Überblick 215 B I O S P E K T R U M • 3. 0 1 • 7. J A H R G A N G 1,2,3 2 André Reis , Martin Digweed und Raymonda Varon 2,3 1 Institut für Humangenetik der Universität Erlangen-Nürnberg 2 Institut für Humangenetik, Charité, Humboldt-Universität zu Berlin 3 Zentrum für Genkartierung, Max-DelbrückCentrum, Berlin-Buch Das Nijmegen Breakage Syndrom – Ein Syndrom der Chromosomeninstabilität Das autosomal rezessive Nijmegen Breakage Syndrom (NBS) ist v.a. durch Wachstumsretardierung, Immundefizienz und erhöhte Anfälligkeit für maligne Tumoren gekennzeichnet. Wir konnten jetzt den Genort auf Chromosom 8 kartieren und das ursächliche Gen (NBS1) positionell klonieren. NBS1 kodiert für Nibrin, ein für die Reparatur von Brüchen des DNADoppelstrangs essentielles Protein. Das Fehlen von Nibrin führt zu einer fehlerhaften DNA-Reparatur und erklärt die verschiedenen klinischen und zellulären Symptome bei NBS. Somatische Mutationen im NBS1 Gen spielen möglicherweise auch bei der Tumorentstehung eine Rolle. A Das autosomal rezessiv vererbliche Nijmegen Breakage-Syndrom (NBS) ist charakterisiert durch Mikrozephalie (kleiner Kopf), Wachstumsretardierung, Immundefizienz und eine erhöhte Anfälligkeit für maligne Tumoren, v.a. Lymphome. NBS gehört zu den seltenen Krankheitsbildern, wird aber weltweit beobachtet. In Tschechien und Polen allerdings kommt es häufiger vor. Zellen von NBS-Patienten sind extrem strahlenempfindlich, ähnlich wie die von Patienten mit Ataxia Telangiectasia (AT). Deshalb wurde NBS lange Zeit als Variante von AT betrachtet. Nach der Klonierung des ATGens, wurde klar, dass es verschieden vom NBS-Gen ist, da in NBS-Familien keine Kopplung zum AT-Locus bestand (Stumm et al. 1995). Auch Zellkomplementationsstudien zeigten, dass eine in die Zellen eingebrachte Kopie des AT-Gens die Strahlenempfindlichkeit nicht korrigieren konnte. Da es keinen Anhalt gab, was die Ursache der Erkrankung sein könnte, unternahmen wir den Versuch, das NBS-Gen positionell zu klonieren. Wir konnten in Zusammenarbeit mit Chrystina Charnowska aus Warschau und Eva Seemanova aus Prag eine Reihe von Polnischen und Tschechischen Familien mit NBS für die Studie gewinnen, aber auch solche aus Deutschland und Holland. In einer systematischen gesamt-genomischen Kopplungsanalyse gelang es uns, den Genort für NBS auf dem langen Arm von Chromosom 8 in der Bande q21 zu identifizieren (Saar et al. 1997). Die gekoppelte Region betrug etwa 1 cM auf der genetischen Karte, physikalisch schätzten wir sie auf 4 bis 6 Millionen Basenpaare. Um die Region weiter einzuengen, nutzten wir die Tatsache, dass wir ein deutliches Kopplungsungleichgewicht (linkage disequilibrium) mit einem polymorphen Marker (D8S1811) aus der Region gefunden hatten. Damit hat- ten wir einen starken Hinweis, dass bei den meisten Patienten ein gemeinsamer Haplotyp (Chromosomenabschnitt) des selben Ursprungs vorliegt. Wir postulierten deshalb, dass die meisten Patienten dieselbe Mutation auf dem selben chromosomalen Hintergrund hätten, also letztendlich gemeinsame Vorfahren möglicherweise weit in der Vergangenheit. Wir klonierten anschließend die gesamte Region um D8S1811 in ein überlappendes Contig von BAC-Klonen (Bacterial Artificial Chromosomes) von einer Größe von 1,2 Millionen Basenpaaren. Parallel zur Sequenzierung des Contigs, welches in Zusammenarbeit mit der Gruppe von André Rosenthal vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Jena durchgeführt wurde, identifizierten wir weitere Polymorphismen aus der Region. Die Analyse dieser Polymorphismen erlaubte es uns tatsächlich, einen gemeinsamen Haplotypen für die große Mehrzahl der Patienten zu rekonstruieren. Jedoch nur ein kleiner Teil des Haplotyps war bei allen Patienten identisch, unabhängig von ihrer geographischen Herkunft. Das heißt, Patienten aus Polen, Tschechien und Deutschland wiesen tatsächlich einen gemeinsamen Chromosomenabschnitt auf. Wir nahmen an, dass darin das NBS-Gen liegen müsste. Wir testeten daraufhin alle Gene in diesem Intervall auf das Vorliegen von Mutationen. Als Technik verwendeten wir die SSCP-Analyse mit anschließender direkter Sequenzierung der auffälligen PCR-Produkte. In einem der untersuchten Transkripte BR7, fanden wir ein abweichendes Bandenmuster bei allen Patienten mit dem gemeinsamen Haplotypen. Die Sequenzanalyse ergab eine 5-Basenpaar-Deletion in diesem Transkript, welche eine Verschiebung des Leserasters und damit einen vorzeitigen Kettenabbruch bewirkt. Die detaillierte Analyse des Transkriptes BR7 ergab, dass es sich um ein 4,4kb-Transkript handelt, welches in 16 Exons organisiert ist, die über 50 Kilobasen genomischer DNA verteilt liegen. Die cDNA codiert für ein neuartiges Protein, das wir Nibrin tauften und aus 754 Aminosäuren besteht. Insgesamt konnten wir in verschiedenen NBS-Patienten 7 verschiedene Mutationen identifizieren, die sämtlich zu einem vorzeitigen Kettenabbruch führen (Maraschio et al. 2001; Varon et al. 1998). Etwa 95% der Patienten tragen die Gründermutation der 5-Basenpaar-Deletion (657del5). Die Mehrzahl der Patienten ist tschechischer oder polnischer Abstammung, weshalb wir vermuten, dass es sich hier um eine Mutation slawischen Ursprungs handelt. Die anderen 6 NBS1-Mutationen sind bisher nur in einzelnen Patienten verschiedener ethnischer Abstammung beobachtet worden. Überblick 216 Abb. 1: Komplementation des zelluläreren Defektes bei NBS durch Transfer von Nibrin. A) Oben-links – Kontrollzellen nach Bestrahlung mit 12 Gy. Antikörper gegen MRE11 weisen die Bildung von s. g. Foci im Zellkern nach, die aus einem MRE11, RAD50 und Nibrin Komplex bestehen. B) Oben-rechts – Transfer einer wildtyp Nibrin cDNA in NBS Zellen normalisiert die Bildung von Foci nach Bestrahlung mit 12 Gy und korrigiert den zellulären Defekt. C) Unten-links –Gegenfärbung der Zellkerne aus Teil D mit DAPI (4,6-diamidino-2-phenilindole-dichidrochloride) D) Unten -rechts – In Zellen von NBS Patienten bilden sich nach Bestrahlung mit 12 Gy keine Foci. Um Aufschlüsse über die mögliche Funktion zu bekommen, verglichen wir die Aminosäuresequenz von Nibrin mit der anderer Proteine in den Datenbanken, konnten jedoch keine globalen Ähnlichkeiten finden. Lediglich im N-terminaler Bereich des Eiweißes fanden wir eine etwa 200-Aminosäuren lange forkhead-associatedDomäne (FHA) und eine breast-cancer-carboxyterminal-Domäne (BRCT). Beide Domänen waren bisher unabhängig voneinander in verschiedenen Proteinen gefunden worden, die an der Zellzykluskontrolle beteiligt sind. In Nibrin fanden wir allerdings beide Domänen erstmalig benachbart in einem Protein. Parallel und unabhängig zu unseren Arbeiten identifizierten Carney und Mitarbeiter (Carney et al. 1998) das NBS1-Gen über Immunpräzipitation mit den Proteinen des RAD50/MRE11Proteinkomplexes, der in der Hefe und anderen Organismen an der Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen beteiligt ist. In Zellen, die aufgrund einer Bestrahlung eine Vielzahl von Doppelstrangbrüchen haben, bilden sich s.g. Foci im Zellkern die aus diesen drei Proteinen bestehen. In Zellen von NBS-Patienten fehlen diese Foci nach Bestrahlung vollständig. Aufgrund der Beobachtung von Carney und unserer eigenen konnten wir somit eine Korrelation zwischen dem Fehlen von Nibrin und den zytogenetischen, zellulären und klinischen Aspekten von NBS herstellen. DNA-Doppelstrangbrüche sind nicht nur typische DNA-Läsionen nach Bestrahlung sondern auch notwendige Intermediärschritte in der DNA-Prozessierung von Umbauten der Immungene bei der Antikörpersynthese, beim Erhalt der Telomere und schließlich bei der homologen Rekombination in der Meiose. Man kann so nicht nur die erhöhte Strahlenempfindlichkeit und Anfälligkeit für Tu- B I O S P E K T R U M • 3. 0 1 • 7. J A H R G A N G more erklären sondern auch den Kleinwuchs und die Mikrozephalie, die Immunschwäche und auch die zur Unfruchtbarkeit führenden Gonadendysgenesie. Wie oben schon erwähnt, sind AT und NBS auf zellulärer Ebene sehr ähnlich. Es ist deshalb schon lange vermutet worden, dass beide Proteine in einem gemeinsamen Pathway interagieren. Jüngst konnte diese Vermutung durch drei verschiedene Gruppen gleichzeitig bewiesen werden. Sie konnten zeigen, dass ATM in der Lage ist, nach einer Bestrahlung der Zellen Nibrin über eine Phosphorylierung zu aktivieren (Gatei et al. 2000; Wu et al. 2000; Zhao et al. 2000). Diese ATM-abhängige Phosphorylierung von Nibrin führt wahrscheinlich zu einer Änderung der Konformation des Komplexes aus RAD50/MRE11/Nibrin und beeinflusst so seine Funktion. Dazu passt, dass Mutationen im MRE11-Gen vor kurzem bei Patienten mit einer AT-ähnlichen Erkrankung beschrieben wurden (Stewart et al. 1999). Für das AT-Gen (ATM) ist inzwischen in einer Vielzahl von Untersuchungen gezeigt worden, dass es auch als Tumorsupressorgen fungiert (Reis, 1999). So können somatische Mutationen zu den gleichen Tumoren führen, die auch bei AT-Patienten gefunden werden, die ja Keimbahnmutationen tragen. In Analogie zu ATM postulierten wir, dass auch NBS1 als Tumorsupressorgen fungieren kann. Wir untersuchten deshalb verschiedene lymphoide Tumoren auf somatische NBS1-Mutation. Jüngst konnten wir bei Kindern mit akuter lymphoblastischer Leukämie verschiedene zu Aminosäureaustauschen führende Mutationen sowie bei einem Fall die 657del5Mutation nachweisen (Varon et al. 2001). Für einen Teil der Mutationen konnten wir zeigen, dass sie bereits in der Keimbahn vorhanden waren, während eine somatischen Ursprungs war. Die meisten Keimbahnmutationen führen sowohl bei AT als auch bei NBS zu Kettenabbrüchen. Im Gegensatz dazu sind die meisten Mutationen in Tumoren solche, die zum Austausch einzelner Aminosäuren führen. Ein weiterer Hinweis, dass auch NBS1 wirklich ein Tumorsuppressorgen ist, ergibt sich aus den jüngst veröffentlichten Ergebnissen von (Kim et al. 2001) und (Fukuda et al. 2001) die sowohl Mutationen im RAD50- als auch im Mre11-Gen in verschiedenen primären Tumoren fanden. Eng verbunden mit der Frage nach dem Tumorsupressorgen ist die Frage, ob Überträger (Heterozygote) ebenfalls ein erhöhtes Krebsrisiko haben. In einer früheren epidemiologischen Studie konnte (Seemanova 1990) erste Hinweise in diese Richtung geben. Für die Bevölkerung in Polen und Tschechien könnte dies von Bedeutung sein, da dort die Heterozygotenfrequenz relativ hoch ist. In einer weiteren Studie führten wir ein HeterozygotenScreening in drei Bevölkerungen slawischen Ursprungs durch, Tschechien, Polen und der Ukraine (Varon et al. 2000). Wir fanden eine Heterozygotenfrequenz von 1/177 im Durchschnitt der drei Bevölkerungen, mit regional starken Unterschieden. Es ist durchaus vorstellbar, dass diese Mutation einen nicht unerheblichen Beitrag zur Tumorinzidenz in diesen Ländern leistet. Die Heterezygotenfrequenz in Deutschland hingegen liegt bei etwa 1/866 (Carlomagno et al. 1999). Allerdings ist die Bestätigung dieser ersten Beobachtung durch weitere Studien notwendig. Da anders als bei der AT eine einzelne NBS1-Mutation (657del5) in diesen Ländern prädominiert, sind solche groß angelegten Studien überhaupt erst möglich. Literatur 1. Carlomagno F, Chang-Claude J, Dunning AM, Ponder BA (1999) Determination of the frequency of the common 657Del5 Nijmegen breakage syndrome mutation in the German population: no association with risk of breast cancer. Genes Chromosomes Cancer 25: 393-5. 2. Carney JP, Maser RS, Olivares H, Davis EM, Le Beau M, Yates JR, 3rd, Hays L, Morgan WF, Petrini JH (1998) The hMre11/hRad50 protein complex and Nijmegen breakage syndrome: linkage of double-strand break repair to the cellular DNA damage response. Cell 93: 477-86. Überblick B I O S P E K T R U M • 3. 0 1 • 7. J A H R G A N G 3. Fukuda T, Sumiyoshi T, Takahashi M, Kataoka T, Asahara T, Inui H, Watatani M, Yasutomi M, Kamada N, Miyagawa K (2001) Alterations of the double-strand break repair gene MRE11 in cancer. Cancer Res 61: 23-6 4. Gatei M, Young D, Cerosaletti KM, Desai-Mehta A, Spring K, Kozlov S, Lavin MF, Gatti RA, Concannon P, Khanna K (2000) ATM-dependent phosphorylation of nibrin in response to radiation exposure. 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