eigene Sprache, kreieren den universellen Anspruch und erzeugen die hohe Intensivierung der Realität. Dieses Spezifikum der Puppengestalten verleiht nach Schumann der darstellenden Kunst selbst enormes Potential, was den Verfremdungseffekt betrifft: ‘Puppetry is admitting that we do ‚theatre’ … Actors want you to believe them, but you needn’t believe Puppets. You see them move and you listen to them. It is a strange relationship. You don’t waste time believing they are real.’238 Ein Grund, weshalb das Bread Puppet Theatre prinzipiell den menschlichen Schauspieler mit Puppenfiguren arbeiten ließ, dessen Alleingang schlimmstenfalls schlechte Imitationen der Wirklichkeit, billige Zerrbilder wirklicher Gefühle 236 zt. nach: Brecht 1988, S. 35. 237 Schumann, zit. nach: Helen Brown/ Jane Seitz: With the Bread and Puppet Theatre. An Interview with Peter Schumann, in: The Drama Review (12/ 2) 1968, S. 70. 238 Schumann, zit. nach: William Rough: The Bread and Puppet Theatre. Interview with Peter Schumann, in: Dramatics, December 1973, S. 25. 147 und Handlungen produzieren würde. Jahre später bringt Schumann die Ästhetik des Puppentheaters auf die Formel: ‚Alienation is automatic with puppets.’239 Die Puppen des Bread and Puppet Theatre sind demzufolge von Anfang an mehrdeutig konzipiert. Manche von ihnen bleiben schlechterdings rätselhaft, andere lassen einzelne oder eine ganze Reihe von Themensträngen erkennen. In der zumeist befremdlich langsamen und steifen Bewegungschoreographie verstärkt sich diese Mehrdeutigkeit, welche dann in Bühnenarrangements, die in aller Regel mit zusätzlichen und ebenso befremdlich unheimlichen Klangebenen akustisch angereichert sind, äußerst konzentriert zur Wirkung kommt. Die modellierten Kunstgeschöpfe sind aber keineswegs die Wiedergabe realer Personen, sozialer oder psychologischer Typen mit mimetischem Anspruch, sie sind vielmehr Phantasiefiguren, deren Stellung darin liegt, dass sie in ihrer Abstraktion gleichzeitig anschauliche Bildsymbole hervorrufen. Die Multivalenz der Kunstfiguren ist damit eine grundsätzliche Ablehnung und Hinterfragung vertrauter Sehgewohnheiten. Die ungeschlachte Fremdheit der jenseits aller gewohnten Proportion modellierten Körper, dazu das unvermittelte Neben- und Gegeneinander der verschiedenen theatralen Zeichensysteme – all dies verunsichert jede Interpretation, die auf bündig formulierbare Aussagen erpicht ist, sorgt letztendlich für ständige Irritation beim Zuschauen. Das Bühnengeschehen unterläuft systematisch alle Deutungen, die sich auf eine einzige szenische oder inhaltliche Aussage festlegen wollen, der Betrachter bleibt seinerseits auf vorläufige Deutungen unter Vorbehalt angewiesen, kann sich jedoch mit dem gefällten Urteil nie in Sicherheit wiegen. Über ästhetische Forderungen und politische Parolen hinaus wird der Zuschauende folglich mit diesen von den künstlichen Figuren fingierten Sinnbildern konfrontiert und zu einer geistigen Reaktion herausgefordert. Die bewusste Vieldeutigkeit und Fremdheit der Puppenfiguren bedeuten somit, dass jede Inszenierung ein hohes Maß an Ambiguität aufweist; ein Gegeneinanderführen von Auge und Ohr, die radikale Dissoziationen von Geste und Wort, die sich einst in den archaischen Bildern visualisierten. In diesem Sinne betrachtet Schumann sein ‚Puppenspiel’ als: ,the employment and dance of dolls, effigies and puppets, [it] is not only historically obscure and unable to shake off its ties to shamanistic healing and other inherently strange and hard to prove social services. It is also … an anarchic art, subversive and untameable by nature, an art which is easier researched in police 239 Schumann, zit. nach: Helen Brown/ Jane Seitz 1968, S. 70. 148 records than in theatre chronicles, an art which by fate and spirit does not aspire to represent governments or civilizations, but prefers its own secret and demeaning stature in society, representing, more or less, the demons of that society an definitely not its institutions.’240 Das Bread and Puppet Theatre sei das Theater, das versucht, die Erinnerung an den uralten und ureigenen Zauber symbolischen Spiels lebendig zu halten und in der mehrdeutig bleibenden Aura seiner Aufführungen ein Echo ehemaliger Funktionen von Theater anklingen zu lassen, als jenes einst noch der Ort schamanistischer Praktiken und ein Medium transzendenter und metaphysischer Welterfahrung, eben ein ‚self-sufficient ritual’ war. ‘What is the purpose of a puppet show? To make the world plain, I guess, to speak simple language that everybody can understand. […] They [die Puppenspieler] have to learn to speak very slowly, to touch people cautiously in order to move them. […] The importance of story-telling and puppetry is little in the face of hunger and multilation. That little importance is important. The masterplan of all the little importances together has a name: liberation, light and life.’241 Die Inszenierungen des Bread and Puppet Theatre sind also geprägt von diesem Widerstreit zwischen einerseits dem Bekenntnis zum politischen Engagement von Theater und andererseits der Reklamierung einer höheren und nonutilitaristischen Rolle, welche die Puppengestalten kraft ihrer Vielschichtigkeit und der Verwurzelung ihrer Bilder und Metaphern im Archetypischen spielen. In diesem archetypischen Gegensatz von Gut und Böse umfasst das Theater im gleichen Augenblick das älteste Motiv der Menschheit wie exemplarisch die aktuellen Konflikte, beschwört es in seinen eindringlichen Bebilderungen des Motivs das Prinzip Hoffnung. Dass sich Schumanns Konzept der Agitation von dem unterschied, was die Mehrzahl der Gruppen des damaligen politischen Theaters praktizierte, war gerade dieses Puppentableau: Was das Bread and 240 Peter Schumann: The Radicality of the Puppet Theatre, zit. nach: Gerd Burger: Agitation und Argumentation im politischen Theater. Die San Francisco Mime Troupe und Peter Schumanns Bread and Puppet Theater als zwei komplementäre Modelle aufklärerischen Theaters, Bremen 1992, S. 53. 241 Randy Bolton: Peter Schumann’s Creative Method Used in Making Plays with the Bread and Puppet Theatre, Florida 1981, S. 127. 149 Puppet Theater betreibt, ist eine ‚Agitation der Stille’242 – Das Bread and Puppet Theatre verkörpert eine Art von aufklärerischem Obskurantismus. Die ungeschminkte und ungelenke Künstlichkeit der Puppen, erst ihre absolute und unmißverständliche Lebensferne ermöglicht die besondere Wirksamkeit als beredtes Medium stummer Kritik: Puppe als eine vergrößerte Spielfläche, während Reaktion und Urteil allein dem Zuschauer überlassen bleiben. Das Medium, das die Puppe hier überbringt, ist seine eigene Botschaft. Medium und Botschaft sind eins, nicht Maske von und für etwas, sondern selbst. 4. 2. Die Verdoppelung des Puppenkörpers - ‚Das Theater des Todes’ von Tadeusz Kantor Körper in Tradition und Aufbruch Kantors Bühne bevölkern die Gliederpuppe, Wachsfiguren, oder wie er sie nennt, Mannequins. Immer wieder verwendet der polnische Regisseur, Zeichner, Bühnenbildner und nicht zuletzt Kunsttheoretiker Tadeusz Kantor (1915–1990) in seinen Inszenierungen die menschenähnlichen Kunstfiguren, welche Schauspielern in Größe und Aussehen nachgebildet sind und von ihnen getragen, hingesetzt oder hingestellt werden, und platziert diese dabei inmitten des Bühnengeschehens. Die Bühne wird so zur zum Leben erwachten FigurenAssemblage, artikuliert gleichzeitig Geheimnisvolles und Mystisches, weniger durch den Diskurs der Sprache, vielmehr durch das Medium der Bilder. Die Bühne ist eine leere Schulklasse mit alten Holzbankreihen. Auf den Bänken stehen und sitzen etwa zwölf Schauspieler im schwarzen Anzug, die in die Ferne starren. [Abb. 33] Rechts am Rande sitzt auf einem Stuhl eine ebenfalls schwarz gekleidete und greisenhafte Wachspuppe, die während der ganzen Aufführung inmitten der herumalbernden Darsteller still und unverändert bleibt. In der nächsten Szene treten dann die Schauspieler mit Puppen auf, die ihnen im Nacken sitzen oder um den Bauch hängen; jeder von ihnen hält eine wie aus dem eigenen Körper herausgewachsene Puppe eines Buben in schwarzer Schul242 Hellmuth Karasek und Theo Hardtmann: Traumatische Genauigkeit – das Bread and Puppet zeigt ‚Grey Lady Cantana’ und ‚Vogelfänger in der Hölle’, Theater heute, 13/2 (Feb. 1972), S. 29. 150 uniform mit weißem Kindergesicht. Gebärden und Schritte der Akteure sind plötzlich unsicher. Die ‚Alten’, die eingangs ruhig zwischen zerfallenen, vergilbten Büchern saßen, fangen an zu zappeln, es entsteht ein Durcheinander. Federbetten werden geworfen, Geschrei, Wettlauf um die Bänke und Gedrängel füllen den Raum. Nach einer Weile kehren sie in die Bankreihen zurück. Stille. Und wieder fangen sie an, einander anzuschreien und nachzuäffen. Diese Szenen wiederholen sich. Die Bewegungen der Figuren summieren sich zum Automatenhaften. Dieses scheinbar chaotische Szenenwechselspiel wird von einem Mann bestätigt: dem Mann, der die ganze Zeit über zwischen den Bühnenfiguren umhergeht. Er dirigiert den Ablauf, erteilt kurze Anweisungen und gibt Zeichen für den Beginn oder das Ende einzelner Aktionen. Im Jahr 1975 in Krakau wurde Die Tote Klasse (Umarla Klasa) uraufgeführt. Obwohl die Idee der ‚toten Klasse’ den Texten von Stanislaw Ignacy Witkiewicz und Bruno Schulz entstammt, kann die Inszenierung keineswegs als deren Umsetzung betrachtet werden. 243 Der szenische Raum weist zwar die Mehrdeutigkeit auf, die bei der Analyse der semantischen Strukturen beschrieben würde; es finden sich Elemente, die der horizontalen Bühne zuzuordnen sind, wie Schulbänke, Fenster oder Schulklo, mithin so zu einer Semantisierung ‚Raum der Jugend’ führen könnten. Diese Elemente sind jedoch den anderen gegenübergestellt, die sich keinesfalls in diesen Zusammenhang einordnen lassen, beispielsweise die einem gynäkologischen Untersuchungsstuhl ähnliche sog. Familienmaschine mit ihrem mechanischen Öffnen und Schließen oder der ‚Dirigent’, der sich als reale Person inmitten der Bühnenfläche bewegt. Zwar stellt sich der Semantisierungsprozess für den Anfang noch motiviert dar, wird aber im weiteren diskursiven Verlauf beschwerlich. Die Inszenierung scheint sich, so der Eindruck, von Vorlagentexten zur Eigenständigkeit hin zu lösen. Die Aufführung folgt weder einer kausal, zeitlich oder räumlich bedingten Abfolge von Sequenzen, während die Aneinanderreihung ähnlicher Elemente das prägende Merkmal der Aufführung wird. Auf dem Prinzip der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit 243 Tumor Mózgowicz (Tumor Hirnnowitsch) von S. I. Witkiewicz und Emeryt von Bruno Schulz waren Vorlage von Die Tote Klasse. Hierzu schreibt Kantor: ‚Es wäre jene unvernünftige Pedanterie eines Bücherwurmes, zu versuchen, die fehlenden Fragmente aufzuspüren, um dadurch zum lückenlosen ‚Wissen’ über den Gegenstand der Handlung dieses Stückes zu gelangen. Dies wäre der einfachste Weg, jene so wichtige Sphäre der EMPFINDUNG zu zerstören! Deshalb ist es nicht empfehlenswert, den Inhalt des Stückes ‚Tumor Hrinowitsch’ von S. I. Witkiewicz kennenzulernen.’ Kantor, in: Reisender – Seine Texte und Manifeste. Institut für moderne Kunst Nürnberg (Hg.), Nürnberg 1988, S. 260. 151 beruhenden Sequenzen entfaltet die Bühne so ein Spiel der Zeichen, in dessen Verlauf Referenzen aufgebaut werden, um im nächsten Moment wieder zerstört zu werden. Dieses dekonstruktive Bild beschreibt aber nur einen Teilaspekt der Inszenierung. Die Raum- und Zeitkonstitution, die zusätzlich durch das Prinzip der Wiederholung und die dadurch konstituierte Zeitstruktur der Zyklus, wird durch das Moment der Progression und Sukzession in Unendlichkeit überführt und abermals unterbrochen. Sie wird vor allem durch die weiteren Elemente getragen: Bühnenfiguren, die ebenso in keinem er-sichtlichen Zusammenhang mit den eigentlichen dramatis personae stehen. Oft folgen ihre Bewegungen rhythmischen Mustern oder einer alle Figuren einbeziehenden Choreographie in einer Art Prozession oder Reigen. Blickkontakte mit anderen Figuren finden äußerst selten statt, bleiben auch nur auf kurze Momente beschränkt, der Blick der Figuren richtet sich dabei selten auf einen festen Fokus. So löst sich die Darstellung der Figuren als selbständige Subjekte auf. Auf der Ebene der akustischen, gestischen und mimischen Zeichen vollzieht sich schließlich ein Bruch, den man durchaus als entseelten Körper betrachten könnte. Die Tote Klasse wurde vom Großteil der Kantor-Forschung im Hinblick auf seine Position innerhalb des polnischen wie auch des europäischen Theaters als Schlüsselwerk für eine neue Schaffensphase im gesamten Oeuvre von Kantor aufgefasst: den Beginn des ‚Theater des Todes’. 244 Setzte sich Kantor in den früheren Phasen mit dem Formenrepertoire der nationalen sowie internationalen künstlerischen Theaterlandschaft auseinander, löste er sich mit dem Theater des Todes davon und schaffte die für ihn typische Bühnenform. Die Reibung sowohl an regionalen bzw. nationalen Traditionen als auch am internationalen bzw. avantgardistischen Kulturbetrieb bleibt jedoch in der späteren künstlerischen Laufbahn von Kantor nachhaltig. 244 vgl. Denis Bablet: Le Théâtre de la mort, Lausanne 1977; Geroges Banu (Hg.): kantor, l’artiste à la fin du XXe siècle, Paris 1990; Günther Ahrends/Herta Schmid: Geburtstag und Tod: Tadeusz Kantors ‘Aujourd’hui e’est mon anniversaire, in: Forum Modernes Theater, 2 (1991), S. 181-189; Michal Kobialka (Ed.): A Journey Through Other Spaces. Essays and Manifestos, 1944-1990. Tadeusz Kantor, University of California Press 1993; Krzysztof Plesniarowicz: The dead memory machine. Tadeusz Kantor's Theatre of death, Krakow 1994; Ausst.Kat.: Tadeusz Kantor: 1915 – 1990. Leben im Werk (vom 19. September bis 1. Dezember 1996) Kunsthalle Nürnberg. Nürnberg 1996; Peter W. Marx: Theater und kulturelle Erinnerung. Kultursemiotische Untersuchungen zu George Tabori, Tadeusz Kantor und Rina Yerushalmi, Tübingen 2003. 152 In Polen war die Auseinandersetzung mit der Tradition zu Beginn des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung einer neuen Theaterpraxis. Der zentrale Bezugspunkt, an dem thematisch ästhetisch bestimmende Muster gebildet wurden, war die Romantik, deren Ausdrucksform bereits über Jahrzehnten das Fundament der polnischen Kulturleben war. Einer der zentralen Träger dieser Epoche ist Stanislaw Wyspianski (1869-1907), dessen ‚Monumentales Theater’ die Fortsetzung der Idee und neue Theaterform der polnischen Romantik bildete. Der Dramenautor, Regisseur, Bühnenbildner, Maler und Innenarchitekt sah in seinem Theater das Nationaltheater Sanktuarium der Nation verwirklicht, das jenseits der Imitation der Wirklichkeit mit patriotisierenden und gesellschaftlich-moralisierenden Vorsätzen auf einem repräsentativen Repertoire der polnischen und ausländischen Klassik aufgebaut werden sollte.245 Kennzeichnend für die den Kanon bildenden Texte dieser Zeit war daher die Bezugnahme auf Theatralität außerhalb des Theaters. Insbesondere diejenige der römisch-katholischen Liturgie und der mit ihr verbundenen ikonographischen Muster spielte in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Als prägend für die szenische Praxis war die Tradition der Szopka, einer Form des Krippenspiels mit Puppen.246 Auf inhaltlicher wie auch formaler Ebene erwies sich die Bezugname auf die Kunstgeschöpfe als stilbildend. Auch die strenge Raumaufteilung der Szopka lässt sich als Muster immer wieder feststellen. Kantor sah seine Arbeit durchaus dieser Traditionslinie verpflichtet. So hat er beispielsweise Texte von Wyspiansiki für die Bühne bearbeitet und inszeniert. Hinzu kam im Jahre 1943 das Schauspiel Balladyna des Theatr Podziemny nach 245 Bruno Schulz spricht in dieser Hinsicht von einer ‚degradieren Wirklichkeit’. Bruno Schulz: Die Zimtläden und andere Erzählungen, Berlin 1970, S. 44; vgl. dazu auch: Dietrich Scholze: Zwischen Vergnügen und Schock. Polnische Dramatik im 20. Jahrhundert, Berlin 1989; Hans-Peter Bayerdörfer, Malgorzata Leyko, Malgorzata Sugiera, Max Niemeyer (Hg.): Polnisch-deutsche Theaterbeziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg, Tübingen 1998. 246 Die Tradition des Krippenbauens wurde im 13. Jahrhundert von den Franziskanern nach Polen gebracht. Seit Ende des 18. Jahrhunderts entstand dann eine regional einzigartige Krippenform, die Szopka, was soviel bedeutet wie Schuppen oder Hütte, in der bewegliche Figuren in einem tragbaren dreidimensionalen Bauwerk untergebracht waren. Bis heute ist diese ‚Wanderkrippe’ daher meist ein transportables Gebäude, das die Möglichkeit bietet, weihnachtliche Puppenspiele aufzuführen. Den architektonischen Kunstwerken dienen historische Gebäude, besonders Kirchen, als Vorbild. Meist sind es Figuren aus Sagen und Legenden, die mit der Heilige Familie assoziiert werden. Viele Arbeiten beeindrucken aber auch durch bewegliche Details. 153 der gleichnamigen Tragödie des Romantikers Juliusz Slowacki. Sein Theater steht dennoch im Spannungsfeld zwischen Tradition und Neugestaltung. Kantor grenzte sich vor allem von der Nationaltheateridee, wie sie sich etwa bei S. I. Witkiewicz findet, ab. Anstelle von Mystik und patriotischer Romantik schlug er Ironie und Humor vor, die Symbolhaftigkeit des Theaters war für ihn mehr von der Bedeutung. Diese enge Verhältnis von Kantor zum vaterländischen Theater bzw. seine eigene Dynamik innerhalb der Entwicklung des polnischen Theaters erklärt sich schließlich im Hinblick auf die intensive Auseinandersetzung mit der ausländischen Bühne. Seine programmatischen Schriften weisen ihn gerade als Vertreter Historischer Avantgardebewegungen aus. In einem Manuskript erinnert sich Kantor an seine erste Begegnung mit der Avantgardebewegung: ‚Der Direktor des Kleinen Ephemerischen Theaters [So nennt sich Kantor selbst] selbst ist von inneren Widersprüchen zerrissen. Einmal kaufte er in einem Antiquariat ein kleines Gelbes Bauhausbuch […] Walter Gropius, László Moholy-Nagy, Oskar Schlemmer, Paul Klee und so viele andere. Mit Mühe und Beharrlichkeit übersetzte er ihre seltsamen und verzaubernden Texte … metaphysisches Abstraktum, mechanische Exzentrizität, triadisches Ballett, Mensch und Maschine, Zirkus, Dreiecke, Räder, Zylinder, Kuben, Klänge, Farben, Formen – simultan, synoptisch, synakustisch, in der Ekstase der Freude, der Konstruktion, einer gegenstandslosen, reinen, befreiten Welt, der Abstraktion …‚247 Kantor schätzte darin die Experimente und Leistungen der Historischen Avantgardisten und wendete sich seiner Werkautonomie zu. Seine Bühnenarbeiten lassen sich nicht von den sie begleitenden Materialien und Formen ableiten und entstehen zu einem gewissen Zeitpunkt wie von selbst, unabhängig von zuvor festgelegten Äußerungen und Programmen. 248 Seine Bühne nannte Kantor deshalb anfangs das ‚Autonome Theater’, das ‚kein Apparat zur Reproduktion oder zur sogenannten Bühneninterpretation der Literatur ist, 247 Kantor, zit. nach: Jan Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater, in: Harald Xander (Hg.): Tadeusz Kantors Theater, Tübingen 1995, S. 7. 248 Kantors entscheidender Schritt zur Bühnenarbeit ist die Gründung des Theatr Cricot2, dessen Name etwa Zirkus bedeutet und gleichzeitig als programmatischer Anspruch verstanden werden kann. Ein äußerliches Zeichen ist auch der Umstand, dass Cricot nicht in konventionellen Theatergebäuden veranstaltete, sondern Orte, wie Keller oder Cafés, wählte. Die Inszenierung von ‚Rückkehr des Odysseus’ (1944) im Unabhängigen Untergrundtheater in Krakau gilt als eine der wichtigsten Inszenierungen Kantors vor dem Theater des Todes. 154 sondern das seine eigene unabhängige Wirklichkeit besitzt’249. Ein Axiom, das seine gesamte Theaterkonzeption mit den Spannungsbegriffen wie Gegenwart und Vergangen-heit, Wirklichkeit und Fiktion, Realität und Illusion stets begleiten wird. Körper zwischen Wirklichkeit und Illusion Mit dem Begriff ‚Illusion’ definierte Kantor anfangs noch das Kunstwerk im traditionellen Sinne, deren Gegensatz die ‚Realität’ bildet, so wie das ‚künstliche’ Objekt das Gegenstück der ‚fertige’ Gegenstand weist. Die Bühnenillusion war für ihn die gesamte Maschinerie und der Funktionsmechanismus der herkömmlichen Theaterbühne mit ihren Dekorationen und Effekten, die darauf abzielen, beim Zuschauer eine Täuschung hervorzurufen, den Anschein einer bestimmten Wirklichkeit zu schaffen und Leben vorzutäuschen. Die Bühnenrealität sei hingegen der Komplex jener fertigen Gegenstände, die aus der Wirklichkeit stammen und vom Künstler nicht angefertigt, sondern gefunden oder ausgewählt werden sollten. So nannte Kantor Realität bzw. fertige Gegenstände ‚ready-made’, abgeleitet von Marcel Duchamps Idee des ready made. Sie entstammen dem Bereich der ‚Realität Niedrigsten Ranges’, müssen in den Kontext der jeweiligen Aufführung versetzt und dort in einem neuen Gesicht gezeigt werden. Die alten Schulbänke, die fast schon zu Staub zerfallenen Bücher, das Fenster mit alten Rahmen oder ausgediente Fahrräder aus Die Tote Klasse sind dabei sichtbares Beispiel. Führte Kantor aber in seiner ersten Schaffensphase den ‚Kampf mit der Illusion’ und strebte nach der ‚Annexion der Realität’, lehnte er jedoch in der folgenden Phase die Illusion nicht völlig ab und entkräftet seinen Standpunkt zur Illusion mit der Begründung: ‚die Illusion besitzt jenseits der bekannten Bedeutung einen metaphysischen Aspekt. Die Funktion, die ihr lange Zeit durch Unterwürfigkeit gegenüber der Natur und der Realität des Lebens zugeschrieben war, ist keineswegs ohne Essenz.’250 Die metaphysische, bislang unbeachtete Seite der Illusion sei die Wiederholung bzw. 249 Kantor, zit. nach: Klossowicz 1995, S. 20. 250 Tadeusz Kantor: Die Illusion und die Wiederholung, in: Tadeuzs Kantor. Theater des Todes. Die tote Klasse. Wielopole- Wielopole. Hrg. von Institut für moderne Kunst Nürnberg. Fotographiert von Günther K. Kühnel. Zirndorf 1983, S. 122. 155 ‚ein Ritual […] so scheint es, von der anderen Seite des Lebens, in einer Verbindung von Einverständnis mit dem Tod. Nennen wir es klar und offen: Dieses obskure Verfahren, die Wiederholung, ist ein Protest und eine Herausforderung. Man könnte jetzt leicht hinzufügen, dass es der Kern der Kunst ist!’251. Die Wiederholung, welche das Schauspiel stützt und ihm die Aufgabe zuweist, die Selbstverständlichkeit von Vorgängen aufzulösen, entziehe somit ‚der Realität ihre vitale Funktion, ihren unumgänglichen Sinn, die Kraft der Aktivität des praktischen Lebens’252. Ohne das, was als Wirklichkeit bzw. als Illusion zu gelten hat, bestimmen zu wollen, scheint nun für Kantor deshalb weniger die Unterscheidbarkeit als vielmehr die Verbindlichkeit verschiedener Wirklichkeitsbereiche wichtiger. Das entscheidende Moment im Theater liege nicht darin, dass und wie die Welt auf die Bühne gebracht wird, sondern in dem Versuch, die Welt als gültige Dimension der Wirklichkeit erfahrbar zu machen und damit eine Neubestimmung derselben vorzunehmen. Stellte er sich einst die Frage nach dem Status der Illusion, versucht Kantor nun, deren metaphysische Dimension auf der Bühne darzustellen. In seinem Theater wird ein Spiel zwischen Illusion und Realität eingeleitet. Dieses ‚Verschwimmen der Grenzen’ ist augenscheinlich in Kantors Verwendung von Requisiten. In Die Tote Klasse trägt z. B. eine Figur ein altes Fenster mit sich, durch dessen trübe Scheibe sie das Bühnengeschehen beobachtet. [Abb. 34] Eine andere Gestalt ist indes fest mit einer Art Kinderfahrrad verbunden, dessen Vorderrad sie mit den Händen antreibt. Solche Verbindung zwischen Requisit und Schauspieler wird für weite Teile der Aufführung nicht aufgelöst. Im Personenverzeichnis des Stückes erscheinen die Figuren folgerichtig nicht mehr mit individuellen Namen, sondern werden durch das ihnen zugeordnete Requisit als ‚die Frau mit dem Fenster’ und ‚der Alte mit dem Fahrrad’ bezeichnet. Kantor charakterisiert diese Requisiten ganz ihrer Funktion entsprechend als ‚Bio-Objekt’. Es handelt sich um die unmittelbare, besonders enge Kontextualisierung eines Schauspielers mit einem Objekt. Ein vom Schauspieler verlassenes ‚Bio-Objekt’ wird dann zum ‚Wrack’. ‚Die Bio-Objekte waren keine Requisiten, derer sich die Schauspieler bedienen. Sie waren keine ‚Dekoration’, in der man ‚spielt’. Sie bildeten mit den Schauspielern eine unteilbare Einheit. 251 ebd., S. 123. 252 Tadeusz Kantor: Die Illusion und die Wiederholung, S. 124. 156 Sie gaben ihr eigenes, autonomes ‚Leben’ von sich, indem sie sich nicht auf die Fiktion (den Inhalt) des Dramas bezogen.’253 Ein solcher zwischen Realität und Illusion balancierender Gegenstand, der in keiner direkten Relation zum Dramentext steht, verändert von nun an die konventionelle Schauspielästhetik von Kantor. Der Metakörper Kantor definiert folglich die Aufgabe des Schauspielers als einen Komplex von Tätigkeiten, die vom ‚Dar-Stellen’ einer Rolle weit entfernt und so einer antinaturalistischen Ästhetik zugeordnet sind. So wie er dem Theater die Funktion eines Modells zuwies, an dem eine autonome und daher universelle Problematik zutage tritt, begreift Kantor den Schauspieler nicht als soziale Rolle oder bestimmte Funktionseinheit einer Theateraufführung, sondern als einen Stellvertreter der menschlichen Gattung. Es ginge der Schauspielkunst nicht um die Theorie vom Abbild eines in seiner Epoche verfangenen Menschen, ebenso wenig um eine Widerspiegelung. Die Figuren sollen anstatt dessen repräsentiert werden, um die für alle Menschen gültigen, kulturellen Universalien auf die Bühne zu bringen und damit ein Menschenbild freizulegen, das vom tragischen Bewusstsein des Todes geprägt wird, jedoch im Laufe des Jahrhunderte verloren ging. Nicht umsonst bezeichnet Kantor deshalb die Schauspielkunst als ‚metaphysischen Schock’, der beim Zuschauer dadurch hervorgerufen wird, dass er das tragisch zirkushafte Bild des Menschen erblickt, als ob er sich selbst erblicken würde. ‚Es gilt, die Ur-Kraft dieses Augenblicks, in dem zum ersten Mal ein Mensch (der Schauspieler) einem anderen Menschen (dem Zuschauer) gegenübertrat – ihm täuschend ähnlich, und doch ungreifbar fremd, jenseits, hinter einer Barriere, die nicht zu überschreiten ist – wiederzufinden.’254 Die ‚Urkraft’, die Kantor hier als Ursprung der Bühnenkunst beschreibt, setzt sich aus einem Widerstreit zusammen, sich selbst – in Gestalt des Schauspielers – zu erkennen und sich als Fremder – in Gestalt des Zuschauers – gegenüber- 253 Kantor, zit. nach: Harald Xander: Tadeusz Kantors Theater, S. XXXI. 254 Kantor: Theater des Todes, in: Ein Reisender 1988, S. 254. 157 zutreten. In diesem Übergang von Fremdheit und Wiedererkennen liegt die ‚metaphysische Erschütterung’, auf die seine Schauspielkunst zielt. Um jene utopische Situation zu schaffen, ist also die Fremdheit eine unverzichtbare Notwendigkeit. Nur durch die Grenze und die Fremdheit gelingt die ästhetische Überwindung. Dieses ‚Metabild’ ist jedoch zu abstrakt bzw. problematisch. Es will auf der Bühne eine Figur mit universeller Botschaft, die aber nichts mitteilt. Kantor spricht sogar von einem lebendigen Schauspieler, in dem ein Toter wohnt. 255 Das Element, das am unmittelbarsten mit der metaphysischen Seite zusammenhängt, ist weder ein menschlicher Darsteller noch ein symbolischer Gegenstand. Es ist für Kantor die Puppe. Bereits seine frühe Schaffensphase weist auf Kantors intensive Beschäftigung mit den Puppen hin. Sein erster bühnenbilderischer Versuch Smierc Tintagilesa (Der Tod des Tintagiles) aus dem Jahre 1938 war eine Marionettenaufführung nach Maeterlincks La mort de Tintagiles, die Kunstfiguren hatten in The WaterHen (1967) und The Shoemakers (1970) eine besonders signifikante Rolle: ‚They were like a nonmaterial extension, a kind of additional organ for the actor, who was their ‚master’.256 Jahre später beschrieb Kantor indes im Hinblick auf die Inszenierung Balladyna (Theater Bagatela, 1974), deren Handlungsgeschehen die Puppengestalten begleiteten, die Rolle der Puppen folgendermaßen: ‚Mannequins, willenlose Kreaturen, sind sehr gute Ausdrucksmittel für die unerbittliche Macht des Schicksals, das Fatum, das menschliche Lebensgeschicke vorherbestimmt. […] Lebende sind von Mannequins umgeben. Die Tragödie der herrlichen und verbrecherischen Balladyna wurde von den Mannequins vorentschieden und vorgespielt. Meine Aufgabe bestand darin, diese ‚UrSzenen’ des Schicksals aufzudecken. Schauspieler spielen jene ‚Lebenden’, indem sie die Gesten der Puppen exakt wiederholen, und sie spielen ihr faszinierendes Spiel bei vollem Bewusstsein um diese fatalistische Philosophie.’257 Eine Puppe, bekanntlich kein Kunstwerk, sondern ein von einem Handwerker gefertigte Imitation einer Person, ist nach Kantor das Inbild von Nachahmung und Unvollständigkeit. Aufgrund dieser ‚Trödelhaftigkeit’ zähle sie zu den 255 vgl. Kantor: Ein Reisender. 256 Kantor: The Theatre of Death, S. 111. 257 zit. nach: Ausst.Kat.: DAS THEATER DES TADEUSZ KANTOR. Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf (12. Mai bis 8. Juli 2001). 158 Gegenständen aus dem Bereich der ‚reality of the lowest order’, ‚empty object’, ja ‚dummy’258. Die humanoiden Geschöpfe existieren ‚immer an den Peripherien der sanktionierten Kultur. Die Folge: Der ‚Zutritt’ war ihnen damit verwehrt. Sie hatten ihren Platz in den Jahrmarktsbuden, in den suspekten Gauklerkabinetten, weit entfernt von den heiligen Tempeln der Kunst’259. Nach Kantor gehört dagegen diese Puppe im Theater gerade aufgrund dieser besonderen ‚Natur’ sowohl zum Bereich der ‚Realität’ als auch zum Bereich der ‚Illusion’. Sie ist zwar ein Gegenstand, sieht aber wie ein Schauspieler aus und ruft beim Zuschauer völlig andere Assoziationen hervor als ein Bühnenrequisit. Unter den Bühnenelementen nähme die Puppe folglich eine Grenzposition zwischen Gegenstand und Schauspieler ein. Durch ihre visuelle Gestalt passe sie als Ding in den Rahmen der ‚Realität’, als Äquivalent einer Bühnenfigur gehöre sie zur Welt der Illusion. Die Puppengestalten auf der Bühne vollziehen damit ein endloses Wechselspiel von Realität und Illusion, Wirklichkeit und Fiktion. ‚In meinem Theater muss die Puppe zu einem Modell werden. Dadurch kann die erschütternde Empfindung des Todes und die Situation der Toten übermittelt werden. Die Puppe als Modell für den lebendigen Schauspieler.’260 Eine Puppe wird so auf der Kantorschen Bühne zu einem der fundamentalen, aktiven Faktoren des Schauspiels und innerhalb der Aufführung auf der gleichen Ebene wie der ‚lebendige’ Darsteller behandelt. Der Begriff ‚Schauspieler’ gewinnt in Kantors Theater dadurch eine doppelte Bedeutung: Er schließt neben dem ‚lebendigen’ Darsteller auch andere aktive Elemente der Aufführung mit ein. Dabei lassen sich Kantors Puppen nach zwei Kategorien unterscheiden: Die einen werden als die eigenständige Rollenfigur nachgebildet und beim Auftritt als vollkommen gleichwertiger Bedeutungsträger eingesetzt. Zusammen mit dem menschlichen Schauspieler sind sie in das Geschehen direkt einbezogen. Wenn in Die Tote Klasse ein Leichenhaufen aus Menschen- und Puppenkörpern aufgeschichtet wird, verwischt die Grenze zwischen beiden schließlich zur Ununterscheidbarkeit. Der Körper der Puppe und des Schauspielers beansprucht in Bezug auf die Rollenfigur eine gleichberechtigte Bedeutung. Die Ähnlichkeit der äußeren Erscheinung von Schauspieler und Puppen signalisiert, dass beide auf 258 vgl. Kantor: The Theatre of Death, S. 111. 259 Kantor, zit. nach: Klossowicz 1995, S. 66. 260 Kantor 1988, S. 253. 159 dieselbe Rollenfigur zu beziehen sind. Der Rezipient, der Zuschauer also, wird daher vor die Aufgabe gestellt, eine Identität der Rollenfigur zu konstruieren, in der die Kontraste zwischen den beiden als aufgehoben gedacht werden können. Die Konfrontation des Schauspielers mit Puppen erscheint deshalb als ein Moment der Dekonstruktion und Neukonstruktion des Zeichenträgers zugleich. Die Verdichtung, Desemantisierung und Resemantisierung der verschiedenen Kontexte kann somit nur zustande kommen, wenn der Zuschauer die verwendeten Zeichenensembles als Signale für diese Kontexte erkennt und einsetzt. Die anderen bilden in der ‚Toten Klasse’ kleine Kinder im Schulalter ab. [Abb. 35] In diesem Fall sind sie ‚Ergänzungen’ oder Doubles der menschlichen Akteure: Ein Symbol für die Kindheit der greisen Menschen, die auf die Schulbank zurückkehren, um noch einmal ihre Vergangenheit erleben zu können. Diese Puppen werden während der Aufführung von den Schauspielern getragen oder neben ihnen auf den Bänken gesetzt. Solche am Körper befestigten Puppen gewinnen im Verlauf der Aufführung enge Beziehung zum Träger bzw. zum Schauspieler, mit dem sie eine ‚untrennbare’ Einheit nicht zuletzt dadurch bilden, dass sie die Bewegungsmöglichkeiten ihrer Träger einschränken bzw. sie auf bestimmte Bewegungen festlegen und determinieren. Dabei entfremden die ‚Mannequins’ nicht bloß die Akteure durch Verdoppelung von dem ‚realen’, anatomischen Körper, gleichzeitig betont diese Verdoppelung die ‚reale’ Konstruktion: Die Bewegungshaltung des Schauspielers wird durch die enge und bedingungshafte Vernetzung mit ihm konkret und genau, das Geschehen auf der Bühne wird sichtbar, damit erfahrbar. Hierin unterscheiden sich gerade Kantors Puppen von E. G. Craigs Übermarionette: Kantor schließt sich zwar Craigs Übermarionetten-Gedanken an, ebenfalls auf dem Theater durch Puppengestalt ein Symbol ewiger ‚Wesenheiten’ wie Kraft, dem Tod ähnliche Ruhe und Harmonie darzustellen, variiert aber dieses Konzept in einem entscheidenden Punkt: Die Puppe soll nicht nur als Gegenmodell zum menschlichen Schauspieler, sondern als ein Double bzw. Doppelgänger des Schauspielers auf die Bühne treten. Während für Craig und sein Konzept der Übermarionette wichtig ist, dass die Puppe ein im Gegensatz zum Schauspieler perfekt manipulierbares Kompositionselement der Inszenierung darstellt, lässt sich für Kantors Theater das Spannungsverhältnis, das sich aus der Gegenüberstellung vom belebten Menschenkörper und unbelebten Puppenkörper ergibt, als wesentlich bestimmen. Die Grenze zwischen autonom handelndem Subjekt und 160 unbelebtem Objekt soll dadurch nur noch schwer zu bestimmen sein. Kantor schreibt: ‚I do not share the belief that the MANNEQUIN (or WAX FIGURE) could replace the LIVE ACTOR, as Kleist and Craig wanted. This would be too simple and naive. I am trying to delineate the motives and intent of this unusual creature which has suddenly appeared in my thoughts and ideas. Its appearance complies with my ever-deepening conviction that it is possible to express life n art only through the absence of life, through an appeal to DEATH, through APPEARANCES, through EMPTINESS and the lack of a MESSAGE. The MANNEQUIN in my theatre must become a MODEL through which pass a strong sense of DEATH and the conditions of the DEAD. A model for the live ACTOR.’261 Im Hinblick auf den Akteur beschreibt Kantor das Verhältnis zwischen dem menschlichen Schauspieler und der Puppe als das einer ‚Komplizenschaft’ in dem Bemühen, jene Fremdheit herzustellen, die er als Zustand des Todes benennt. Das heißt, obwohl die eine als Ideal des anderen benannt wird, ist es fürs Theater in Kantors Sinne konstitutiv, dass die Spannung zwischen beiden nicht aufgehoben wird, die Verfehlung des Ideals ist kein Mangel an Kunstfertigkeit, sondern Ausweis ästhetischer Strategie. Ein Grund, weshalb die Puppen in Kantors Theater keine Marionetten, Spielfiguren oder Schneiderpuppen, sondern ‚Wachsfiguren’, eine möglichst genaue Imitation des lebenden Menschen sind. Ihre Funktion besteht darin, dass sie die lebendigen Mitwirkenden des Schauspiels buchstäblich imitieren. Puppenfiguren sind damit die ‚dritte Figur’, das heißt, einen Sprecher, der zwischen Protagonisten und Antagonisten geschaltet ist und eine freie, dynamische Dramaturgie erlaubt. Dieser dritte Schauspieler übernimmt nicht eine bestimmte Rolle, sondern schaltet sich in Zweierbeziehungen auf störende Art ein, subvertiert und dekonstruiert die nur scheinbar harmonische, weil kontrollierte Symmetrie der anderen beiden. Dabei ist es wichtig, dass dieser Dritte selbst niemals fixiert wird, keine feste Gestalt annimmt. Puppen sind zwar auf ihrer Rolle als Spielleiter festgelegt, nehmen aber selbst nicht oder nur mittelbar am Geschehen teil. Sie agieren sozusagen auf einer theatralischen Metaebene, thematisieren und kommentieren die Kategorie des Dritten, d. h. sich selbst. Kantors Satz lässt sich damit verstehen: 261 Kantor: The Theatre of Death, S. 112. 161 ‚Das Theater der Automaten geht weiter. Alle wiederholen ihre erstarrten Gesten, die sie nie beenden werden [...] in ihnen für immer gefangen.’262 Es wird zusammengefasst: Aufgrund der Stummheit und der Materialität wurden die Puppen zum bevorzugten Darstellungsobjekt des Bread and Puppet Theatre und Kantors ‚Theater des Todes’. Während die menschenähnlichen Kunstfiguren bei Bread and Puppet Theatre für ein nahezu völlig auf Sprache verzichtendes Bildertheater eingesetzt wurden, erstrebten Kantors ‚Mannequins’ ein mit viel Lebendigkeit und Impuls agierendes Theater, dessen Dynamik aus dem ständigen Widerstreit mit den menschlichen Schauspieler entwickelt wurde. Die beiden Theater setzten dabei mittels der lautlosen Bildkraft der Puppe eindringliche, freilich sperrig verschlüsselte Parabeln in Gestalt symbolisch-abstrakter Bildtableaus in Szene, indem die Puppenfiguren in ihrem Doppelstatus - in der Imitation von jemandem (Wirklichkeit), der nicht mehr existiert (Illusion) - einerseits als lebendige Doppelgänger der Schauspieler in Erscheinung traten und andererseits ihre Identität der jeweiligen Bühnenfiguren aussetzten und so zu Repräsentanten einer bereits vergangenen Identität wurden. Puppen haben hier die Funktion einer identitätsstiftenden Maske übernommen. Das Theater der künstlichen Menschen stellte somit das komplementäre Modell Schauspieltheater dar. Es ging weniger um eine detailliert explizierte Darstellung zu konkreten Gegenständen, vielmehr um eine umfassende ‚Sensibilisierung’ in Anbetracht universeller, ja grundsätzlicher Fragen. Die Puppen fungieren als Vermittler der beiden Antinomien und befinden sich zwischen der ‚Welt des Lebens’ und der ‚Welt des Todes’. Es ist weder physischer Zustand noch symbolisches Zeichen, sondern eine Schwelle, die gerade die Grenze markiert, von der aus das Theater entstehen soll. Dort erlebt man das Theater des Physischen und Metaphysischen, des Realen und Irrealen, jener und dieser Welt. Ein Spiel, an dessen Podium das Puppenmännchen als Dirigent steht. 262 Kantor, in: Tadeusz Kantor. Theater des Todes, Institut für moderne Kunst Nürnberg (Hg.) 1983, S. 120. 162 5. Das Theater der Effigies - Robert Wilsons Bildertheater263 ‘It was a gigantic puppet with two people literally built into in, a woman standing on a platform on top for the face and a man below for the legs and for stability. As the puppet strode along, it swang its arms. Stage hands actually did the movements, using traveller lines that ran across a complex set of riggings. People on one side of the stage pulled the puppet; on the other side, they let it go, keeping it straight up at the same time. The size and movements made the process enormously tricky.’264 Diese einige Meter hohe Figur Abraham Lincolns aus The CIVIL warS (act IV) ist eine der typischen Bühnenfiguren, welche das Wilsonsche Theater bevölkern: In Form der phantastischen Figuren, etwa wie riesengroße Statuen, Zwerge, Märchen- Maschinenmännchen, und die Puppenfiguren, von Wilson oder auf auch spezifische in Form Weise in von der Guckkastenbühne des traditionellen theatralen Rahmens präsentiert werden. Sie besitzen die größte Bühnenpräsenz im Theater von Robert Wilson. Neben der Langsamkeit und Vieldeutigkeit der Bühnenbilder, welche dem Theater den Anstrich von Archaik und traumanaloger Verschlüsselung geben, verleihen die Androiden in ihrer augenfälligen Kombi-nation mit dem ungewohnten Tempo der Bewegungschoreographie den Szenen-bildern nachhaltige Eindringlichkeit - 263 ‚Bildertheater’ ist hier nicht als feststehender Begriff verwendet, sondern lediglich eine vorläufige Benennung für das gesamte Oeuvre von Robert Wilson. Aus dem Grund, dass sich das Bild bzw. die Imagination einen Spielraum schafft oder einen Bereich in einem größeren Gefüge absteckt, dessen Ergebnis entweder absurdes Theater oder surrealistisch beeinflusstes Theater sein kann, versuchte Wilson, ausgehend von der traditionellen Dramaturgie eine Möglichkeit zu finden oder zu entwickeln, die es gestatten sollte, den Zuschauer in eine Welt zu entführen, ohne der Basis – dem Theatergeschehen, der Handlung, der Bewegung und somit der Gegenwart – den Boden zu entziehen oder diese nach erfolgter Transzendenz ins Imaginative obsolet erscheinen zu lassen. Diese alternativen Bildwelten wurden in der Kritik oftmals mit Träumen verglichen. Als eines von vielen Beispielen ist unter anderem ein Wilson gewidmeter arte-Themenabend (14.10.1993) genannt, der Robert Wilson ‚Architekt der Träume’ überschrieben war. 264 Jeff Muscovin, ehemaliger Artdirektor von Wilson, zu dem ‚Lincoln colossus’ aus The CIVIL warS, zit. nach: Arthur Holmberg: The theatre of Robert Wilson, Cambridge (CUP) 1996, S. 210. 163 die Bühne stellt so ein überdimensionales Marionettentheater dar, in dem sich Bilder und Texte nahezu gemeinsam, doch unverbunden aufhalten. Das folgende Kapitel widmet sich den Strategien Robert Wilsons beim Einsatz von Puppenfiguren. Es zeigt sich dabei, dass hier ein weiteres Mal der artifizielle Körper als Medium dient, um alternative Zeichenkonzeptionen auf der Bühne einzuführen, die sich traditionell eingeübten linearen Schauspielmustern entziehen. 5. 1. Stumme Beredsamkeit: The Deafman Glance (1970) Körper als Bedeutungsträger oder ‚the body doesn’t lie’265 Betrachtet man die früheren Bühnenwerke des in Texas geborenen Bühnenkünstlers Robert Wilson im Überblick, so fällt bereits die artifizielle Gestaltung der Bühnenfiguren auf, deren Körper und Bewegungen zu extremer Künstlichkeit stilisiert sind. Zusammen mit den weitgehend sprachlosen, visuell kunsthaft bestimmten Bühnenbildern und betont langsamen Bühnenabläufen sind die automatenhaften, puppenartigen Figuren charakteristische Merkmale dieser frühen Schaffensperiode.266 Die Aufführungen, die wegen der Konzentration auf eine rein visuelle Wirkung oft als ‚Theatre of image’ bezeichnet werden, verwendeten künstliche Objekte- und Figurenkonstellationen. Zu seiner opera 267 The King of Spain aus dem Jahre 1969 erinnerte der Regisseur: ‚Es war ein victorianisches Drama, in dem riesige, neun Meter große katholische Könige durch den Saal gehen. Es gab ein 265 Wilson, zit. nach: Bernd Graff: Das Geheimnis der Oberfläche. Der Raum der Postmoderne und die Bühnenkunst Robert Wilsons, Tübingen 1994, S. 238. 266 Wilsons frühe Schaffensphase wurde von Stefan Brecht in zwei Perioden geteilt. Nach dem Autor von dem ersten umfangreichen Lektüre von Wilson endet die erste Phase, in der Wilson ausschließlich mit Amatuere (disciples) arbeitete, mit dem Stück ‚The Life and Times of Joseph Stalin’ in 1973. vgl. Stefan Brecht: The Theatre of Visions: Robert Wilson. The original theatre of the City of New York. From the mid-60s to the mid-70s, Frankfurt am Main 1978. 267 Die ‚performance pieces’ aus der frühen Schaffensperiode, die zunächst in kleinen Lofts und Studios aufgeführten Inszenierungen zur Unterscheidung von Wilsons späteren Produktionen auf großen Bühnen, bezeichnet der Regisseur selbst als ‚Operas’: ‚I call my work an opera because everything in it happens at once, the way it does in operas and the way it does in life.’ vgl. Brecht 1978, S. 30/ Wilson, zit nach: Graff 1994, S. 209. 164 kompliziertes System von Flaschenzügen, und nicht weniger als zwanzig Mann zogen diesen riesigen Apparat über die Bühne […]’268 In dem im selben Jahr uraufgeführten Stück The Life and Times of Sigmund Freud saß indes am Anfang der Aufführung eine junge schwarze Frau ganz still auf einem Stuhl mit einem schwarzen Vogel, der sich auf ihrer Hand niedergelassen hatte, während sich eine künstliche Schildkröte quer über die Bühne bewegte. Mitten auf der Bühne traten auch in The Life and Times of Josef Stalin im Jahr 1973 mehrere Mischwesen aus Mensch und Puppe in Form von Zentauren, deren Straussleib in ein menschliches Bein übergehen. [Abb. 36] Nannte Wilson seine frühe ‚operas’ vorerst ‚structured silence’, bezeichnete er zugleich eine alternative Bühnenperspektive, die sich von der klassischen, verbalen Bühnenkultur lösen sollte. Verabschiedet von der traditionellen Schauspielkonvention und kodifizierten Bühnensprache erwiesen sich die in Bezug auf nonverbale Elemente eingesetzten, spezifischen Körperstrukturen als Grundlage der Entwicklung alternativer, nicht-textbasierter dramaturgischer Konzeptionen und theatraler Narrationsmodelle. Entscheidender Impuls dieser Überlegungen war die Zusammenarbeit mit dem taubstummen Jungen Raymond Andrews, dessen Sensibilität und Expressivität die Bewegungsabläufe, Bühnenbilder und Sprachstrukturen seiner folgenden Stücke maßgeblich prägten. In dem Jungen fand Wilson die Bestätigung, dass es Perzeptions- und Kommunikationsstrategien jenseits der Sprache und somit jenseits des Standards der Schriftkultur geben kann. Aus dieser Begegnung entstand das Stück The Deafman Glance.269 Dieses Vierakter-Stück, in seiner ersten Fassung sieben Stunden lang und später variierte die Dauer, basiert, wie der Titel andeutet, auf dem Blick eines Tauben, bzw. auf Beobachtungen und Zeichnungen eines gehörlosen Jungens in die Welt.270 Eine Inhaltsparaphrase der Inszenierung ist jedoch oder gerade deshalb nicht möglich, zumal sie auf eine schlüssige Handlungsentwicklung bewusst verzichtet, in denen das sprachlich-rationale Element dem märchenhaften Tableau, dem verwirrenden Spiel von Klang- und Lichteffekten und trancehaft 268 Wilson, zit. nach: Sylvère Lothringer: Es gibt eine Sprache, die universell ist. Gespräch mit Robert Wilson, in: New Yorker Gespräche, Berlin 1983, S. 373. 269 ‚The Deafman Glance’ hatte Ende 1970 Premiere (Iowa City) und ging 1971 auf Europa-Tournee nach Paris, Rom, Nancy und Amsterdam. Diese stumme ‚Oper’ mit dem taubstummen Jungen Raymond Andrews in der Hauptrolle brachte Wilson den ersten internationalen Durchbruch. Dazu vgl. Brecht 1978, S. 54-140. 270 Allein der Prolog, nach dem hier die Video-Version entstand, dauerte eine Stunde. 165 verlangsamten Pantomimen untergeordnet ist. Dies zeigt bereits die Eingangsszene des Stückes deutlich. Eine Frau, schwarz gekleidet, steht vor einer weißen Wand; sie dreht sich langsam herum, zieht einen schwarzen Handschuh über ihre rechte Hand, schüttet behutsam Milch in eines der Gläser und bringt es kriechend zu einem Jungen herüber, der es, ohne aufzublicken, nimmt und trinkt. [Abb. 37] Sie wartet, nimmt das Glas wieder von ihm zurück, bringt es an den Tisch zurück, nimmt ein Messer, wischt es sehr langsam ab, dreht sich herum, geht zurück zu dem Jungen, lehnt sich über ihn, der gerade sein Buch liest. Die Frau sticht ihn in die Brust. Der Junge bricht zusammen. Sie führt ihn mit ihrer Linken auf den Boden, sticht ihn wieder und wieder in den Rücken, zieht das Messer zurück, geht zurück zum Tisch und wischt das Messer wieder ab. Die Körperbewegungen der Darsteller sind emotionslos. Ihre physischen Handlungen, ausgeführt durch unendliche Repetition und Langsamkeit, sind in kleine Teile zerlegt und lassen sich so ausführen, dass sie nicht mehr als Geste für andere Realitäten aufzufassen sind, sondern nur mehr für sich selbst zu stehen scheinen. An die Stelle realer Körperperformances und jeglicher Bühnenhandlung tritt die Dramaturgie des Lichts, welche die Einzelheiten auf der Bühne in ihrer Erscheinung intensiviert und dabei die Ereignishaftigkeit des Bühnengeschehens hervorhebt. Das Licht legt sich sowohl auf regungslose Körper der Akteure als auch auf Bühnenräume und Requisiten, erleuchtet oder rückt sie in Dunkelheit. Bühnenrequisiten und –aufbauten werden dadurch zu stehenden Bilderereignissen, Banalitäten zu Szenarien. So wird das Bühnengeschehen eine Welt für sich mit eigenen Raumgesetzen, eigenen Zeitstruktur, mithin einer eigenen Logik. Zweierlei Körper Solche spezifischen Körperbewegungen und Raumordnungen sowie das Abspielen und die Zeitlupe als strukturelle Modelle des Bühnenkörpers lassen sich durch zwei Begegnungen aus dem früheren Leben des Regisseurs erklären. Eine ist seine therapeutische Erfahrung mit Sprach- und Tanzübungen bei autistischen Kindern, die andere ist die Begegnung mit einem Psychiater, der immer wieder Filme über Mütter mit Säuglingen drehte. 166 Wilson arbeitete als Bewegungslehrer an der Byrd Hoffmann School271, wo die Patienten ohne Tempo und durch dauernde Repetition minimaler Bewegungsabläufe ihre äußerte Konzentration auf den Körper richten lernten. In einer Passage aus dem Programmheft zu The Deafman Glance findet sich folgendes Zitat: ‚In this School I shall not teach the children to imitate my movements, but shall teach them to make their own. I shall help them to develop those movements which are natural to them. And so I say it is the duty of the dance of the future to give first to the young artists who come to its door for instruction freer and more beautiful bodies and to instruct them in movements that are in full harmony with nature.’272 Um weiterhin ‚the vocabulary of movement’273 zu finden, richtete Wilson nach seiner Übersiedlung nach New York an der von ihm selbst gegründeten Byrd Hoffman Foundation School of Byrds (1967) die ‚awareness classes’ ein, die ganz im Zeichen der Beobachtung der Wechselwirkungen von Raum und Körper standen. Das elementare Gewicht dieses Workshops war, wie bei der Byrd Hoffmann School, die Entwicklung der individuellen Wachsamkeit dem eigenen Körper und Gestik gegenüber sowie ihrem Verhältnis zur Bewegung innerhalb der Gruppe. Wilson berichtete indes mehrfach von seiner frühen Begegnung mit dm Psychiater Dr. Daniel Stern aus den späten 1960er Jahren, der über 350 Filme über Mütter drehte, welche auf ihre weinenden Babys einredeten. Die Situation sei scheinbar eindeutig und banal, wenn man sie jedoch in einer langsamen Geschwindigkeit laufen lasse und die vierundzwanzig Bilder pro Sekunde einzeln betrachte, zeigten die ersten drei Aufnahmen aber, wie sich die Mutter auf das Kind stürzt und wie es sich dagegen wehrt, auf den folgenden zwei oder drei 271 Ihren Namen leitete ‚The Byrd Hoffman School’ von der Ballett-Tänzerin und Bewegungstherapeutin Byrd Hoffman ab, an deren Unterricht Wilson früher selber teilnahm. In der ‚School of Byrds’ lernten mental-emotional oder auch durch Organschäden Behinderte programmatisch durch die Arbeit an Performances und kleinen Theater-Projekten eigenes Körperverstehen entwickeln. Aufgrund solcher Konzentration auf die Prägnanz der solitären in Raum gesetzten Pose, der Geste, des Schreis, die Wilsons Theater bis heute auszeichnet, muss die Schule daher als erste Experimentierform für das Wilsonsche Theater verstanden werden. 272 Wilson, zit. nach: Graff 1994, S. 226. 273 Calvin Tomkins: Time To Think, zit. nach: Peter B. Boenisch: körPERformance 1.0. Theorie und Analyse von Körper- und Bewegungsdarstellungen im zeitgenössischen Theater, München 2002, S. 207. 167 Bildern sieht man die Mutter in einer anderen Haltung, auf den nächsten wieder in einer anderen, usw. ‚So many different things are going on […] And the baby is picking them up. I’d like to deal with some of these things in the theatre, if that’s possible. I guess what I’m really interested in is communication.’274 Die rational ignorierte und lediglich zweckdienlich komprimierte Vielfalt der Dinge wurde durch das ‚gespielte Anschauen’ bzw. die mechanische Verlangsamung ‚slow motion’ hervorgehoben, die banale menschliche Handlung vom Alltag faltete destruktive Momente auf. Es scheint, als gäbe es eine andere Sprache und Strukturen, die den menschlichen Körper lesbarer, gleichzeitig spannender machten. Diese beiden Begegnungen benennen zwei paradigmatische Kennzeichen der Wilsonschen Bühne, die auf der ersten Blick konträr erscheinen: Der menschliche Körper und seine Bewegung nehmen zwar zentralen Platz in seinem Theater ein, sein Schauspiel zeichnet sich jedoch durch die abstrahierte Verlangsamung und gänzlich ‚utopisches Elektrospiel’ aus, das traditionelle kognitive Strukturen überformt. Wo die Bühne mit verkörperten Bildern beheimatet wird, ist die alltägliche Wahrnehmung durch Intensivierung der Körper und in Zeiten der virtuellen elektronischen Kultur befremdet. Wenn Wilson hier als theoretische Grundlage seines Theaters ‚external und internal screen’ anführt, somit zwei Antipoden anspricht, verweist dies auf diesen idiosynkratischen Blickwinkel, mit dem er den menschlichen Körper der Moderne auf seine Weise wahrnimmt. ‘One hears and sees with external/internal eyes and ears all the time. We do it all the time. It may be a negative image from a dream or a blink of your eyes for a fraction of a second. You’re not aware of it, but one does close one’s eyes over a long period of time and one does have more awareness of these interior visual screens. […] Just as the blind feel color, the deaf can feel sound.’275 Nach Wilsons Ansicht sieht und hört menschlicher Körper auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Auf der einen Seite erfährt er das Außen mit dem sog. ‚exterior screen’, welcher die Basis für optische sowie hörbare Eindrücke und Situationen ausmacht, denen er täglich begegnet. Auf der anderen Seite erfahre 274 Craig Nelson: Robert Wilson. The Theatre of Images, New York 1984, S. 67f. 275 Wilson, in: Interview mit John Szto, zit. nach: Graff 1994, S. 225. 168 der Körper den Makrokosmos aber auch durch den ‚interior screen’, der ihm die meiste Zeit nicht bewusst ist, außer wenn er einschläft und träumt. Zum ‚external screen’ der intellektgeleitenden Wahrnehmung durch die äußeren Sinnesorgane gehöre demnach eine solche zweite Wahrnehmungs- und Erfahrungsebene, die Wilson interior screen nennt. Die Gehörlosen sähen die Dinge lediglich mit diesem ‚interior screen’, die Tauben hören ausschließlich mit ‚interior audio screen’. Um den interior screen im alltäglichen Körper zu aktivieren, dessen Bewegungen hauptsächlich auf dem exterior screen agieren, schlägt Wilson daher vor, ihn zu einem Tauben oder Blinden zu machen, bzw. ihn sich selbst machen zu lassen, ‚in order to become more a aware of this way of hearing’276. Denn die Sprache kann zwar ein Stimulans für unser Bewusstsein, aber auch eine Beschränkung sein. Es ist schwer möglich, sich vollständig in Worten auszudrücken, zumal sie laut Wilson wie Moleküle sind, die immer ihre Konfigurationen ändern, sich trennen und neu kombinieren.277 Das, was wir empfinden, ist ohnehin viel zu komplex: ‚most of the important things never get communicated in words anyway […] we don’t really think the way we speak.’278 Durch die Verblendung, Stauung, mithin die Ableitung des gewohnten Empfindungskanals und durch die Arbeit an der Konzentration auf ein diskursiv freigesetztes Detail der Dinge wird das zunächst unbewusste, indes auf dem Körper permanent einschreibende Sensorium dem rationalen, ‚externen’ Bewusstsein erkennbar sein: ‚Wir gleiten andauernd in diese inneren und äußeren Hör- und Sehschirme hinein und aus ihnen heraus. […] Das gehört zum Sehen und Hören. Jemand ist im technischen Sinne vielleicht taub. Aber er hört trotzdem. Sein Körper hört. Es ist also dumm von uns zu sagen, er ist taub.’279 Tatsächlich führt Wilson den Sprachbegriff zurück auf alle Formen von vermittelter und unvermittelter Interaktion zwischen Körper und Welt. Die Bewegung wird darin zum Synonym für ein reflexives Instrument zu universeller Kommunikation. Der Körper strebt auf diese Weise die zeitlich-räumliche 276 Wilson, zit. nach: Bill Simmer: Robert Wilson and Therapy, in: The Drama Review. Nr. 20/ 1976, S. 102. 277 Wilson, zit. nach: Laurence Shyer: Robert Wilson And His Collaborators, New York 1989, S. 79. 278 Wilson, zit. nach: The Contemporary Arts Center Cincinnati/The Byrd Hoffman Foundation (Hg.) 1984, S. 94. 279 Wilson: Statements, in: Programmheft zu The Forest. Freie Volksbühne Berlin/ Werkstatt Berlin 1988. 169 Loslösung eines Wahrnehmungsgegenstandes von seinen gewohnten emotionalen Konnotationen und die Ausfaserung eines Impulses zum Konglomerat von Stimuli an, die einen Rezeptions-Eindruck auf dem ‚interior screen’ hinterlassen und ihn beeindrucken. Insofern steckt hinter dem interior screen nichts anderes als der Glaube an die Wirksamkeit von potentieller Information für die weiterhin intakt geglaubte, rezeptive Feinkörnung jenes subkutanen Sensoriums. Dahinter verbirgt der Befund einer auf rationaler Ebene verlorengegangenen, sich fremd gewordenen Seele, aber auch der Wille zum Autotraining des Körpers zur Rekonstruktion dieser Wesentlichkeit. Körper als Ding Nach Wilson ist ein solches nicht-diskursives Sensorium und Gedächtnis bei jedem Menschen angelegt, in der Regel aber nicht entwickelt. Die Fähigkeit zur stummen Sprache und blinden Blick durch Reduktion der Informationen des Augenblicks und Konzentration auf die mentalen, körperlichen Reaktionen, die sie jeweils auslösen, sei folglich erlernbar und durch Vorführung vermittelbar: ‚I think, I think what it’s it’s getting more to is the body is a resource, and the body can become conscious and that, and that it is possible to, to, to use and to activate brain cells by working with the body – that and how you go about that is very complex. I don’t, we don’t know about that but one way is by exercise […]’280 Die in Bezug auf den realen Körper eingesetzten, sehr spezifischen Signifikationsstrukturen erweisen sich als Ausgangspunkt für die signifikatorische Funktion des Wilsonschen Theaters. Dort, wo die Bühne in atomare Einzelteile zerlegt wird, schließt Wilsons De-Konstruktion sämtliche theatralen Zeichensysteme ein, um diese neu zusammenzusetzen: ‚in theatre one has both visual and auditory elements, communication. […] In my case, the aural score is equally important to the visual score and they are thought about separately. It’s very, very difficult to hear and to see at the same time. For the most part we either do one or the other.’281 Für den Schauspieler bedeutet dies: 280 Wilson, zit. nach: Brecht 1978, S. 18. 281 Wilson, zit. nach: Graff 1994, S. 207. 170 ‚It involved going back and ‚relearning’ very simple movements that had become distorted in the course of day-to-day life bay various anxieties and inhibitions.’282 Auf der aktiven Reproduktionsseite des Schauspielers wird dies durch die separierte, gewollt kontextlose Geste des eigenen Körpers erlangt: Nämlich durch die isolierten, immer wieder monoton wiederholten Gebärden und den bewegungsverlangsamten Körper. Der Körper soll für die eigentlichen, wesentlichen Bedeutungen seiner eigenen Darbietung aufnahmefähig gemacht werden. Der bis zum Äußersten gedehnte und völlig mechanische Vollzug des Bühnenkörpers verhindert dann ein naives Mitmimen des Körpers, lenkt seine Aufmerksamkeit auf den Akt des Selbst und macht die Komplexität der Wahrnehmung bewusst. In diesem Sinne spricht Wilson über den Körper des Schauspielers: ‚Für mich ist die Darstellung auf der Bühne etwas Artifizielles. Wenn man sie nicht als etwas absolut Künstliches akzeptiert, ist sie eine Lüge. Ein Schauspieler denkt, er sei natürlich und spiele entsprechend, aber er ist es nicht. Er spielt natürlich, und das ist etwas Artifizielles. Wen man das verinnerlicht, dann ist es natürlicher – indem man künstlich ist […].’283 Der Körper als ‚Ding’ wird zur fremden Entdeckung für die endlich sichtbefreite Schau. Der Zuschauer wird seinerseits in seiner gewohnten Wahrnehmungsweise irritiert. Durch die Wiederholung der immer gleichen, arg minimalisierten Bewegungssequenzen der Akteure verliert er das Gefühl für den Ablauf der Zeit. Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen. Wiederholung wird zum ästhetischen Prinzip.284 282 Deak Frantisek: Robert Wilson, in: The Drama Review 18/1974, S. 72. 283 Wilson, in: Interview mit Christoph Schulz, in: Schnitt, das Filmmagazin. Nr. 37 Frühjahr/05, S. 16. 284 Die Wiederholung, die scheinbar völlige Kongruenz aufeinanderfolgender Erscheinungen gleichsetzt, schmilzt in Wahrheit nicht bis zur vollständigen Ununterscheidbarkeit ineinander. Denn das Widerholen setzt immer schon eine Duplizität, mithin Andersartigkeit voraus. Selbst wenn man annähme, dass die Deckungsgleichheit keine Abweichung duldete, muss die Differenz, wenn schon nicht in der Substanz oder im Bereich des Akzidentellen, so doch zumindest im Umkreis der Relationen gesucht werden. Mit anderen Worten: Was wiederholt wird, kann in jeglicher Hinsicht deckungsgleich sein, ist es aber keinesfalls hinsichtlich des Raumes und der Zeit. Zwischen den beiden Betrachtungen bestehen zumindest ein Zwischenraum und eine Zwischenzeit; das eine ist woanders als das andere, das andere ist früher oder später als das eine. Derartige Differenzen in den raumzeitlichen Beziehungen sind mit der Wiederholung unweigerlich verknüpft. Kurzum: eine Wiederholung bewegt sich stets im Spannungsfeld zwischen 171 Ein solcher hypnotischer Bühnenkörper wäre ein unbewusstes Medium, das einem rational gestifteten Bewusstsein dadurch zu sich selbst verhelfen kann, dass es kontextlos, extradiskursiv und unverbildet auftritt. Dem Ideal eines Schauspielers entsprechen für Wilson damit reglose Objekte, die weder dem Regisseur noch sich selbst Fragen zur Rolle stellen, die sich keinen ‚Untertext’ und keine Interpretation zurechtlegen, sondern arglos die Handlung vollziehen, die von ihnen verlangt wird. ‚The images are of human activities, even poignantly so. But though, as always, we project an analogue of our psyche onto these humanoids, varying it according to their conduct and appearance, our projection hardly pierces the surface of the images, but merely imparts a structure to it. We know of course that the performers are people, not robots. But we experience the characters performed as effigies of people. We adduce character or intent only to form our image of the action.’285 Diese Axiome der Darstellungsprinzipien findet man in den weiteren Aufführungen von Wilson vertieft. dem Bestreben um Identität und dem Bestehen auf der Differenz, die überhaupt die Ermöglichung einer Rückkehr erstrebt. vgl. Robert Andre (Hg): Paradoxien der Wiederholung, Heidelberg 2003. 285 Brecht 1978, S. 119-120. Als ‚The Deafman Glance’ 1971 zum ersten Mal in Paris aufgeführt wurde, erschien wenig Tage später in Les Lettres Françaises (2. Juni 1971) ein offener Brief von Louis Aragon an seinen alten Mitstreiter, den im Jahr 1966 verstorbenen André Breton. Aragon machte darin Bréton davon Mitteilung, dass die ‚Taube Oper’ ihm allem traditionellen Schauspiel zu widersprechen scheine, ‚bis hin zum freigesetzten Spiel derer, die ich weder Tänzer noch Schauspieler nennen würde […] auf dem Raum mit seinen sich bewegenden Figuren, Männern und Frauen, und die Farbe spielt darin mit, die Schwarzen inmitten der Weißen und der Monster, die darin eine bestimmende Rolle haben.’ Die Inszenierung sei daher ‚das wache Leben und das Leben bei geschlossenen Augen, die Verwirrung zwischen der Welt aller Tage und der Welt jeder Nacht, Realität vermischt mit Traum, das gänzlich Unerklärtheit im Blick des Tauben.’ Der Surrealist machte die Impression von dem Schauspiel daraufhin in einem Satz: das Theater ist ‚eine außergewöhnliche Maschine der Freiheit’. vgl. Louis Aragon: Offener Brief an André Breton über Deafman Glance, die Kunst, die Wissenschaft und die Freiheit, in: Holm Keller: Robert Wilson, Frankfurt am Main 1997, S. 11. 172 5. 2. Narrative Homunkuli: Einstein On the Beach (1976) Körper als Stimulans Angeregt vom elementaren Umgang mit dem apathischen Körper rücken nonverbale Bühnenelemente - Bild, Klang, Licht usw. - immer mehr ins Zentrum des Wilsonschen Theaters. Neben den nichtsprechenden Körpern, kontextlosen Gesten, lautmalender Stimmen und überdehnten Raum-Objekt-Erkundungen dominieren nun mehr und mehr visuelle Elemente in der Bühnenarbeit wie KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE (1972), einem siebentägigen ununterbrochenen Spektakel mit Bildern und Klängen.286 In A Letter for Queen Victoria (1974) wurde dann erstmals der Sprache eine weitere Bedeutung beigemessen, wenn auch nur, um deren Kommunikationsfunktion durch den abwesenden Zusammenhang zwischen Text und Körper zu dekonstruieren. Dort versucht Wilson das Theater des Visuellen mit dem sprachlichen Konzept zu transformieren. Um diese Zeit entstand Einstein On the Beach (1976). 287 Wie in anderen Biographiestücken 288 werden hier in assoziativer Weise banale Gegebenheiten und Vorgänge aus dem Leben des Physikers mit den historisch bekannten und exemplarischen Ereignissen seiner Zeit verknüpft: Einstein, Geige 286 Wilson bespielte mit seiner Produktion ‚KA Mountain and GUARDenia Terrace’ sieben Tage und sieben Nächte den Haft Tan Berg. Das 1972 beim Festival im iranischen Shiraz aufgeführte Stück, in dem die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen hin von mehr als fünfhundert Akteuren dargestellt wurde, dauerte an die dreißig Stunden. 287 Mit der Oper ‚Einstein on the Beach’, uraufgeführt1976 in Avignon (Festval d’Avignon), wurde die Reihe der großen Opern von Wilson und Philip Glass eröffnet und gleichzeitig die traditionelle Entstehungs- und Aufführungspraktiken der Oper verändert. Der Oper liegt nämlich kein Textbuch im traditionellen Sinn zugrunde; zwar treten in ihr Sänger und Tänzer auf, die auf der Bühne agieren, und auch ein Orchester, doch hat das Werk keine narrative Handlung, es besteht nur aus Bildern, die mit dem Protagonisten nichts zu tun haben. Die Musik, die von dem ‚Minimalist’ Philip Glass auf der Basis von Zeichnungen und strukturellen Vorgaben von dem Regisseur entwickelt wurde, und der menschliche Körper werden allein zum Ausdruck physikalischer Phänomene. Dazu vgl. Brecht 1978, S. 316-375. 288 Es gab bereits eine Reihe von Aufführungen mit historischen Persönlichkeiten, die titelgebend erschienen. Sie alle behandelten weder Lebensgeschichte von den Titelhelden noch Zeitgeschehen um sie herum, sahen sie bloß in einer kurzen Pantomime vor. Die angeblichen Protagonisten Freud in ‚The Life & Times of Sigmund Freud’ (1969) oder Stalin in ‚The Life and Times of Josef Stalin’ (1973) bildeten nicht das Zentrum dieser Arbeit; Titelhelden wurden lediglich zum Generalnenner für einen Ausschnitt aus dem Kontinuum, sie fungierten als zentraler Knotenpunkt im Netzwerk aller möglichen Assoziationen. 173 spielend, sitzt am Bühnenrand, während sich auf der offenen Bühnenfläche anekdotische Erinnerungen an seine Person mit szenischen Fragmenten aus dem amerikanischen Alltag vermischen.289 Zu Beginn des Knee Play 1 zählen zwei Schauspielerinnen, am Tisch sitzend, laut, nachdem zehn Minuten lang von einem Chor von eins bis acht gezählt wurde. [Abb. 38] Ihre Finger wandern dabei über eine unsichtbare Tastatur. Sie sind identisch gekleidet: sackartige Hosen, Hemden, Hosenträger, Turnschuhe die sog. Einstein-Uniform. [Abb. 39] Danach beginnt eine Schauspielerin über Mikroport in normaler Lesegeschwindigkeit einen Text zu rezitieren, dessen erster und letzter Satz zusätzlich und willkürlich so oft erneut eingestreut werden, bis die 20. Minute, damit das Ende von Play 1 erreicht ist. In Act 1 tritt dann eine Schauspielerin, angekleidet ebenfalls mit der EinsteinUniform, von links auf die Bühne ein und geht mechanisch auf einer Diagonale hin und her. Ihre hyperkinetischen und damit hypnotischen Armbewegungen sind gleichmäßig intensiv, ihre Beinarbeit ist in kontrolliertem Rhythmus. Im Lauf der Zeit hat sich die Diagonale mehr und mehr in die Mitte verschoben. Eine andere Schauspielerin tritt auf und kreuzt über die Bühne, schreibt auf einer unsichtbaren Schreibmaschine herum. Die Arme der ersten Schauspielerin werden indes frenetischer, unsichtbare Windmühlen bekämpfend. In dem nächsten Akt hat sich die Diagonale der Schauspielerin etwa nach rechts geneigt. Auf der linken Seite schreibt ein Mann rasend in der Luft, womöglich auf einer unsichtbaren Tafel. Eine andere Schauspielerin, mit der ersten Figur identisch gekleidet, überquert die Bühne, die Zeitung am Kopf befestigt. Diese drei Schauspieler produzieren dabei ein Dreieck aus Bindfäden. Die Oper ‚Einstein on the Beach’ besteht aus drei verschiedenen Arten von Stücken, denen der Regisseur analog zu Werken der bildenden Kunst jeweils eine 289 Einige der wenigen überhaupt verwendeten Texte in ‚Einstein on the Beach’ stammen von einem damals zwölfjährigen geistig behinderten Jungen, Christopher Knowles, den Wilson zu dieser Zeit kennen lernte und dessen Umgang mit Sprache, mit Wörtern ihn faszinierte: ‚Er nahm gewöhnliche, alltägliche Wörter und zerstörte sie. Sie wurden zu so etwas wie Moleküle, änderten sich dauernd, brachen immerfort auseinander, Worte mit vielen Facetten, nicht bloß eine tote Sprache.’ Knowles organisiere sie nach optischen und akustischen Gesichtspunkten, so dass so eine Art abstrakter Poesie entstand, die Wilson dann als erste Texte in seine folgenden Produktionen integrierte. Wilson ist später mit ihm zusammen in einer Serie von Dialog-Performances aufgetreten. vgl. Lotringer 1983, 42. 174 bestimmte ‚Perspektive’ zugeordnet hat.290 Die Bühne, bestehend aus Kartons, Zeitungspapiere, Fernsehen, Radios etc., scheint jedoch auf den ersten Blick eine schiere Freisetzung von Bühnenrequisiten. Die Kompositionsregeln bleiben verborgen, sie sind kontextlos und in ihrer seltsamen Ordnung nur da. Es resultiert so ein labyrinthisches Archiv aus Vorhandenem, ein ‚Riesensammelsurium’ aus Dingen, die sich keiner rational kohärenten Zuordnungen beugen. Handlungen sowie das Konzept von Zentrum und Identität werden ebenfalls wie in ‚Deafman Glance’ aufgelöst. Linearität und Narrativität werden zu Gunsten kreisender und repetitiver Strukturen aufgehoben und Sinn wird eher über visuelle als über verbal-intellektuelle Codes vermittelt. 291 Gleichzeitig jedoch scheinen die dramatis persona in ‚Einstein’ als Individuum eine wichtige Funktion zu bewahren. Die ‚Texte’ kreisen nur um eine einzige Figur – Einstein. Wenn auch diese Konkretisierung schwer nachzuvollziehen ist, zumal der vermeintliche Protagonist selbst keine Kontinuität, sondern bloß ein Hervortreten und Sichvorführen, etwas Entäußerlichtes, mithin ein abgelöstes Ich ist, scheinen die Akteure elementare Bedeutungsträger, deren gestischer Sinn den visuellen Sinn der Inszenierung dominiert. Sie sind Hauptstimuli der gesamten Aufführung. 290 1. Knee Plays, von Wilson auch ‚portraits’ genannt, sind relativ kurz (8 Minuten) und sorgen als erstes für die Verbindungen zwischen den Szenen. 2. Train und Trial Szenen: diese drei jeweils 20 Minuten lange Szenen bilden eine durchgehende thematische Einheit. Sie sind die einzigen, die eine durch den Titel bezeichnete inhaltliche Vorbestimmung besitzen, und werden als ‚Stil life’ bezeichnet. 3. Dances: Dazu gehören Dance 1, Dance 2 und Spaceship. Diese Szenen sind am größten besetzt und verfügen über eine räumliche Weite, definiert als Landscape. Sie sind inhaltlich offen und dauern jeweils ca. 20. Minuten. vgl. Brecht 1978. 291 Erinnert sei an das Diktum von Philip Glass zum Werk Wilsons. Auf die Frage nämlich, was die Theaterstücke eigentlich auszusagen und welche Bedeutung sie hätten, antwortete er: ‚They are what they are. They don’t mean anything.’ Dieser berichtete zudem darüber, wie es – eher zufällig- zu diesem Titel, dem abstrakten Anlass für theatralen Form, kam: […] At one point, Bob suggested Albert Einstein, and that immediately clicked. […] I am sure that the absence of direct connotative ‘meaning’ made it all easier for the spectator or personalize the experience by supplying his own special ‘meaning’ out of his own experience, while the work itself remained absolutely abstract.’, Wilson selber äußerte zu dem Text: ‘There was no libretto as such for Einstein On the Beach; the singers sang in numerical count of the solfegge of the music. There were certain scenes in which a spoken recitative was used. These passages for the most part were texts written by the actors themselves, with the exception of Christopher Knowles’ writings, I asked him specifically to write for this work.’ Phil Grass in einem Interview mit Howard Brookner, in: Dokumenation des Werkes von Wilson (ZDF, 6. Juli 1984); Wilson, zit. nach: Graff 1994, S.193 und 258. 175 Emphatischer Körper Es sind z. B. banale Elemente der Körpermotorik und unwillkürliche Gesten des Alltags - von formalisierten Automatenbewegungen über natürliches Gehen bis hin zu tänzerischen Drehungen und Sprüngen -, die präzis über die gesamte Aufführung hinweg von den Schauspielern abermalig durchgeführt werden. Die Bewegungen der Darsteller sind aber trotz der unwillkürlichen Szenenbilder und den schnellen Lichtwechsel symmetrisch. Häufig wird die Diagonale des Raumes ausgenutzt, in denen die Schauspielrinnen nichts anderes tun, als in der Diagonale von vorn links nach hinten rechts den Raum zu durchqueren. Diese ganze Geometrie setzt die Bewegungen der Schauspieler überhaupt erst frei. Von hier aus und genau im Moment der Aktion tritt das Bühnenbild zurück, wird unaufdringlich, funktional. Permanente Wiederholung, Variation und Umkehrung der Darsteller, deren Einheit durch die Uniformierung verstärkt wird, erscheinen dadurch teilweise lebhaft ausgelassen, teilweise mechanisch diszipliniert, wohingegen der Chor einen in seinen seriösen Körperhaltungen beengten, ernsten Gegenpart darstellt. Dabei beziehen sich die Schauspieler nicht aufeinander, sie sind nolens volens vereint auf der kollektiven physikalischen Ebene, deren Bewegung und Lautstimme lediglich zusammen bewerkstelligt zu werden scheinen. Die Einstein-Darstellerin, Sutton, referiert selbst: ‚Lucinda [die Schauspielerin] and I were dressed alike, and we were both called Einstein, but we didn’t think of it as a character. We had a series of actions to perform – mechanical gestures pilots or computer engineers would use.’292 Die Figuren konzentrieren sich vielmehr hauptsächlich auf ihre Bewegungen, deren Vollzug nach einem unbedingten Muss ausschaut, vorliegende Motivation aber unklar bleibt und damit eine rituelle Bedeutung suggeriert. Man liest die geschriebenen Anweisungen in einem der Texte der Schauspieler: ‚linker Arm 45 Grad vom Körper weg gestreckt, rechter Arm 12 Grad, linke Hand nach oben, vier Sekunden, Mund nach rechts unten verzogen. Die Zunge im rechten Mundwinkel, das Knie gebeugt, O-Beine, Oberkörper zurück, die Augen nach oben’293 Diese Auflösung der dramatischen Figur durch autosukzessive Gebärde erfolgt zum einen durch die Verfremdung der Sprache, zum anderen auch durch multimediale Manipulation. 292 Sutton, zit. nach: Holmberg 1996, S. 14. 293 Ehler 1990, S. 199f. 176 Dialoge geschehen indes dadurch, dass sie einerseits Nebensinnsegmente in Wort und Schrift dekuvrieren oder festhalten und andererseits versuchen, die Lautlichkeit gesprochener Sprache hervorzuheben. Zusammen mit anderem Lautmaterial – Geräuschen, Klängen, Tonfolgen - bilden sie dabei eine Art Lautcollage, die ihren eigenständigen Klangraum entstehen lässt. Als Sprachmaterial werden deshalb Fragmente der Alltagssprache, Gesprächsfetzen und – splitter bevorzugt, sowie auch poetisch geformtes Sprachmaterial bzw. eine Flut von Zitaten in ihrer collagenhaften Art verwendet, deren Strukturprinzipien sich obstinat dem Zugriff des Rezipienten entziehen. Der Schauspieler betont solche Dialogfragmente dann, indem er die Aussprachen langsam, klar und in ständigen Wiederholungen vorträgt, auch zum Teil mit Tonverzerrungen und Überschneidungen mit andern Geräuschen. Da zwischen solchem Signifikat und dem zur selben Zeit von den Schauspielern durchgeführten Signifikant sich kaum eine Beziehung herstellen lässt, erfährt die spezifische Materialität der Stimmen und Gesten eine zusätzliche Markierung: Stimme und Geste, losgelöst vom Körper der Schauspieler und getrennt vom Bedeutungsangebot des Textes, werden zu einem eigenen Kommunikationsmedium, über das hinweg Sinn vermittelt wird. Der Schauspieler ist damit nicht mehr lucus parlandi, seine Stimme ist nicht mehr Aussage im verbalen Sinn, sondern eine gestische Arie Scream Songs, als wäre es ein Versuch um die Vergeblichkeit einer Suche nach authentischer Sprache. Um mit Foucault zu sprechen, ‚dass es neben ihm eine Sprache gibt, die spricht und deren Herr er nicht ist, […] dass sich an der Stelle des sprechenden Subjekts […] eine Leere aufgetan hat, in der sich eine Vielzahl von sprechenden Subjekten verbindet und auflöst, kombiniert und ausschließt’294. Diese off- und overvoice, welche Jon Whitmore ‚disembodied speech’ 295 nennt, wird zum einen durch Mikrophone und zum anderen durch die elektronische Stimme gesteigert, die sich immer wieder mittels Ton-Bänder auf die Bühne einschaltet.296 So wird der Spieler zwar von seiner Stimme begleitet, ist aber niemals mit ihr ‚identisch’. Seine über Mikrophone gesprochenen oder durch Tonbänder aufgenommenen Aussagen sind von ihm produziert, aber gehören ihm nicht, sie gehören dem Raum. Die mechanische Stimme ist folglich an294 Michel Foucault: Vorrede zur Überschreitung, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt 1987, S. 37. 295 Jon Whitmore: Directing Postmodern Theatre, Michigan 1994, S. 178. 296 Durch Tonbänder wird auf der Bühne ein banaler, mitunter sprunghaft gewendeter Inhalt in Wortensembles oder vollständigen Sätzen wiedergegeben, aber auch kurzen Anekdoten werden identisch repetiert oder geringfügig variiert, verlangsamt oder verhallt. 177 wesender als die lebendige Stimme, während die Schauspieler bloß zum Verteiler der Aussagen degradieren. Der Unterschied zwischen dem inneren Diskurs und dem geäußerten Diskurs geht damit verloren. Die Bühne als assemblage art wird eine Sammlung der elektronischen Erinnerung. Narrativer Körper Die Entkopplung von Stimme und Körper wird an manchen Stellen durch ritualisierte Gesten bzw. den Tanz und den musikalischen Ausdruck der Sängerin der Titelpartie unterstrichen.297 Dadurch unterliegt die Aufführung von Anfang an der totalen Kontrolle, die ein exakt choreographierter Ablauf, bestehend aus Auftritten und sparsamen Bewegungen, verlangt. In der Inszenierung ist keine Aktion dem Zufall überlassen, alles wird genau festgelegt und mit maschineller Präzision ausgeführt. Der Regisseur bestimmt und überwacht jedes Detail, jede Position eines Körperteils, jede Geste, jeden Schritt. Mit anderem Wort: ‚there is no performance without preperformance’. In Folge: Die Bühnenfiguren in ‚Einstein’ sind ‘thoroughly architectural. […] Whether it is silence or spoken words, the pictures are architectural arranged. Einstein is an architectural book of pictures.’298 297 Einstein on the Beach - 1976 entstanden, 1984 und 1992 rekonstruiert - ist Wilsons erste Zusammenarbeit mit der Tänzerin und Choreografin Lucinda Childs. Den vormaligen Architekturstudent interessierte der Tanz immer schon weniger als theatrale Gattung; Wilson war vielmehr von der Form fasziniert; eine Form, die nicht mehr allein das Medium von Inhalten, Handlungen und Aussagen war. Entsprechend unterschreibt er mit seiner eigenen Theaterkonzeption Aussagen wie die Cunninghams, in denen dieser seine Arbeitsweise ablehnt, den Tanz als Mittel zur Kommunikation einer einzigen, alles leitenden Bedeutung aufzufassen. Sein Interesse für den Tanz, bzw. Postmodern Dance, in der weder Geschichte erzählt, noch Figuren präsentiert und noch Musik ausgedeutet werden, beschreibt Wilson wie folgt: ‘I liked it because of the space, the virtual space, the mental space. I liked the way the performers behaved on stage, never pushing to art, for an effect, they greatly allowed the public to come to them, as performers. It was a formal theatre with a certain distance between the stage and the spectators, the kind of space where one could reflect and think, dream perhaps. The best actors were those who performed for themself [sic!] first. I liked the work of Balancine because it was classical, classical architecture.’ Wilson, zit. nach: Boenisch 2002, S. 208. 298 Wilson, zit. nach: Graff 1994, S. 108. In diesem Zusammenhang erwähnt Wilson an anderer Stelle, das Schauspiel sei ‚ein Forum – und wie hält man das offen auf einfachste Weise? Für mich ist der beste Weg, um das zu erschaffen, etwas, das total kontrolliert und mechanisch ist. […] Das ist schwierig, denn es ist unangenehm zu lernen, wie man eine Maschine wird […] Nur dadurch, dass man total mechanisch wird, gewinnt man Freiheit zurück.’ Heiner Müller fügt dazu; ‚Idealerweise muss man in der Arbeit [von Wilson] eine Maschine werden, muss man total mechanisch werden, um frei zu werden.’ Müller verwies in diesem Zusammenhang auf Kleists Marionette: ‚Auf dieser Bühne [von 178 Diese strenge Formalisierung der Figuren erinnert an das Schauspielkonzept der historischen Theateravantgarde. So wie die Avantgardisten erhofft sich Wilson im Verzicht auf jede Individualisierung und in der Annäherung an die archaischen Gesten, die agonale Struktur des Theaterraumes und schließlich an die universale Sprache der Schauspieler in ihrer äußeren Form die intensivsten Wirkungen. Wilson kommt ebenfalls darauf an, dass dem Darsteller in einer sorgfältig choreographierten Bühnenwelt individuelle Größe nur als ein quantitativer Begriff zuteil wird. Die Funktion des Wilsonschen Figuren geht aber noch weiter: Sie sind in ihrer Form narrativ. Denn die Einblendung in die strikt konstruierte Bildsprache im ‚Einstein’ legt die Basis für ein semantisches Potenzial, das die Akteure wieder zu Figuren werden lässt, denen durchaus auch psychologische Merkmale zugeschrieben werden können, anders etwa als den Craigschen Übermarionetten und rein geometrisch-architektonischen Kunstmenschen in Oskar Schlemmers Balletten. Wenn bei Wilson die Kinesphäre im Raum aufgeht, löst sie sich gerade nicht in ihm auf, sondern projiziert sich selbst auf diese Raumrelationen. So wird den Figuren ermöglicht, narrative Entwicklungen und psychologische Spannungen in Form einer nichtimitativen visuellen Metaphorik zu inszenieren: Albert Einstein als moderne Metapher für eine Epoche des naturwissenschaftlichen, philosophischen und künstlerischen 20. Jahrhunderts. Ein Grund, weshalb ‚Einstein’ sich weniger zum Geschichtsdrama, als vielmehr solche Assoziationsfülle der Motive in thematisch kaum gebundenen Bildkomplexen und –sequenzen entfaltet, in denen die Bühne durch das Zusammenspiel all seiner Ausdrucksmittel nach der neuen Ganzheit eines Gesamtkunstwerks strebt und dabei die Abgrenzungen von Drama, Oper, Ballett, Pantomime und bildender Kunst zu sprengen versucht. Und diese Totalität des Bilderfundes kann nur durch strenge Vereinfachung und Reduktion strukturiert werden. Die Bühne verfährt in diesem reduktionistischen Sinne arglos und gleichzeitig mathematisch kalkulierend. Einstein On the Beach kennt also mehrere Stimmen. Ein Strand jedoch, der etwa wie in The King of Spain, The Life & Times of Sigmund Freud und auch in The Life & Times of Joseph Stalin immerhin nominell einen der AktivitätenSchauplätze abgibt, der einen dieser Einsteins dann auch das Stück zeigen würde, Wilson] hat Kleists Marionettentheater einen Spielraum, Brechts episches Theater einen Tanzplatz.’ vgl. Robert Wilson/Heiner Müller/Wolfgang Wiens: The CIVIL warS. A Construction in Space and Time. Der deutsche Teil von ‚The CIVIL warS’ im Schauspiel Köln, Frankfurt am Main 1984, S. 54f. 179 ist nicht vorhanden. Im Spiel der Doubles und Serien hat der Unterschied zwischen An- und Abwesenheit keinen Bestand mehr. Damit setzt Wilson mit Einstein On the Beach ‘the theatre into the unknown and the unknowable, in a way that makes our contemporary domestic plays look like ancient artefacts of a forgotten age ’299. Diese ‚virtuelle individuelle Biographie’, in der Fiktion und Realität nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind und vor dem Hintergrund dieser Verschmelzung von Theater und Leben die Homogenität keine Rolle mehr spielt, wird dann in CIVIL warS zu einer historischen Dimension erhoben. 5. 3. Theater ohne Schauspieler: CIVIL warS (19831986)300 Collage des Körperlichen Etwa fünf Meter hoch ist ‚The World’s Tallest Woman’301, die inmitten der Aufführung von rechts auf die Bühnenmitte hereintritt; oben ragt ein weiblicher Kopf hervor, die Größe der Figur wird dabei durch einen bärtigen Liliputaner gesteigert, der in der Riesenhand des ausgestreckten Arms sitzt. [Abb. 40] Das Bühnenbild droht nun umzukippen, zumal die gesamte Aufmerksamkeit auf die ‚Frau’ gerichtet ist, deren Gegengewicht nur schwer durch die anderen Bühnenelementen zu erbringen ist. Dieser in Schwarz gekleidete Riese aus dem ursprünglich als zwölfstündiges kulturelles Programm geplanten, jedoch nicht zu Ende geführten Mammutstück für das Olympic Art Festival in Los Angeles 1984, ‚CIVIL warS: a tree is best measured when it is down’, ist jene typische Figur, die sich bei Wilson immer wieder findet. Die Ansammlung von menschlichen Darstellern und Puppen299 Rober Brustein: Theatre in the Age of Einstein: The Crack in the Chimney, zit. nach: Holmberg 1996, S. 10. 300 Netherlands Section: UA, 6 September, 1983 im Schouwburg Theater Rotterdam. German Section: UA, 19 Januar, 1984 im Schauspielhaus Köln, Italian Section: UA, 26. März 1984 imTeatro dell'Opera Rome, Knee Plays (U.S. Section): UA, 25 April 1984, im Walker Art Center Minneapolis. 301 Diese sog. ‚größte Frau der Welt’ entstammte dem niederländischen Teil der CIVIL warS (act I, scene B). 180 gestalten verleiht neben der Transponierung an einen für den Zuschauer fremden Ort, nichtkommentierter zeitloser Konstanz und serieller Reihung minimaler Strukturen der Aufführung besondere Aufmerksamkeit. Der Regisseur scheint sich jedoch hier, was die menschlichen Darsteller anbelangt, im Vergleich zu seinen beiden Stücken wie ‚Deafman’ und ‚Einstein’ in dem genau konträren Gebiet zu bewegen. In diesen ging er ganz dezidiert von der jeweiligen Körperlichkeit des Schauspielers aus, d. h. er ließ insistierend auf die Körperlichkeit zusammen mit anderen Bühnenkünstlern elementare Bewegungen vollziehen. Er lässt aber in ‚CIVIL warS’ den Körper der Schauspieler ausblenden. Der Körper des Schauspielers verschwindet ganz von der Bühne. Die Schauspieler, deren Auftritt vor allem von der Projektionswand 302 aus beginnt und in der Regel parallel zur Rampe ausgeführt wird, lassen den Eindruck entstehen, als würden sie sich in die Flächigkeit des Bildes auflösen. Der ohnehin minimale Handlungsraum der Darsteller ist kaum sichtbar angesichts der überdimensionalen Bühnenbilder und der spektakulären Auftritte der Puppengestalten. Während die sich jeweils besonders stilisiert bewegenden Schauspielkörper in ‚Deafmann Glance’ oder ‚Einstein’ immerhin Handlungsträger blieben, erscheint der menschliche Körper hier zum Puppenkörper degradiert. Das multinationale, multikulturelle und multimediale Spektakel, CIVIL warS303, wurde in Einzelteilen in Köln, Rotterdam, Marseille, Rom, Tokio und 302 Die Leinwand als Stätte eines filmisch dargebotenen, in eine scheinbar allgültige Unendlichkeit transformierten Wirklichkeitsausschnitts ist wichtiges inszenatorisches Mittel der Wilsonschen Bühne. Die dort projektierten einzelner Bilder und Endlosschleifen von Filmausschnitten zeigen minutenlang Gesichter in Nahaufnahme, verfolgen immer wieder den Flug eines kreisenden Seeadlers oder den richtungslosen Eisschollengang eines Polarbären. Da sich die Bühnenfiguren zwischen Publikum und Projektionswand aufhalten, dem Ort der Wirklichkeitssimulation einer lediglich als Projektion ausgewiesenen Ästhetik, die – entgegen einer ursprünglichen Wirkungsabsicht des Minimalismus – in Realitätsferne gerückt werden muss, markieren die Wilsons Figuren die Schwelle des Übergangs von Virtuellem und Realem. 303 Der suggestive Wechsel von Groß- und Kleinschreibung innerhalb der Titel ist neben Freiheiten in Interpunktion und Orthographie eine der Techniken der von Wilson aufgebauten spielerischen Ästhetik des Mediums Sprache. Diesem Sprachbegriff wird jede wahrnehmbare menschliche Regung subsumiert. Insofern leistet dieser Titel die Gesamtintegration der Menschheit als Adressat und Emisseur der künstlerischen Hervorbringungen in der Konzeption des Theaters von Wilson. Die CIVIL warS handeln nicht nur von den historischen Bürgerkriegen, sondern von den Kriegen des Bürgers, d. h. den zivilen Kämpfen und Machterhaltungsstrukturen des gewöhnlichen Lebens: der Titel bildet darum in der Schreibweise das kapitalisierte Plural-‚S’ der warS zurück an das damit nominalisierte Adjektiv CIVIL, das jetzt – ein Genitiv in Singular und Plural – zu CIVILS und damit zum Generalnenner für den nun singularisierten war, den keinesfalls 181 auch in Minneapolis gezeigt. Es war ein Versuch, die Gesamtaufführung einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren. Gleichzeitig ist es Kulminationspunkt von Wilsons künstlerischen Schaffen. Krieg als Urmenschheitsphänomen wird darin als unentrinnbarer und historisch durchgängiger Zustand expliziert. Der Bürger-Krieg markiert dabei einen status quo, der den utopischen Ausgangs- und Endstadien absolut entgegengesetzt ist. Das Stück erzählt aber wie die meisten Stücke von Wilson keine Geschichte. Basierend auf der Idee flexibler Strukturen und neben den Akteinheiten gibt es lediglich Verbindungslinien zwischen den A-, B- und C-Szenen in den fünf Akten, ‚lokale’ Interdependenzen zwischen Szenen, die jeweils in einem Land erarbeitet wurden, motivische Verbindungen zu den einzelnen intermittierenden Knee Plays und so weiter.304 Hinzu hat jede Szene eine große Autarkie, d. h. jeder Akt kann unabhängig von dem anderen stehen oder man kann ihn mit mehreren Szenen zu einer multifunktionalen Form anordnen. Mit den beständig wiederkehrenden formalen Elementen ist den einzelnen Aufführungen dennoch thematisch gemeinsam, dass sie immer wieder an Gestalten und Motive der Geschichte anknüpfen, die bereits zu Mythen der populären Phantasie geworden sind. Als Anlage für die einzelnen Teile wählte der Regisseur Mythen der jeweiligen Völker oder auch Zitate aus dem Märchen, dessen Figuren längst als der ‚trivial myth’ zugehörig konnotiert sind. Der Auftritt von dem Hahn, Mädchen und Trommeljunge in Kölner Beitrag, zu denen sich später noch ein Blechmann und eine Puppe aus Stroh gesellen, ist relativ eindeutig als der von den dem Märchen ‚The Wizard of Oz’ entnommenen Figuren - Little Dorothy, Blechmann und Strohmann - zu identifizieren, was aber ebenso in Rotterdam mit ‚Jack and the Beanstalk’ und ‚Captain Nemo’ in Marseille korrespondieren kann. Die Figur der hypertrophen Frau mit den elefantenhaften Händen aus Rotterdam, die sog. ‚The World’s Tallest Woman’, ist gewissermaßen die direkte Nachbildung einer Hexe auf einem 1640 entstandenen Holzschnitt ‚Bewitched Woman and Suitor from A Certain Relation of the Hofmehr historisch zu spezifizierenden Krieg wird. vgl. Janny Donker: The President of Paradise: A traveller's account of Robert Wilson's the CIVIL warS, Amsterdam 1985. 304 Hierzu Wilson zu seiner Aufführung: ‚Civil warS ist ein internationales Theaterprojekt, das Künstler aus aller Welt zusammenführt und somit die olympische Idee vertritt. Wir führen eine Oper in fünf Akten auf, mit 15 Szenen und 15 Kneeplays; die Kneeplays verbinden die einzelnen Szenen wie Gelenkstücke. Civil warS erzählt eine durchgehende Geschichte als Collage.’ Wilson, zit. nach: Juliane Christophersen: KNIESTÜCKE. Wilsons wildes Welttheater, in: TRANS ATLANTIK, Marianne Schmidt (Hg.) Heft 1/1984, München 1984. 182 faced Gentlewoman’ und von Matthew Brady’s Fotoportrait ‚Anna Swan with the Lilliputian King’. [Abb. 41] Neben der größten Frau treten in der Rotterdamer Version indessen die Elemente auf, die man als typisch holländisch deuten kann: Tulpen, Schlittschuhläufer, Königin Wilhelmina oder auch Mata Hari. Während Wilhelm I. von Oranien, genannt der Schweiger und ‚de Vader des Vaderlands der Nederlanden’ zwerghaft in der Hand der ‚Big Lady’ sitzt, tritt im Kölner Teil Friedrich der Große in preußisch-blauer Uniform auf. Knee Plays, in denen sich weiß gekleidete Akteure mit Stabmarionetten präsentierten, erkennt man ebenfalls und mühelos das traditionelle japanische Puppenspiel Bunraku wieder. Dabei sind diese Historien- und Märchenfiguren nicht an homogeniale Historiographie gebunden, sondern als Assoziationsmotive, auf die immer wieder rekurriert, die zitiert und gemischt werden. Wilson komponiert damit BildMotive aus Geschichten und Erzählungen, die nur zur Lieferung von vorgeformten Bildversatzstücken heranzitiert werden. Er arrangiert Triviales und Belangloses, wohl aber mit höchsten Anstrengungen zur präzisen Exekution. So nimmt das Schauspiel auf der Bühne ikonische Signifikate der Alltags- und Weltgeschichte zum Material, die jeweils Momente kultureller Vielfalt darstellen. Körper als Kunst-Werk Diesen Puppenfiguren, denen bei aller semantischen Komponente unweigerlich immer auch Funktionalität innewohnt, kommt aber weitere, wesentliche Bedeutung zu, die entscheidend für den Aufbau der einzelnen Szene sowie des Gesamtwerks ist: Die Kompositionsfunktion, den Bühnenraum als Bildausschnitt zu kennzeichnen. Das Mädchen in act I, scene A in Köln vollführt beispielsweise bei allen seinen Auftritten eine Art pantomimischen Gehens auf der Stelle, während seine Gruppe tatsächlich nie weiter gelangt als bis ungefähr zur Bühnenmitte. Eine Szene aus dem Epilog zu act IV, scene A zeigt diese optische Illusion noch deutlicher, in welcher die Rahmung der Bühne im Spiel den Bildachsen gegenübersteht: Von links ragt in einiger Höhe ein riesiger Ast waagerecht in den Bühnenraum, auf dessen Ende, bzw. fast in der Mitte des Bildes, eine ‚Schnee-Eule’ hockt. Am rechten Rand steht die einer Karikatur nachempfundene meterhohe Figur Lincolns. Zwischen den beiden sitzt in der Bühnenmitte die ‚Erdmutter’. Lincoln geht rechts ab. Kurze Zeit später tritt von dort ‚König Lear’ auf, taumelt über die Bühne, zunächst hinter der ‚Erdmutter’ an den Prospekt, dann wieder in den Vordergrund, wo er unter der Eule zur Erde sinkt. Unterdessen ist das Lincolnmonument rechts hinten wieder aufgetreten. Er 183 geht langsam über die Bühne. Im deren linkem Viertel angekommen, so dass seine Silhouette durch den Ast in zwei gleiche Hälften geteilt wird, bleibt Lincoln stehen. Vorne rechts erscheint dann der Eisberg aus Szene A des ersten Aktes. Solche Bühnenbildkomposition durch Bildachsen kann ebenso verschoben werden, wie beispielsweise in act I, scene B aus der Rotterdamer Vorstellung. Rechts auf der Bühne, die mittlerweile durch mehrere Kohlköpfe an der Rampe ersetzt ist, nachdem der Auftritt der nahezu unmerklichen Bewegung der Schildkröte stattgefunden hat, ragt die ‚Big Lady’ in das Bild hinein, während der Wilhelm der Schweiger von links eintritt. Als das Gegengewicht auf der linken Seite, da das gesamte Bühnenbild allein auf die Frau rechts bzw. auf die vertikale Ebene gerichtet ist, wächst nun eine Bohnenstaude aus der Öffnung in den Himmel. Ein Junge klettert die Bohnenstaude hinauf. Schließlich entsteht zwischen der Bohnenstaude und der riesigen Figur rechts eine Art Rahmen im Rahmen. Der Verdoppelung der dominanten vertikalen Achse gleicht das horizontale Getreidefeld im Vordergrund aus. Dass Wilson Bewegungen der Bühnenfiguren vornehmlich in überdehnter, größtmöglicher Langsamkeit gestaltet, die sich fast schon mit dem Stillstand zu berühren scheint, wurde hier bereits mehrmals erwähnt. So dauert allein die Eröffnungsszene des Kölner Teils der CIVIL warS beinahe minutenlang. Zwei Figuren, die an bühnenhohen Leitern hängen, vollführen subtile schwebende Bewegungen, die dem Zuschauer der Schwerelosigkeit suggerieren. Allmählich verschieben sich die Leitern mit kaum wahrnehmbarer Langsamkeit nach rechts und links, endlich erreichen die Finger der beiden Astronauten spannungsvolle Nähe. Solche demonstrative Langsamkeit stellt für Wilson ein Medium zur Verfremdung von im Alltag der Unaufmerksamkeit und der Gewöhnung unerheblich gewordener Handlungen dar. Zu der beschleunigten, im Wortsinne kurz geschnittenen Präsentation in Zeiten der Informationsmedien, die nicht zuletzt aufgrund ihres Umgangs mit Bildern und Bildmedien selbst schon als eine Metapher der Darstellung einer beschleunigten Moderne empfunden wird, ist der langsame Bühnenvorgang für Wilson eine Gegenstrategie im Theater. Diese extreme Verlangsamung und Wiederholung mit kleinen Variationen, welche die Schauspieler in eine Art Trancezustand versetzen könnten, sind nach Wilsons Überzeugung aber auch ein theatralisches Mittel, die Bühnenbilder und –szenen so zu strukturieren, um mit ihnen den Gestus eines zu deutenden hermeneuti- 184 schen Gegenstandes zu überwinden. Das heißt: Mit Hilfe der betont langsamen Form einer Bewegung werden die Bilder auf sich selbst herangezogen, verweisen auf ihr ‚Hier und Jetzt’. Zu diesem ‚Jetzt’ gehört ihre zeitliche wie ihre räumliche Präsenz. So durchbrechen die Aufführungen das traditionelle raum-zeitliche Format des Theaterabends. 305 Diese Dehnung der Zeit und demzufolge verlangsamter Szenenwechsel bedient sich schließlich der Erstarrung der Figuren mit der fast gemäldehaften Reihenfolge, was zugleich einen sehr speziellen, nicht selten auftretenden Umgang mit dem Darstellungsprinzip der europäischen Bühne bedeutet: Dem Tableaux-Charakter. Insofern ist das von Wilson angestrebte Figurenarrangement formal mit den ‚lebenden Bildern’ des 18. und 19. Jahrhunderts vergleichbar. Eine Bühnendarstellung, die von einer Personengruppe mit Hilfe der Kostüme, Attribute und Pose für eine kurze Zeit bewegungsund wortlos aufgeführt wurde. Tableaux vivants meint dieselbe Kunstform.306 305 Bereits ‚Ka Mountanin’ erstreckt sich über sieben Tage und sieben Hügel hinweg, Der ‚Stalin’ dauerte zwölf Stunden und zählte 144 Mitwirkende. 306 Das erste gesicherte ‚lebende Bild’ auf der Bühne ist für das Jahr 1761 in einem Pariser Theater belegt. Als Einblendungen innerhalb von Theaterstücken traten solche ‚lebende Bilder’ jedoch nicht als eigenständige Form auf, sondern waren in einen theatralen Gesamtzusammenhang eingebunden. Das Tableau spielte nur eine untergeordnete Rolle und war eher für eine überraschend eintretende Wende vom Interesse. Das Tableau erschien lediglich als ein Mittel des Theaters, die scheinbar ‚natürliche’ Transitorik und Sukzession aufzuheben. Ihr diesbezüglicher Einsatz hing eng mit den Theaterformen des 18. Jh. in Frankreich, vor allem den bedeutenden theater-theoretischen Schriften von Denis Diderot. Ein Streit um die Schauspielkunst auf der Bühne entbrannte, was man als ‚Kampf zwischen Empfindung und Berechnung’ bezeichnen würde, und der sich aus dem Doppelstatus des Schauspielers ergab. Das Problem war die Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle und damit das Verhältnis seiner semantischen und deiktischen Funktion. Auf der einen Seite standen mit Sainte-Albine die Verfechter, die sich für das Ausleben von Individualität und Emotionen, für die totale Identifikation mit der Rolle einsetzen, auf der anderen Seite mit Diderot diejenigen, die die Fiktionalität in den Vordergrund stellten und rationale Rollen-Distanz propagierten. Beiden Richtungen gemein war Diderots Grundannahme, dass die schauspielerische Darstellung künstlich gestaltet werden müsse. Schauspieler sollten simple Posen und natürliche Gesten auf der Bühne präsentieren und sich hierfür an der bildenden Kunst orientieren. Anleitungen forderten in Bezug auf Posen und Attitüden eindringlich, die Figuren der bildenden Kunst als Vorbilder guten Stils in Gestik, Körper- und Ausdruckshaltung zu studieren und nachzuahmen. Kunstwerke hatten Modellcharakter für die Akteure des Theaters und flossen im Idealfall unauffällig in die Aufführung ein. Wichtiger als Worte waren nun Stellungen und Gestik. So lehnte Diderot folglich den sog. Theaterstreich (coups de théâtre) ab, die alles durch überraschend eintretende Ereignisse zum Guten wenden, und sprach sich stattdessen für ‚tableaux’ aus, gut komponierte Szenen mit Gemäldecharakter, bei denen die Figuren nicht vereinzelt und isoliert auftreten, sondern in durchkomponierten Gruppen angeordnet werden. Diderot definiert in seinen Unterredungen über den ‚Natürlichen Sohn’ (1757) folgendes: ‚Ein unvermuteter Zufall, der sich durch Handlung äußert und die Umstände der Personen plötzlich verändert, ist ein Theater- 185 Während jedoch die Wirkung der historischen Tableaux-Bühne letztlich die Verfestigung des transitorischen Augenblicks zum gehaltlich vertieften Ausgang blieb, das sich frei aus der Handlung des Stückes heraus ergibt, helfen die Wilsonschen Tableauxbilder nicht nur Einheiten des Stückes und der körperlichen Präsenz der Bühnenfiguren. Sie bestimmen die Wahrnehmungsweise der gesamten Aufführung. Damit verändern die lahmen und fast starren Gruppenbilder traditionelle Muster der Schauspielästhetik. Die visuelle Rekonstruktion á la tableaux vivants mechanisiert nämlich den Schauspieler, der für die statisch und räumlich fest und starr definierte Szene weder Reflexion noch Emotion braucht, verschafft ihm gleichzeitig neue Freiheit, den Raum der linearen Lektüre zu verlassen und sich in den Raum der freien Reflexivität zu begeben. Durch sein Ausgestelltwerden auf der Bühne verklärt sich der Körper des Schauspielers so zu einem Objekt, welches die Betonung der Körperlichkeit als der conditio sine qua non jeglicher theatralischer Kommunikation bis an ihre äußerste Grenze treibt. Der Körper ist demzufolge weniger das Material, er wird in seiner Materialität selbst zum Kunstwerk erklärt. Dies bedeutet auf der anderen Seite den Übergang von einem interpretativen zu einem hermeneutischen Theater. Durch kunstfertiges Arrangement werden dem Zuschauer Räume für die Perzeption eröffnet. Die Produktion des Sinnes wird allein zu der Sache des Zuschauers und schließt endlose, gleichwertige Lektüre ein. Die assoziative und poetische Dimension der Körperbilder überschreitet die einzelne Figur als sinnstifende Instanz und überantwortet sich den streich. Eine Stellung dieser Personen auf der Bühne, die so natürlich und so wahr ist, dass sie mir in einer getreuen Nachahmung des Malers auf der Leinwand gefallen würde, ist ein Gemälde.’ (S. 97) Diese Tableaux seien ‚wahr’, ‚natürlich’, ‚sicher in der Wirkung’ und ein ‚Zug des Geistes’, während jene ‚gezwungen’ und nur ein ‚Kinderspiel’, also unwahrscheinlich und unwahr seien. In Diderots Konzept des Tableaus verbinden sich somit zwei unterschiedliche Elemente, deren Bedeutung sich im Laufe der Zeit nahezu verkehrt zu haben scheint: Auf der einen Seite ist das Tableau für Diderot Ausdruck der von ihm postulierten natürlichen Darstellung. Er setzt der sprachorientierten Ästhetik der tragédie classique das Konzept einer ‚natürlichen’ Ästhetik entgegen: Der Modus darstellungsloser Selbstdarstellung suggeriert absolute Nähe und Intimität. In das Zentrum dieser Argumentation tritt die Pantomime, die als zentraler Bestandteil der neuen Theaterästhetik beschrieben wird. Die stumme Geste der Pantomime gilt Diderot als die beste Möglichkeit, Empfindungen auszudrücken. Das Tableau bezeichnet in diesem Zusammenhang die größere Einheit solcher Gesten – es bezeichnet den wahrhaftigen, natürlichen Ausdruck im Gegensatz zu einer sprachüberladenen Theatertradition. vgl. Wolfgang F. Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jh. Grundlagen, Praxis, Autoren, Stuttgart 1992/ Willy R. Berger: Das Tableaux. Rührende Schlußszenen im Drama, in: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft. Bd. 24. Berlin/New York 1989, S.131-147. 186 Rezipienten. Selbst der in der Puppenfigur anwesende Körper des Schauspielers wird eine Zusammensetzung aus soziokulturellen Konventionen und Repräsentationsmustern sowie den Performances, durch die sich diese konstituieren. Die Figur nähert sich also den Rändern des Verschwindens und gerade an diesen Rändern lassen sich offene, produktive Modelle der Figurenkonzeption orten. Eine Kunst, die demnach nie gemacht, sondern durch die Annäherung und das Geheimnis der Distanz erfahrbar ist, gilt hier als Befreiung des Selbst-Seins zur Puppe, die wiederum als Allwissender - spirit erfahren werden kann. Den zusammenhanglosen, oberflächlichen, mechanischen Strukturen des Puppenkörpers steht eine subjektive Sinnlichkeit und persönliche Dichtung entgegen. Beide bedingten sich gegenseitig und halten das Theater in der Schwebe zwischen Kalkül und Spontaneität, Offenheit und Geschlossenheit, Einmaligkeit und Reproduzierbarkeit. Die Bühne unterhält, bildet und erlaubt dabei eine intellektuelle Auseinandersetzung, genau in dem Moment, wo der Schauspielkörper auf der Bühne noch einmal innehält, bevor er sich rest- und spurlos auflösen wird. So bringt auch das Zitat aus Kleists Aufsatz zum Marionettentheater im Programmheft zu CIVIL warS des Kölner Teils die Wilsonschen Bühnenfiguren dem Verstehen näher: ‚Nun, mein vortrefflicher Freund, sagte Herr C…, so sind Sie im Besitz von allem, was nötig ist, um mich zu begreifen. Wir sehen, dass in dem Masse, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt […] so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, dass sie zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.’ Es wird zusammengefasst: Ohne Zweifel steht Wilson bezüglich der von ihm eingesetzten Kunstmittel in der Reihe der historisch-ästhetischen Tradition der europäischen Theateravantgarde zu Beginn des 20. Jh. Ebenfalls verwendet er mehrdeutige Zeichensprache des Raumes und eine genau vorprogrammierte Abfolge von inkohärenten, alogischen Bildern, die dem Zuschauer Anstoß zu einer offenen, die Sinnproduktion unendlich anregenden Perzeption und Lektüre geben sollten. Das Phänomen ‚Wilson’ ist aber offenkundig die Verwendung seiner kunsthaft 187 arrangierten Bühnenfiguren in Zeiten der Postmoderne, die dazu beitragen, dass sie mit zusätzlichen Sinnbezügen und Assoziationen aufgeladen werden, die zugleich zu einer Störung der Kontinuität bei der Perzeption der repräsentativen Vorgänge führen. Nicht nur auf der Ebene des Geschehens nimmt die Bühne eine ‚Dekonstruktion’ der herkömmlichen dramatischen Aktion vor, auch dramaturgisch betrachtet sind bei Wilson die Figuren architektonisch abgestimmt, nicht mit dem Ziel einer kohärenten, homogenen Gestaltung, sondern einer irritierenden Segmentierung und Fragmentierung des szenischen Geschehens. Der Handlungsraum wird dadurch in widersprüchliche Raumbilder aufgeteilt. Stimmen werden durch elektronische Tontechnik abgelöst, bzw. akustisch verstärkt und kinetische Vorgänge mit zeitlupenartiger Dehnung verlangsamt dargeboten. Repetitionsmuster rhythmisieren dabei zusätzlich die inkohärent montierten Bühnenvorgänge. Gleichwohl liegt es Wilson fern, auf der Bühne im Sinne Strindbergs die der Wirklichkeit entgegengestellte unzusammenhängende, aber scheinbar logische Form der Figuren nachzubilden. Nicht an die Personen als ein Gemisch von Erinnerungen knüpft Wilson an, sondern an die Realität, die im Blick des Tauben für wahr genommen wird. Das Theater stellen die puppenähnlichen Figuren damit als hochgradige Mimesis dar, welche die Wirklichkeit als komplex auffasst. 188 Zusammenfassung Der Grundgedanke dieser Arbeit war es, anhand ausgewählter Beispiele einer Phänomenologie des Androiden auf der Theaterbühne des 20. Jahrhunderts zu folgen. Ihre Zielsetzung war es, sowohl theatertheoretische und -praktische Anstrengungen über Inszenierungskonzepte bzw. Schauspielkonzepte bezüglich der Kunstfiguren grob einzuordnen, sowie daran einen Überblick anzuschließen. Diese Untersuchung versuchte dabei drei zentrale Grundthesen zu entwickeln. Erstens: Androiden als Schauspielmetapher Die ersten fundamentalen Überlegungen suchten die synthetischen Dispositionen der Bühnenschauspieler in Verbindung mit dem künstlichen Menschen herauszuarbeiten. Die Korrelation vom menschlichen und artifiziellen Körper unterstreicht die Tatsache, dass Bühnenakteure immer etwas Künstliches und Konstruiertes darstellen, mithin die artifizielle Simulation natürlichen menschlichen Verhaltens. Der Bühnenkörper ist demnach nicht der Ort des Natürlichen, Authentischen, Eigentlichen. Er ist vielmehr ein Konstrukt, eine offene Projektionsfläche für künstlerische Einschreibungen. Wie diese Synthetik des Bühnenkörpers lebhaft und anschaulich gestaltet wird, ohne die semantische und deiktische Funktion des Körpers im Sinne eines semiotischen Textmodells auf die Ebene des Signifikanten zu verschieben und ihm damit letztlich nur die Materialität eines beliebigen Zeichens zuzubilligen, war und ist die jahrhundertlange Streitfrage in der abendländischen Schauspielkunst. Im 20. Jahrhundert wurde diese Debatte ebenfalls fortgesetzt. Während die herkömmliche Auseinandersetzung bis dato in der vollkommenen Identifizierung mit der darzustellenden Figur, i. e. in einer Aneignung eines fremden Äußerlichen in die eigene Innerlichkeit als Verwirklichung einer Kongruenz ihren Kompromiss fand, stellten viele Künstler dies in Frage. Das scheinbar mit seinem Äußerlichen und Inneren identische Individuum, seine Einheit auf der Bühne schien ihnen fraglich, zumal dem menschlichen (Bühnen)Körper ihrer Meinung nach in sich ein Widerspruch anhaftet. Auf der einen Seite ist er ein Übergangsmedium zur Außenwelt bzw. Innenwelt, auf der anderen Seite aber ein Hindernis, dem das Subjekt für immer in seiner Haut verbunden bleibt. Die 189 vermeintlich natürliche Gestalt des Anwesenden auf der Bühne entpuppte sich als der Vorwand. Leibliche Identifizierung des Schauspielers mit dem Abwesenden erwies sich als das Phantasma. Ausgehend von Gedanken der historischen Avantgardisten, sowie von Betrachtungen außereuropäischer Theaterformen suchten diejenigen Künstler infolgedessen nach Formen idealer Bühnenfiguren, in deren Mittelpunkt nicht das verkörperte Individuum und dessen Verwandlungskönnen in eine Rolle, sondern der überpersönliche ‚Topos’ eines Kunst-Egos steht, der zugleich Träger und Verkörperung ästhetischen Konzepts ist und als solche sich dem anekdotischen, privaten, individuellen Körper entzieht. Um solchen entindividualisierten Körper als mögliche Alternative zum subjektiven Körper und den Menschlichen umgekehrt als reine Projektionsfläche zu sehen, ist eine neue Herangehensweise erforderlich, in der Abgrenzung und Überschneidung der Gegenstände reflektiert wird. Dies verlangt vom Schauspieler neue szenentechnische Ausbildung, mithin Bereitschaft, sein Ego zurückzustellen. Als möglicher Fluchtpunkt bietet sich hier der ‚Raumkörper’ an. Zahlreiche Bemühungen der Bühnenkünstler des 20. Jh. zielten auf die Formung ihrer Auseinandersetzung mit dem Komplex Figur-Raum ab: Wie kann man den architektonischen und wirkungsästhetischen Rahmen der traditionellen Theaterbühne als Herausforderung nehmen, sich mit der Reduktion auf Zweidimensionalität auseinander zu setzen? Wie konzentriert man die Vieldimensionalität von Figuren auf eine Form, die in der Zweidimensionalität überzeugt? Aus welchem inneren Impuls abstrahiert man ein Zeichen? Schließlich: wie formuliert sich das Wesentliche? Trotz unterschiedlicher Ansätze bestanden Übereinstimmungen zwischen der Fragestellung bzw. der übergreifenden Bühnenthematik hinsichtlich der Raumproblematik, Erforschung und Benennung der Faktoren künstlerischer und ästhetischer Gestaltung der Figuren. Die Mechanisierung des menschlichen Körpers und deren räumliche Darstellung war dabei entscheidender Träger. Die Begründung für die Wahl der Mechanik als Mittel lag für die Bühnenreformer sowohl in der mathematisch-geometrischen Präzision des menschlichen Körpers (Schlemmer) oder in der egalitären gesellschaftlichen Neuorientierung (Meyerhold), als auch in der überdimensionierten Betonung und deren Isolierung von Körperteilen als konstitutive Elemente des zeitgenössischen Körperdiskurses (Kantor, Schumann) sowie in der Verfremdung (Wilson). Eine totale Mechanisierung von Körper und Raum zogen sie jedoch nur theoretisch in Betracht. Der Körper der Schauspieler diente lediglich als Instrument, um sich traditionell eingeübten realitätsnahen Schaumustern der 190 abendländischen Bühnenkultur zu entziehen. Bühnenakteure erschienen demnach nicht mehr als Person, die den menschlichen Körper repräsentiert, sondern als ‚Kunstfigur’, die das Körper-Verwandlungs-Potenzial mit Hilfe von Kostüm und Maske und jenseits der Persönlichkeit und Begrenztheit des menschlichen Körpers demonstriert. Wenn sich die Künstler also in ihren Bühnenwerken und theoretischen Äußerungen auf die künstlichen Menschen bezogen, so lautet die zentrale These dieser Arbeit, knüpften sie an dieses spezielle Kunstkonzept an und nutzten es als Ausgangspunkt zur Entwicklung ihrer ästhetischen Konzepte: Die Androiden sind Metapher der europäischen Schauspielästhetik. Die zu Beginn der Arbeit aufgestellte Hypothese, dass die Ästhetik des menschlich modellierten Kunstkörper die zentralen Probleme und Fragestellungen der Schauspielästhetik berührt, hat sich somit bestätigt. Zweitens: Androiden als Allegorie des modernen Kunstkonzepts Das Theater steht immer in einer sich an sehr unterschiedlichen Punkten festmachenden Linie einer ideengeschichtlichen Tradition. Die darstellende Kunst befindet sich, wie jede Kunstartikulation, in einem kunsthistorischen und einem real- oder epochalhistorischen Kontext, wobei dieser jenen umschließt. Gegenwärtige Theaterformen zu erforschen bedeutet daher, bei aller Heterogenität, ja Unvereinbarkeit der konzeptionellen Ansätze ungeahnte Gemeinsamkeiten zu entdecken. Die Untersuchung dieser Arbeit ging indes von der Annahme aus, dass moderne Transformation der Schauspielkunst sich mit den Folgen des veränderten Kunstbegriffs des vorigen Jahrhunderts verknüpfen. Insofern gelten die Überlegungen dieser Abhandlung nicht nur ‚Puppenästhetik’ auf der Bühne, die hier ausgeführt zu sein scheint, sondern dem modernen Kunstverständnis des 20. Jahrhunderts. Den Puppenkörper als Bühnenelement neuer theatralischen Möglichkeiten darzustellen bezieht zwei widersprüchliche Bewegungen der Moderne ein. Die eine entspricht einer universalisierenden, naturalisierenden und entpolitisierende Verschiebung umfassender ökonomischer, politischer, gesellschaftlicher Subjektivierungsprozesse auf die Körperebene. Die andere zeigt im Anschluss an Michel Foucaults These der Dispositive der Macht und dessen feministischer Weiterentwicklung auf, dass der Körper Knoten- und Schnittpunkt 191 divergierender Machtdiskurse ist. Beide sehen am menschlichen Leib die Verpuppung des Körpers, balancieren so stets zwischen Verdinglichung und Auflösung. Derartiger moderner Körperdiskurs hinsichtlich der neuen Determinanten der Kunst, die seit Beginn des 20. Jh. vorangetrieben wurden - die Vorrangstellung des Ästhetischen als solchen, das Streben der Kunst nach Verbindungen mit dem Alltagsleben, die Verschmelzung der Kunstgattungen und nicht zuletzt die Neubewertung der populären Kunst -, erweist sich bald als vorteilhaft, den androidenhaften Körper als legitime Bühnenperformance anzusehen: Die humanoiden Kunstgeschöpfe, die auf den ersten Blick gegen eine solche Vorstellung zu sprechen scheinen, wegen ihres leblosen, trivialen Status bzw. als Gegenstände eines durch die Entwicklung der Bühnenkunst selbst überholten Konzepts, demonstrieren sich bei genauem Hinsehen als durchaus erfüllbar. Treten nämlich die Kunstkörper im Leib des lebendigen Schauspielers auf, wird das Strukturprinzip des Theaters in der ästhetischen Kategorie mehrfach verdoppelt und potenziert. Denn Kunstfiguren ergeben sich bereits aus dem Prinzip der Allegorie, des Verweisens auf ein Anderes und der daraus resultierenden doppelten oder multiplen Struktur, sie werden somit zur Darstellung einer Darstellung - die Puppen legen das Theatralische im Theater bloß. Durch diesen totalen Kunstcharakter der Puppe, die dazu die vollkommene Verkörperung des Naturfernen, Anorganischen, ja Künstlichen sind, ist das Theater die Kunst par excellence und konstruiert sich als eigenwillige Kunstform. Die zweite These des Verfassers, dass die Androidenbühne eine adäquate Antwort sowohl auf die historischen Erfahrungen der Avantgarde mit ihrer künstlichen Figuren als auch eine der prominentesten Problemstellungen der gegenwärtigen Ästhetik liefert, ist damit sicher gestellt. Drittens: Androiden als Wunschkörper auf der Bühne Die Vorstellung, die eigene Körperlichkeit abstreifen oder ausdehnen zu können, setzt den Glauben an etwas Unsterbliches voraus: ein Wesen, das nicht greifbar, aber existent genug ist, um im eigenen Körper wirksam zu werden. Glaubt man an solch eine Totalität der Existenz, dann fungiert ein maskierter Körper als einer ihrer auffälligsten Ausdrücke. Man kann ihn so als Gegenstück zur Realität oder als Wirklichkeit erblicken, die das niemals überzeugende und immer wechselnde Image verbirgt. Voraussetzung eines derartigen Wirkungs- 192 mechanismus ist allerdings eine vielfältig strukturierte Ganzheitsvorstellung, eine mythisch begründete Identität von Mensch und Welt, von Kultur und Natur. Besonders im Theater könnte man vom ‚Rausch der Identitäten’ sprechen, ging es doch darum, gegen sämtliche willkürlichen Kodierungen leibsinnlicher Selbstentfaltung durch Geschlechter und Alter, Familie und Gesellschaft zu einer rauschhaft-dionysischen Selbsterfahrung und –entwicklung zu gelangen. Die schöpferische Tätigkeit des Menschen, ein künstliches Wesen herzustellen, spiegelt sich in den zahlreichen Versuchen, worin folglich eine Wunscherfüllung zu sehen ist, die ihre Ursache in einer tief empfundenen Unzufriedenheit hat: Die Kunstgeschöpfe verdanken ihre äußere Erscheinung der künstlerischen Suche nach dem Wunsch des Ursprungs, des Elementaren, des Gesetzmäßigen. Die unbelebte Figur ist nicht bloß die symbolische Verkörperung des außengesteuerten Individuums, sondern ein überzeitliches Ideal der unstillbaren Sehnsucht des Menschen nach Überschreitung der ihm gesetzten Grenzen. Insbesondere das Gefühl der Substanzlosigkeit bzw. Haltlosigkeit der eigenen Person der Moderne führte zur Transzendierung der am eigenen Leib erlebten Fragmentierung des Ich in einer neuen Ganzheitserfahrung. Aus der Erfahrung der gewaltsamen Konfrontation des Körpers mit einer neu wahrzunehmenden Außenwelt resultierte eine notwendige Neubewertung der Beziehungen des Menschen zu seinem jetzt von der Technik behausten Lebensraum. Ein Wunsch also, der chaotischen Mannigfaltigkeit der Natur nach dem Vorbild des Geistes, der Identität, zu entkommen, bzw. die Natur nach dem Vorbild des Geistes geordnet neu zu erschaffen. Eine Puppe kann daher als ästhetischer Grenzfall der Moderne verstanden werden, in dem sich Menschen über das Verhältnis von Natur und Kunst, Schein und Sein, Original und Kopie, Wahrheit und Lüge auseinandersetzen. Die mediale Position des Androiden auf der Bühne spiegelt ebenso diesen Wunsch wider, der aber zusätzlich eine Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen Ebenen herstellen will: zwischen dem vortragenden Bildmedium einerseits und dem Verstummen einer potentiell sprechenden Figur andererseits, bzw. zwischen den Ebenen von Bild und Text. Die Darstellung eines Kunstgeschöpfs ist daher auch ein Phänomen, das zwei unterschiedliche Medien im Theater miteinander in Beziehung setzt. Die Androiden werden so zu Schwellenfiguren, die auf topologischer Ebene mit ihren Körpern eine Barriere bilden und damit einen Raum von einem zweiten symbolisch trennen. Diese Betrachtung ist 193 letztendlich kein universelles Modell für die Schauspielästhetik, sie ist bloß eine Aufforderung, die Ontologie des Schauspielers zu hinterfragen, in der sich die europäische Bühne so ehrgeizig eingerichtet hat: ein Phantasma des vollkommenen (Bühnen)Körpers, das utopisch ist, und gerade deshalb für etwas Neues offen sein kann. Hier liegt ein Widerspruch, den man immer als unaufhebbar hingestellt hat. 194 Abbildungsverzeichnis [Abb. 1] Das Gero-Kreuz und sein Detail [Abb. 2] Die sog. Mediceische Venus [Abb. 3] Die sog. Mediceische Venus 195 [Abb. 4] L’Écrivain, der Schreiber [Abb. 5] La Musicienne, die Musikerin [Abb. 6] Ein Blick in den Mechanismus des Automaten 196 [Abb. 7] Bühnen-Marionette (Balletprobe 1953: Der Tänzer Hans Birkenstock bei der Arbeit an der ‚Nussknackersuite’ Tschaikowsky) [Abb. 8] Germaine Krull (Ohne Titel, Passagen - Paris, 1928) Eugène Atget (Schaufenster mit Damenbekleidung), um 1910) 197 [Abb. 9] Eine Aufnahme aus dem Studio Reutlinger von 1902 [Abb. 10] Porzellanpuppe im Mieder von Simon & Halbig, um 1900 198 [Abb. 11] Schaufensterpuppen der Londoner Künstlerin Adel Roostein und ihr lebendes Vorbild [Abb. 12] Giorgio de Chirico (Le muse inquietanti, 1924-25) 199 [Abb. 13] Denise Bellon (Mannequins von Espinoza, Wolfgang Paalen und Salvador Dali, 1938-99) [Abb. 14] Hans Bellmer (La Poupée, 1934) [Abb. 15] Anonym (Die von Hermine Moos für Oskar Kokoschka hergestellte Puppe, 1919) 200 [Abb. 16] Bild eines maskierten Schauspielers aus ‚Beyond the Mask’ 201 [Abb. 17] Kasimir Malewitz (Kostümentwürfe zu 'Sieg über die Sonne') 202 [Abb. 18] Bühnenbild und Szenenfoto aus ‘Der großmütige Hahnrei’ 203 [Abb. 19] Szenenfotos aus ‘Der großmütige Hahnrei’ 204 [Abb. 20] Die beiden Pathetiker [Abb. 21] Oskar Schlemmer (Atelierszene, um 1909) [Abb. 22] Goldkugel aus ‚Das Triadische Ballet’ 205 [Abb. 23] Formentanz aus Bauhaustänze um 1926 von Oskar Schlemmer [Abb. 24] Figurales Kabinett von Schlemmer 206 [Abb. 25] [Abb. 26] [Abb. 27] [Abb. 28] [Abb. 29] Runge, Mystische Kreisfiguration, 1803, S. 32f, Runge in seiner Zeit, Hamburger Kunsthalle (Hg. Werner Hofmann), München 1977 207 [Abb. 30] Duane Hanson Supermarket shopper, 1970 Tourist II, 1988 Queenie II, 1988 Museum Guard, 1975 208 [Abb. 31] Cindy Sherman 209 [Abb. 32] Puppen aus The Bread and Puppet Theatre Szenenfoto aus ‘Our Domestic Resurrection Circus’ von Bread & Puppet Theatre Szenenfoto aus ‘The Circus of the Possibilitarians’ (Sep. 2002) von Bread & Puppet Theatre 210 [Abb. 33] Szenenfotos aus ‚Die Tote Klasse’ 211 [Abb. 34] Szenenfoto aus ‚Die Tote Klasse’ [Abb. 35] Szenenfoto aus ‚Die Tote Klasse’ 212 [Abb. 36] Szenenfoto aus ‘The Life and Times of Josef Stalin’ [Abb. 37] Szenenfoto aus ‚Deafman Glance’ 213 [Abb. 38] Szenenfoto aus ‚Einstein On the Beach’ [Abb. 39] Szenenfoto aus ‚Einstein On the Beach’ 214 [Abb. 40] Szenenfoto aus ‚CIVIL warS’ 215 [Abb. 41] Matthew Brady’s Fotoportrait ‚Anna Swan with the Lilliputian King’ 216 Quellen- und Literaturhinweise Primärliteratur Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 2., Darmstadt 1962. 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Nach Studein- und Forschungsaufenthalten in England, den Niederlanden und Süd-Korea kehrte er zurück nach Bochum, wo er im Mai 2006 seine Promotion abschloss.