Früherkennung der Amblyopie Autor : KP BOERGEN ICD

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Früherkennung der Amblyopie
Autor : K.P. BOERGEN
ICD-Nummern: H02; H26 – 28; H49 – 54)
Definition und Basisinformationen
Ziel der Früherkennungsuntersuchungen auf das Vorliegen von Sehstörungen ist die
Verhinderung einer bleibenden Amblyopie. Als Minimalforderung muss hierbei gelten, dass auch
für das schlechtere Auge ein Visus unterhalb der Lesefähigkeit nicht unterschritten werden darf,
was bei Untersuchung mit Reihenoptotypen einem Visus unter 0,4 entspricht. Bei einer
Wahrscheinlichkeit von 1,7 o/oo als Erwachsener mit einer Amblyopie das bessere Auge zu
verlieren, müssen bei einer Geburtenrate von ca. 800.000/Jahr in Deutschland und einer
geschätzten Amblyopierate dieses Schweregrades von ca. 5 % etwa 70 Erblindungsfälle im
Erwerbsalter für jeden Geburtsjahrgang erwartet werden. Die häufigsten Ursachen einer solchen
Amblyopie sind Schielen und Refraktionsfehler. Die Amblyopie ist eine Entwicklungsstörung, die
bedingt ist durch asymmetrisch oder symmetrisch reduzierte visuelle Stimulation in der sog.
sensitiven Phase der Sehentwicklung. Die Entwicklung der Sehfunktionen (Sehschärfe,
Stereopsis, Kontrastempfindlichkeit, Farbensehen) vollzieht sich im Wesentlichen im ersten
Lebensjahr, wobei nach neurophysiologischen Erkenntnissen durch die Seheindrücke eine
Anpassung der bei Geburt redundant angelegten Synapsen des Sehsystems an den
funktionellen Bedarf erfolgt. Dieser Zeitraum ist auch derjenige der höchsten Sensitivität, d.h.,
Störungen des visuellen Input können schnell zu einem nachhaltigen Entwicklungsrückstand
führen, der allerdings in dieser Zeit mit geringem Therapieaufwand, z.B. stundenweise
Okklusion des führenden Auges bei einseitiger Amblyopie, wieder behoben werden kann. Wird
eine Schielerkrankung, z.B. erst nach dem vollendeten zweiten Lebensjahr erkannt, kann die
Amblyopie nur mit erheblich größerem Aufwand und häufig nur noch partiell erfolgreich
behandelt werden. Eine zu spät erkannte beidseitige Amblyopie führt zu bleibenden
Sehbehinderungen, bei einseitiger Amblyopie erhöht sich das Risiko späterer Erblindung.
Früherkennung
Ziele:
Durch ein Früherkennungsprogramm sollen amblyopiogene Sehstörungen so früh erkannt
werden, dass auch für das schlechtere Auge bei ein- und beidseitiger Amblyopie ein Visus, der
mindestens Lesefähigkeit erlaubt, erreicht werden kann. Amblyopiogene Faktoren müssen
hierzu frühzeitig erkannt werden und – wegen der Entwicklungsdynamik der Amblyopie – die
betroffenen Kinder einer Frühbehandlung zugeführt werden.
Das heißt in der Praxis:
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Bei offensichtlichen Augenerkrankungen wie ein bzw. beidseitiger Katarakt oder die
Pupillen bedeckender Ptosis soll mit der Frühbehandlung noch in der
Neugeborenenperiode begonnen werden.
Bei großwinkligem Schielen soll eine Abklärung und Frühtherapie unmittelbar nach der
Verdachtsdiagnose durch Eltern oder Kinderarzt erfolgen.
Auch bei schwerer erkennbaren Veränderungen wie kleinwinkligem Schielen bzw.
höheren ein- oder beidseitigen Refraktionsanomalien, die vom Laien und NichtOphthalmologen nicht erkannt werden können, sollte mit der Behandlung vor dem
zweiten Geburtstag begonnen worden sein.
Praxis der Früherkennungsuntersuchungen in Deutschland:
Die Früherkennungsuntersuchungen bezüglich der visuellen Entwicklung werden derzeit durch
die Kinder- und Allgemeinärzte durchgeführt. Hierdurch wird ein Großteil der offensichtlichen
amblyopiogenen Veränderungen, wie z.B. Katarakt oder großwinkliges Schielen erkannt.
Unbefriedigend ist aber die Situation bezüglich der Früherkennung des kleinwinkligen Schielens
und der Refraktionsfehler. Die Rückmeldequote beim Schielen beträgt 0,7 %, bei der
Anisometropie 0,2 %, während die Häufigkeit dieser amblyopiogenen Störungen mit einer
Prävalenz von 2-3 bzw. 8,8 % angegeben wird.
Empfehlungen zur Früherkennung
Früherfassung von Risikokindern:
Frühgeborene sowie Kinder mit familiärer Belastung bezüglich Schielen und/oder seit dem
Schulalter brillenpflichtigen Refraktionsanomalien sollten wegen des deutlich erhöhten
Amblyopierisikos frühzeitig, d.h. bis zum Ende des ersten Lebensjahres augenärztlich untersucht
werden. Bei Frühgeborenen mit weniger als 1.500 g Geburtsgewicht besteht eine Prävalenz für
das Auftreten von Schielen von ca. 30 %, bei Belastung eines Elternteils besteht ein Risiko von
ca. 15 %, bei Belastung beider Elternteile von ca. 40 %.
Screening durch Kinder- und Allgemeinärzte:
Die Frühdiagnose und Veranlassung der Frühtherapie bei offensichtlichem Schielen, Katarakt
oder Pupillen-bedeckter Ptosis ist eine wesentliche Aufgabe der Kinder- und Allgemeinärzte im
Rahmen des Kinderfrüherkennungsprogramms.Screening-Untersuchungen auf latentes Schielen
bzw. Amblyopie durch Nicht-Ophthalmologen oder angelerntes medizinisches Hilfspersonal sind
aus mehreren Gründen problematisch. Eine Früherkennung von kleinwinkligem Schielen von
Refraktionsanomalien kann nur durch gezielte Untersuchungen erfolgen. Hierzu ist der
Brückner-Test geeignet, der eine höhere Sensitivität für kleinwinkliges Schielen und
Anisometropien aufweist. Dabei werden die Pupillen in jeweils ca. 1 m Abstand mit einem
Ophthalmoskop durchleuchtet und der so ausgelöste symmetrische rote Fundusreflex bewertet.
Er ist allerdings, da die zu beurteilenden Phänomene des aufleuchtenden Augenhintergrundes
nur für Sekunden zu beobachten sind, nur nach längerer Übung erfolgreich einsetzbar. Hiermit
können auch Katarakte und ein Retinoblastom frühzeitig erkannt werden. Allerdings werden
höhere Anisometropien leicht übersehen, wobei diese gerade wieder hochgradig amblyopiogen
sind. Der sogenannte Abdecktest zur Erfassung von kleinwinkligem Schielen ist für den NichtOphthalmologen ungeeignet, da er schwierig zu beurteilen und gerade bei Mikrostrabismus
häufig negativ ist. Es gibt keine routinemäßig einsetzbaren Funktionsprüfungen in der
praeverbalen Phase, die einen direkten Amblyopie-Nachweis erlauben würden. Zwar kann die
Sehfähigkeit mit sogenannten Acuity-Testen (z.B. den Teller-Acuity-Cards) festgestellt werden,
allerdings ist hierfür viel Erfahrung notwendig. Echte Visus-Prüfungen sind erst ab ca. drei
Jahren möglich, wobei die Testung des sog. Reihenvisus, die eine sichere Amblyopie-Detektion
erlauben würde, meist erst mit vier Jahren durchführbar ist. Die Entdeckung einer Amblyopie in
diesem Alter würde aber lediglich einen Zustand dokumentieren, der therapeutisch kaum oder
nur noch partiell beeinflussbar ist.
Konsequenzen
Wegen des Fehlens von Funktionsprüfungen im Säuglings- und Kleinkindalter ist das Hauptziel
der Früherkennung in diesem Alter die Entdeckung von amblyopiogenen Faktoren und nicht der
Nachweis von hierdurch bedingten Funktionsstörungen. In Schweden wurde mittlerweile
nachgewiesen, dass durch konsequent durchgeführte Früherkennungsmaßnahmen innerhalb
von 20 Jahren die Prävalenz schwerer Amblyopien um den Faktor 10 gesenkt werden konnte.
Ein apparatives Screening ist, wegen der erforderlichen Mitarbeit, z.B. beim R-21-Gerät der Fa.
Rodenstock, meist ebenfalls erst ab dem dritten bis vierten Lebensjahr einsetzbar. Außerdem ist
gerade bei diesem Gerät die niedrige Sensitivität und Spezifität für die Zielerkrankungen durch
mehrere Untersuchungen belegt worden. Fotorefraktionsgeräte, die von der Kooperation
weitgehend unabhängig sind, sind bei unterschiedlichen Herstellern in der Entwicklung und
Erprobung. Nach eigenen vorläufigen Daten haben sie eine Sensitivität von 58 – 75 % und eine
Spezifität von 68 – 84 %. Sie sind einer augenärztlichen Untersuchung prinzipiell unterlegen
und in der Anschaffung teuer. Allerdings gibt es auf diesem Gebiet neuere Entwicklungen, die
für die Früherkennung interessant werden könnten, wie ein Fotorefraktionsgerät auf
Infrarotbasis, das nicht nur die objektive Refraktionsbestimmung sondern auch die Erfassung
von Stellungsanomalien der Augen erlaubt. Die hohen Anschaffungskosten stellen aber derzeit
noch ein Problem für den generellen Einsatz dar. In den Hinweisen zur Durchführung der
Früherkennungsuntersuchungen im Kindesalter von L. Altenhofen et al. wird die Beobachtung
des Lichtreflexes bei Beleuchtung der Augen beschrieben und bei jedem Verdacht auf auffällige
Befunde die Überweisung an einen Augenarzt mit spezieller Erfahrung bei Säuglingen und
Kleinkindern empfohlen.
Augenärztliche Früherkennungsuntersuchungen:
Durch augenfachärztliche Untersuchungen z.B. im 18. oder 24. Lebensmonat ließe sich die
Effektivität der Amblyopie-Früherkennung erhöhen. Mit der Skiaskopie nach Pupillenerweiterung
mit einem kurz wirkenden Cycloplegicum können Refraktionsanomalien sicher erkannt und
frühzeitig korrigiert werden. Orthoptische Untersuchungen decken auch kleinwinklige
Schielfehler auf. Hierfür steht dem Augenarzt mit einer geprüften Orthoptistin
hochspezialisiertes Hilfspersonal zur Verfügung, da bei deren Ausbildung gerade auf die
Früherkennung von Sehstörungen großer Wert gelegt wird. Ein Kapazitätsproblem dürfte eine
augenärztliche Früherkennungsmaßnahme nicht verursachen, da bei der derzeitigen
Geburtenrate und der vorhandenen Zahl der Augenärzte mit zwei bis drei Kindern pro Woche
und Augenarzt zu rechnen wäre.
Evaluation
Eine Evaluation modifizierter Amblyopie-Früherkennungsprogramme wäre im Rahmen einer
erweiterten Schuleingangsuntersuchung möglich. Derzeit fehlen in Deutschland jedoch
verlässliche Prävalenzdaten zur Visusprüfung mit Reihenoptotypen bei Kindern im Alter von
sechs bis sieben Jahren. Inwieweit durch spezielle Empfehlungen für die Durchführung der
Früherkennungs-Untersuchungen im 1. und 2. Lebensjahr noch Verbesserungen bei der frühen
Amblyopie-Diagnostik möglich sind, muss bei der geplanten Neufassung des „Gelben
Untersuchungsheftes“ geprüft werden.
Literatur
1. Altenhofen L, C Menz-Hackenberg (1991) Hinweise zur Durchführung der
Früherkennungsuntersuchungen im Kindesalter. Deutscher Ärzteverlag Köln
2. Boergen KP (2000) Amblyopie: Prophylaxe und Früherkennung. In: Lund OE, Waubke
ThN (Hrsg) Früherkennung und Prophylaxe in der Augenheilkunde. Enke, Stuttgart
3. Choi M, Schaeffel F, Seideman A, Howland HC, Wilhelm B, Wilhelm H (2000). Laboratory,
clinical, and kindergarden test of a new eccentric infrared photorefractor (PowerRefractor), Optometry and vision Science 77:537 – 548
4. Ciuffreda OD, Levi DM, Selenow A (1991) Amblyopia. Basic and clinical aspects.
Butterworth-Heinemann, Boston.
5. Haase W (1995) Amblyopie. In: Kaufmann H (Hrsg) Strabismus, Enke, Stuttgart
6. Kvarnström G, Jacobsson P, Lennerstrand G (1998) Screening for visual and ocular
disorders in children, evaluation of the system in Sweden. Acta Paediatr. 87:1173-1179
7. Müllner-Eidenböck A, E Moser (2003) Ophthalmologische Diagnostik beim Früh- und
Neugeborenen. Pädiat Prax 63, 369-387
In der Vorstands-Sitzung der DGSPJ am 25.6.2004 verabschiedet.
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