DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Dieter Platt DAS EDITORIAL Altern und Immunsystem A uf die Bedeutung des Immunsystems für Alterungsprozesse hat in dieser Zeitschrift bereits 1982 Rudolf Gross in einem eindrucksvollen Editorial hingewiesen. Die rasante Entwicklung in der Methodik hat dazu geführt, daß in den letzten 10 Jahren auch auf dem Gebiet der Immunologie des Alterns neue Ergebnisse gewonnen werden konnten. Dies veranlaßte den Autor, erneut einen Beitrag zu diesem Thema zu schreiben. Das Immunsystem wird durch eine Vielzahl von Genen reguliert, die auf einem einzigen Chromosom liegen und als größerer Histokompatibilitätskomplex (major histocompatibility complex, MHC) bezeichnet werden. Bei Mäusen wurde eine direkte Beziehung zwischen dem MHC und der maximalen Lebensdauer gefunden. Während der MHC bei Menschen auf Chromosom 6 liegt, findet er sich bei Mäusen auf Chromosom 17. Bei einem Vergleich von Inzuchtmäusen — Mäuse, die über mehrere Generationen durch Geschwisterpaarungen gezüchtet wurden — unterscheiden sich nur die Gene, die um den MHC liegen. Unterschiede in der Lebensspanne beruhen nur auf Änderungen im MHC. Interessanterweise gehören dem MHC auch Enzyme an, wie die Superoxyddismutase und die Katalase. Beide Enzyme sind maßgeblich an der körpereigenen Abwehr bei der Beseitigung freier Radikale beteiligt. Thymus Es gibt zahlreiche Hinweise dafür, daß in erster Linie der thymusabhängige Teil des Immunsystems während der Alternsprozesse betroffen ist, das heißt die T-Zellen. Unter den Organen des lymphohistiozytären Systems kommt — vor allem auch im Hinblick auf Alternsmechanismen — dem Thymus eine zentrale Bedeutung zu. Der Thymus erreicht sein höchstes Gewicht um die Pubertät. Beim Neugeborenen wiegt er etwa zwölf Gramm, im 12. bis 30. Lebensjahr etwa 37 Gramm. Nach der Pubertät erfolgt eine allmähliche Rückbildung des Organs. Hierbei wird das Drüsengewebe durch Fett- und Bindegewebe ersetzt. Die Rinde bildet sich überproportional stark zurück. Im Thymus des alten Menschen A1 786 - (48) Dt. Ärztebl. 89, Heft 10, 6. März 1992 zeigen sich nur noch Reste von Parenchym, ohne daß eine eindeutige Differenzierung zwischen Rinde und Mark möglich ist. Thymushormone Die Thymusdrüse produziert verschiedene Hormone (Polypeptide), die die Fähigkeit zur Induktion der Differenzierung von Lymphozyten besitzen: Thymosin (Induktion oder Suppression von T-Suppressor-Zellen), Thymopoetin I und II (Induktion von T-Helfer-Zellen), Thymulin — facteur thymique serique — (Expression von ERezeptoren). Die Abnahme der Hormonkonzentrationen beginnt etwa im 25. bis 30. Lebensjahr. Um das 60. Lebensjahr sind nur noch geringe Konzentrationen nachweisbar. Die Konzentrationsminderung von Thymulin im Blut verläuft parallel zur Thymusgewichtsabnahme Ursächlich kommt sowohl ein gesteigerter peripherer Abbau als auch eine verminderte Synthese in Frage. Tierexperimentelle Untersuchungen an thymektomierten Mäusen zeigen, daß Thymusdrüsen von jungen Mäusen die T-Lymphozytenpopulationen und -funktionen wieder herstellen, während Transplantate von Thymusgewebe alter Tiere diesen Effekt nicht zeigten. Es scheint gesichert, daß eine Thymektomie im Erwachsenenalter zum vorzeitigen Auftreten immunologischer Begleiterscheinungen des Alterns führt. Ein wesentliches Argument, das die Beteiligung der Thymushormone beim Zustandekommen alternsbedingter Immundefekte belegt, ist das bei älteren Mäusen nach Behandlung mit unterschiedlichen Thymushormonen induzierbare Wiederauftreten von Interleukin 2 sowie die Synthese von Antikörpern mit hoher Selektivität. Funktion von Interleukin-2 In Gegenwart von Mitogenen (PHA, Pokeweed-Mitogen) kommt es bei Lymphozyten älterer Menschen meist nicht zu einer Proliferation. Während die Bindung von PHA an lymphatische Zellen ungestört zu sein scheint, ist die Anzahl der auf die PHA-Stimulation reagierenden Lymphozyten vermindert. Besonders die intrinsische Fähigkeit der T-Zellen zur Proliferation ist eingeschränkt. T-Zellen produzieren ein lösliches Mediatorzell-Interleukin 2 (IL-2), in der älteren Literatur als T-Zellwachstumsfaktor bezeichnet. IL-2 unterstützt Proliferation und Wachstum aktivierter T-Zellen, die IL-2-Rezeptoren exprimieren. Bei älteren Menschen ist sowohl die Produktion von IL-2 als auch die Expression der IL2-Rezeptoren herabgesetzt. Bekanntlich kommt es mit zunehmendem Alter zu einer Abnahme verschiedener Rezeptoren (adrenerge, Insulinund Glukagon-Rezeptoren). Mit großer Wahrscheinlichkeit spielt die gestörte Proliferation der Lymphozyten eine wichtige Rolle beim alternsbedingten Immundefekt. Die Proliferation ist ein wichtiger Schritt bei jeder Immunreaktion, wobei IL-2 der Hauptmediator bei der Differenzierung zytotoxischer TZellen und antikörperproduzierender B-Zellen ist. Zahlreiche Transferexperimente an Mäusen lassen erkennen, daß entweder eine verstärkte Aktivität der T-Suppressorzellen oder eine herabgesetzte Aktivität der T-Helferzellen — in Verbindung mit einer verminderten IL-2-Synthese/ IL-2-Rezeptorexpression — vorliegt. Eine Unterscheidung zwischen einer zu starken Suppressoraktivität und einer unzureichenden Helferfunktion ist jedoch schwierig. Klinische Erscheinungen Die mit zunehmendem Alter nachweisbaren Veränderungen im Immunsystem sind häufig nicht so eklatant, um eine klinische Manifestation hervorzurufen. Bekanntlich treten Infektionen im höheren Alter überdurchschnittlich häufig auf. So ist die Tuberkulose bei über 70jährigen Menschen häufiger als bei unter 70jährigen. Pneumonien, speziell durch Virusinfektionen, sind ebenfalls im höheren Alter häufiger und verlaufen meist schwerer. Auch hinsichtlich von Impfungen zeigen ältere Menschen meist ein anderes Verhalten als junge Probanden. So zeigten viele ältere Menschen eine verminderte Immunantwort auf eine Grippe- oder Hepatitis-B-Impfung. Zwischen dem Funktionszustand des Immunsystems und der Anfälligkeit für bestimmte maligne Tumoren besteht eine nachweisbare, möglicherweise sogar kausale Beziehung. Voraussetzung für eine immunologische Überwachung ist die Anwesenheit von tumorassoziierten Antigenen auf den malignen Zellen, die vom Wirt als „fremd" erkannt werden und eine Immunreaktion hervorrufen können. Dadurch wird die Bildung spezifischer Antikörper und besonders von zytotoxischen T-Lymphozyten induziert, die Tumorzellen zerstören können. Als Ursache für die erhöhte Tumorinzidenz im Alter gilt eine sich über Jahrzehnte erstreckende Anhäufung von Karzinogenen im Gewebe. Die Akkumulation von Karzinogenen manifestiert sich A1 - 788 (50) Dt. Ärztebl. 89, Heft 10, 6. März 1992 in chronisch-entzündlichen Erscheinungen, die zum Auftreten von fötalen Antigenen auf Zellen der betroffenen Organe führen. Vielleicht ermöglicht auch die alternsbedingte Abnahme der Immunkapazität eine Verminderung onkogener Viren, die, durch Karzinogeneinflüsse begünstigt, im veränderten Gewebe eine maligne Transformation bewirken können. Obwohl die bei älteren Menschen häufig nachweisbaren Autoantikörper meist keine Autoimmunkrankheiten hervorrufen, führen sie jedoch zur Bildung von Immunkomplexen, die im Zusammenhang mit der Arterioskleroseentstehung diskutiert werden. So wird sogar das Sterblichkeitsrisiko mit der Konzentration von Autoantikörpern, Mangel an Suppressor-T-Zellen und einer herabgesetzten Hypersensitivitätsreaktion vom verzögerten Typ diskutiert. Während die Serumkonzentration der verschiedenen Immunglobulinklassen sowie die Lymphozytenzahl (B- und T-Lymphozyten) normal sind, kann es hinsichtlich der antigenspezifischen Immunität zu schweren Veränderungen kommen: der Antikörperspiegel gegen AB-Erythrozyten sowie gegen Schaferythrozyten ist signifikant herabgesetzt, die de-novo-Produktion von Antikörpern gegen exogenes Antigen (Salmonella Flagellin) ist vermindert. Dies trifft besonders für die IgGKlasse zu. Die Abnahme der Immunantwort auf Fremdantigene geht mit einer erhöhten Inzidenz von Autoantikörpern einher. Etwa fünf Prozent der gesunden Probanden unter 60 Jahren zeigen Autoantikörper gegen Thyreoglobulin, Immunglobuline (Rheumafaktoren) und nukleäre Faktoren. Im Gegensatz dazu findet man bei über 70jährigen Patienten in 30 Prozent mindestens einen dieser Autoantikörper. Interessanterweise kommt es jedoch trotz der Autoantikörperbildung nur selten zum Ausbruch einer Krankheit. Dies hängt möglicherweise mit einem zu geringen Autoantikörper-Titer zusammen oder ist durch eine verminderte Affinität der Antikörper zum Antigen bedingt. Alternsabhängige Veränderungen von Zellen des Immunsystems haben entscheidende Auswirkungen auf den Gesamtorganismus. Im Zentrum der Überlegungen zum Altern des Immunsystems steht die Frage, ob die gehäuften Infektionen, malignen Tumoren und andere chronische Krankheiten die Funktion des an sich normalen Immunsystems negativ beeinflussen oder ob eine alternsbedingte Abnahme immunologischer Fähigkeiten zu diesen Krankheiten prädisponiert. Mit großer Wahrscheinlichkeit liegt die primäre Ursache in einer Abnahme immunologischer Eigenschaften, wodurch es zu einer erhöh- ten Krankheitsanfälligkeit im Alter kommt Somit würde eine positive Beeinflussung des Immunsystems möglicherweise Beginn und Schwere des Verlaufs von Krankheiten im Alter günstig beeinflussen. Unabhängig vom Alter des Gesamtorganismus treten auf alternden Zellen Veränderungen auf, die als neue Antigendeterminanten imponieren. Ein solches zellalterspezifisches Antigen wurde auf Erythrozyten, Thrombozyten und Granulozyten beschrieben. Den dagegen gerichteten Antikörpern scheint eine wichtige homöostatische Rolle zuzukommen, da sie die Elimination gealterter Zellen durch das retikulohistiozytäre System einleiten. Nicht selten lassen sich im Serum älterer Menschen die Immunglobuline oligoklonaler oder sogar monoklonarer Herkunft, das heißt Paraproteine, nachweisen. Die Inzidenz solcher Paraproteine nimmt von weniger als ein Prozent bei 40jährigen bis auf rund 19 Prozent bei 95jährigen und älteren Probanden zu. Hierbei handelt es sich um idiopathische Paraproteinämien oder sogar benigne monoklonale Gammopathien. Studien sprechen dafür, daß diese benignen Paraproteinämien als eine alternsbedingte Störung der Zellkooperation zwischen Subpopulationen von T- und B-Lymphozyten aufzufassen sind. Surfactant beim frühkindlichen Atemnotsyndrom In der Literatur häufen sich die Hinweise, daß die frühe therapeutische oder prophylaktische Gabe von synthetischem Surfactant bei untergewichtigen Frühgeborenen mit Atemnotsyndrom eine lebensrettende Maßnahme darstellt. In einer plazebo-kontrollierten Multicenterstudie konnten Untersucher aus den USA und Kanada nachweisen, daß die Gabe von Surfactant auch bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von über 1250 g die Prognose des Atemnotsyndroms signifikant verbesserte. Sie untersuchten 1237 Kinder mit beatmungspflichtigem Atemnotsyndrom, die alle einen arterioalveolären 0 2-PartialdruckQuotienten unter 0,22 aufwiesen. Die Verum-Gruppe (n = 614) er- Zusammenfassend kann gesagt werden, daß sicherlich Funktionen des Immunsystems während des Alternsprozesses abnehmen. Alternsveränderungen treten jedoch auch in vielen Organismen auf, die kein Immunsystem besitzen. Darüber hinaus wird das Immunsystem durch übergeordnete hormonelle Regulationen kontrolliert. Somit ist die grundsätzliche ursächliche Bedeutung des Immunsystems für den Alternsprozeß noch in der Diskussion. Dt. Ärztebl. 89 (1992) A 1 -786-789 [Heft 10] Literatur 1. Kay, M. D. B.; Galpin, J.; Makinodan, T.; (editors): Aging,Immunity, and arthritic Disease. Raven Press, New York, 1980 2. Platt, D. (editor): Blood Cells, Rheology and Aging. Springer Verlag. Berlin Heidelberg New York London Paris Tokyo, 1988 3. Gross, R.: Altern als immunologisches Problem. Deutsches Ärzteblatt 79 (1982) 42 Anschrift des Verfassers: 1' Professor Dr. med. Dieter Platt Lehrstuhl Innere Medizin — Gerontologie der Universität Erlangen—Nürnberg Heimerichstraße 58 W-8500 Nürnberg 90 hielt innerhalb der ersten 24 Stunden nach Geburt sowie nach weiteren 12 Stunden 5 ml pro Kilogramm Körpergewicht synthetisches Surfactant intratracheal, während die Plazebogruppe (n = 623) Luft instilliert bekam. In der SurfactantGruppe zeigte sich für die ersten 28 Tage eine signifikant geringere Mortalität sowie eine Reduktion von broncho-pulmonalen Dysplasien (7 Prozent vs. 12 Prozent). Ebenso fanden sich weniger Todesfälle am Atemnotsyndrom (1 Prozent vs. 3 Prozent) sowie eine geringere Gesamtsterblichkeit (4 Prozent vs. 7 Prozent). Des weiteren kam es seltener zu Pneumothoraces, intraventrikulären Blutungen, persistierendem Ductus arteriosus, Krampfanfällen, Hypotensionen und pulmonaler Hypertonie. Die Kinder in der Surfactant-Gruppe benötigten seltener eine Hochfrequenzbeatmung oder extrakorporale Membranoxygenierung und konnten schneller FÜR SIE REFERIERT von der Beatmung entwöhnt werden. Als Nebenwirkung der Surfactanttherapie zeigte sich eine Häufung von Lungenblutungen (6 Kinder vs. 1 Kind). Die Autoren folgern, daß beim Atemnotsyndrom auch Frühgeborene mit Geburtsgewichten über 1250 Gramm von der Gabe von synthetischem Surfactant profitieren. acc Long, W., C. Corbet, R. Cotton, S. Courtney, G. McGuiness, D. Walter, J. Watts, J. Smyth, H. Bard, V. Chernick, American Exosurf Neonatal Study Group I, Canadian Exosurf Neonatal Study Group: A controlled trial of Synthetic Surfactant in Infants weighing 1250 g or more with Re- spiratory Distress Syndrome. N. Eng. J. Med. 325 (1991) 1696-1703 Dr. Long, Wellcome Research Laboratories, 3030 Cornwallis Rd., Research Triangle Park, NC 27709, USA. Dt. Ärztebl. 89, Heft 10, 6. März 1992 (53) A1-789