Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Achim Geisenhanslüke
DIE WAHRHEIT IN DER LITERATUR
Achim Geisenhanslüke
DIE WAHRHEIT IN DER
LITERATUR
Wilhelm Fink
Umschlagabbildung:
Raffael, Parnass (1511)
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© 2015 Wilhelm Fink, Paderborn
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Lektorat und Satz: Eva-Maria Konrad, Regensburg
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5845-2
Inhalt
1.
Literatur und Wahrheit.
Alte Fragen und neue Antworten ........................................
9
1.1
Dichtung, Philosophie und Wahrheit. Hesiod und Parmenides..........
9
1.2
Aristoteles und die Begründung der philosophischen Poetik ............
13
1.3
Die Frage nach der Wahrheit der Literatur in der Philosophie
des 20. Jahrhunderts ...........................................................................
21
2.
Die Wahrheit der Phänomenologie.
Husserls Logische Untersuchungen .................................... 28
2.1
Husserl und die Begründung der Phänomenologie ............................
28
2.2
Logik und Sprache .............................................................................
29
2.3
Ausdruck und Bedeutung ...................................................................
33
2.4
Intentionalität .....................................................................................
38
2.5
Das Ideal der letzten Erfüllung ..........................................................
41
2.6
Die Dekonstruktion und das Ideal der letzten Enttäuschung .............
44
3.
Dekonstruktion der Phänomenologie.
Derridas Die Stimme und das Phänomen ............................ 50
3.1
Derrida und Husserl ...........................................................................
50
3.2
Dekonstruktion des Zeichens .............................................................
55
3.3
Der Andere und die Zeit ....................................................................
60
3.4
Stimme und Selbstaffektion ...............................................................
65
3.5
Dekonstruktion und Kritik .................................................................
71
4.
Heidegger, die Wahrheit und die Dichtung ......................... 76
4.1
Von Husserl zu Heidegger .................................................................
76
4.2
Heidegger und das Problem des Verstehens ......................................
77
6
INHALT
4.3
Heidegger und die Wahrheit ..............................................................
81
4.4
Die Wahrheit des Kunstwerks ...........................................................
88
4.5
Heidegger und Hölderlin ...................................................................
95
4.6
Dichter in dürftiger Zeit. Trakl – George – Rilke .............................. 101
4.7
Heideggersprache .............................................................................. 105
5.
Das wahre Wort der Dichtung.
Gadamers philosophische Hermeneutik .............................. 109
5.1
Von Heidegger zu Gadamer .............................................................. 109
5.2
Die Erfahrung der Wahrheit in der Kunst .......................................... 110
5.3
Die Hermeneutik und das Problem des Verstehens ........................... 115
5.4
Sprache – Sein – Vernunft ................................................................. 118
5.5
Gadamer und die Literatur ................................................................. 121
5.6
Das wahre Wort. Gadamer und Celan ............................................... 123
5.7
Der Atem der Dichtung ..................................................................... 126
6.
Disseminale Lektüren. Derrida und die Literatur ................ 136
6.1
Derrida und die Literatur ................................................................... 136
6.2
Schrift und Wahrheit .......................................................................... 139
6.3
Das Gesetz der Dichtung. Derrida und Kafka .................................... 147
6.4
Die Signatur der Dichtung. Derrida und Celan .................................. 149
6.5
Dekonstruktion und Literatur ............................................................. 158
7.
Die Metapher in der Philosophie.
Derrida und Davidson ......................................................... 162
7.1
Auszehrung der Sprache? Derrida und Searle ................................... 162
7.2
Dekonstruktion der Metapher ............................................................ 164
7.3
Die Buchstäblichkeit der Metapher ................................................... 168
7.4
Wittgenstein, die analytische Philosophie und die Literatur .............. 171
INHALT
7
8.
Wahrheit und Bedeutung bei Davidson .............................. 174
8.1
Frege und die Geburt der analytischen Philosophie aus dem
Geiste der Mathematik ....................................................................... 174
8.2
Davidson und die Wahrheit ............................................................... 178
8.3
Die Literatur und sprachliche Abweichungen .................................... 182
8.4
Was ist Literatur? ............................................................................... 187
8.5
Literatur und Lüge. Davidson, Joyce und Flaubert ............................ 191
8.6
Davidson, die Wahrheit und die Literatur .......................................... 195
9.
Wahrheit und Ironie bei Rorty ............................................ 198
9.1
Rorty und die Wahrheit des Pragmatismus ........................................ 198
9.2
Wahrheit und Rechtfertigung ............................................................. 200
9.3
Der Geist der Ironie ........................................................................... 203
9.4
Das Schöne und das Erhabene ........................................................... 206
9.5
Rorty, die Wahrheit und die Literatur ................................................ 209
10. Im Zweifel für die Literatur.
Cavell und die Tragödie des Nichtwissens .......................... 212
10.1 Die Stimme der Philosophie .............................................................. 212
10.2 Skeptizismus und Tragödie ................................................................ 215
10.3 Tragödie und Anerkennung ............................................................... 216
10.4 Cavell und Shakespeare ..................................................................... 218
10.5 Cavell, die Philosophie und die Literatur ........................................... 223
11. From a literary point of view .............................................. 225
Bibliographie .............................................................................................. 231
Personenregister .......................................................................................... 239
1. Literatur und Wahrheit.
Alte Fragen und neue Antworten
1.1 Dichtung, Philosophie und Wahrheit. Hesiod und Parmenides
Hesiods Theogonie, entstanden um 700 v. Chr. und neben Homers Ilias und
Odyssee das bedeutendste Epos der Antike, beginnt mit einer Anrufung der
Helikonischen Musen. Ihr Name steht programmatisch am Anfang des Epos.
Der ungewöhnlich lange Musenanruf, mit dem die Theogonie beginnt, kulminiert in der Erzählung von der Verkündigung, die der Sänger von den Musen
erhalten habe:
Diese (d.h. die Musen) nun lehrten einst den Hesiod schönen Gesang,
als er Schafe weidete unter dem gotterfüllten Helikon.
Dieses Wort aber sprachen die Göttinnen zuerst zu mir,
die olympischen Musen, die Töchter des ägishaltenden Zeus:
‚Ihr Hirten draußen, üble Burschen, nichts als Bäuche,
wir wissen viel Falsches zu sagen, dem Wirklichen Ähnliches,
wir wissen aber auch, wenn wir wollen, Wahres zu verkünden.‘
So sprachen die Töchter des großen Zeus, die rechtredenden.
Und sie gaben mir einen Stab, einen Zweig vom blütenreichen Lorbeer
schneidend, einen ansehnlichen. Und sie hauchten mir eine weissagende
Stimme ein, damit ich rühme, was sein wird und was vorher war,
und sie forderten mich auf, das Geschlecht der seligen (Götter) zu
preisen, der ewig seienden,
sie selbst aber zuerst und zuletzt stets zu besingen.1
Die Funktion des Musenanrufs besteht in der Legitimation dichterischen Wissens. Er beginnt mit der grundlegenden Unterscheidung zwischen den Hirten,
die an nichts als an ihre Bäuche denken und denen allenfalls dem Wirklichen
Ähnliches offenbart wird, und dem Sänger, dem Wahres verkündet wird.2 Seine Aufgabe besteht darin, das von den Musen empfangene Wissen weiterzugeben. In einer rituellen Initiationsgeste wird ihm als Zeichen seiner Verbundenheit mit Apoll, dem Gott der Weissagung und des Orakels, ein Lorbeerstab
übergeben, der zugleich anzeigt, dass das Wissen, über das der Rhapsode verfügt, über den Bereich des Menschlichen hinausgeht. Auf der Grundlage der
Unterscheidung zwischen dem Falschen (pseudos) und dem Wahren (al!theia)
1
2
Hesiod, Theogonie. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Karl Albert, 3., durchges.
Aufl., Sankt Augustin 1983, Vers 22-34.
Über den Anfang der Poetik vermerkt Dietmar Till: „Griechische P. wird zuerst faßbar um
700 v.Chr. in den Epen Homers und Hesiods. Es zeigt sich eine Konzeption von Dichtung,
nach der der Sänger das Wissen, welches er über die Ruhmestaten früherer Männer [...] bzw.
über die Genealogie von Göttern und Heroen vermittelt, göttlicher Inspiration verdankt.“
D. Till u. a.: Art. Poetik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding.
Band 6: Must-Pop, Tübingen 2003, S. 1304-1393, hier S. 1307.
10
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
erhält der Rhapsode die Aufgabe, den Ruhm der Götter und der Musen zu singen. Das Wissen, über das er durch die göttliche Inspiration, die weissagende
Stimme, die ihm eingehaucht wird, verfügt, erstreckt sich auf die zeitliche Dimension der Vergangenheit wie der Zukunft. Die Aufgabe des Sängers besteht
im Lobpreis der Götter und in der Verkündigung einer Wahrheit, die den Menschen nur im dichterischen Wort mitgeteilt wird. Bei Hesiod tritt der Dichter
als Vermittler zwischen Göttern und Menschen in die Welt, wobei sein Sprechen explizit auf die Wahrheit bezogen wird, die zugleich von dem Falschen
als dem Wahren bloß Ähnlichen unterschieden wird. Zur Wahrheit steht der
Dichter in einem privilegierten Verhältnis.
Ganz Ähnliches gilt für die Philosophie. Als Parmenides in seinem Lehrgedicht Über das Sein auf einem von Stuten gezogenen Wagen von Sonnenmädchen geleitet den beschwerlichen Weg zum Licht antritt, öffnet ihm Dike, die
Göttin des Rechts, ein Tor, an dem ihm von einer Göttin die Wahrheit verkündet wird, die am Anfang der Philosophie steht:
Vertrauensvoll empfing mich die Göttin, sie ergriff mit ihrer Hand meine Rechte, begrüßte mich und sprach die folgenden Worte: ‚Junger Mann, Gefährte unsterblicher Wagenlenkerinnen, der du mit den Stuten, die dich tragen, mein Haus
erreicht hast, willkommen! Es ist ja kein böses Geschick, das dich fortgeleitet
hat über diesen Weg, um ans Ziel zu gelangen – einen Weg, der weitab vom üblichen Pfad der Menschen liegt, sondern göttliche Fügung und dein Recht. So
gehört es sich, daß du alles erfährst: einerseits das unerschütterliche Herz der
wirklich überzeugenden Wahrheit, andererseits die Meinungen der Sterblichen,
denen keine wahre Verläßlichkeit innewohnt. Gleichwohl wirst du auch hinsichtlich dieser Meinungen verstehen lernen, daß das Gemeinte gültig sein muß, insofern es allgemein ist. (DK 28 B 1, 25-32)
Die Szene ähnelt der Hesiodschen und unterscheidet sich doch von ihr. Auch
Parmenides erhält die Wahrheit von einer Göttin, und wie bei Hesiod bedeutet
die Gabe der Wahrheit ein Privileg, das ihn von anderen Sterblichen unterscheidet: Während er die wirklich überzeugende Wahrheit (al!theia) erfährt,
verfügen die anderen nur über Meinungen (doxa), denen die Göttin eine allenfalls beschränkte Wahrheitsfähigkeit zuspricht. Die Wahrheit, die dem Philosophen zugänglich wird, ist allerdings von anderer Natur als die, die sich Hesiod öffnet. Wo der Sänger antritt, um das Lob der Götter zu verkünden, besteht die Wahrheit, die der Philosophie als Grundlage dient, in einer einfachen
logischen Gleichung: dass Sein ist und Nichtsein nicht ist. Die beiden Texte
von Hesiod und Parmenides zeigen, dass der Anspruch auf Wahrheit Dichtung
und Philosophie zwar verbindet. Die Qualität der Wahrheit ist aber eine andere: Hesiod berichtet vom Ursprung der Welt und der Götter aus dem Chaos,
dem Kampf der Götter um eine gerechte Herrschaft, die seiner Auffassung zufolge erst bei Zeus erreicht wird, und von vielem mehr. Parmenides dagegen
hält sich an die strikte Wahrheit, dass das Sein strikt vom Nichtsein und dem
Werden und Vergehen unterschieden werden muss. Für beide Texte gilt trotz
dieser Unterschiede gleichermaßen, dass sie eine strenge Unterscheidung von
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
11
mythos und logos unterlaufen, dass sich dichterische Erzählung und philosophische Wahrheit in ihnen vermischen. Noch bevor sich die Philosophie vor
allem in ihrer platonischen Ausprägung als eine eigenständige Disziplin konstituiert, ist es die Dichtung, der die Aufgabe zukommt, die Wahrheit zu verkünden. Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt, ist die nach der
Grundlage und der Geschichte der philosophischen Wahrheitsfähigkeit der
Dichtung. Die vielzitierte Tatsache, dass Platon den Dichter aus dem idealen
Staate zu verbannen suchte, weist bereits darauf hin, dass sich das Verhältnis
von dichterischer und philosophischer Wahrheit im weiteren Fortlauf der Geschichte keineswegs konfliktfrei gestaltete. Dennoch ist das Verhältnis von
Philosophie und Dichtung, wie es sich seit der Antike ergibt, nicht einfach
kontradiktorisch. Auch bei Platon – nicht zuletzt in der kunstvollen Form des
sokratischen Dialogs – überlagern sich Philosophie und Dichtung, bis sich bei
Aristoteles ein spezifisch philosophisches Wissen um die Dichtkunst etabliert,
das unter dem Titel „Poetik“ fungiert. Der Ausdruck „Poetik“ richtet sich zunächst in einer allgemeinen Bedeutung auf die Dichtkunst überhaupt, und das
heißt sowohl auf die von der Philosophie erarbeitete Theorie der Dichtkunst
als auch auf das im engeren Sinne technische Wissen um die Dichtkunst, über
das die Dichter selber verfügen:
Das Wort !"#$%#&' findet sich erstmals bei Platon, seit Aristoteles häufig. Dieser
bezeichnet im programmatischen Eingangssatz seiner ‚Poetik‘ mit P. die Dichtkunst, die regelgerechte Beherrschung des dichterischen Metiers, im Gegensatz
zum einzelnen Dichtwerk (!"($)#*). P. als eine von der Tätigkeit des Dichters
unterschiedliche Disziplin des Darstellens dichterischer Phänomene [...], als
systematische Lehre vom Wesen und von der Wirkung der Poesie begann sich
im ausgehenden 5. Jahrhundert unter dem Einfluß der Sophistik herauszubilden
und etablierte sich in der peripatetischen Schultradition. Seit dem 3. Jh. v.Chr.
hieß der die Regeln der P. analysierende Theoretiker (ebenso wie der philologische Erforscher und Interpret von Dichtung) &+#%#&,*, später überwiegend
-+.µµ.%#&,*. Die Grenzen zwischen P. und Literaturkritik waren fließend, ähnlich die zwischen P. und der viel früher etablierten Rhetorik.3
Wenn die Poetik in einer übergreifenden Bedeutung als die systematische
Lehre vom Wesen und der Wirkung der Dichtkunst bestimmt wird, dann kann
sie ganz allgemein als „die Theorie der ‚Poesie‘ bzw. der ‚Literatur‘ im weitesten Sinne“4 gelten. Poetik und Theorie der Literatur meinen zunächst dasselbe. Allerdings verbinden sich mit dieser weiten Bedeutung von Poetik von
Beginn an weitere Implikationen, die keineswegs selbstverständlich sind.
Denn als Lehre von der Dichtkunst meint die Poetik eine Form der Theorie,
die aus der Literatur selbst gewonnen ist. In der Poetik geht es um eine Refle3
4
G. Scholtz, Poetik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter/
Karlfried Gründer. Band 7: P-Q, Basel 1989, S. 1011-1023, hier S. 1011.
D. Till u. a., Art. Poetik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, S.
1304.
12
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
xion der Literatur, die nicht einfach die Theorie eines beliebigen Gegenstandes, sondern zugleich von ihrem Gegenstand affiziert ist. Die Grenze zwischen Theorie und Gegenstand ist in der Poetik auf eigentümliche Art und
Weise aufgehoben. Daher ist der für die Poetik zuständige Experte auch nicht
der Philosoph, sondern der kritikos, der Kritiker. Poetik und Kritik sind – von
Gorgias, Aristoteles und Longin bis hin zu Roland Barthes, Peter Szondi oder
Paul de Man – unauflöslich miteinander verbunden. Kritik meint in diesem
Sinne zunächst weniger die normative Bewertung von Kunstwerken, wie sie
sich in der rhetorischen Tradition etabliert hat, als vielmehr die regelgeleitete
Analyse der Dichtung. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist
die, wer für die Poetik eigentlich zuständig ist. In Frage kommen neben dem
Philosophen vor allem der Rhetor und der Dichter: der Philosoph, weil die
Frage nach dem Wesen der Dichtkunst eine genuin philosophische Frage ist,
der Rhetor, weil der Bereich der Dichtkunst in das die Rhetorik leitende Gebiet der Sprache fällt, der Dichter, weil er am besten mit den Regeln der
Dichtkunst vertraut ist. Vor diesem Hintergrund hat sich in der Geschichte der
Poetik – neben den Autorpoetiken – lange Zeit eine besondere Verbundenheit
der Dichtung mit der Philosophie wie der Rhetorik erhalten.5 Das ist umso bemerkenswerter, als Philosophie und Rhetorik spätestens seit Platons Kritik an
den Sophisten in einem scheinbar unauflösbaren Widerstreit befangen zu sein
scheinen. Entsprechend unterschiedlich fällt das Dichtungsverständnis von
Gorgias auf der einen und von Platon und Aristoteles auf der anderen Seite
aus. Nimmt man die Bedeutung von Poetik als Theorie der Literatur in einem
weiten Sinne ernst, dann fällt die Poetik jedoch nicht nur als Gegenstand in die
unterschiedlichen Disziplinen der Philosophie, der Rhetorik und der Dichtung,
sondern umfasst und verbindet sie vielmehr. Denn es ist ja nicht nur so, dass
die Philosophie die Frage nach dem Wesen der Dichtkunst zu beantworten
sucht, sie tut dies selbst in einer spezifisch poetischen Form, die sehr unterschiedlich ausfallen kann – vom Lehrgedicht wie bei Parmenides über den sokratischen Dialog bis zum Traktat, Essay oder selbst zum Bildungsroman des
Geistes, wie ihn Hegel mit der Phänomenologie des Geistes entfaltet. Ähnliches gilt für die Rhetorik, die als allgemeine Kunst der Rede nicht nur für die
Poetik zuständig ist, sondern die insbesondere im Bereich der elocutio selbst
von der Dichtung beeinflusst ist. In dem Maße, in dem die Poetik zwischen
Philosophie und Rhetorik steht, kann sie in der Form einer expliziten oder impliziten Theorie der Literatur zugleich zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen von Philosophie, Rhetorik und Dichtung vermitteln.
5
„Die Rhetorik als umfassende ‚Kunst der Rede‘ ist auch für die speziellere ‚dichterische‘ Rede zuständig, vielfach wird diese Einordnung der P. in das Gebiet der Rhetorik in die Opposition von ‚Poesie‘ als ‚gebundener Rede‘ (oratio ligata) und rhetorischer ‚Kunstprosa‘ als ‚ungebundener Rede‘ (oratio soluta) gefaßt.“ Ebd., S. 1306.
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
13
1.2 Aristoteles und die Begründung der philosophischen Poetik
Die Poetik, wie sie sich schon von Hesiod und Parmenides herleiten lässt, verkörpert so ein Bindeglied zwischen den unterschiedlichen und in ihrer Unterschiedlichkeit doch aufeinander verwiesenen Bereichen der Philosophie und
der Dichtung, ein Bindeglied allerdings, das in der Geschichte der philosophischen Reflexion über die Dichtung sehr heterogene Akzentuierungen erfahren
hat. Der Anspruch der Philosophie, die Wahrheit der Dichtung zu erfassen, ist
immer schon umstritten gewesen. Das gilt bereits für den Begründer der Poetik, für Aristoteles.
Aristoteles kann für sich beanspruchen, mit der Poetik die erste systematische Abhandlung zur Dichtkunst vorgelegt zu haben. So hält schon Otfried
Höffe fest: „Aristoteles’ Schrift Über die Dichtkunst (Peri poi!tik!s) ist trotz
ihrer Kürze einer der wirkungsmächtigsten Texte ihrer Art und fraglos das erste Werk, das seinem Gegenstand eine eigene Abhandlung widmet. Sie untersucht auf systematische Weise das Wesen der Dichtung und ihre Gattungen,
vor allem die Tragödie, aber auch das Epos und ziemlich knapp die Komödie“6. Trotz ihres Anspruches, die erste systematische Wesensbestimmung der
Kunst zu leisten, gehorcht auch die Poetik des Aristoteles historischen Voraussetzungen, die alles andere als selbstverständlich sind. Das betrifft auf der
einen Seite ihr Verhältnis zu Platon, auf der anderen Seite das zu den Sophisten. Während es Aristoteles darum geht, die platonische Philosophie produktiv
weiterzuentwickeln, teilt er mit Platon die Verurteilung der sophistischen Lehre als einer bloßen Irrmeinung: Eine „Scheinweisheit“ (Met. 1004b) nennt er
die Sophistik in der Metaphysik. Das setzt allerdings voraus, dass Aristoteles
die Position der Sophisten, die in vielerlei Hinsicht als ein poetologisches
Konkurrenzunternehmen zur platonischen Philosophie zu verstehen ist, auch
bekannt gewesen ist: „[T]he era of the sophists was the first great age of Greek
theoretical writings in these areas, as in many others, and the treatises and
handbooks which it produced were undoubtedly known to the author of the
Poetics“7, stellt Stephen Halliwell fest. Von einer direkten Auseinandersetzung
mit den Sophisten findet sich in der Poetik trotzdem kaum eine Spur. Der Bezug der aristotelischen Poetik zu Platon ist dagegen häufig von der Forschung
thematisiert worden. Auch er aber gehorcht einer doppelten Strategie. Wie
Manfred Fuhrmann festhält, hat Aristoteles „es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht, den Bann aufzuheben, den Platon im Namen seines ethischen
Rigorismus über die Dichtkunst verhängt hatte.“8 Andererseits aber löst er sich
nicht völlig von den platonischen Vorgaben. Insbesondere der in der Poetik
6
7
8
Otfried Höffe, Einführung in Aristoteles’ Poetik, in: Aristoteles, Poetik. Klassiker auslegen,
hrsg. von Otfried Höffe, Berlin 2009, S. 1-27, hier S. 1.
Stephen Halliwell, Aristotle’s Poetics, London 1986, S. 8.
Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, ‚Longin‘. Eine Einführung, Düsseldorf und Zürich 2003, S. 70.
14
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
zentrale Begriff der Nachahmung bindet Aristoteles an Platon zurück.9 Die
aristotelische Poetik bleibt so in einer eigentümlich zwiespältigen Haltung zu
der Position der Sophisten, auf die sie gar nicht erst ausführlich eingeht, wie
zu den platonischen Vorgaben, die sie kritisch diskutiert, zugleich aber voraussetzt. Das gilt vor allem für das Verhältnis der Poetik zur Ethik: „Aristoteles wies einerseits die Forderung Platons zurück, daß die Dichtung heteronom
sei, daß sie im Dienst an Moral und Politik aufgehen müsse; er wollte andererseits die Dichtung nicht zu einer gänzlich autonomen, von der Moral völlig gelösten Größe erhoben wissen.“10 Die aristotelische Auseinandersetzung mit
Platon betrifft daher nicht allein den inneren Gehalt der Poetik, sondern das
philosophische System, das Aristoteles errichtet, in seiner Ganzheit. So unterhält die aristotelische Poetik nicht nur zahlreiche Bezüge zu Platon, sondern
mehr noch interne Bezüge zu seiner Ethik, Rhetorik und Erkenntnistheorie.
Die aristotelische Theorie der Dichtkunst ist nicht zu lösen von den allgemeinen Voraussetzungen seiner Philosophie, die an anderen Stellen begründet
werden als in der kleinen Schrift, die heute unter dem Namen Poetik vorliegt.
Die Poetik kann in ihrem grundsätzlichen Anspruch, die erste philosophische Bestimmung der Dichtkunst zu liefern, daher nicht vergessen machen,
dass sie selbst Voraussetzungen gehorcht, die vor allem im aristotelischen
Systemdenken und seiner kritischen Auseinandersetzung mit Platon auf der
einen und der Kritik an der Sophistik auf der anderen Seite verwurzelt sind.
Schon im Blick auf diese keineswegs selbstverständlichen Voraussetzungen
erscheint die Poetik als ein Versuch, die Dichtung mit den ethischen und erkenntnistheoretischen Vorgaben der aristotelischen Philosophie kompatibel zu
machen. In diesem Sinne deutet sich schon bei Aristoteles ein Konflikt zwischen dem Anspruch der Philosophie und dem der Dichtkunst an, den die Poetik zwar zu beschwichtigen sucht, der aber immer wieder in ihr aufbricht. Für
die philosophische Auseinandersetzung mit der Literatur, wie sie von Aristoteles ihren Ausgang nimmt, scheint diese Spannung geradezu konstitutiv zu
sein. Das zeigt sich bereits an dem ersten Satz der aristotelischen Poetik:
Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede
hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut
sein soll, ferner aus was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von
anderen Dingen, die zu demselben Thema gehören, wollen wir hier handeln, indem wir der Sache gemäß zuerst das untersuchen, was das erste ist. (Poet.
1447a)
Mit den ersten Worten der Poetik bestimmt Aristoteles den Gegenstand seiner
Untersuchung: „Von der Dichtkunst selbst“ will er sprechen, und gleich zweimal, im Blick auf die Dichtkunst und auf die Gattungen, wiederholt er das
9
10
„The central element in the relation between Plato and the Poetics is the concept of mimesis“,
meint Stephen Halliwell, Aristotle’s Poetics, S. 21.
Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 71.
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
15
Wort „selbst“ (autos), um deutlich zu machen, dass es ihm darum geht, in einem umfassenden philosophischen Zugriff das Wesen der Dichtung zu
bestimmen. Das Vorgehen, dem sich Aristoteles anvertraut, scheint auf den
ersten Blick selbstverständlich zu sein. Dennoch wirft es kritische Fragen auf.
Denn in Übereinstimmung mit den allgemeinen Prämissen seiner Philosophie
setzt Aristoteles voraus, dass es so etwas wie die Dichtkunst selbst überhaupt
gibt, dass also eine Wesensbestimmung der Dichtung möglich sei, weil diese
über ein ihr zugrunde liegendes einheitliches Prinzip verfüge. Das bedeutet
keineswegs, dass Aristoteles sich nicht für die besonderen Formen der Dichtkunst interessiert. Ganz im Gegenteil versucht er im Laufe seiner Untersuchung unterschiedliche Formen der Dichtung zu erfassen. Aber er geht von
der grundlegenden Überzeugung aus, dass die Vielfalt der Phänomene, die als
Dichtung bezeichnet werden, über ein Wesen verfügen, das es erlaubt, sie alle
unter dem Titel „Dichtkunst“ zu subsumieren. Das aber ist keinesfalls selbstverständlich. Denkbar wäre, dass die Dichtkunst sich in derart unterschiedliche Gattungen und Formen ausdifferenzieren lässt, dass eine gemeinsame Bestimmung über die bloße Bezeichnung hinaus nicht möglich wäre. In Frage
steht etwa, ob die Lyrik, die Aristoteles nicht als eigene Gattungsform kennt,11
sich mit den gleichen Kriterien erfassen lässt, mit denen sich Epos und Tragödie bestimmen lassen. Wenn das nicht der Fall sein sollte, wäre es angemessener, nicht von einem einheitlichen Wesen der Dichtkunst zu sprechen, sondern
eine Beschreibung vorzulegen, die ihren Ausgang von der Vielfalt der Phänomene nimmt. Dass der Weg, den Aristoteles einschlägt, zwar nicht selbstverständlich, zugleich jedoch für die philosophische Theorie der Dichtkunst konstitutiv ist, hat bereits Heinz Schlaffer hervorgehoben: „’Dichtkunst‘, wörtlich:
das Dichtungshafte (poi/tik/) ist eine Abstraktion, die jenseits der auf seine
Gattung beschränkten Erfahrungen eines früheren Sängers liegt und erst beim
Anblick der gleichmäßig in Büchern versammelten poetischen Werke gebildet
werden konnte.“12 Die philosophische Theorie der Dichtkunst geht unter dem
Namen der Poetik von Beginn an von einer Abstraktion aus, die es ihr erlaubt,
die vielfältigen Phänomene dichterischer Leistungen zu versammeln, obwohl
auf den ersten Blick nicht klar ist, was ein Epiker wie Homer, ein Tragiker wie
Sophokles oder ein Hymnendichter wie Pindar überhaupt gemein haben. Die
Frage nach dem gemeinsamen Grund der Dichtkunst selbst unterscheidet den
Philosophen daher zugleich vom Dichter. „Poetik formuliert ein Wissen, das
11
12
Auf das Fehlen der Lyrik in der Poetik hat die Forschung immer wieder hingewiesen. „Die
Lyrik als eigenständiges Genus fehlt.“ G. Scholtz, Poetik, S. 1013. In ähnlicher Weise heißt
es im Historischen Wörterbuch der Rhetorik: „Schon bei Aristoteles selbst ist die gedankliche
Schärfe der neuen Definition von Dichtung um den Preis erkauft, daß der Bereich der Lyrik
unberücksichtigt bleibt.“ D. Till u. a., Art. Poetik, S. 1312.
Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der
philologischen Erkenntnis. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main 2005, S. 77.
16
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
den Poeten mangelt“13, schließt Schlaffer, um im Blick auf Plutarch von einer
„Sicherung der philosophischen Herrschaft über die Poesie“14 zu sprechen. In
etwas unbefangenerer Weise spricht Stephen Halliwell von einer Form der
präskriptiven Kritik, die Aristoteles leite: „It is a type of prescriptive criticism
which has the confidence to judge individual works by reference to ‚first principles‘ of poetic art.“15 Wie auch immer das Verhältnis von Philosophie und
Literatur in der Antike zu bestimmen ist, als wechselseitige Abhängigkeit voneinander oder als Herrschaft der Philosophie über die Dichtung: Die philosophische Reflexion der Dichtung, die mit Aristoteles ansetzt, zielt auf die Bestimmung des Wesens der Dichtkunst, um aus ihr eine Einheitlichkeit zu gewinnen, die angesichts der Vielfalt der literarischen Phänomene gerade in Frage steht.
Die Wesensbestimmung der Dichtkunst, die der erste Satz der Poetik verspricht, liefert der zweite, indem er alle Formen der Dichtung, die in der Poetik Berücksichtigung finden, als Nachahmungen bezeichnet. Über den eigentlichen Gegenstand seiner Untersuchung schreibt Aristoteles:
Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als
Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher
Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel,
oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je
verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen. (Poet. 1447a)
Die zentrale These, die Aristoteles im Blick auf das Wesen der Dichtkunst formuliert, ist die Aussage, alle Kunst sei Nachahmung. „Nachahmung soll also
der Grundbegriff sein, von dem aus die weitere Bestimmung der Eigenart der
Literatur ihren Ausgang zu nehmen habe“16, kommentiert Arbogast Schmitt.
Stephen Halliwell hat in diesem Zusammenhang allerdings zugleich beklagt,
dass gerade der zentrale Begriff der Nachahmung in der Poetik eigentümlich
unbestimmt bleibt. „Aristotle’s Poetics leaves us with little more than suggestive aperçus and laconic observations to piece together his conception of poetic
and related types of mimesis.“17 Schmitt hat diesem Eindruck in seinem umfassenden Kommentar zur Poetik widersprochen und darauf hingewiesen, dass es
Aristoteles zunächst nur um eine möglichst allgemeine Einführung des Nachahmungsbegriffs geht: „Der Grund, warum Aristoteles ohne jede argumentative Rechtfertigung als erste und einfachste Bestimmung des Gegenstandsbereichs von Kunst und Literatur angibt, sie seien insgesamt Nachahmungen, ist
13
14
15
16
17
Ebd., S. 78.
Ebd., S. 77.
Stephen Halliwell, The Poetics of Aristotle. Translation and commentary, London 1987, S.
10.
Arbogast Schmitt, Kommentar, in: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 5.
Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt, Berlin 2008, S. 204.
Stephen Halliwell, Aristotle’s Poetics, S. 122.
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17
daher, dass er tatsächlich mit der abstraktesten, auf jede Art künstlerischer Aktivität zutreffenden Bestimmung anfängt. Anders, als es die uns geläufige
Vorstellung von einer ‚Nachahmungspoetik‘ suggeriert, behauptet Aristoteles
nirgends, Dichtung und Kunst überhaupt sollten sich um eine möglichst getreue Wiedergabe irgendeiner ihnen vorgegebenen Wirklichkeit bemühen.“18
Schmitt verschiebt das Problem damit auf die Frage nach dem Korrelat der
Nachahmung. In Frage steht aber zunächst, ob überhaupt und in welchem Sinne wirklich jede Art künstlerischer Aktivität als Nachahmung zu begreifen ist.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass sich Aristoteles
mit der Bestimmung der Dichtkunst als Nachahmung (mim!sis) wiederum Platon anschließt, ohne allerdings dessen Verurteilung der Kunst zu teilen. Im
Gegenteil: Gerade der Begriff, der bei Platon als Grundlage der Kritik der
Dichtkunst dient, markiert nun in einer scheinbar unvoreingenommenen Weise
den Mittelpunkt der aristotelischen Poetik. Noch in einer anderen Hinsicht ist
das von Bedeutung. Mit der Übernahme des platonischen Mimesis-Begriffes
wendet sich Aristoteles zugleich gegen die ganz andere Tradition der Sophisten, die Dichtkunst nicht auf das Prinzip der Nachahmung bezogen haben,
sondern im Rahmen eines rhetorischen Verständnisses ganz allgemein auf das
der Sprache. Mit dem Begriff der Nachahmung will Aristoteles von Beginn an
keine formale Theorie der Dichtkunst vorlegen, die an einer bestimmten Form
der Sprachverwendung ansetzt, die die Dichtung von anderen sprachlichen
Formen unterscheidet.19 Ebenso wenig aber zielt er, wie es sein Lehrer Platon
noch tat, auf den fehlenden Wirklichkeitsbezug der Dichtkunst in der Entgegensetzung von Fiktion und Nachahmung. Was Nachahmung selbst genau ist,
bleibt damit zwar zunächst noch in der Schwebe. Deutlich ist jedoch bereits,
dass Aristoteles das Phänomen der Dichtkunst nicht an die Existenz einer spezifisch poetischen Form der Sprache bindet und der Begriff der Nachahmung
seiner Auffassung zufolge nicht auf die Frage nach Fiktion und Wirklichkeit
verweist, die noch Platon bewegt hatte.
Vielmehr scheint sich die besondere Bedeutung der Nachahmung für die
Dichtkunst bei Aristoteles von Beginn an im Zusammenhang mit gattungspoetischen Fragen zu ergeben. Theorie der Literatur und Gattungspoetik sind bei
Aristoteles unauflöslich miteinander verwoben. Auch hier aber ergeben sich
Schwierigkeiten aus der besonderen Art und Weise, in der Aristoteles auf die
unterschiedlichen Gattungen eingeht. Ausdrücklich bezieht er sich zunächst
auf das Epos und die Tragödie, die auch den Leitfaden der weiteren Untersuchung bilden werden, dann auf die Komödie und die Dithyrambendichtung
sowie abschließend auf das Flöten- und Zitherspiel. Wie Schmitt deutlich
18
19
Arbogast Schmitt, Kommentar, S. 204.
„Es kann für Aristoteles deshalb auch keine ‚poetische Sprache‘ geben. Die Annahme einer
solchen (am Ende ‚universellen‘) Sprache der Poesie müsste in seinem Sinne eine illegitime
metaphysische Überhöhung der Sprache zu einem idealen Gegenstand sein“, kommentiert
Arbogast Schmitt. Ebd., S. 226.
18
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
macht, ist damit zugleich klar, „dass die platonisch-aristotelische Differenzierung der Nachahmungsmodi nichts mit unserer Unterscheidung der drei Literaturgattungen zu tun hat.“20 Im Unterschied zur modernen Unterscheidung der
drei Gattungen Drama, Lyrik und Prosa, die sich erst spät im 18. Jahrhundert
eingebürgert hat,21 zeichnet sich die aristotelische Poetik dadurch aus, dass sie
zum einen auch nicht-sprachliche Formen wie Flöten- und Zitherspiel berücksichtigt, solange sie Nachahmungen sind. Auf der anderen Seite aber bezieht
Aristoteles bestimmte sprachliche Gattungsformen erst gar nicht in die Untersuchung ein. Das gilt im Besonderen für das Lehrgedicht und für die zahlreichen unterschiedlichen Formen, die später unter dem Begriff der Lyrik zusammengefasst werden. Einzig der Dithyrambus findet an dieser Stelle Erwähnung. Zwar verweist Schmitt in diesem Zusammenhang auf die Tatsache, dass
Aristoteles in der Poetik zahlreiche lyrische Formen wie Nomen, Jamben, Elegien, Enkomien, Hymnen, Phalluslieder, Rhapsodien und Chorlieder aufführe
und mit dem Begriff der melopoiía sogar einen eigenen Ausdruck für die Lyrik zur Verfügung habe.22 Das kann aber nicht vergessen machen, dass Aristoteles in der Poetik auf eine erläuterungsbedürftige Art und Weise nicht nur in
einem allgemeinen Sinne lyrische Formen unterbewertet, sondern insbesondere das Chorlied als wesentlichen Bestandteil der griechischen Tragödie weitgehend unberücksichtigt lässt. Halliwell stellt daher fest, „that lyrics are hardly discussed at all, despite their central place in classical Greek tragedy“23, und
er beklagt vor diesem Hintergrund zugleich: „It is perhaps, therefore, the most
disappointing fact about the Poetics that it does nothing to enrich for us the
significance of lyric poetry in Greek tragedy“24. Dass Aristoteles im Kontext
seiner allgemeinen Bestimmung der Dichtkunst als Nachahmung die Lyrik
ausblendet, scheint nicht nur der Tatsache geschuldet, dass grundsätzlich unklar bleibt, inwiefern auch lyrische Formen überhaupt als Nachahmungen zu
verstehen sind, und das umso mehr, als Aristoteles den Begriff der Nachahmung vor allem auf handelnde Menschen bezieht. Die Bestimmung der Nachahmung als das Wesen der Dichtkunst ergibt sich vielmehr allein aus der einseitigen Orientierung der aristotelischen Poetik an der Tragödie, wobei zugleich wesentliche Teile wie die auf den Mythos bezogenen Chorpartien ausgespart bleiben.25
20
21
22
23
24
25
Ebd., S. 268.
Vgl. Irene Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis
19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Beiheft zur Zeitschrift für
romanische Philologie 92, Halle/Saale 1940.
Vgl. Arbogast Schmitt, Kommentar, S. 239.
Stephen Halliwell, Aristotle’s Poetics, S. 34.
Ebd., S. 252.
Hans-Thies Lehmann betont in diesem Zusammenhang, dass „die Tragödie eine zwar implizite, aber gleichwohl deutliche Auseinandersetzung mit dem Mythos war.“ Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie,
Stuttgart 1991, S. 17. Die aristotelische Übersetzung von Mythos als Handlung, so hat Frede
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19
Nur dieser eingeschränkte Begriff der Tragödie erfüllt die aristotelischen
Kriterien der Nachahmung auf eine vollständige Art und Weise. Die entscheidende Frage lautet demnach nicht, wie auch andere als die von Aristoteles
ausdrücklich erwähnten Gattungsformen als Nachahmung zu begreifen wären,
sondern ob die übergreifende Bestimmung der Kunst als Nachahmung am
Leitfaden von Epos und Tragödie überhaupt zu halten ist. Ist alle Dichtkunst
wirklich Nachahmung? Lässt sich die Dichtung Pindars oder Sapphos mit den
gleichen Begriffen fassen, die für Epos und Tragödie angemessen zu sein
scheinen? Und gilt selbst für das aristotelische Paradigma der Tragödie, dass
diese vor allem als Nachahmung zu verstehen ist? Wie auch immer diese Fragen zu beantworten sind: Spätestens mit der kritischen Rezeption, die die antike Poetik bei Hölderlin findet, werden diese Annahmen ihre Gültigkeit verlieren.26
Die aristotelische Bestimmung der unterschiedlichen Gattungsformen als
Nachahmungen findet in der Folge eine Präzisierung, die es erlaubt, sein Verständnis von Nachahmung und damit von Dichtung überhaupt genauer zu bestimmen. Aristoteles differenziert den Nachahmungsbegriff in dreifacher Hinsicht, wie er zum Schluss seines Argumentationsganges noch einmal wiederholt: „Die Nachahmung läßt also, wie wir zu Anfang sagten, nach diesen drei
Gesichtspunkten Unterschiede erkennen: nach den Mitteln, nach den Gegenständen und der Art und Weise.“ (Poet. 1448a) Als allgemeiner Begriff für die
Grundlage der Kunst ist die Nachahmung in dreifacher Hinsicht zu unterscheiden: nach den Mitteln, den Gegenständen und der Art und Weise der Nachahmung. Unter den Mitteln versteht Aristoteles im Falle der Dichtkunst Rhythmus, Sprache und Melodie. Die Berücksichtigung dieser formalen Mittel aber
reicht seiner Auffassung zufolge nicht zum Verständnis der Dichtkunst aus.
Ein allgemeines Kriterium, was Dichtkunst sei oder nicht, ergibt sich nicht aus
dem Blick auf die Sprache allein. Gerade darin unterscheidet sich Aristoteles
von den formalistischen, einzig an der Sprache orientierten Ansätzen der Sophistik. An ihre Stelle setzt Aristoteles den Gegenstandsbezug der Kunst, damit aber zugleich die Differenz von Mittel bzw. Form und Inhalt. Erst aus der
spezifischen Verbindung von Mittel und Gegenstand ergibt sich eine tragfähige Bestimmung der Kunst im aristotelischen Sinne. Das hat wiederum Schmitt
unterstrichen: „Ein künstlerischer Gegenstand ist nicht der Gegenstand selbst,
26
zusammengefasst, kommt daher einer grundsätzlichen Entmythisierung gleich, die die Poetik
kennzeichnet: „In dieser Hinsicht stellt die Erklärung der Konzentration der Tragödie auf die
herkömmlichen Mythen mit der Glaubwürdigkeit ungewöhnlicher Ereignisse also eine ‚Entmythisierung‘ dar, da damit die enge Verbindung des Mythischen mit dem Walten göttlicher
Mächte ausgeblendet wird.“ Dorothea Frede, Die Einheit der Handlung, in: Otfried Höffe
(Hg.): Aristoteles, Poetik. Klassiker auslegen, Berlin 2009, S. 105-121, hier S. 120. Frede
spricht sogar von einer „Entgötterung der Tragödie“ (ebd.), um diese grundlegende Tendenz
der Poetik festzuhalten.
Vgl. Achim Geisenhanslüke, Nach der Tragödie. Lyrik und Moderne bei Hegel und Hölderlin, München 2012.
20
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
sondern ein (der Wirklichkeit entnommener oder erfundener) Gegenstand, der
in einem – von ihm verschiedenen – Medium auf eine bestimmte Weise dargestellt wird.“27 Nicht die Darstellungsweise allein macht etwas zur Kunst, sondern der Bezug zum Gegenstand, wobei es sich im Falle der Dichtkunst eben
um den Gegenstand der Nachahmung handelt, die Handlung. „Zur Poesie wird
etwas nicht durch die Gestaltung des Mediums, z.B. durch die Versform, sondern durch einen poetischen Inhalt, d.h. durch Nachahmung von Handlung.“28
Die aus der Analyse der Tragödie gewonnene These, dass es die Handlung ist,
die den eigentlichen Gegenstand der Nachahmung ausmache, unterscheidet
Aristoteles von den Ansätzen, die ihr Augenmerk allein auf die Mittel der
Darstellung richten.29 Für ihn gilt vielmehr unmissverständlich: „Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise gut
oder schlecht.“ (Poet. 1448a) Für Aristoteles ist Dichtkunst in einem ganz allgemeinen Sinne Nachahmung von handelnden Menschen. Dass sich dieses
Kriterium vor allem aus der spezifischen Gattungsform der Tragödie ableitet,
ist nur die eine Seite des Problems, mit dem die Poetik an dieser Stelle zu
kämpfen hat. Die andere besteht darin, dass der Begriff der Handlung über die
poetologische Bedeutung der Tragödie hinaus auf die aristotelische Ethik verweist. Denn von Handlung gesprochen werden kann nur im Rahmen der Entscheidungsmöglichkeiten des Menschen. Daher setzt Aristoteles auch hinzu,
dass die handelnden Menschen in einem ethischen Sinne gut oder schlecht seien – gut in der Tragödie, schlecht in der Komödie, wie er später ergänzt. Die
Unterscheidung der Art und Weise der Nachahmung, dem dritten Kriterium,
das Aristoteles nennt, betrifft dagegen wiederum einen anderen Aspekt. Denn
wie Aristoteles erläutert, kann der gleiche Gegenstand – der handelnde
Mensch – durch dasselbe Mittel – die Sprache – dargestellt werden, in einem
Fall jedoch berichtend, wie es das Epos tut, im anderen Fall handelnd, wie es
die Tragödie vorführt. In jedem Fall aber wird deutlich, dass die Entfernung
von einer formalen Bestimmung der Kunst, die Aristoteles von den Sophisten
unterscheidet, zu einer Bestimmung der Dichtkunst am Leitfaden der Tragödie
führt, die über den Bereich von Poetik und Rhetorik hinaus auf die anthropologische Frage nach der Natur des Menschen und die ethischen Fragen nach
den Möglichkeiten und Gründen seines Handelns führt. Aristoteles integriert
die Dichtung in ein umfassendes philosophisches System und begründet damit
die Verknüpfung von Philosophie, Literatur und Wahrheit, die für die Geschichte der Philosophie kennzeichnend bleibt.
Der Anspruch der philosophischen Reflexion besteht seit Platon und Aristoteles dementsprechend darin, ‚wahre‘ Aussagen über die Dichtkunst zu täti27
28
29
Arbogast Schmitt, Kommentar, S. 196.
Ebd.
Dass sich Aristoteles damit implizit gegen Gorgias richtet, hat ebenfalls Schmitt hervorgehoben. Vgl. ebd., S. 219f.
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
21
gen, und das bedeutet zugleich, dass es sich um Aussagen handelt, die von der
Dichtkunst in dieser Form nicht selbst getätigt werden können. Dazu bedarf es
einer anderen Diskursform, eben der Philosophie oder aber der mit dieser
konkurrierenden Rhetorik. Das Verhältnis von Philosophie und Literatur, wie
es sich in der Sophistik auf der einen und bei Platon und Aristoteles auf der
anderen Seite gestaltet, ergibt sich von Beginn an als eines der Komplementarität, aber auch der Rivalität unterschiedlich begründeter Formen des Wissens.
1.3 Die Frage nach der Wahrheit der Literatur
in der Philosophie des 20. Jahrhunderts
Die aristotelische Auffassung, es sei Aufgabe der Philosophie, das Wesen der
Dichtkunst zu erfassen, findet ihren geschichtlichen Widerklang in Hegels
vieldiskutierter These vom „Ende der Kunst“30. Die geschichtliche Vollendung
der Philosophie im System des Idealismus fällt Hegel zufolge mit dem Verschwinden der Kunst aus dem Bereich des absoluten Wissens zusammen. Der
Anspruch der Hegelschen Ästhetik besteht nicht allein darin, die Kunst als eine vergangene Diskursform in ihrer Ganzheit zu erfassen. Er richtet sich darüber hinaus auf die vollständige Ersetzung des Anspruches von Kunst und Literatur, eine bestimmte Form der Wahrheit ans Licht zu fördern, durch die
Philosophie. „In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der
Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. [...] Die Wissenschaft der Kunst ist darum in unserer Zeit noch viel mehr Bedürfnis als zu den
Zeiten, in welchen die Kunst für sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte. Die Kunst lädt uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu
dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.“31 An die Stelle der Produktion von Kunst und Literatur, so Hegel, hat in der Moderne die wissenschaftliche Erkenntnis der Kunst
zu treten, die philosophische Disziplin der Ästhetik, die die Kunst systematisch wie historisch beleuchtet, ihr zugleich aber den Anspruch auf Absolutheit
versagt. Die Begründung des absoluten Wissens in der idealistischen Philosophie geht mit der Einsicht in das geschichtliche Ende der Kunst einher.
Hegels Anspruch auf Vollendung der Philosophie unter Ausschluss der
Kunst und Literatur ist nicht unbestritten geblieben. Die postidealistische Philosophie hat vielmehr einen entschiedenen Einspruch gegen den Absolutheitsanspruch der Philosophie erhoben, die die Kunst in ihrem Recht einzuschränken sucht. Schon zu Hegels eigenen Lebzeiten ist dieser Einspruch auf einer
30
31
Zu Hegels These und ihren Folgen in der Ästhetik vgl. Eva Geulen, Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt am Main 2002.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 13. Vorlesungen über die Ästhetik I, hrsg. von Eva
Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986, S. 25f.
22
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
poetologischen Grundlage, die in vielerlei Hinsicht an die alte Allianz von Poesie und Rhetorik anschließen konnte, von Hölderlin vorgebracht worden.32
Am deutlichsten wird der Einspruch gegen Hegels Privilegierung der philosophischen Vernunft über die Anschauungsformen der Literatur bei Nietzsche,
dessen Philosophie in der Nachfolge Schopenhauers insgesamt als ein Widerstand gegen Hegels idealistisches System gelten kann, der sich zugleich aus
einer gegen Aristoteles gerichteten Ästhetik des Tragischen ableitet. An Nietzsche konnten dementsprechend gerade diejenigen Philosophen anschließen,
die sich gegen Hegel auf das spezifische Recht des Ästhetischen in der Moderne berufen haben. Das gilt im 20. Jahrhundert in Deutschland für Heidegger und die Kritische Theorie ebenso wie für die französische und italienische
Postmoderne, für die Nietzsches Einspruch gegen den Absolutheitsanspruch
der Hegelschen Philosophie zum Vorbild wurde.33
Die Entwicklung der Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert nach dem geschichtlichen Ende nicht der Kunst, sondern des idealistischen Systemdenkens, für das Hegel einstand, stellt sich jedoch zugleich als zu komplex dar,
um in einer einzigen Traditionslinie erfasst werden zu können. Vielmehr liegen in der Moderne heterogene Ansätze vor, die sich nicht einfach miteinander vereinbaren lassen. „Die philosophische Landschaft ist unübersichtlicher
geworden“34, meint Georg W. Bertram. Im 20. Jahrhundert hat sich die Philosophie in so vielfältige Richtungen ausdifferenziert, dass kaum noch von einem einheitlichen Konzept zu sprechen ist, wie es Hegels eigener Auffassung
des philosophischen Geistes noch zugrunde lag. Selbst die lange Zeit gängige
Unterscheidung von analytischer und kontinentaler Philosophie hat inzwischen an Überzeugungskraft verloren.35 Ganz unabhängig von der in Bezug
auf den Wahrheitsbegriff auf den ersten Blick marginalen Frage nach der
Kunst haben sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar noch grundsätzlich miteinander vergleichbare, zugleich aber sehr heterogene Versuche herausgebildet, die Erkenntnisansprüche der Philosophie – oft in enger Auseinandersetzung mit der Frage nach den Grundlagen der Mathematik – auf neue
Füße zu stellen. Im Bereich der Erkenntnistheorie und der sie leitenden Frage
nach der Begründbarkeit philosophischer Wahrheitsansprüche lassen sich im
32
33
34
35
Zum problematischen Verhältnis von Hegel und Hölderlin vgl. Dieter Henrich, Hegel und
Hölderlin, in: Dieter Henrich: Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 1971, S. 9-40.
Zum Einfluss Nietzsches auf die Postmoderne vgl. Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus
Frankreich, Frankfurt am Main/Berlin 1986, sowie Alfredo Guzzoni (Hg.), 100 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption. Erw. Neuausgabe, Frankfurt am Main 1991.
Georg W. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung
der Gegenwartsphilosophie, München 2002, S. 9.
So urteilt Albert Newen in seiner Einführung in die analytische Philosophie einleitend: „Die
bis heute weitverbreitete Redeweise von der angelsächsischen Analytischen Philosophie einerseits und der kontinentalen Philosophie andererseits war nur wenige Jahre zutreffend, wurde rasch irreführend und ist heute völlig unangemessen.“ Albert Newen, Analytische Philosophie zur Einführung, Hamburg 2005, S. 12.
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
23
Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert jenseits der idealistischen Systemansprüche und ihrer Zurückweisung durch Nietzsche, die mit einer grundsätzlichen Infragestellung der Bedeutung des Begriffes der Wahrheit für die Philosophie einherging, vor allem zwei Ansätze unterscheiden, die der Frage nach
der Wahrheitsfähigkeit philosophischer Aussagen neue Impulse geben konnten. Für den ersten und bis heute wohl einflussreichsten Ansatz steht der Name
Gottlob Freges ein, für den zweiten der Edmund Husserls. Zum Ende des 19.
und Beginn des 20. Jahrhunderts bilden sich mit der analytischen Philosophie,
wie sie Frege ermöglicht hat, und der Phänomenologie, wie sie Husserl begründet hat, zwei unterschiedliche Weisen heraus, auf das bis dahin vorliegende Scheitern einer überzeugenden Begründung des Wahrheitsbegriffes in der
Philosophie zu reagieren. „Frege ist der Großvater der analytischen Philosophie, Husserl der Begründer der Phänomenologie; es sind also zwei grundverschiedene philosophische Richtungen, die auf sie zurückgehen“36, kann Michael Dummett im Blick auf die Gemeinsamkeiten und Differenzen von analytischer Philosophie und Phänomenologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammenfassen. Unterschiedlich sind beide Ansätze nicht nur in ihrer systematischen Verfasstheit, sondern auch in der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition. Während Husserl versucht, mit der Phänomenologie in
kritischer Anknüpfung an die Bewusstseinsphilosophie Descartes’ am Leitfaden des Begriffes der Evidenz eine neue Form der Philosophie zu begründen,
in deren Zentrum die Frage nach dem Erlebnis der Wahrheit in einer bestimmten Form der anschaulichen Erfüllung steht,37 verabschiedet Frege die historisch legitimierten Ansprüche der Bewusstseinsphilosophie zugunsten einer
Betrachtung, in deren Zentrum die Frage nach den Grundlagen sprachlicher
Ausdrücke steht. Als „Großvater der analytischen Philosophie“ kann Frege
Dummett zufolge gelten, da er eine Wende zur Sprache eingeleitet hat, die insofern eine Zäsur innerhalb des philosophischen Denkens bedeutet, als sie das
Ende des erkenntnistheoretischen Privilegs des Bewusstseins eingeleitet hat.
„In der gesamten Geschichte der Philosophie war er der erste, der einleuchtend erklärt hat, was Gedanken sind und worin die Bedeutungen der Sätze und
der sie bildenden Wörter bestehen. Denjenigen, die merkten, daß sie nur durch
eine Analyse der sprachlichen Bedeutung zu einer Analyse der Gedanken vorzustoßen vermochten, blieb gar nichts anderes übrig, als auf den von Frege errichteten Fundamenten weiterzubauen.“38 Im Vergleich zu der gewaltigen Erneuerung, die Freges Ansatz bedeutete, mutet Husserls Begründung der Phänomenologie zunächst weitaus bescheidener an. Traditionell erscheint Husserls Ansatz, weil er noch immer an dem Begriff des Bewusstseins festhält,
36
37
38
Michael Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie, Frankfurt am Main 1988, S. 37.
Vgl. Klaus Held, Edmund Husserl (1859-1938), in: Otfried Höffe (Hg.): Klassiker der Philosophie. Band 2. Von Immanuel Kant bis Jean-Paul Sartre, München 1981, S. 274-297.
Michael Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie, S. 23.
24
1. LITERATUR UND WAHRHEIT
wie es vor ihm schon Descartes und Kant getan haben. „Das Gegebenheitsfeld, auf das reflektiert wird, wurde in der klassischen neuzeitlichen Philosophie als Bewußtsein, als eine Dimension der Vorstellungen aufgefaßt, während es in der neuen Konzeption von Philosophie als der Bereich des Verstehens unserer sprachlichen Ausdrücke aufgefaßt wird“39, kommentiert Ernst
Tugendhat die unterschiedlichen Voraussetzungen, denen die Phänomenologie
und die analytische Philosophie folgen. Wo Husserl sich noch der Tradition
der Bewusstseinsphilosophie verpflichtet, bedeutet Freges Ansatz einen radikalen Neuanfang, der ganz auf das logische Verständnis der Sprache setzt. So
bilden sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Phänomenologie
und der sprachanalytischen Philosophie zwei erkenntnistheoretische Positionen heraus, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Einschätzung von der
Bedeutung des Bewusstseins und der Sprache zwar prinzipiell unterscheiden,
gleichwohl aber vielfältige Berührungspunkte aufweisen, die insbesondere ihre Auffassung von den logischen Grundlagen aller Erkenntnis und die Kritik
am Psychologismus betreffen.
In der Nachfolge Husserls und Freges verschärfen sich die Gegensätze, die
schon in der historischen Ausprägung der Phänomenologie und der analytischen Philosophie spürbar sind, jedoch immer weiter, bis auch die Reste einst
gemeinsamer Grundlagen gänzlich zum Verschwinden kommen. Fassbar wird
die Zuspitzung der Gegensätze in den für die Geschichte der Philosophie im
20. Jahrhundert gleichermaßen zentralen wie miteinander unvereinbaren Figuren Heideggers und Wittgensteins. Während Heidegger die Husserlsche Phänomenologie zu einer Fundamentalontologie erweitert, die zugleich auf die
aristotelischen Grundlagen der Philosophie zurückführt, nimmt Wittgenstein
die Anregungen Freges auf, um im Tractatus logico-philosophicus die Wende
zur Sprache, die Frege eingeleitet hatte, konsequent zu Ende zu führen.40 Beide, Heidegger wie Wittgenstein, haben wiederum ganz eigene und in sich divergierende Traditionslinien begründet. Das gilt für die Ausbildung so verschiedener postphänomenologischer Theorien wie der modernen Hermeneutik
im Sinne Gadamers und der Dekonstruktion Derridas ebenso wie für die vielfältigen Anschlüsse an Frege und Wittgenstein, die so unterschiedliche Philosophen wie Quine und Davidson oder Rorty und Cavell vorgenommen haben.
Wie auch immer die Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Positionen der
Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu bewerten ist: An ihrem Ende
steht die Ausprägung von heterogenen Ansätzen wie der philosophischen
39
40
Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt
am Main 1976, S. 16.
„Wenn wir in der Wende zur Sprache den Ausgangspunkt der analytischen Philosophie im
eigentlichen Sinne erblicken, kann kein Zweifel daran bestehen, daß der entscheidende Schritt
in Wittgensteins Tractatus getan wurde, wie sehr Frege, Moore und Russell den Boden auch
vorbereitet haben mögen“, so die Einschätzung von Michael Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie, S. 111.
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