Universität für Musik und darstellende Kunst Graz Institut 15 Alte Musik Iga Anna Zakrzewska Masterarbeit Clavier-Fantasie im 18. Jahrhundert. Über die wahre Kunst des Fantasierens. Analyse ausgewählter Fantasien von Wilhelm Friedemann Bach und Carl Philipp Emanuel Bach. Beurteilt durch Ao. Univ. Prof. Mag.art. Mag.phil. Dr.phil. Klaus Hubmann Vorgelegt am 30.04.2014 1 1. Einleitung 3 2. Fantasie 5 2.1 Der Terminus 5 2.2 Der Begriff Fantasie in den Quellen aus dem 18. Jahrhundert 7 3. Entwicklung der Fantasie-Form in der Musik für Tasteninstrumente im 18. Jahrhundert 16 4. Clavier-Fantasien von W. F. Bach und C. Ph. E. Bach 33 4.1 Die Genialität der Bach-Brüder 33 4.2 Allgemeine Informationen zu Stücken 34 4.2 Analysen der Stücke aus der Sicht der historisch informierten Aufführungspraxis 36 a) Die Form 37 b) Aufführungspraktische Hinweise 48 5. Zusammenfassung 101 Bibliographie 103 2 1. Einleitung Die Idee, über die Clavier-Fantasien des 18. Jahrhunderts eine Masterarbeit zu schreiben, wurde aus der Faszination von der Musik für Tasteninstrumente Carl Philipp Emanuel Bachs „geboren“. Die Begeisterung, die für alle, die sich mit seiner Musik auch nur in kürzester und kleinster Form beschäftigt haben, vollkommen verständlich ist, entwickelte sich mit der Zeit in ein regelmäßiges Studium seines Musikschaffens. Die Geschichte der Entwicklung der FantasieForm, von den Anfängen in der vokalen und instrumentalen Musik im 14. und 15. Jahrhundert bis zu dem Höhepunkt des 18. und 19. Jahrhunderts ist mit jedem weiteren Schritt mehr und mehr faszinierend. Zum Zweck dieser Arbeit wurden nur zwei Komponisten, Wilhelm Friedemann Bach und sein Bruder Carl Philipp Emanuel Bach, ausgewählt. Das Musikschaffen der beiden Künstler auf dem Gebiet Clavier-Fantasie eignet sich am besten, die Entwicklung dieser Form ausführlich zu betrachten. Um alle Aspekte der vorgetragenen Form und der Musikstücke gründlich verstehen zu können, wurde entschieden, eine formale und aufführungspraktische Analyse der Werke durchzuführen. Es ergibt sich vieles erst, wenn man das Thema in mehreren detaillierten Abschnitten untersucht. Deswegen wurde noch eine engere Auswahl getroffen, um Verwirrungen und Unklarheiten zu vermeiden. Es wurden nur wenige Werke beider Komponisten zur Analyse genommen, dafür aber aus mehreren Perspektiven behandelt. Die Arbeit enthält fünf Kapitel innerhalb derer noch eine Aufteilung gemacht wurde. Das erste Kapitel ist eine Einführung in das Thema der Arbeit. Es ermöglicht den Lesern einen Einblick in den Aufbau und Inhalt des Aufsatzes zu haben. Im zweiten Kapitel wurde in zwei Teilen über den Begriff Fantasie geschrieben; zuerst allgemein über den Terminus und Herkunft des Wortes, danach mehr detailliert über den Begriff in der Musikgeschichte bis zum 18. Jahrhundert. Im zweiten Teil des zweiten Kapitels schreibt die Autorin über den Begriff Fantasie aus Sicht der historischen Quellen des 18. Jahrhunderts. Hier gibt es wieder eine Beschränkung nur zu dieser bestimmten Periode. Die Vorstellung des Themas sollte deutlich und klar genug sein, um den Lesern die richtige Auffassung zu präsentieren. 3 Das dritte Kapitel betrachtet die Entwicklung der Fantasie-Form in der Musik für Tasteninstrumente im 18. Jahrhundert. Dadurch, dass es in dem Kapitel nur um die Fantasie in der Clavier-Musik geht, wurde auch eine engere Auswahl getroffen. Es wurden nur einige Beispiele der Clavier-Fantasien, die deutlich die Entwicklung der Gattung zeigen können, erwähnt. Das vierte Kapitel ist der Hauptteil der Masterarbeit. Hier wurde ebenfalls in zwei Teile unterteilt. Im ersten Teil des fünften Kapitels handelt es sich um allgemeine Informationen zu allen Clavier-Fantasien von Wilhelm Friedemann Bach und Carl Philipp Emanuel Bach (Datierung der Werke, Bezeichnung, Inhalt, usw.). Im zweiten Teil dieses Kapitels befindet sich die ausführliche und sehr detaillierte Analyse ausgewählter Stücke der Gebrüder Bach. Es wurden Informationen zur Form jedes ausgewählten Stückes gegeben, die als Einführung zur folgenden detaillierten Analyse gelten. Bei der Analyse wurden die Aspekte der historisch informierten Aufführungspraxis aus Sicht der analysierten Stücke beschrieben. In diesem Teil, der die Aufführung der Stücke betrachtet, werden auch genaue Hinweise zu jedem analysierten Werk gegeben, auf Basis des Lehrwerks Versuch über die wahre Art das Klavier zu spielen von Carl Philipp Emanuel Bach. Das letzte Kapitel der Masterarbeit beinhaltet die Zusammenfassung über die Ergebnisse der Analyse, über noch offene Fragen und nicht gefundene Lösungen der Probleme. Im letzten Kapitel wird entschieden, ob das Thema ausführlich bearbeitet wurde, oder ob es noch weiter recherchiert werden soll. 4 2. Fantasie 2.1 Der Terminus Um den Begriff Fantasie richtig zu formulieren und allgemein verstehen zu können, ist es notwendig, kurz zu der Herkunft des Wortes zu greifen. Laut dem deutschen Duden-Wörterbuch1 ist es im allgemeinen Sinne eine „Fähigkeit, Gedächtnisinhalte zu neuen Vorstellungen zu verknüpfen, sich etwas in Gedanken auszumalen…“. Die Bedeutung des Wortes in der Musik ist als „instrumentales Musikstück mit freier, oft improvisationsähnlicher Gestaltung, ohne formale Bindung“ beschrieben. Nach älteren Wörterbüchern ist „die Fantasie“ als ein „Tonstück in freier Form“ formuliert. Der Begriff „Phantasie“ im selben Wörterbuch bedeutet „Einbildungskraft, Erfindungsgabe“2. Das Wort Fantasie existiert (nachweislich) in musikalischen Schriften seit dem 14. Jahrhundert. Im Allgemeinen ist sie als innere Vorstellung und Einbildungskraft beschrieben und damit als die „Voraussetzung des Musikmachens“3 gemeint. Es bezieht sich nicht auf den Titel des Werkes, im Sinne der späteren Musikstücke mit bestimmter Form (frei oder gebunden), sondern mehr auf das imaginäre Denken, auf einen Einfall oder geistiges Bild4. Auf der anderen Ebene ist Fantasie als Prozess des Musikmachens dargestellt5. Es handelt sich um Musikstücke, die ex tempore6 erfunden wurden. Obwohl man das Wort schon in Traktaten aus dem 14. und 15. Jahrhundert findet (als Titel von Sätzen in der Instrumentalmusik), ist es fachbegrifflich erst bei Diego Ortiz in Trattado de glosas (1553), auch aber in Arte de tañer fantasia 1 Duden Deutsches Universalwörterbuch, 6. Auflage, Mannheim 2007, S. 552. Das Deutsche Wort, Leipzig 1933, S. 319; S. 740. 3 Thomas Schipperges und Dagmar Teepe, Art. Fantasie, in: MGG-Sachteil 3 (1995), Sp. 316. 4 Marianne Betz, Art. Fantasia, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Stuttgart 1971-2006, Ordner III: F-L, Art. Fantasia, S. 1. 5 siehe: Schipperges-Teepe, Sp. 316. 6 Ex tempore - etwas in diesem Moment erfunden. Es wurde zum fachlichen Terminus im 18. Jahrhundert. 2 5 (1565) von Tomas de Santa Maria erwähnt. Der Begriff ist im 16. Jahrhundert sehr eng mit der Improvisation und ihren Regeln, die exakt zu dieser Zeit festgelegt geworden sind, verbunden. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erscheinen die ersten gedruckten Fantasien. Der Terminus bezieht sich auf den Titel des Werkes, wobei der Begriff Fantasie abwechselnd mit anderen Termini benutzt wird7. Die gleichen Stücke wurden in verschiedenen Ausgaben anders genannt. Es kommt vor, dass der Titel des Werkes keine wichtige Rolle spielte. War die Form von improvisatorischen Musikstücken so ähnlich oder doch so unterschiedlich frei in ihrer Gestaltung, dass es weder möglich, noch nötig war, sie zu systematisieren? Vor allem Fantasie und Ricercar wurden als austauschbare Termini benutzt. Im Lauf des 17. Jahrhunderts erschien ein neuer Begriff, nämlich Capriccio, der sehr ähnlich zur Fantasie stand8. Der Begriff Fantasie existierte weiter und bezog sich auf die Nachbar-Termini, wie die oben genannten Capriccio und Boutade9. Eine sehr wichtige und entscheidende Rolle in der Terminologie wurde von Athanasius Kircher „gespielt“. In seinem Traktat von 1650 (Musurgia universalis) erschien ein neuer Begriff, der stylus phantasticus. Der Autor beschreibt den fantastischen Stil als eine Art des Komponierens, die an kein Wort und keine Harmonie gebunden ist. Es ergibt sich eine große Freiheit, die ab dem Moment der Befreiung des Stils dem Künstler (dem Komponist) viel mehr Möglichkeiten bietet10. Der Stylus phantasticus spiegelte sich in musikalischen Formen wie Fantasie, Ricercar, Toccata, Sonata wider. Der Begriff betrifft hauptsächlich Instrumen- 7 Je nach Region oder Land (z.B. Division, Voluntary, Fancy, Tiento, Diferencia), aber auch nach der Funktion (Intrada, Preambulum, Praeludium, u.a.), nach dem Charakter und Form des Stückes (Toccata, Canzon, Ricercar, Fuga), unterscheidet sich die Benennung. 8 siehe: Arnfried Edler, Gattungen der Musik für Tasteninstrumente, Teil 1: Von den Anfängen bis 1750, Handbuch der musikalischen Gattungen, Band 7/1 Laaber 1997, S. 354. 9 Edler, S. 366. 10 Der Einfluss, den der Kirchersche Traktat auf die Form der Fantasie hatte, wird in späteren Kapiteln der Arbeit beschrieben. 6 talmusik, was ebenfalls von einer sehr großen Bedeutung für die Entwicklung der Fantasie-Form war11. Der Begriff Fantasie wurde im 18. Jahrhundert in eine noch engere Verbindung zum Extempore-Spiel gesetzt. Auf der einen Seite war es eine Art des Improvisierens, „aus dem Stegreif“ zu spielen, als Vorspiel oder Nachspiel. Aus einer anderen Sicht waren es fertig komponierte Musikstücke. Im Endeffekt wurden beide, der Komponist und der Aufführende, zu gleichwertigen Schöpfern des Stückes. Als Terminus existierte Fantasie abwechselnd mit dem Begriff Stylus phantasticus. Sie wurde im Lauf des 18. Jahrhunderts von dem Terminus Fuge getrennt12. Es kommt die Tendenz, noch freier und mehr improvisierend in der Form der Fantasie zu sein. Die Fugenform ist nicht nur strenger geworden, sondern ging in die Richtung eines eigenständigen Stückes. Da sich die Fantasie als Terminus von den anderen, im vorigen Jahrhundert, gleichwertigen Begriffen „befreit“ hat und selbst in ihrer Form freier geworden ist, wurde sie zum festen Begriff freie Fantasie umgewandelt. 2.2 Der Begriff Fantasie in den Quellen aus dem 18. Jahrhundert Die wichtigsten Entwicklungen in der Geschichte der Fantasie fanden im deutschsprachigen Raum statt. Nicht nur viele bedeutende Kompositionen, sondern daneben auch sehr viele theoretische und wissenschaftliche Nachweise stehen heutzutage zur Verfügung. Zu den bemerkenswerten Quellen im 18. Jahrhundert zählen Musiklexika, Wörterbücher und vor allem Traktate und Klavierschulen. Reichlich beschrieben ist nicht nur der Terminus, sondern auch die Art des Fantasierens13. Laut Brossard ist die Fantasie eine „Gattung der Komposition, […] ein reiner Effekt des Genies“, ohne genaue kompositorische An- 11 Der Schwerpunkt bezog sich allmählich auf Instrumentalmusik, vor allem auf Musik für Tasteninstrumente. 12 Noch im 17. Jahrhundert wurde der Begriff Fantasie im Austausch mit der Fuge benutzt. 13 Was unter Fantasieren zu verstehen ist, wird im weiteren Verlauf der Masterarbeit erläutert. 7 weisungen, wie Takt, oder Rhythmus 14 . Im Lexikon von Johann Gottfried Walther befindet sich eine sehr ähnliche Beschreibung des Begriffes, und zwar: Fantasia ist „der effect (sic!) eines guten Naturelles so auch theils ex tempore sich äussert, da einer nach seinem Sinn etwas spielet, oder setztet, wie es ihm einfällt, ohne sich an gewisse Schrancken und Beschaffenheit des Tacts zu binden“15. Wie zu bemerken ist, war die Beschreibung, obwohl mit großem Zeitabstand, eigentlich gleich; es wurde in beiden Fällen als eine Form des Improvisierens bezeichnet. In diesem Sinne war die Musikform als „frei“ vorgestellt. Wenn man weiter in den Quellen recherchiert, findet man bei Mattheson eine sehr interessante Beschreibung. Er zeichnet „eine gewisse Gattung […] der Melodien, oder der melodischen Grillen16 […] die von allen übrigen sehr unterschieden ist“ auf. Es sind die Fantasien, oder „Fantaisies“, „deren Arten sind: die Boutades, Capricci, Toccate, Preludes, Ritornelli“ 17 . Der Autor dieses Traktates beschäftigt sich außerdem näher mit der Schreibart der Fantasie (neben anderen Gattungen) und auch mit der Aufführungspraxis im „phantastischen Styl“. Es handelt sich hauptsächlich um improvisatorisches Spiel, das als Vor- oder Nachspiel bei den Aufführungen stattfindet. Der Komponist empfiehlt dem Spieler (oder Sänger) sich an nichts anderes, als die Harmonie zu verlassen. Im Allgemeinen schreibt Johann Mattheson über den „phantastischen Nahm […] der nicht sowohl im Setzen oder Componiren mit der Feder, als in einem Singen und Spielen, das aus freiem Geiste, oder wie man sagt, ex tempore geschieht“18. Auf der 14 nach: Sébastien de Brossard, Dictionnaire de Musique, Paris 1703; Stichwort „Fantasia. veut dire Fantaisie“. 15 Johann Gottfried Walther, Musicalisches Lexikon oder Musicalische Bibliothec, Leipzig 1732, Faksimile, Kassel 2001, S. 219. 16 Das Wort „die Grille“ ist lt. Wörterbuch Das Deutsche Wort, Leipzig 1933, S. 405 ein wunderlicher Einfall. 17 Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, Faksimile, Kassel-Basel 1954, S. 232, § 132. 18 Ebenda: S. 87, § 88. 8 anderen Seite erwähnt Mattheson, dass die Fantasie „wirklich zu Papier gebracht werde, und man also dem Sänger oder Instrumenten-Spieler die Mühe erleichtert“19. Im weiteren Verlauf beschreibt der Autor des Vollkommenen Kapellmeisters, dass es schade ist, dass keine Regeln der Fantasie-Kunst verfügbar sind. Der Stylus Phantasticus ist „die allerfreieste und ungebundenste Setz-, Sing-, und Spielart, die man nur erdenken kann […] da man sich weder an Worte noch Melodie, obwol an Harmonie, bindet, nur damit der Sänger oder Spieler seine Fertigkeit sehen lasse“20. Laut Mattheson sind die Merkmale des fantastischen Stils folgende: „bald hurtig, bald zögernd“, einmal einstimmig, andermal vielstimmig, ohne Thema, oder Hauptsatz, „ohne Klang-Maasse“, mit der Absicht den Zuhörer in „Verwunderung zu setzen“. Eine der wichtigsten Quellen des 18. Jahrhunderts, die über die Klavierkunst und Art des Akkompagnements berichten, ist der Traktat Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen von Carl Philipp Emanuel Bach 21 . Der Autor schreibt im Kapitel „Vom Vortrage“ welche Fähigkeiten und Meisterschaften ein Klavierspieler besitzen sollte, um sich ein guter Clavieriste nennen zu dürfen. Er schreibt unter anderem über Artikulation, Charakter des Stückes, Affekte und Fertigkeit der Finger. „Besonders aber kann ein Clavieriste vorzüglich auf allerley Art sich der Gemüther seiner Zuhörer durch Fantasien aus dem Kopfe bemeistern.“22 Ähnlich wie es bei den oben genannten Quellen gezeigt wurde ist die Fantasie als freie Form des Improvisierens und nicht als fertig komponiertes Stück angegeben. Im 2. Teil des Versuchs beschreibt der dritte Sohn von Johann Sebastian Bach aber auch die freie Fantasie, die „keine abgemessene Tacteintheilung enthält, und in mehrere Tonarten ausweichet, als bey andern Stücken zu geschehen pfleget, welche nach einer Tacteintheilung gesetzet sind, oder aus dem Stegreif erfunden werden.“23 Nachfolgend befindet sich die Beschreibung der freien Fantasie. Laut Autor ist sie aus mehreren Sätzen, die 19 Ebenda, S. 87, § 89. Ebenda, S. 88, § 93. 21 Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Berlin 1753/1762, Faksimile-Nachdruck, 7. Auflage, Leipzig 1992. 22 Ebenda, 1. Teil, 1753, S. 122-124. 23 Ebenda, 2. Teil, 1762, S. 325, § 1. 20 9 nicht nur harmonisch, sondern auch im Charakter abwechselnd sind, gebaut. Diese Art des Fantasierens, ohne den Taktstrich zu beachten, die Harmonie aber richtig zu bemerken, ist sehr frei und kann als einzelnes Stück existieren. Wenn es um die freie Fantasie, als Vorspiel (oder Nachspiel) geht, ist der Bereich der Freiheit ziemlich begrenzt. In diesem Fall sollte das Stück (oder Art des Improvisierens) inhaltlich als Einleitung in die Musikstücke, die danach präsentiert werden, oder als „Schlusswort“ dienen. In diesem Sinne sollte das Vor-, oder Nachspiel das Notenmaterial des folgenden Programms enthalten. Aus dem reichlichen Bericht von Carl Philipp Emanuel Bach ist zu bemerken, dass es bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ähnliche, wie bei den anderen Quellen, die bisher in der Arbeit nachgewiesen wurden, Vorstellungen von Fantasie (bei Bach von freier Fantasie) gab. In der Anleitung der musikalischen Gelahrtheit24 von Jacob Adlung findet man folgende Beschreibung der Kunst des Fantasierens: „Die Clavierkunst wird mehrentheils in 4 Theile abgetheilet. Der Generalbaß ist der erste; die Wissenschaft, den Choral zu spielen der zweite; die sogenannte italiänische Tabulatur die dritte; das Fantasieren, oder das Spielen aus eigener Erfindung der vierte.“25 Es ist nicht vorgegeben, was der Begriff „Fantasie“ genau bedeutet, sondern “… was man vor Wege habe ein Fantaste (im guten Verstande) zu werden”.26 Annäherungsweise erklärt diese Problematik Friedrich Wilhelm Marpurg in seinem „Brief an den Herrn Doctor und Professor der Rechten Johann Carl Conrad Oerlichs“ vom 21. Juli 175927. Der Verfasser schreibt über zwei Arten von Fantasie, die der Organist, je nach Bedarf abwechselnd, als Vorspiel aufführen kann. „Eine freye Orgelfantasie ist also eine solche Composition aus dem Stegereif, wo man sich nicht einen vesten Gesang, oder den Choral zum Gegen24 Jacob Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit, Erfurt 1758, Faksimile-Nachdruck, Kassel-Basel 1953. 25 Ebenda, S. 625, § 300. 26 Ebenda, S. 733, § 375. 27 Friedrich Wilhelm Marpurg, Kritische Briefe über die Tonkunst, V. Brief, Berlin 1760; Faksimile-Nachdruck, Hildesheim/New York 1974. 10 stande der Ausarbeitung nimmt…“, und eine Choralfantasie, „worinnen der Choral zum Grunde lieget“28. Bemerkenswert ist noch eines, und zwar: was der Autor genau über das Wort Fantasie schreibt: „Wegen des Wortes Fantasie ist zu bemerken, daß selbiges zwar eine jede Composition aus dem Stegereif anzeiget; aber nicht jeden Mischmasch von Gedanken, wo man alle Augenblicke und ohne Ursache, die Tactart und die Anzahl der Stimmen verändert, und immer neue nichts als wilde regellose Einfälle ohne Kunst einander ablösen.“29 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es ziemlich viele Klavierschulen. Eine von denen, die heutzutage weniger bekannt sind, ist die „Clavier-Schule, oder kurze und gründliche Anweisung zur Melodie und Harmonie“ von Georg Simon Löhlein (1765). So beschreibt der Künstler die Kunst des Fantasierens in seinem Lehrwerk: „Das Fantasieren, oder Spielen aus dem Stegreife, besteht in einer Kunst, eine Melodie, mit ihrem gehörigem Basse und Mittelstimme, aus freyem Geiste selbst zu erfinden, und sogleich zu spielen. Es geschieht dieses, entweder nach richtigem Zeitmaaße, oder ohne dasselbe. Im ersten Falle heisst es eine gebundene Fantasie; und hierzu wird mehr Geschicklichkeit erfordert, als zur ungebundenen, oder freyen Fantasie wie sie im zweiten Falle heißt.“30 Der Autor stellt eine sehr wichtige Frage im fünften Paragraph des zweiten Teils seiner Klavierschule, und zwar: “…warum sollte dem Tonkünstler nicht auch die richtige Verhältniß der musikalischen Perioden, der Rhythmus, oder die Klangfüße und eine richtige Grundlage der Harmonie, zu statten kommen?“. Es wurde davor beschrieben, dass es leider ganz oft der Fall ist, dass sehr gute Theoretiker nur mittelmäßige Prakti- 28 Ebenda, S. 35. Ebenda. 30 Georg Simon Löhlein, Clavier-Schule, oder kurze und gründliche Anweisung zur Melodie und Harmonie, dritte und verbesserte Auflage Leipzig 1779 (erste Auflage Leipzig 1765), S. 179, §1. 29 11 ker sind, und natürlich umgekehrt auch. „Denn das beste Genie ohne Regeln, ist ein mit vollen Seegeln gehendes Schiff ohne Steuermann“31. „Die wahre Art das Pianoforte zu spielen“ von Johann Peter Milchmeyer (1797)32 ist eine sehr späte Quelle. Man sollte sie erwähnen, weil auch hier die Fantasie abgehandelt wird. Sie ist allerdings nur kurz beschrieben, als „Fantasia, Fantasie, Einfälle aus dem Stegreif, musikalische Gedanken, wie sie dem Spieler einfallen“. Nicht mehr, nicht weniger. Interessanterweise beschreibt der Autor die Fantasie nur als „freie“, „improvisatorische“ Gedanken, nicht mal als Musikstück, das auf dem Papier auch existierte. Bemerkenswert ist, was Carl Czerny in seiner „Systematischen Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte op. 200“ (1829) über das Thema schreibt, und zwar, dass man es Fantasieren nennt, wenn der „ausübende Tonkünstler die Fähigkeit besitzt, die Ideen, welche seine Erfindungsgabe, Begeisterung, oder Laune ihm eingiebt, sogleich, im Augenblick des Entstehens, auf seinem Instrument nicht nur auszuführen, sondern so zu verbinden, dass der Zusammenhang auf den Hörer die Wirkung eines eigentlichen Tonstückes haben kann“. Czerny beschreibt die unterschiedlichen Formen vom Fantasieren. Es sind dies die Präludien (als Vorspiel), die Kadenzen und Fermaten (meistens „in Concerten“), „das wirkliche, selbstständige Fantasieren (Improvisieren)“ in verschiedenen Fassungen, zum Beispiel als Variationen, als Fantasieren in „gebundenen und fugirtem Styl“, oder in der Art von Capriccio, was der Autor als freieste und unverbundenste Art des Fantasierens beschreibt.33 Obwohl wir uns schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befinden, baut sich eine enge Verbindung mit Bemerkungen, die seit dem 16. Jahrhundert zum gleichen Thema gemacht wurden, auf. Ähnlich wie in den Traktaten von Diruta, Zarlino oder anderen Lehrwerken und Lexika im 17. und 18. Jahrhundert, schreibt Czerny über nötige Begabungen, die der Spieler, der gut Fantasieren will, besitzen sollte. Außer den offensichtlichen Gaben, wie großes musikali31 Ebenda, S. 180, § 4 und § 5. Johann Peter Milchmeyer, Die wahre Art das Pianoforte zu spielen, Dresden 1797. 33 Die genauen Beschreibungen und Erklärungen zum Thema freie und gebundene Formen der Fantasie befinden sich in den nächsten Kapiteln der Arbeit. 32 12 sches Gedächtnis, „glücklich“ organisierte Finger und rascher Gedankenflug, benötigt „der Fantaste" noch andere Fähigkeiten, und zwar „gründliche Ausbildung in allen Theilen der Harmonielehre“ und „ein vollkommen ausgebildetes Spiel (Virtuosität)“34. Der Zweck des Werkes von Czerny ist, die festen und ordentlichen Regeln, die jeder Künstler verständlich finden kann, zu gründen. Die letzte in diesem Kapitel beschriebene Quelle aus dem 18. Jahrhundert ist absichtlich nicht chronologisch (wie die vorher erwähnten Quellen) eingeordnet35. Es handelt sich um ein Traktat von Georg Andreas Sorge aus dem Jahr 1767. Seine „Anleitung zur Fantasie“36 ist eine sehr hilfreiche Quelle. Sorge beschreibt ganz genau, welche Voraussetzungen nötig sind um ein guter AusDem-Kopfe-Spieler zu sein: „Er muss ein gutes Naturell zur Musik, und viel gute Musik gehöret haben, den General-Bass verstehen, und von folgenden neun Puncten wohl unterrichtet sein“37. Die wichtigen Punkte, die der Theoretiker meinte, sind sehr ähnlich den Voraussetzungen, die Czerny in seiner „Anleitung“ vorstellt. Der gute Fantaste sollte alle Intervalle, Zusammenklänge und deren Umkehrungen und alle Tonarten kennen. Er sollte Modulationen von einem zu dem anderen Akkord und Tonart verstehen und spielen können. Das Geschlecht und die Relationen zwischen den Akkorden sollte er auch merken. Der gute Musiker, der Fantasieren können will, muss noch dazu die Lehre von Fugen und Nachahmung beherrschen. 34 Carl Czerny, Systematische Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte, Wien 1829. Es ist eine der wichtigsten Quellen des 18. Jahrhunderts, die sehr hilfreiche Informationen über die Art des Fantasierens und die nötigen Begabungen und Kenntnisse in der Musik und Theorie, aber auch in der Komposition, die jeder Musikus braucht ein guter Fantaste zu sein, ist. Deswegen hat die Autorin die chronologische Reihenfolge für diese Quelle geändert, um die Wichtigkeit des Traktats zu zeigen. 36 Georg Andreas Sorge, Anleitung zur Fantasie, oder zu der schönen Kunst, das Clavier, wie auch andere Instrumente aus dem Kopfe zu spielen, Lobenstein 1767. 37 Ebenda, Kap. I, S. 1. 35 13 Sorge empfiehlt den zukünftigen „Fantasten“ auch die anderen Traktate von berühmten Musikern, Theoretikern und Komponisten anzuschauen. „Kann man mit Con- und Dissonanzen wohl umgehen, so lerne man aus Herrn Matthesons Kern melodischer Wissenschafften und Fuxens Gradibus ad Parnassum eine gute Fuge machen, und ein gewisses Thema oder Subjectum ex tempore auszuführen“38. Nicht nur seine „Anleitung zur Fantasie“ liefert die wichtigsten Voraussetzungen eines guten Fantaste. Auch zwei anderen Arbeiten desselben Autors beschreiben die gleiche Problematik. Im Traktat „Vorgemach der musicalischen Composition, oder: Ausführliche, ordentliche und vorheutige Praxin hinlängliche Anweisung zum Generalbass“ beschreibt Sorge ziemlich detailliert den Weg, der jedem Musiker hilft, seine Fähigkeiten im Ex-tempore-Spiel zu verbessern. „Allein unser Zweck gehet vornehmlich auch dahin, dass ein Clavier-Schüler durch Erlernung des Generalbasses, nach der in diesem Wercke gebrauchten Methode soll in den Stand kommen, etwas gutes und fundamentelles ex tempore spielen, und folglich zu Pappier bringen, mithin alle Grund-Sätze der musicalischen Composition verstehen, und so gleich einen guten Grund in derselben soll legen lernen“39. Sorge weist darauf hin, dass es viele gibt, „die auf dem Clavier ein Stück vom Blatt ganz gut wegspielen, wenn sie es nemlich vorher fast auswendig gelernet haben; ja viele können wohl ziemlich lange und schwere Stücke auswendig lernen, und so dann daher spielen: wenn sie aber auch nur wenige Tacte aus dem Kopffe machen sollen, so bricht ihnen der Angstschweiß aus. Sie sind also wie diejenigen, die eine Predigt aus der Postille gar fein, und mit gutem Nachdruck herlesen können, allein aus dem Kopffe können sie nicht den geringsten Vortrag thun. Was ist die Ursach? Antwort: Sie wissen weder was Melodie noch 38 Ebenda, Reg. 16, S. 425. Georg Andreas Sorge, Vorgemach der musicalischen Composition, Lobenstein 1745, 1. Teil, Kap.III, §2, S. 7-8. 39 14 Harmonie ist, und haben gemeiniglich wenig oder gar nichts von der Wissenschafft die zum General-Basse gehöret gelernet“40. Was für eine Lösung hat der Autor des Buches? Er schreibt, dass diejenige, die aus dem Stegreif spielen lernen wollen, nichts anderes tun sollten als folgendes: „sie lernen den General-Bass in behöriger Ordnung, und mit rechtem Verstande, denn durch denselben lernen sie alle Sätze und Gänge der Harmonie, und durch die Harmonie lernen sie auch Melodie“41. In allen oben beschriebenen Quellen aus dem 18. Jahrhundert gibt es ausführliche Vorlagen und viele gute Ratschläge, die einem „Clavier-Schüler“ den richtigen Weg zeigen, ein „guter Fantaste“ zu werden. Es zeigt, wie wichtig das Thema „Fantasieren“ oder „aus dem Stegreif“ zu spielen war. Diejenigen, die es konnten, haben der Meinung der größten Musiker des 18. Jahrhunderts nach die höchste Art des Clavier-Spielens erreicht. 40 41 Ebenda, 3. Teil, Kap. XXX, §2, S. 419-420. Ebenda, S. 420. 15 3. Entwicklung der Fantasie-Form in der Musik für Tasteninstrumente im 18. Jahrhundert. Vom Anfang bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts verschob sich langsam die Priorität auf die Claviermusik. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle Besetzungen (Laute, Tasteninstrumente, Ensemblemusik) gleichwertig42. Die Entwicklung der in dieser Arbeit beschriebenen Gattung ist durch das ganze Jahrhundert sehr umfangreich. Von einzelnen, kurzen und polyphonen Stücken, durch den Satz des Concertos, der Suite, der Toccata, oder der Sonate, danach als Reihung von dem freien und fugiertem Satz, bis zu freien, improvisatorischen Formen, die auch als einzelne Stücke existierten, waren aber aus mehreren, frei strukturierten Teilen gebaut43. Es ist immer viel leichter und gleichzeitig spannender, die Entwicklung der musikalischen Form anhand von Exempeln zu zeigen. In diesem Kapitel werden drei Gruppen von Komponisten, nach dem Alter systematisiert und mit einzelnen Beispielen von ihren Clavier-Fantasien beschrieben. Der Zweck einer solchen Bearbeitung des Themas ist, so ausführlich wie möglich die Form der Fantasie in den verschiedenen Zeitpunkten des 18. Jahrhunderts zu präsentieren. In der ersten Gruppe der Komponisten, die zu der frühesten Periode des 18. Jahrhunderts gehören, befinden sich drei Namen. Friedrich Wilhelm Zachow (1663-1712), Johann Krieger (1651-1735) und Johann Pachelbel (1653-1706). Es konnten nur die Stücke, die in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts komponiert wurden, mit einbezogen werden. Friedrich Wilhelm Zachows Fantasia D-Dur (Notenbeispiel 1/2) ist ein Beispiel für die Musik aus dem Hochbarock. Es ist ein Stück von imitierender und kontrapunktischer Struktur, das auf zwei Themen, die durch die ganze, dreiteilige Komposition mit großer Konsequenz durchgeführt wurden, basiert. Dieses eigenständige, vierstimmige Werk repräsentiert die strenge Regel des Kontrapunkts. Vom Stil erinnert es an die Form des sehr im 16. und 17. Jahrhundert 42 Vgl.: Thomas Schipperges und Dagmar Teepe, Art. Fantasie, in: MGG-Sachteil 3 (1995), Sp. 336. 43 Als Ausnahme gelten die 36 Fantasien für Cembalo solo von Georg Philipp Telemann, die in den nächsten Kapiteln beschrieben werden. Es sind einzelne, kurze Stücke in da-capo-Form. 16 populären Ricercars44. Bis zum 17. Jahrhundert wurden die Termini Fantasia, Präludium, Fuga und Ricercar austauschbar benutzt45. Notenbeispiel 1/3 Das nächste Beispiel (Notenbeispiel 2/3) stammt von Johann Krieger. Es wird nicht mehr als eigenständiges Stück betrachtet, sondern als Teil des Zyklus. In dem Fall ist seine Fantasia als erster Satz oder besser als Einleitung zu Partita zu verstehen. Der Titel des Zyklus lautet: Fantasia e Partita und besteht aus acht Teilen (Fantasia, Allemande, Corrente, Sarabande, Gigue, Menuett, Bouree, Gavotte). Es stammte aus der Sammlung von 6 Partiten, wobei nur in dem ersten Stück (Fantasia e Partita C-Dur) befindet sich als erster Satz eine Fantasie. Die anderen Partiten fangen mit einer Allemande an. Die Fantasie basiert auf drei kontrapunktischen und im Charakter unterschiedlichen Themen, die mit kleinen Überleitungen unterbrochen sind. Von der Struktur erinnert die Fantasia an Toccata. Der Umfang des Stückes ist wesentlich größer, als der von Zachows Fantasia. 44 Siegbert Rampe (Hrsg.), Bachs Klavier- und Orgelwerke. Das Handbuch, Teilband 1, Laaber 2007, S. 83. 45 Die deutliche Trennung der Termini kann man z.B. in der Sammlung Anmutige Clavier-Übung bestehend in unterschiedlichen Ricercarien, Präludien, Fugen von Johann Krieger (Nürnberg 1699) sehen. Die Ricercari sind mit großen und die Präludien und Fugen mit kleineren Notenwerten notiert. 17 Notenbeispiel 2/3 Das dritte und letzte Stück in der ersten Gruppe stammt von Johann Pachelbel. Seine Fantasien wurden als eigenständige Stücke komponiert. Die von der Autorin ausgewählte Fantasia in d-Moll (Notenbeispiel 3/3) ist sehr interessant und noch im Stil des Hochbarocks komponiert. Es fängt mit dem Thema in der oberen Stimme, die das erste Mal nur mit zwei anderen, kontrapunktischen Stimmen durchgeführt ist, an. Im dritten Takt kommt das Thema in der zweiten Stimme, sowie am Anfang. In der ersten Stimme aber kommt das Thema in der Diminution. Die Fantasie hat nur ein Thema und ist sehr konsequent mit allen Regeln des Kontrapunkts durchgeführt. Der Umfang des Stückes ist der Komposition Zachows ähnlich. Notenbeispiel 3/3 Die zweite Gruppe von Komponisten besteht aus zwei sehr berühmten Namen: Johann Sebastian Bach (1685-1750) und Georg Philipp Telemann (1681-1767). 18 Der Fantasie-Begriff wurde noch am Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts austauschbar mit den anderen Termini, die ähnlich in der Form waren, benutzt. Dem folgend kommen hier als Beispiel 15 Sinfonien Johann Sebastian Bachs, die zuerst den Namen Fantasien trugen. In der späteren Schrift änderte Bach den Titel zu Sinfonien (BWV 787-801). Die Stücke sind vom Umfang zwischen 20 und 70 Takte lang und haben unterschiedliche Formen, von Fugato durch Fugensatz, bis zu imitierenden Stücken mit Tanzcharakter. Alle sind streng polyphon komponiert. Als Beispiel wurde die ersten Takte aus drei Sinfonien gewählt (Notenbeispiele 4a-c/3; in der Handschrift von H. G. M. Darnköhler; ca. 1745-1755). Notenbeispiel 4a/3 Notenbeispiel 4b/3 19 Notenbeispiel 4c/3 Die Sinfonien-Fantasien von Johann Sebastian Bach sind nur als Beispiel verschiedener Typen von Clavier-Fantasien im 18. Jahrhundert an dieser Stelle erwähnt. Viel wichtiger und viel näher zu der freien Form der Fantasie im späten 18. Jahrhunderts ist seine Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll BWV 903 (Notenbeispiel 5a-c/3)46. Es ist ein Meisterwerk, welches eine Brücke zwischen Bachs genialem improvisatorischen Stil des späten Barock und dem höchstem Niveau des Empfindsamen Stils, in Verbindung mit der Kunst des Improvisierens in den späten Clavier-Werken seiner Söhne, baut. Die Beschreibungen der Genialität Bachs beim Improvisieren befinden sich u.a. in Bachs Biographie von Johann Nikolaus Forkel (1802)47. In diesem Fall ist die Fantasie als eine Einleitung oder Einführung in den Hauptteil (Fuge) gedacht. In dieser kurzen Analyse wird es Fokus auf die Fantasie gegeben. Das Werk präsentiert die größte Kunst des Ex-tempore Spiels. Es wechselt ab zwischen längeren, ganz freien, improvisierten Fragmenten (Notenbeispiel 5b/3) und kürzeren, streng in der Kompositionstechnik gehaltenen Abschnitten (Notenbeispiel 5c/3). Im Vergleich zu manchen, oben genannten FantasieStücken (z. B. Telemanns Fantasien, die demnächst beschrieben werden), ist die Chromatische Fantasie von J. S. Bach kein eigenständiges Werk. Es hat seine bestimmte Funktion, und zwar die Fuge, die danach erscheint, dement46 Es existiert kein Autograph und keine von Bach „geprüfte“ Abschrift des Stückes. Johann Nikolaus Forkel, Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, S. 10 u. 17. 47 20 sprechend einzuführen. Umso wichtiger ist es, den richtigen Charakter des Stückes zu erkennen, da es sich um seine musikalische Funktion handelt. Notenbeispiel 5a/3 21 Notenbeispiel 5b/3 Notenbeispiel 5c/3 Die Fantasien von Georg Philipp Telemann sind auch als Zyklus komponiert und zwar sind die 36 Fantasien TWV 33 in drei Teilen zu jeweils 12 Stücken gruppiert. Alle Fantasien sind zweiteilig und haben eine da capo Form (wobei in der zweiten Gruppe, nach dem wiederholten ersten Teil, noch ein kleines zweiteiliges Stück kommt). In der ersten und letzten Gruppe, gibt es zuerst einen schnellen und dann einen langsamen Teil, in der zweiten Gruppe ist es umgekehrt angeordnet. Die Stücke sind im Wesentlichen kurz und meistens homophon. Es sind keine freien Fantasien. Diese kurz gefassten Stücke wurden streng im Takt komponiert. Als Notenbeispiele (6a-f/3) wurden zwei Fantasien aus jeder Sammlung genommen. 22 Notenbeispiel 6a/3 Notenbeispiel 6b/3 Notenbeispiel 6c/3 23 Notenbeispiel 6d/3 Notenbeispiel 6e/3 24 Notenbeispiel 6f/3 Die dritte Gruppe der Komponisten besteht aus vier Namen: Ferdinand Kauer (1751-1831), Wolfgang Amadè Mozart (1756-1791), Joseph Haydn (17321809) und Johann Christian Kittel (1732-1809). Die Fantasien von den oben erwähnten Künstlern sind in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts erschaffen worden. Sie präsentieren den späten und sehr erweiterten Stil der Fantasie-Form. Fantesia per Clavicembalo solo C-Dur (wahrscheinlich aus dem Jahr 1785) von Ferdinand Kauer ist ein sehr interessantes Beispiel, das auf den verschiedenen Ideen (Themen) aus seinen eigenen Opern des Komponisten basiert (Notenbeispiele 7a-d/3). Es ist ein riesiges Musikstück, das aus 22 verschiedenen Teilen, die in unterschiedlichen Tonarten gehalten sind, besteht. Es fängt mit einem kurzen, improvisierenden Grave (Notenbeispiel 7a/3), dass mit Taktstrichen notiert ist, an. Trotz der Taktstriche, erinnert der Anfang an die freie Fantasie. Der Charakter des ersten Abschnittes ist sehr improvisatorisch. Er macht einen Eindruck des Extempore-Spiels, als ob der Komponist oder, prägnanter gesagt, der Spieler seine Finger aufwärmen wollte, oder das Instrument ausprobieren wollte, oder vielleicht seine Inspiration suchte? Dafür repräsentiert der Rest des Werkes einen sehr klassischen und homophonen Stil des späten 18. 25 Jahrhunderts. Nach dem Grave kommen die kurzen Teile, u.a. Moderato (Notenbeispiel 7a/3), Larghetto, Allegretto, Tempo di Minuetto., die man als streng komponierte Abschnitte bezeichnen kann. Das ganze Werk (außer Grave) ist ziemlich genau im Takt komponiert, was darauf hinweist, dass es keine freie Fantasie (ohne Taktstrichen) sein kann. Notenbeispiel 7a/3 Notenbeispiel 7b/3 Notenbeispiel 7c/3 26 Notenbeispiel 7d/3 Als nächstes wird eines der repräsentativsten Werke Mozarts beschrieben, nämlich die Fantasie in c-Moll, KV 475. Sie wurde im Jahre 1785 komponiert. Die Fantasie besteht aus fünf Teilen (Adagio, Allegro, Andantino, Più Allegro, Tempo primo; Notenbeispiele 8a-f/3), wobei der letzte Abschnitt eine modulierte und verkürzte Wiederholung des ersten Teils ist48. Die Tonart des Stückes ist nicht von Anfang an klar angedeutet (Notenbeispiel 8a/3). Dadurch, dass Mozarts Fantasie reich an Chromatik und viele Modulationen ist, befinden sich alle Vorzeichen, außer im Andantino in B-Dur (Notenbeispiel 8c/3), direkt neben den Noten49. Das ganze Stück endet aber mit dem c-Moll Akkord, was neben den vielen harmonischen Auswanderungen zu einer Äußerung führt, dass das Stück doch in c-Moll komponiert wurde (Notenbeispiel 8f/3). Aus der formalen Sicht, ist die Fantasie c-Moll eine rein improvisatorische Schaffung. Sie basiert auf kurzen Motiven und Phrasen, die zum großen Teil progressiv modulieren (um 48 Der letzte Abschnitt des Stückes sollte als Coda betrachtet werden. Es ist ein bearbeiteter Inhalt des ersten Teils, der durch verschiedene Modulationen mit Skala-Läufen das Stück in cMoll beendet. 49 Im zweiten Band (Free Papers) des Berichts aus dem Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress zum Mozartjahr 1991 Baden-Wien (hrsg. Tutzing 1993), befindet sich ein Artikel „Der Begriff der Fantasie bei Mozart und dessen Beeinflussung durch Sonate, Präludium und Toccata. Zur Wechselbeziehung zwischen Satztechnik und Gattung in der c-Moll-Fantasie KV 475“ von W. K. Kreyszig. In diesem Artikel wird erwähnt, dass sich im Autograph dieser Fantasie ursprünglich drei b-Vorzeichen in den ersten drei Zeilen befanden, die später ausradiert wurden. 27 einen Halb- oder Ganzton). Am Ende jedes Abschnitts bleibt die Phrase hängen. Sie endet nicht, führt aber auch nicht weiter. Es macht den Eindruck, als das Stück in diesem Moment erfunden wurde. Man kann vom Charakter und Aufbau des Werkes viele Ähnlichkeiten mit späteren Fantasien der Gebrüder Bach finden. Es gibt Meinungen, dass diese Fantasie zusammen mit der Sonate c-Moll KV 457 (Notenbeispiel 8g/3) aufgeführt werden sollte. Obwohl Mozart dieses Stück ein Jahr später als Sonate c-Moll (1784) erschaffen hatte, befinden sich die beiden Meisterwerke in einem Manuskript50. Das könnte ein guter Grund sein, die beiden Werke als ein Zyklus zu betrachten. Ein anderer Grund könnte in der Geschichte der Gattung gefunden werden, da es schon früher ähnliche Beispiele gab, wo eine Fantasie mit Sonate zusammengestellt wurde51. Es stellt sich nur die Frage, ob es sich in diesem Fall um eine solche Verbindung handelt. Es gibt keine direkten und eindeutigen Anweisungen von Mozart, dass die Fantasie c-Moll KV 475 als Einleitung zur Sonate c-Moll KV 457 dienen sollte. Notenbeispiel 8a/3 50 Siehe: William Kinderman, Mozart’s piano music, Oxford 2006, S. 57. Fantasie, in Verbindung mit Sonate, wurde als Einleitung des Zyklus betrachtet. Es sollte die gleiche einführende Funktion, wie die anderen Fantasien, die als erster Teil des Zyklus komponiert wurden, haben. 51 28 Notenbeispiel 8b/3 Notenbeispiel 8c/3 Notenbeispiel 8d/3 29 Notenbeispiel 8e/3 Notenbeispiel 8f/3 Notenbeispiel 8g/3 Das nächste Beispiel ist die Fantasie in C-Dur, Hob.VII:4 (1789) von Joseph Haydn (Notenbeispiel 9a-b/3). Dieses ziemlich große Stück hat eine interessante Form. Es basiert auf einem Motiv (Thema), das durch verschiedene Tonarten und Bearbeitungen geführt wird (praktisch in einem Teil komponiert). Das Thema ist zwischendurch von kleinen, improvisatorischen „Zwischenspielen“, die aus gebrochenen Akkorden (Passagien) bestehen, „gestört“. Sehr homophon, macht diese Fantasie einen Eindruck, als ob es eine Improvisation von einem Thema mit homophoner Faktur und klassischer Durchführung des Motivs wäre. Es ist ein Ex-empore-Spiel in klassischem Stil. 30 Notenbeispiel 9a/3 Notenbeispiel 9b/3 Die letzte, in diesem Kapitel betrachtete Fantasie F-Dur stammt von Johann Christian Kittel (Notenbeispiel 10/3). Das Stück wurde 1789 (oder 1791) komponiert52. Es ist ein fünfteiliges Stück, das mit einem Grave beginnt (mit starkem, punktiertem Rhythmus), danach kommt Allegro moderato, das homophon komponiert ist, gefolgt von einem Grave mit 2-taktigem Adagio und wieder mit einem Allegro moderato Abschnitt und kleiner Kadenz abgeschlossen. Obwohl das Stück streng mit Taktstrichen notiert wurde, kann man, auf ausdrucksvollen Grave-Abschnitten basierend, feststellen, dass es sich um ein sehr improvisatorisches (vom Charakter) Werk handelt. Die Form dieser Fantasie ist sehr ähnlich den späten Stücken Carl Philipp Emanuel Bachs. Mit vielen tenuti, dynamischen Bezeichnungen (diminuendo, crescendo, piano, pianissimo) und improvisatorischem Charakter, ist dieses Stück ein treffendes Beispiel des reifen Stils 52 Die Handschrift ist zweifach datiert. 31 der Clavier-Fantasie im 18. Jahrhundert. Jedoch vom Umfang kann es nicht mit den späten Fantasien Emanuel Bachs verglichen werden. Notenbeispiel 10/3 32 4. Clavier-Fantasien von Wilhelm Friedemann Bach und Carl Philipp Emanuel Bach 4.1 Die Genialität der Bach Brüder. Es besteht kein Zweifel daran, dass die beiden Bach-Brüder geniale Musiker waren. Die beiden Söhne Johann Sebastian Bachs waren hochwertige Komponisten und Virtuosen der Tasteninstrumente auf höchstem Niveau. Beide haben die gleiche oder eine sehr ähnliche musikalische Ausbildung bekommen (Clavier-Büchlein für Wilhelm Friedemann Bach). Sowohl der ältere Wilhelm Friedemann als auch der vier Jahre jüngere Carl Philipp Emanuel studierten Jura. Am Anfang der musikalischen Karriere hatten auch beide eine feste Anstellung: der ältere Bruder in Dresden (danach in Halle)53, der Jüngere in Berlin (später in Hamburg)54. Warum denn wurde Carl Philipp Emanuel Bach als der große und berühmte Bach im 18. Jahrhundert bezeichnet? Warum, nach Berichten der Zeitgenossen, war der ältere Bruder als der größte Improvisator Deutschlands (zumindest bis zu seinem 60. Lebensjahr) beschrieben, aber trotzdem nicht erfolgreich gewesen?55 Waren es die für Wilhelm Friedemann ungünstigen Versuche, eine andere (bessere) Stelle, als Organist und Kapellmeister zu finden? Oder war es Carl Philipp, der mehr Begabung und Fähigkeiten besaß? Es gab Berichte über den schwierigen und komplizierten Charakter Friedemanns. Dass er nach dem Tod seines Vaters Johann Sebastian Bachs Noten verkauft hat, ist allen wohl bekannt. Aber es war keine sorglose Tätigkeit des ältesten Sohnes. Es wurde berichtet, dass es dem Friedemann sehr am Herzen lag, dass das Vermögen seines Vaters einen guten Besitzer findet56. 53 Peter Wollny, Art. Wilhelm Friedemann Bach, in: MGG-Personenteil 1 (1999), Sp. 1536. 54 Wagner, Günther und Leisinger, Ulrich: Carl Philipp Emanuel Bach, in: MGG-Personenteil 1 (1999), Sp. 1313-1317. 55 Ulrich Kahmann, Wilhelm Friedemann Bach. Der unterschätzte Sohn, Bielefeld 2010, S. 241. 56 Stefan Giese, Art. „Fehleinschätzung. Zu Wilhelm Friedemann Bachs Biographie“, in: Michael Heinemann und Jörg Strodthoff, Wilhelm Friedemann Bach. Der streitbare Sohn, Dresden 2005, S. 35-37. 33 Wurde Carl Philipp Emanuel besser aufgenommen, weil er ein großes, theoretisch-praktisches Werk geschrieben hat? 57 Daniel Hensel erwähnt in seinem Buch über Wilhelm Friedemann Bach, dass der ältere Bruder Emanuels geplant hatte, eine „Abhandlung vom harmonischen Dreyklang“ zu publizieren 58 . Ein Traktat Friedmanns wurde leider nie herausgegeben und gilt bis heute als verloren bzw. unauffindbar. Der Meinung der Autorin dieses Schriftstückes nach, ist nicht der Fakt wichtig, welcher von den Bach-Brüdern erfolgreicher zu seiner Zeit (oder danach) war. Um das zu recherchieren, bräuchte man gezielte Forschungen in diesem Bereich. Wichtiger ist, wie die beiden großen Komponisten mit der Fantasie-Form im späten 18. Jahrhundert umgehen konnten. Die formale und aufführungspraktische Analyse ausgewählter Stücke von Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann wird im nächsten Unterkapitel vorgestellt. 4.2 Allgemeine Informationen zu den Stücken. Die Clavier-Fantasien von den zwei berühmtesten Söhnen Johann Sebastian Bachs sind als bestes Beispiel für die Entwicklung der Gattung von 16. bis zum 18. Jahrhundert zu betrachten. Unterschiedlich in den Formen, mit verschiedenen Charakteristiken, variablem Umfang und überraschender Vielfalt von den musikalischen Ideen, zählen diese Musikstücke zu den interessantesten Werken für Tasteninstrumente ihrer Zeit. Die zu seinem Leben ungedruckten Fantasien von Wilhelm Friedemann wurden nur in Abschriften überliefert. Es gibt keine Autographe, die uns vielleicht mehr Informationen über die Datierung der Kompositionen, aufführungspraktische Aspekte oder Authentizität der Stücke geben könnten. Das einzige Stück, das als datiert überliefert wurde (1770) ist die Fantasie e-Moll F. 2059. Es ist unentschieden, ob der Komponist neun oder zehn Fantasien erschaffen hat. Laut Martin Falck, der die Biographie und das Werkverzeichnis von Wilhelm Frie- 57 Es handelt sich um den „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ (1753/1762). Daniel Hensel, Wilhelm Friedemann Bach. Epigone oder Originalgenie, verquere Erscheinung oder großer Komponist?, Stuttgart 2011, S. 250. 59 F. steht für Falck Werkverzeichnis. 58 34 demann geschrieben und zusammengestellt hat, gab es zehn Fantasien60. Das zehnte Werk sollte eine G-Dur Fantasie sein. M. Falck schreibt in dem Werkverzeichnis, am Ende seines Buches über Wilhelm Friedemann, die ersten Takte jedes Stückes des Komponisten. Alle Werke sind nach der Gattung, Besetzung und Tonarten katalogisiert. Unter den Fantasien befinden sich auch zwei zusätzliche Fantasien, eine, nicht sicherer Herkunft, Fantasie G-Dur, mit der Nummer 22 im Falcks Katalog und, als „unecht“ bezeichnet, laut Falck, von Carl Philipp Emanuel stammende Fantasie B-Dur61. Im Vorwort zu der modernen Notenausgabe von den Fantasien Wilhelm Friedmanns, wurde von Peter Schleunig darauf hingewiesen, dass die ersten zwei Stücke (C-Dur F. 14/D-Dur F. 17) wahrscheinlich aus der Dresden-Periode (1733-1746) kommen. Das nächste Stück, das in der Schott Ausgabe mit der Nummer 3 steht (d-Moll F. 18), sollte zu einer späteren Zeit komponiert worden sein. Wegen dem Entstehungsdatum der nächsten vier Fantasien (a-Moll F. 23 / e-Moll F. 20 / d-Moll F. 19 / e-Moll F. 21), vermutet Autor des Aufsatzes, dass sie aus der Zeit, als Wilhelm Friedemann in Halle gelebt hat und wahrscheinlich aus noch späterer Zeit, stammten. Darauf könnte auch der einzige datierte Abschrift von e-Moll (F. 20) Fantasie hinweisen. Die letzten zwei, aus dieser Sammlung stammende Werke Bachs (c-Moll F. 15 / c-Moll F. 16) wurden, mit großer Wahrscheinlichkeit, in den letzten Jahren seines Lebens komponiert62. Von dem anderen Sohn Johann Sebastian Bachs wurden mehrere Fantasien überliefert. In seinem Verzeichniß des musikalischen Nachlasses63, erwähnt der Komponist selbst 13 Fantasien, wobei es nicht ganz klar ist, ob er nicht zweimal die gleichen Klavierstücke, die in verschiedenen Notenausgaben gedruckt wurden, meinte: „No. 117, B. 1759, besteht aus 3 Fantasien und 3 Solfegien, und ist gedruckt in Clavierstücke verschiedener Art“…“No. 160, P. 1766, besteht 60 Siehe: Martin Falck, Wilhelm Friedemann Bach. Sein Leben und seine Werke, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1913, Hildesheim/New York, 1977, S. 85. 61 Siehe: Martin Falck, Wilhelm Friedemann Bach. Sein Leben und seine Werke, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1913, Hildesheim/New York, 1977, IV. Thematisches Verzeichnis der Kompositionen Wilhelm Friedemann Bachs, S. 4-5. 62 Es gibt nicht genug Noten-, und Textquellen, die ausführlich die in dieser Arbeit beschriebenen Musikstücke Wilhelm Friedemann Bachs behandeln können. 63 Siehe: Autobiographie und Verzeichniß des musikalischen Nachlasses von Carl Philipp Emanuel Bach = Faksimiles of Early Biographies, Vol.4, Buren, 1991. 35 aus 3 Fantasien und 2 Solfeggien, welche im Musikalischen Vielerley gedruckt sind“64. Mit Sicherheit nachweisbar sind heutzutage 19 Fantasien65: Es-Dur Wq 58/6 und A-Dur Wq 58/7 aus der vierten Sammlung - Clavier-Sonaten und freye Fantasien nebst einigen Rondos fürs Fortepiano für Kenner und Liebhaber (1783), F-Dur Wq 59/5 und C-Dur Wq 59/6 aus der fünften Sammlung - ClavierSonaten…(1785), B-Dur Wq 61/3 und C-Dur Wq 61/6 aus der sechsten Sammlung - Clavier-Sonaten…(1787), c-Moll Wq 63 (1753/1762, in Exempel nebst achtzehn Probe-Stücken in Sechs Sonaten, als letzter Satz der sechsten Sonate)66, Fantasia fis-Moll Wq 67 (1788), auch bekannt unter dem Titel: Carl Philipp Emanuel Bachs Empfindungen67, Fantasien aus der Sammlung Clavierstücke verschiedener Art (1765): D-Dur Wq 112/2, B-Dur Wq 112/8, F-Dur Wq 112/15, 2 Fantasien d-Moll Wq 113/3 und Wq 114/7 aus der ersten und zweiten Sammlung Kurze und leichte Clavierstücke (1766/1768), Es-Dur H 34868 (1748), GDur Wq 117/11, d-Moll Wq 117/12, g-Moll Wq 117/1369 und D-Dur Wq 117/14 (1762) aus dem zweiten Teil des Versuchs (zuerst als Bassnoten mit Bezifferung vorgestellt, danach als ein Beispiel der Realisierung)70. Es existiert noch ein Stück, erster Satz aus der Suite B-Dur H 370, das Fantasia genannt wurde, aber die Autorschaft Emanuels ist noch nicht bestätigt. 4.2 Analysen der Stücke aus der Sicht der historisch informierten Aufführungspraxis. Die Fantasien von Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel sind, der Meinung der Autorin nach, die adäquatesten Stücke, die Ergebnisse der Ent64 Ebenda, S. 16, 21. Vgl.: Carl Philipp Emanuel Bach, The Complete Works, (Series I, Volume 3. / 4.2 / 8.1 / 8.2), hrsg. v. Peter Wollny, Altos, California, 2005/2009. 66 Siehe: Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen mit Exempeln und achtzehn Probe-Stücken in sechs Sonaten, 1./2. Teil, Faksimile Nachdruck der 1. Auflage, Berlin 1753/1762, Leipzig 1958; das Notenmaterial wurde zusätzlich herausgegeben. 67 Aus diesem Stück wurde vom Komponist selbst eine Bearbeitung für Geige und Cembalo gefertigt (Wq 80). Dieses Stück steht unter der Bezeichnung Carl Philipp Emanuel Bachs Empfindungen. 68 Es existieren zwei Verzeichnisse, in denen die Werken von Emanuel Bach katalogisiert wurden; eines von Alfred Wotquenne aus dem Jahr 1906 (als Wq bezeichnet), das andere wurde 1989 von Eugene Helm erstellt (als H. gekennzeichnet). 69 Es gibt leider keine genauen Angaben zu Datierung der drei Fantasien Wq 117/11/12/13. 70 Siehe: Bach, Versuch, 2 Teil, S. 341 und 343. 65 36 wicklung der Fantasie-Form bis zum Ende des 18. Jahrhunderts darzustellen. Nach vielen, sehr langen und genauen Überlegungen, welche Werke in dieser Arbeit detailliert beschrieben und analysiert werden sollten, wurde eine ziemlich enge Auswahl getroffen. Die folgenden Stücke wurden ausgesucht und, als für die Forschung geeignet, bezeichnet: 5 Fantasien von Wilhelm Friedemann (aMoll F. 23, d-Moll F. 19, e-Moll F. 21, c-Moll F. 15, c-Moll F. 16) und 7 Fantasien von Carl Philipp (Es-Dur und A-Dur Wq 58/6/7, F-Dur und C-Dur Wq 59/5/6, BDur und C-Dur Wq 61/3/6 und fis-Moll Wq 67). a) Die Form Die Erforschung der Fantasie-Form ist sehr kompliziert. Die Möglichkeit, solche Stücke aus verschiedenen Seiten zu analysieren, macht den ganzen Prozess auf keinen Fall leichter. Es ergibt sich die Gelegenheit, die Fantasien der Bach Brüder zuerst aus formalem Sicht zu sortieren. Es sind zwei Gruppen: die Stücke, die mit der freien (ohne Taktstriche, oder im „freien“ Charakter) Einleitung beginnen und die Stücke, deren Anfang im „strengen“ Takt gehalten wird. Zu der ersten Gruppe gehören zwei Fantasien von Friedemann (a-Moll F. 23 und e-Moll F. 21) und fünf von Emanuel (Es-Dur Wq 58/6, A-Dur Wq 58/7, FDur Wq 59/5 C-Dur Wq 59/6und B-Dur Wq 61/3). Das erste Stück (F. 23) hat eine sehr kurze, aus Sprüngen und Läufen bestehende Einleitung (Notenbeispiel 1/4). Improvisatorische Art, mehrere Teile (Adagio und Allegro abwechselnd), die im Tempo und Charakter unterschiedlich sind und, was noch wichtiger ist, Taktlosigkeit in der ersten Hälfte des Stückes, weisen auf die „freie“ Form hin. Nur in vorletztem und letztem Abschnitt, (molto Adagio, Prestissimo), gibt es regelmässige Taktstriche (Notenbeispiel 2/4 und 3/4). 37 Notenbeispiel 1/4 Notenbeispiel 2/4 Notenbeispiel 3/4 38 Ein zweites Stück (F. 21) von Friedemann Bach fängt auch mit der „ungebundenen“ und improvisatorischen Einführung (trotz ein paar Taktstrichen in den ersten Takten) an. Es fängt mit dem längeren Furioso (am Anfang, beide Hände unisono in Oktaven, dann sehr schnelle Läufe, die abwechselnd kommen) an, das zu einem 9-taktigem Rezitativ führt (Notenbeispiel 4/4 und 5/4). Es ist das erste Mal, dass es ein Rezitativ in den Fantasien von Wilhelm Friedemann gibt. Es kommt viermal in diesem Stück vor (jedes Mal unterschiedlich in Länge und wegen Notenmaterial). Im vorherigen Stück gab es Einleitung, Adagio, Allegro, wieder die gleiche Einleitung, Adagio, Allegro, molto Adagio und Prestissimo. Alle Abschnitte, die sich wiederholten, hatten den gleichen Notentext, wurden aber in anderen Tonarten dargestellt. Die Fantasie e-Moll (F. 21) ist viel grösser und viel mehr ausgebaut. Nach dem ersten Furioso und Recitativ, kommt ein viel längeres Furioso (diesmal in G-Dur), das sehr virtuos und improvisatorisch ist. Die nächsten Abschnitte sind Andantino, Grave, Adagio (1-taktig), Prestissimo (vom Notenmaterial, sehr der zweiten Hälfte vom zweiten Furioso ähnlich. Es könnte sein, dass der Komponist „vergessen“ hat, an dieser Stelle, Prestissimo reinzuschreiben), Andantino (in anderen Tonart), wieder Recitativ, Andantino (nur 2-taktig), Recitativ, Andantino, Recitativ, Andante (es ist eigentlich das Gleiche, wie Andantino) und wieder Prestissimo, das zu längerem Grave führt, danach 2-taktiges Largo und am Ende Furioso in Haupttonart, dass eine Brücke mit dem ersten Abschnitt baut und das Stück als eine Einheit abschließt. 39 Notenbeispiel 4/4 Notenbeispiel 5/4 Wenn es sich um die Stücke von Carl Philipp handelt, alle vier aus der Gruppe der „freien“ Fantasien, fällt auf, dass sie sehr ähnlich komponiert sind (Wq 58/6/7, Wq 59/5/6). Sie fangen mit längeren, improvisierten Abschnitten an (Notenbeispiele 6-9/4), die eigentlich keine bestimmte Melodie-Linie haben. Meistens sind es zerlegte Akkorde, oder Skalen, die durch verschiedene Tonarten „spazieren“, manchmal „laufen“. Danach kommen streng komponierte Teile, die zumeist in Taktstrichen aufgeschrieben sind. Die ersten drei (Es-Dur, A-Dur, FDur) besitzen zwischen vier und sechs Abschnitte (inklusive die, die sich wie40 derholen). Das letzte Stück ist in 12 Teilen komponiert (es wiederholen sich abwechselnd Andantino, Prestissimo und Allegretto). Obwohl alle, oben genannte Fantasien von Emanuel Bach, auf eine späte und sehr ausgebaute Form aufweisen, die letzte Fantasie (C-Dur Wq 59/6) gehört zu seinen, schon sehr komplizierten Werken. Von den vier, oben beschriebenen, Fantasien Emanuel Bachs, unterscheidet sich fünfte Fantasie aus der Gruppe der „freien“ Kompositionen. Im ersten Moment, sieht das Stück sehr strikt aus, als ob es eine „gebundene“ Fantasie wäre. Regelmäßig, in Taktstrichen komponiert, mit „quasi“ thematischen Motiven (Notenbeispiel 10/4), macht es den Eindruck, dass es sich hier um ein rigoros zusammengesetztes Clavierstück handelt. In Wirklichkeit ist es ein Kompositum, das aus kurzen, kleinen Motiven gebaut ist. Es klingt, wie ein Stück, das an der Stelle, ex tempore erfunden wurde. Diese Fantasie ist ein gutes Beispiel für ein „freies“, „ungebundenes“ Musikstück. Notenbeispiel 6/4 Notenbeispiel 7/4 41 Notenbeispiel 8/4 Notenbeispiel 9/4 Zu der zweiten Gruppe der Stücke mit dem „strengen“ Anfang, gehören insgesamt 5 Fantasien. Im Falck Katalog mit Nummern 19, 15 und 16 bezeichnete Stücke von Wilhelm Friedemann (eine d-Moll, und zwei c-Moll Fantasien) und von Alfred Wotquenne nummerierte Fantasien Emanuels, C-Dur und fis-Moll (61/6; 67). Schon das erste Stück dieser Gruppe zeigt eine sehr interessante Form. Es fängt mit regelmäßigem Allegro di molto an, das in Abwechslung mit Grave vorkommt (Notenbeispiel 11/4). Überraschenderweise befindet sich in der Mitte eine dreistimmige, sehr rigorose Fuga, die zweimal in dem Stück erscheint (No- 42 tenbeispiel 12/4). Ähnlich, wie bei den anderen Fantasien, endet das Stück mit dem gleichen Teil, mit dem es angefangen hat71 (manchmal mit kleinen Veränderungen). Wegen der Form ist es ein gutes Beispiel für eine Art von „gebundenen“ Fantasien (im Sinne, dass sie keine, oder nur wenige Teile, die improvisatorischen Charakter zeigen, besitzt). Notenbeispiel 11/4 Notenbeispiel 12/4 71 Vergleichbar mit Fantasien: e-Moll F. 21, Es-Dur Wq 58/6, A-Dur Wq 58/7, C-Dur Wq 59/6, B-Dur Wq 61/3. 43 Die nächste Fantasie von Friedemann Bach, c-Moll F. 15, fängt mit ganz kurzem Grave (auch im strengen Charakter) an, als Einführung zu Vivace (Notenbeispiel 13/4), das in imitierender Art komponiert wurde. Die Struktur des ganzen Stückes ist auch sehr rigoros erschaffen, ohne Ausnahme ist es in Taktstrichen notiert. Der einzige Teil, der marginal freier sein könnte, ist die ArpeggioStelle, die zweimal in diesem Stück vorkommt (Notenbeispiel 14/4). Wenn es um den Umfang der Fantasie c-Moll F. 15 geht, gehört dieses Stück zu den größten und wichtigsten Werken von Wilhelm Friedemann. Es befinden sich 16 Abschnitte auf insgesamt 424 Takten. Zwischen den Grave und Vivace Stellen kann man ein sehr schönes Andantino und Cantabile, die sehr ausgebaut sind, finden. Notenbeispiel 13/4 44 Notenbeispiel 14/4 Das dritte Werk aus der strengen Gruppe von „gebundenen“ Fantasien hat im Katalog Falcks Nummer 16. Es ist der anderen c-Moll Fantasie sehr ähnlich. Es besitzt ein schönes Cantabile und Moderato, aber auch Vivace und Grave sind dort zu finden. Die Abschnitte dieser Fantasie sind meistens (außer Arpeggio) strikt und nachahmend komponiert. Die zwei letzten Clavierstücke der zweiten Gruppe kamen von Carl Philipp Emanuel Bach. Fantasia C-Dur Wq 61/6 und Fantasia fis-Moll Wq 67. Es sind zwei, sehr unterschiedliche Stücke in ihrer Form. Das erste Stück ist hauptsächlich auf einem Thema (Motiv) basiert (Notenbeispiel 15/4), das nur zweimal von einem Andante und Larghetto sostenuto gestört wurde (Notenbeispiel 16/4). Diese Fantasie gehört zu den strengst komponierten Stücken der Art, die von Emanuel stammten. Es weist eigentlich sehr auf Stil Galant hin, in seiner klaren Form, in verständlichem Bild, mit kantablerer Phrase und einfacher Melodie. Eine überraschende Erschaffung Emanuels, wenn man sie mit den anderen, viel mehr komplizierten Stücken des Komponisten vergleichen will. 45 Notenbeispiel 15/4 Notenbeispiel 16/4 Die Fantasie fis-Moll Wq 67 ist, nach Meinung der Autorin, das höchste Schaffen von Carl Philipp auf dem Fantasie-Gebiet. Der Anfang (Adagio), den der Komponist nur in ersten zwei Takten mit Taktstrichen aufzeichnete, trotz weiteren Taktlosigkeit, vom Aufbau der Struktur ausgehend, gehört dieses Werk zu 46 den rigorosen Abschnitten (Notenbeispiel 17/4). Es bedeutet aber nicht, dass das Stück nicht als „freie“ Fantasie betrachtet sein sollte. Aus 10 Teilen gebaut, zwischen Adagio, Allegretto und Largo abwechselnd, zeigt sich dieses, im Todesjahr Emanuels komponiertes Stück, als vielfaltige, sehr reife und komplizierte Komposition. Wie es schon früher erwähnt wurde, ist die Fantasie fis-Moll eines der besten Werke von Carl Philipp Emanuel Bach. Die Abschnitte, wie Allegretto (Notenbeispiel 18/4), besitzen freien, improvisatorischen Charakter. Allgemein ist dieses Stück homophon komponiert, ohne imitierenden Abschnitten, oder Stellen. Notenbeispiel 17/4 Adagio Notenbeispiel 18/4 47 b) Aufführungspraktische Hinweise Zum Charakter des Stückes Wie es am besten ist, die Arbeit mit dem Musikstück anzufangen, wird im folgenden Kapitel zu erklären versucht. Es kommen immer die gleichen Probleme auf, die richtigen Tempi, den passenden Charakter und die adäquaten Verzierungen zu finden. Wie sollte man mit der Interpretation des Stückes umgehen, ob es mehr oder weniger dem Spieler überlassen sein sollte? Diese und die vielen anderen Fragen stellt sich jeder Musiker, der seine künstlerische Arbeit auf ein hohes Niveau stellen will. Es gibt genug Quellen und Traktaten aus dem 18. Jahrhundert, wie die Lexika, Enzyklopädien, allgemeine theoretisch-praktische Anweisungen oder mehr spezifische, von bestimmten Instrumenten betrachtende Versuche oder Schulen. Für die Analyse, die in dieser Arbeit erschaffen wird, wurden nur diese Traktaten und Quellen ausgewählt, die meistens ausführlich über die Probleme der Aufführung von Clavier-Fantasien berichten. Wenn es um den Charakter des Stückes geht, sollte man zuerst die, in den Noten stehenden, Anweisungen des Komponisten betrachten. Die Fantasien von den beiden Brüdern bestehen aus, manchmal kurzen oder längeren, verschiedenen Abschnitten, von denen jeder seinen eigenen Charakter besitzt (meistens wiederholen sie sich im Lauf jedes Stückes). Die Bezeichnungen, die in ausgewählten Fantasien vorkommen, sind folgende: Grave, Adagio, poco Adagio, Largo, Larghetto, Larghetto sostenuto, Andante, Andantino, Moderato, Allegretto, Allegro, Allegro di molto, Vivace, Presto, Presto di molto, Prestissimo, aber auch Cantabile, Furioso und die, in Fantasie dMoll F. 19 Friedemann Bachs, vorkommende Fuga. Laut Autorin ist es wichtig, in verschiedenen Quellen zu recherchieren. Es ist entscheidend für die Interpretation (egal, ob es sich um Charakter oder Tempi etc. handelt) aus mehreren Blickwinkeln ans Ziel zu kommen. Um die passenden Quellen zu finden, sollte man zuerst an die Datierung der Stücke denken (wichtig ist, dass die Traktate mindestens in der gleichen Hälfte des betroffenen Jahrhunderts entstanden sind). Es handelt sich in dem Fall um die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es existieren viele Lehrbücher zu dieser Zeit, aber die 48 Auswahl, die zum Zweck dieser Analyse getroffen wurde, ist mit Absicht auf die Instrumental- (meist Klavierschulen) und Kompositionsschulen reduziert. Bei allen Quellen befinden sich die ähnlichen Beschreibungen von der Art, das Allegro und Adagio zu spielen. Es ist natürlich nicht immer sofort klar, was für einen Inhalt der Komponist in seinem Musikstück reingebracht hat und was er mit Allegro oder Vivace in Wirklichkeit versteht. Wichtig ist, dass das Stück nicht nur nach der Bezeichnung jedes Abschnittes interpretiert wird. Der Spieler muss einen Überblick über das Werk haben und merken, ob doch mehr, als nur Tempo oder Satzbenennung hinter dem Namen steht. Quantz gibt die folgende Beschreibung: „Das Wort: Allegro … hat einen … weitläuftigen Begriff: und werden in dieser Bedeutung vielerley Arten von geschwinden Stücken, als: Allegro, Allegro assai, Allegro di molto, Allegro non presto,...,Vivace, Allegretto, Presto, Prestissimo, u. d. gl. verstanden“72. Quantz erklärt, dass es sich um alle lebhaften und geschwinden Stücke handelt, deren charakteristischen Merkmale Munterkeit und Lebhaftigkeit sind. Die Passagen im Allegro (Quantz meint, wie schon vorher erwähnt, alle Arten von Allegro) müssen seiner Meinung nach, „rund, proper, lebhaft, artikuliret, und deutlich gespielet werden.“ Man sollte nicht eilen (vor allem nicht bei den langsamen Noten), aber auch nicht zögern und auf die Geltung aller Noten sorgfältig achten. Eine sehr wichtige Bemerkung befindet sich in § 8 dieses Hauptstückes: „Man muss das Allegro nicht geschwinder spielen wollen, als man die Passagien, in einerley Geschwindigkeit, zu machen im Stande ist: damit man nicht … einige Passagien“, die schwieriger als die anderen sind, „langsamer zu spielen“ muss. Quantz empfiehlt, das Tempo nach den schwierigen Stellen im Stück auszumachen. Diese sehr ausführliche Erklärung, wie man die Allegro-Stücke aufführen sollte, betrachtet auch weiter die Stimmung (als Laune) des Stückes. Im Paragraph 24 schreibt Quantz, dass „das Lustige“ durch kurze Noten, meistens Achtel oder 72 Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, Berlin 1752, Faksimile-Nachdruck, Wiesbaden 1988, XII. Hauptstück, § 1, S. 111. 49 Sechszehntel, gezeichnet wird. „Das Prächtige“ zeigt sich normalerweise in langen, aber auch punktierten Noten (sie sollten überpunktiert werden) und „das Freche“ in Noten, wo nach der zweiten oder dritten ein Punkt steht. Es gibt noch „das Schmeichelnde“, das von Quantz, als stufenweise auf-, oder absteigende, schleifende und synkopierte Noten beschrieben sind. Über das Adagio, schreibt der Autor folgendes: „Das Adagio machet gemeiniglich den bloßen Liebhaber der Musik das wenigste Vergnügen, und sind sowohl die meisten Liebhaber, als auch oft gar die Ausführer der Musik selbst, wofern es ihnen an der gehörigen Empfindung und Einsicht fehlet, froh, wenn das Adagio in einem Stücke zu Ende ist. Ein wahrer Musikus aber kann sich im Adagio sehr hervor Thun, und Kennern seine Wissenschaft zeigen“73. Diese kurzen Sätze weisen auf die Wichtigkeit des Adagios und auf die Schwierigkeiten, die eine richtige Aufführung mit sich bringt, auf. Quantz unterscheidet das traurige Adagio (zu dem die folgenden Arten der Stücken gehören: Cantabile, Arioso, Affetuoso, Andante, Andantino, Largo, Larghetto, etc.) vom pathetischen. In den nächsten Paragraphen seines Versuchs gibt der Autor eine sehr ausführliche Beschreibung jeder Art des Adagios. Für diese Analyse werden nur einige von überlieferten Schilderungen gebraucht, und zwar: „Ist das Adagio sehr traurig gesetzet, wobey gemeiniglich die Worte: Adagio di molto oder Lento assai stehen, so muß solches im Spielen, mehr mit schleifenden Noten, als mit weitläuftigen Sprüngen oder Trillern ausgezieret werden.“74 Er schreibt aber, dass man nicht alle Triller vermeiden sollte, nur nicht zu viel, dass der Charakter sich dadurch nicht zu viel ändert (es sollte nicht zu fröhlich sein). 73 74 Ebenda, XIV. Hauptstück, § 1, S. 136. Ebenda, § 8, S. 139. 50 „Ein Grave, da der Gesang aus punktirten Noten75 besteht, muss etwas erhaben und lebhaft gespielet, auch bisweilen, mit, durch die Harmonie gebrochenen, Passagien, ausgezieret werden“76. Wegen Cantabile, oder Arioso, notiert der Autor des Versuches, dass es so ausgeführt sein sollte, dass die Oberstimme die Freiheit, Manieren zu machen, durch die taktweise bleibende Bassstimme, bekommen sollte. Ähnlich schaut es bei dem Andante und Larghetto im dreier Takt. Wenn die Bassstimme taktweise und in kleineren Notenwerten, als obere Stimme aufführt, kann die MelodieStimme viel ernsthafter und mit mehreren Manieren, als in Arioso betrachtet werden77. Zu gleicher Zeit, als der Versuch von Quantz entstand, gab es ein sehr interessantes Lehrwerk von Friedrich Wilhelm Marpurg, Anleitung zum Clavierspielen der schönern Ausübung der heutigen Zeitgemäß verworfen (1755). Und auch wie bei Quantz, findet man in diesem Traktat sehr gründliche Erwähnungen über verschiedene Arten von Adagio und Allegro. Von Marpurg erfahren wir, dass Adagio, Largo und Lento langsam sind, dass Adagio assai, und Adagio di molto ein sehr langsames Tempo besitzen. Larghetto, Andantino, Andante sollten nicht zu langsam, sondern mäßig langsam aufgeführt werden. „Unter diese Bewegungen gehört alles Traurige, Klagende, Betrübte, ingleichen Sittsame, Bescheidene …“ Presto/Prestissimo und Allegro di molto, sollten sehr geschwind, oder sehr bewegt sein. Dafür Allegro und Vivace, langsamer als die vorherigen, also nur geschwind oder bewegt. Wenn es sich um Allegretto und Moderato handelt, sie sollten nicht zu geschwind und weniger bewegt sein, am besten mäßig geschwind78. 75 Quantz empfiehlt die punktierten Noten ein wenig stärker zu spielen. Ebenda, § 17, S. 142. 77 In den Fantasien von Wilhelm Friedemann und Carl Philipp kommt nur einmal ein Larghetto (sostenuto) vor und dieses ist im 2/4-Takt gehalten. 78 Siehe: Friedrich Wilhelm Marpurg, Anleitung zum Clavierspielen der schönern Ausübung der heutigen Zeitgemäß entworfen, Berlin 1755, I. Hauptstück, V. Abschnitt, von dem Tact, S. 16, § 2. 76 51 „Unter diese Bewegungen gehört alles Lustige, Freudige, Fröhliche, Vergnügte, ingleichen Freche, Trotzige, Verwegne, u.s.w.“ „Mit diesen die Bewegungen eigentlich anzeigenden Wörtern pfleget man öfters noch eine, den Charakter, oder den Affekt des Stückes u. bezeichnende Partikel zu verbinden …“79 Cantabile soll wie arioso80 sein und Grave besitzt einen ernsthaften Charakter. Es folgen noch viele interessante Informationen, wegen der musikalischen Grundlagen, die Marpurg sehr detailliert betrachtet, aber nicht alle werden für die Analyse der Fantasien gebraucht81. „Man ist immer am besten daran, wenn man aus der Quelle schöpfen kann“82. Dieses Zitat von William S. Newman befindet sich im Vorwort zur Neuausgabe der Autobiographie Carl Philipp Emanuel Bachs. Dem Gedanke folgend, sollte man genau zur Quelle gehen, die Informationen und Anweisungen aus der ersten Hand zu bekommen. Wenn es sich um Fantasien von Carl Philipp (und auch von seinem Bruder) handelt, gibt es nichts Besseres als seinen Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen aus dem Jahre 1753/1762. Im dritten Hauptstück des ersten Bandes, befindet sich ein Artikel Vom Vortrage. Dort gibt es, in den Paragraphen 5 und 10, Beschreibungen über die Art des Allegro und Adagio: „Die Lebhaftigkeit des Allegro wird gemeiniglich in gestossenen Noten und das Zärtliche des Adagio in getragenen und geschleiften Noten vorgestellet. Man hat also beym Vortrage darauf zu sehen, dass diese Art und Eigenschaft des Allegro und Adagio in Obacht genommen werde, wenn auch dieses bey den Stücken nicht angedeutet ist…“. „Der Grad der Bewegung läßt sich so wohl nach dem Inhalte des Stückes überhaupt, den man durch gewisse bekannte italiänische Kunstwörter anzuzeigen 79 Ebenda, S. 17, § 3. Arioso bedeutet sangbar. 81 Die Autorin empfiehlt aber den Lesern die weitere Lektüre dieses Buches. 82 Siehe: Autobiographie und Verzeichniß des musikalischen Nachlasses von Carl Philipp Emanuel Bach, Faksimiles of Early Biographies, Vol.4, Buren 1991. 80 52 pflegt, als besonders aus den geschwindesten Noten und Figuren darinnen beurtheilen. Bey dieser Untersuchung wird man sich in den Stand setzen, weder in Allegro übereilend, noch im Adagio zu schläfrig zu werden“. Es ist zwar eine nicht so detaillierte und ausführliche Erklärung der Arten von Adagio und Allegro (und deren verschiedenen Schilderungen), wie es bei den anderen Komponisten und Theoretikern war, genügt aber als allgemeine Vorstellung des jeder Art nötigen Charakters. Wahrscheinlich dachte er, dass es schon genug Traktaten und Quellen gab, die sehr genau diese Aspekte der Musik behandelten. Dazu gehört die nächste Quelle, aus der es nützliche Informationen zum Ausbringen gibt. Es handelt sich um die Clavierschule oder Anweisung zum Clavierspielen für Lehrer und Lernende (1789) von Daniel Gottlob Türk. Wie Quantz gibt auch Türk sehr ausführliche Informationen zu der Bewegung83 in den Musikstücken. Es handelt sich um den Ausdruck „der verschiedenen Leidenschaften und Empfindungen, nach allen ihren Modifikationen, unter andern vorzüglich die geschwindere oder langsamere Bewegung viel beyträgt, so hat man auch mehrere Grade derselben angenommen, und zu deren Bestimmung verschiedene größtentheils italiänische Worte gewählt“84. Türk beschreibt sehr genau alle, zu seiner Zeit, vorhandenen Bezeichnungen85. „Presto, geschwind; Allegro, hurtig, d. h. nicht ganz so geschwind als Presto;…Vivace, lebhaft;…Moderato, mäßig;…Andante, eigentlich gehend, schrittmäßig…Grave, ernsthaft, folglich mehr oder weniger langsam; Adagio, langsam; Lento, desgleichen, doch nicht immer ganz so langsam, als Adagio; Largo, eigentlich weit, geräumig, gedehnt, folglich langsam;“ ……“ Prestissimo, sehr, äußerst geschwind, am allergeschwindesten;“….“ Allegretto, weniger hur- 83 Zu der Bewegung in der Musik gehören, laut Türk, das Zeitmaß, das Tempo, Mouvement und die Mensur. 84 Daniel Gottlob Türk, Clavierschule oder Anweisung zum Clavierspielen für Lehrer und Lernende, Leipzig und Halle1789, Faksimile-Nachdruck, Kassel 1997, S. 108, § 69. 85 In dieser Arbeit, wie es schon früher erwähnt wurde, werden nur die Benennungen zitiert, die in Clavier-Fantasien von Friedemann und Emanuel auftreten. 53 tig;…Andantino, ein wenig, folglich nicht stark gehend, d. h. etwas langsamer, als Andante;“….“Cantabile, singend;“….“Furioso, wüthend;“86. Im fünften Abschnitt des ersten Kapitels beschreibt Türk noch viele andere musikalische Ausdrücke, zwischen denen auch Tenuto (gehalten, ausgehalten) vorkommt. Dieser Ausdruck wird in der letzten Fantasie (fis-Moll Wq 67) von Carl Philipp Emanuel Bach erwähnt. Charakteristik der Tonarten Die folgenden Fantasien von Wilhelm Friedemann (a-Moll F. 23, d-Moll F. 19, eMoll F. 21, c-Moll F. 15, c-Moll F. 16) und von Carl Philipp (Es-Dur und A-Dur Wq 58/6/7, F-Dur und C-Dur Wq 59/5/6, B-Dur und C-Dur Wq 61/3/6 und fisMoll Wq 67) wurden zu der Analyse gewählt. Es ergeben sich zehn verschiedene Tonarten, die auch unterschiedlichen Charakter, laut verschiedenen Quellen, besitzen sollten. Wenn man viele Informationen über die Charakteristik der Tonarten finden will, ist es am besten zu dem Werk „Das neu eröffnete Orchestre“ (1713) von Johann Mattheson zu greifen. Der Autor stellt in sehr detaillierten Beschreibungen die allgemeinen Unterschiede zwischen Moll- und Dur-Tonarten vor, aber auch innerhalb dieser. Zu C-Dur schreibt er: „hat eine ziemliche rude und freche Eigenschafft, wird aber zu Rejouissancen, und wo man sonst der Freude ihren Lauff läst, nicht ungeschickt sein“… Man kann es zu „gar was charmantes … und füglich auch in tendren Fällen anbringen“87. Die nächste Tonart ist c-Moll, auch sie wurde von Mattheson exakt beschrieben: „ist ein überauslieblicher, dabei auch trister Thon“88, und könnte laut Mattheson auch zu den munteren Stücken benutzt werden. Die dritte Tonart, die in ausgewählten Fantasien vorkommt, ist d-Moll, die „etwas devotes, ruhiges, dabei auch etwas grosses, angenehmes und zufriedenes enthalte“89. Wenn es um die Tonart Es-Dur geht, hat 86 87 Türk, S. 108, § 70, § 78. Johann Mattheson, Das Neu=Eröffnete Orchestre“, Hamburg 1713, Faksimile-Nachdruck, Hildesheim, Zürich, New York, 1993, S. 240, § 12. 88 Ebenda, S. 244, § 16. 89 Ebenda, S. 236, § 7. 54 sie „viel pathetisches a sich; will mit nichts als ernsthafften und dabey plaintiven Sachen gerne zu thun haben“90. Der Autor beschreibt sie auch als einen Feind aller Üppigkeit. Die Tonart e-Moll ist als etwas tiefdenkendes, trauriges und betrübtes, was auch hurtig sein kann, aber nicht im Sinne von lustig91. Als Nächste kommt die Tonart F-Dur, von der Mattheson folgendes schreibt: „ist capable die schönsten Sentiments von der Welt zu exprimiren; es sei nun Großmuth, Standthaftigkeit, Liebe…“92. Die nächste Tonart ist fis-Moll. Sie wurde, als etwas, das zu einer großen Betrübnis leitend, etwas Misanthropisches und Verliebtes bezeichnet.93 „A-Dur greifft sehr an, ob er gleich brilliret, und ist mehr zu klagenden und traurigen Passionen … geneigt“94. Es bleiben nur noch zwei Tonarten, a-Moll und BDur, zu beschreiben. Die erste ist laut Mattheson zu der Instrumental-, und Klaviermusik sehr geeignet. Ihre Natur sollte was Klagendes und gelassenes haben, wobei es sei nichts Unangenehmes95. Die letzte, B-Dur Tonart sollte prächtig, unterhaltend, aber dabei modest sein96. Es gab natürlich auch andere Komponisten, Theoretiker und Künstler, die über Musik geschrieben haben. Einer der wichtigsten war Johann Joachim Quantz, von dem es auch eine Beschreibung der Tonarten gibt. Leider nicht so ausführlich wie bei Mattheson. Es sind nur zwei Abschnitte aus dem Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, in XIV. und in XVII. Hauptstück. Die erste Beschreibung bezieht sich auf die Arten der langsamen Stücke. „Einige sind sehr langsam und traurig: andere aber etwas lebhafter, und deswegen mehr gefällig und angenehm. Zu beyden Arten trägt die Tonart … sehr viel bey. A-Moll, C-Moll, Dis-Dur und F-Moll, drücken den traurigen Affect viel mehr aus, als andere Moll-töne … Hingegen werden die übrigen Moll- und Durtöne, zu den gefälligen, singenden, und ariosen Stücken gebrauchet“97. 90 Ebenda, S.249, § 19. Ebenda, S. 239, § 11. 92 Ebenda, S. 241, § 13. 93 Ebenda, S. 251, § 23. 94 Ebenda, S. 250, § 20. 95 Ebenda, S. 238, § 10. 96 Ebenda, S. 249, § 18. 97 Quantz, Versuch, XIV. Hauptstück, § 6, S. 138. 91 55 Die zweite Beschreibung bezieht sich auf die Streichinstrumente und das Spiel mit „Dämpfer und Sordinen“: „Bey einigen Stücken pfleget man Dämpfer oder Sordinen auf die Violine, Bratsche, und, den Violoncell zu setzen: um so wohl den Affect der Liebe, Zärtlichkeit, Schmeicheley, Traurigkeit, auch wohl, wenn der Componist ein Stück darnach einzurichten weis, eine wüthende Gemüthsbewegung, als die Verwegenheit, Raserey und Verzweifelung, desto lebhafter auszudrücken: wozu gewisse Tonarten, als: E-Moll, C-Moll, F-Moll, Es-Dur, H-Moll, A-Dur, und E-Dur, ein vieles beytragen können“98. Bei der Analyse des Musikstückes werden nicht nur das Feststellen des Charakters und Übersetzen von fachlichen Ausdrücken nötig. Es braucht natürlich viel mehr von musikalischer und wissenschaftlicher Kenntnis, das Stück, und vor allem solche Stücke wie die Klavierfantasien von den Bach-Brüdern, mit der richtigen Interpretation zum Spielen vorzubereiten. So wie Sorge in seinem Vorgemacht der musicalischen Composition schreibt: „Wohlan dann! mein geliebter Clavier-Schüler! der du Lust hast, den GeneralBaß zu studiren, und durch denselben so gleich einen guten Grund in der musicalischen Setz-Kunst zu legen, oder in den Stand zu kommen, so gleich ex tempore, wann man es von dir fordert, etwas tüchtiges aus dem Kopffe zu spielen, ich muss dir vor allen Dinge sagen, daß das Studium Bassi generalis eben nicht vor pure Anfänger der weitläuffigen Music gehöre.“99 Es braucht große Kenntnisse in verschiedenen Abschnitten der Musik. Eine der wichtigsten Sachen bei der Analyse ist die Kunst des Verzierens. Es werden die zahlreichen Verzierungen, die in den Fantasien von Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann vorkommen, in einigen Analyse-Stücken ausgesucht und beschrieben. Die Informationen und Ideen wegen der Möglichkeiten und Lö98 Ebenda, XVII. Hauptstück, § 29, S. 203. Georg Andreas Sorge, Vorgemach der musicalischen Composition, Lobenstein 1745, Kap. II, S. 5, § 1. 99 56 sungen der Manieren, werden auf dem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, von Carl Philipp Emanuel Bach basieren. Es gibt keine bessere Quelle, die uns so viel über die Kunst des Verzierens in Clavier-Stücken, von oben genannten Komponisten, vermittelt könnte. Die Vielfalt der Beschreibungen und zahlreiche Beispiele aus den Tabellen (aus Versuch…) bereiten die fertigen Antworte auf viele aufführungspraktische Fragen. Von den Vorschlägen Im Paragraph 1 des „bachischen" Versuchs, erläutert der Komponist die nötigsten aller Manieren, die Vorschläge. So schreibt Carl Philipp Emanuel Bach: „Sie verbessern so wohl die Melodie als auch die Harmonie“100. Es gibt zwei Arten von Vorschlägen: „Die Vorschläge werden theils andern Noten gleich geschrieben und in den Tackt mit eingetheilt, theils werden sie durch kleine Nötgen besonders angedeutet“101. Wenn es sich um unsere Analyse-Stücke handelt, so befinden sich in denen meistens die Vorschläge der zweiten Art (also mit kleinen Noten geschrieben), die entweder unterschiedliche Länge haben oder immer kurz ausgeführt werden. Es sollte immer die Vorschlagsnote stärker als die nach ihr kommende Note sein. Wegen der Geltung des Vorschlages schreibt Bach folgendes: „Nach der gewöhnlichen Regel … finden wir, daß sie die Hälffte von einer folgenden Note, welche gleiche Theile hat, und bey ungleichen Teilen zwei Drittheile bekommen“102 (Notenbeispiel 19/4, Tab. III, Fig. V a/b). 100 Bach, Versuch, S. 62. Ebenda, S. 63, § 2. 102 Ebenda, S. 65, § 11. 101 57 Notenbeispiel 19/4 Nachdem alle wichtigsten Punkte über den Vorschlag aufgeschrieben wurden, sollte man die Beispiele für die wichtigsten Manieren überhaupt (laut Carl Philipp Emanuel Bach) in den Klavierfantasien aussuchen. Zum Exempel in der Fantasie a-Moll F. 23103. Auf der ersten Note des Adagio (nach der Einleitung), kommt der Vorschlag (Notenbeispiel 20/4). Weil eine gleichteilige Note nach der Verzierung kommt, übernimmt sie die Hälfte des folgenden Tones. Notenbeispiel 20/4 Das nächste sehr interessante Beispiel (Notenbeispiel 21/4) befindet sich in der Fantasie e-Moll F. 21, im vierten Takt des zweiten Abschnitts (Recitativ, Takt Nr.10). Notenbeispiel 21/4 103 Die Bezeichnung F. für Stücke von Wilhelm Friedemann und Wq für Stücke von Carl Philipp Emanuel Bach vorweisen deutlich genug auf die Autorenschaft der Fantasien. Es wird deswegen nicht jedes Mal wiederholt, von wem die analysierten Stücke stammen. 58 Laut Grundregel sollte die Vorschlagsnote die Hälfte der Länge der folgenden Note übernehmen. In dem Fall muss man auch auf den Charakter des Abschnittes achten. Im Rezitativ herrschen andere Regeln, es ist nicht regelmäßig im Tempo und von gleichem Ausdruck. Es ist gleich, wie im Gesang, in Rezitativen wird geachtet, dass der Text und seine Deutung auf dem ersten Platz betrachtet werden. Rezitierender Abschnitt hat einen freien Charakter, deswegen werden die Vorschläge mehr als Hälfte von nächster Note übernehmen. Im Paragraph 16 der zweiten Abteilung des Versuches (Von den Vorschlägen) , schreibt Bach: „… kommen zuweilen Fälle vor, wo der Vorschlag wegen des Affects länger, als gewöhnlich gehalten wird, und folglich mehr als die Hälffte von der folgenden Note bekommt … dann und wann muß man aus der Harmonie die Geltung der Vorschläge bestimmen“. Dies bestätigt das Beispiel (22/4) aus Tabelle IV (aus dem Versuch Bachs). Notenbeispiel 22/4 Aus demselben Stück kommt noch ein Exempel (23/4), das man sich merken sollte. Im ersten Takt des ersten Andantino befindet sich eine Vorschlagsnote, die vor einer Sechszehntel-Triole steht. Notenbeispiel 23/4. Wegen der Realisation des Beispiels (24/4) sollte man wieder zu den Tabellen Bachs schauen. In der Tabelle III, Fig. IX d, finden wir die perfekte Lösung. 59 Notenbeispiel 24/4 Warum sollte man es genauso lösen? Die Antwort ist einfach: Andantino soll nicht zu schnell gespielt werden, dafür hat man Möglichkeit mehr Affekt einzubringen. Außerdem sollte die Triole ihren Charakter auch nicht verlieren. In Paragraf 22 des Abschnittes über Vorschläge schreibt Bach: „Die Noten nach den Vorschlägen, ohngeachtet sie von ihrem Wehrte etwas einbüssen, verlieren doch nicht ihre Manier, wenn eine drüber steht“. Als Nächstes kommt der Triller, als die zweite Verzierung. In der dritten Abteilung über das Trillern, lesen wir, dass „die Triller beleben den Gesang, und sind also unentbehrlich. Vor diesem brauchte man sie nicht leichte eher, als nach einem Vorschlage, oder bey Wiederholung der vorigen Note; im ersten Falle heißt man sie angeschlossene Triller“104. Bach erwähnt auch, dass die Triller sowohl bei gehenden, wie bei springenden Noten vorkommen, dass sie oft hintereinander und bei Kadenzen oder langen Haltungen zu sehen sind. Auch über Fermaten. Es gibt verschiedene Arten von Trillern: er kann ordentlich sein (Notenbeispiel 25/4), kann auch von unten, von oben kommen. Es gibt auch den Halb-, oder Prall-Triller. 104 Bach, Versuch, S. 71, § 1. 60 Notenbeispiel 25/4 „Zuweilen werden zwei Nötgen noch zuletzt von unten auf angehängt, welche der Nachschlag heissen, und den Triller noch lebhafter machen“105. Der Nachschlag wird auch manchmal aufgeschrieben oder durch andere Zeichen angezeigt (unten befinden sich Exempel für alle oben beschriebenen Nachschläge; Notenbeispiel 26/4). Notenbeispiel 26/4 In der Fantasie c-Moll F. 15 schon am Anfang findet man den Triller mit Nachschlag, zum Beispiel im zweiten Takt Grave (Notenbeispiel 27/4). Notenbeispiel 27/4 Der Halb-, oder Prall-Triller ist kürzer und schärfer, als ein normaler Triller und „… kann nicht anders, als vor einer fallenden Secunde vorkommen“ (Notenbei- 105 Bach, Versuch, S. 72, § 6. 61 spiel 28/4) „man findet ihn über kurzen Noten, oder solchen welche durch einen Vorschlag kurz werden“ (Notenbeispiel 29/4)106. Notenbeispiel 28/4 Notenbeispiel 29/4 In der Fantasie C-Dur Wq 59/6 befindet sich ein perfektes Beispiel (30/4) für einen Prall-Triller, im Takt 36 des Allegretto. Notenbeispiel 30/4 Von dem Doppelschlage. Vierte Abtheilung. „Der Doppelschlag ist eine leichte Manier, welche den Gesang zugleich angenehm und glänzend macht.“107(Notenbeispiel 31/4). Diese Manier finden wir in langsamen und in schnellen Stücken. Er kann allein über einer Note auftreten, es ist aber auch möglich, dass er neben dem Prall-Triller vorkommt. 106 107 Ebenda, S. 83, § 34. Ebenda, S. 85, § 1. 62 Notenbeispiel 31/4 Das Zeichen des Doppelschlags ist, laut Carl Philipp Emanuel Bach, außerhalb der Klaviermusik nicht sehr bekannt. Es sind oft andere Zeichen im Einsatz (Notenbeispiel 32/4). Notenbeispiel 32/4 „Der Doppelschlag allein kommt auch nach einer Note oder Vorschlag vor, und zwar restlich, wenn solche etwas lang sind, zweytens, bey einer Bindung, und drittens, wenn Punckte nachfolgen“108 (Notenbeispiel 33/4) Notenbeispiel 33/4 108 Ebenda, S. 90, § 21. 63 Es gibt auch einen Doppelschlag von unten, das heißt, dass vor der Note und dem Zeichen, zwei kleine „Nötgen“ stehen. Eine ausgeschriebene Ausführung befindet sich in Tabelle V, bei Figur LXXI (Notenbeispiel 34/4). Notenbeispiel 34/4 Die Beispiele von Doppelschlägen in den Fantasien von den Gebrüdern Bach sind sehr zahlreich. Unter anderen in der Fantasie F-Dur Wq 59/5 (Notenbeispiel 35/4), in der Fantasie fis-Moll Wq 67 (Notenbeispiel 36/4) und in der Fantasie e-Moll F. 21 (Notenbeispiel 37/4). Notenbeispiel 35/4 64 Notenbeispiel 36/4 In diesem Stück (fis-Moll) gibt es sehr viele Beispiele für einfache Doppelschläge, für den Doppelschlag mit dem Triller (oder auch mit Prall-Triller), Doppelschlag vor dem großen Sprung und viele andere. Notenbeispiel 37/4 Im Beispiel 37/4 gibt es ein anderes Zeichen für den Doppelschlag als bei den zwei Fantasien Carl Philipp Emanuel Bachs. Es ist nirgendwo in Bachs Tabellen zu finden, aber es sollte nicht viel anders ausgeführt werden. Es könnte sein, dass es sich hier um einen Doppelschlag von unten oder um einen in Verbindung mit einem Mordent handelt. Die Autorin der Arbeit empfiehlt den Doppelschlag von unten zu spielen. Das kooperiert sehr gut mit dem Charakter des Abschnittes, welches ein Furioso ist. Es ist sehr hilfreich, um den Charakter des 65 Stückes besser zu unterstützen, wenn man die vorherige Note bei dem Doppelschlag von unten (es werden zweimal h1) wiederholt. Die nächste Abteilung des Versuches von Bach behandelt den Mordent. Carl Philipp Emanuel Bach beschreibt ihn, sowie alle andere Manieren, sehr ausführlich. Der Leser bekommt eine vollständige Kenntnis im Bereich Verzierungen. Es bezieht sich nicht nur auf die Klaviermusik (im Sinne, Musik für Tasteninstrumente), ganz im Gegenteil. Bach betrachtet die Manieren erweitert und schenkt dem Leser die nötigen Grundlagen zur weiteren Selbstentwicklung. „Der Mordent ist eine nöthige Manier, welche die Noten zusammen hängt, ausfüllet und ihnen einen Glanz giebt. Er ist bald lang, bald kurz.“109 (Notenbeispiel 38/4). Notenbeispiel 38/4 Es gibt noch eine andere Art von Mordenten. Diese sollten sehr kurz aufgeführt werden (Notenbeispiel 39/4). Die beiden Noten sind gleichzeitig zu spielen, es wird aber nur die obere Note angehalten. Der kürzere Notenwert muss sofort nach dem er gespielt wurde aufgehoben werden. Notenbeispiel 39/4 „Der Mordent nach einem Vorschlage wird nach der Regel des Vortrags der Vorschläge leise gemacht“110. Er kommt sehr oft in der Bassstimme vor, vor al109 110 Ebenda, S. 80, § 1. Ebenda, S. 81, § 6. 66 lem über Noten, die aufsteigen, springen, aber auch bei den Kadenzen. (Notenbeispiel 40/4). Bach empfiehlt für das untere Beispiel eine bestimmte Fingersetzung. Er schreibt sie sogar auf. Laut Bach sind Mordent und Prall-Triller „zwey entgegengesetzte Manieren … .Der letzte kan nur auf eine Art, nehmlich bey einer fallenden Secunde angebracht werden, wo gar niemahls ein Mordent statt hat. Das einzige haben sie miteinander gemein, dass sie beyderseits in die Secunde hineinschleiffen, der Mordent im hinaufsteigen, und der Prall=Triller im heruntengehen“111 Notenbeispiel 40/4 In den Clavier-Fantasien von Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel Bach, die für diese Arbeit sorgfältig ausgewählt wurden, findet man nur ein Stück, in dem das Mordent-Zeichen vorkommt, und zwar in der Fantasie a-Moll F. 23 (Notenbeispiel 41/4). Schon am Anfang des Stückes im ersten „Takt“ (eigentlich ist der erste Teil ohne Taktstriche komponiert) finden wir den Mordent. In dem Fall ist er mit der Fermate verbunden (über Fermaten und deren Verzieren wird in Kürze gesprochen). Notenbeispiel 41/4 Natürlich bedeutet es nicht, dass man auf diese Manier verzichten sollte. Es bedeutet nur, dass der Spieler selbst (nachdem er schon so viele Kenntnisse in diesem Bereich besitzt) rausfinden sollte, an welchen Stellen so eine Manier, 111 Ebenda, S. 84, § 14. 67 wie Mordent passen könnte. Die Autorin hat ihre eigene Wahl getroffen. In Fantasie c-Moll F. 15, gibt es einige Fragmente, in denen man sehr erfolgreich Mordente einführen kann (Notenbeispiele 42/4 und 43/4). Notenbeispiel 42/4 (Takte 266-269)) Den Mordent kann man, wie im oberen Beispiel, auf der ersten Note im Bass im Takt 267 (g1) und gleich im Takt 269 (c) platzieren. Notenbeispiel 43/4 (Takte 301/302) Auch in diesem Exempel sollte man den Mordent in der Bassstimme aufführen, und zwar, auf der ersten Note im Takt 302. Die Lösung ist strikt auf die Regeln Bachs abgestimmt. Von dem Anschlage „Wenn man statt einen Ton simpel anzugeben, die vorige Note noch einmahl wiederhohlet, und alsdann mit einer Secunde von oben in die folgende herunter geht; oder wenn man statt diese vorhergehende Note zu wiederholen, die Un- 68 tersecunde von der folgenden zuerst anschläget, und darauf mit der Secunde von oben in dieselbe geht: so nennet man dieses den Anschlag“.112 Diese ein wenig komplizierte und nicht auf den ersten Blick klar erkennbare Beschreibung lässt sich am besten mit einem Notenbeispiel erklären (Notenbeispiel 44/4). Notenbeispiel 44/4 Die kleinen Noten sollten immer schwächer, leiser und leichter als die Hauptnote sein. Bach gibt auch dafür einen Notenbeispiel (Notenbeispiel 45/4), die ganzen manchmal sehr komplizierten Beschreibungen ein wenig verständlicher für den Leser zu machen. Notenbeispiel 45/4 „Ausser diesem Falle kan der Anschlag mit dem Tertien=Sprunge bey allen … befindlichen Exempeln ebenfalls statt haben. Man findet ihn auch bey einzelnen Noten zwischen Pausen … und bey der Wiederholung eines Tones vor einer fallenden Secunde“113 (Notenbeispiele 46/4 und 47/4). 112 113 Ebenda, S. 85, § 1. Ebenda, S. 86, § 6. 69 Carl Philipp Emanuel Bach erwähnt, dass es oft der Fall ist, dass der Anschlag (Verzierung) viel natürlicher ist als wenn ein Doppelschlag verwendet wird. Man benutzt ihn auch in langsamen Tempi, da er viel deutlicher, als Doppelschlag, die Dissonanzen vermindert. Notenbeispiel 46/4 Notenbeispiel 47/4 „Bey der Andeutung dieser Manier habe ich mit Fleiß die Art, um sie kennen zu lernen, beibehalten, vermöge welcher man diese Manier durch einen bloßen Vorschlag nicht deutlich genug andeutet. Je mehr Affeckt der Gedancke enthält und je langsamer das Tempo ist, desto länger hält man den Punckt, wie wir unter dieser Figur bey NB. (Notenbeispiel) sehen.“ (Notenbeispiel 48/4). Notenbeispiel 48/4 In der Fantasie c-Moll F. 15 befinden sich zwei Beispiele für den Anschlag. Erster versteckte sich in Cantabile im Takt 191 (Notenbeispiel 49/4). Weil es ein langsamer Abschnitt ist, wird auch die Aufführung der Manier dem entsprechend langsamer. Ein zweites Mal kommt der Anschlag im Grave vor. Diesmal ist es kein einfacher sondern ein doppelter Anschlag (Notenbeispiel 50/4). Aus 70 geführt wird er durch gleichzeitiges Spielen von erster Anschlagsnote und untere Note des Doppelgriffes. Notenbeispiel 49/4 Notenbeispiel 50/4 Die weiteren Manieren, die Carl Philipp Emanuel Bach in seinem Versuch beschreibt sind Schleiffer und Schneller. Die ersten „kommen ohne und mit einem Punckte. Ihr Vortrag liegt im Worte angedeutet. Sie machen die Gedancken fliessend“…“ Die Schleifer ohne Punckte bestehen theils aus zweyen, theils aus dreyen Nötgen, welche man vor der Haupt-Note anschläget“. (Notenbeispiel 51/4). Schleiffer mit Punkten stellt der Autor dem Leser folgendermaßen vor: Notenbeispiel 51/4 Wie es im Notenbeispiel zu sehen ist, kommen die Schleiffer immer auf dem Schlag. Bach erwähnt noch verschiedene Arten von Schleiffern. Je nachdem in welchem Charakter das Stück gehalten ist ändern sie ihre Geschwindigkeit (Notenbeispiel 52/4). 71 Notenbeispiel 52/4 Bemerkenswert ist, dass manche Schleiffer durch kleine Noten bezeichnet sind und manche besitzen ein ähnliches oder das gleiche Zeichen wie für einen Doppelschlag. Notenbeispiel 53/4 Das obere Beispiel (Notenbeispiel 53/4) stellt die zweite Art von Schleiffern dar. Es sind die Schleiffer mit den Punkten. Über die Ausführung dieser Manier schrieb Bach: „Seine Einteilung ist so verschieden als bey keiner andern Manier. Sie wird ebenfalls durch den Affeckt bestimmt. Ich habe deswegen in den Probe-Stücken bey dieser Maniere eben so wohl, als bey dem Anschlage … die Andeutung, auch zuweilen die Ausführung so deutlich als es nur möglich gewesen ist, ausgedrückt“.114 (Notenbeispiel 54/4). Notenbeispiel 54/4 114 Ebenda, S. 110, § 12. 72 Die letzte Manier, die noch zu erwähnen ist, ist der Schneller (Notenbeispiel 55/4). Er ist, laut Beschreibung im Versuch, ein Mordent in der Gegenbewegung, dessen höchsten Ton man schnellt, und die übrigen beyden mit dem steiffen Finger vorträget““. Der Schneller wird, so wie es dem Namen zu entnehmen ist, immer schnell und durch gestoßene und geschwinde Noten ausgeführt. „Er thut in der Geschwindigkeit die Würkung eines Trillers ohne Nachschlag, und gleichwie der letztere mit dem Nachschlage eine steigende Folge liebt, so mag der Schneller gerne herunter gehende Noten nach sich haben…“115 Notenbeispiel 55/4 „Er muss sehr geschickt ausgeübt werden, weil er sich sonst nicht gut ausnimmt“. Bei den ausgewählten Fantasien trifft man leider kein Beispiel für den Schleiffer. In der C-Dur Fantasie Wq 61/6 aus der Sechsten Sammlung für Kenner und Liebhaber befinden sich zwei Stellen, wo man den Schneller merken kann. Es sind dies der 4. und der 157.Takt (Notenbeispiel 56/4). Die beiden Stellen sind gleich, es wird einfach der erste Abschnitt (Presto di molto) am Ende des Stückes wiederholt. Hier ergeben sich keine aufführungspraktischen Probleme. 115 Ebenda, S. 111f, § 3/4. 73 Notenbeispiel 56/4 Es gibt noch immer einige Aspekte, die in dieser Analyse ihren Platz finden sollten. Es handelt sich unter anderen um die Ausführung von Fermaten. Im Allgemeinen ist es sehr wichtig die richtige Art der Fermate zu erkennen. Es ist nicht immer nur als Pause, als Anhalten des Tons oder der Melodie erkennbar. Ganz oft kommt es vor, dass die Fermate ein Zeichen für eine Kadenz, für das Verzieren des Tons, über dem sie steht aber auch als Überleitung zu einem anderen Teil oder einem neuen Gedanken steht. Es gibt natürlich bestimmte Regeln, die dem Spieler helfen können die richtige Antwort zu finden. Man kann in verschiedenen Quellen, in Lehrwerken (wie z. B. Klavierschulen), in allumfassenden Theorie-Traktaten des 18. Jahrhunderts suchen. Die zwei Zitate, die sich unten befinden, wurden nur ausgesucht um einen allgemeinen Überblick zu erhalten. „Wenn über oder unter eine Pause das Zeichen eines halben Bogens, mit einem darunter befindlichen Puncte gesetzet wird: so zeiget solche an, dass man daselbst nach Gefallen etwas anhalten kann“116 „Fermata ist eine Haltung, oder Ruhezeichen … Ist der Fall in einer Concertstimme, so hat der Concertist die Freiheit, eine beliebige und willkürliche Aus116 Marpurg, Anleitung, S. 26. 74 führung, darüber zu machen, als einen Triller; einige dahin passende Noten, oder Gänge“117 Bei so einem eng beschränkten Thema, wo es sich hauptsächlich um bestimmte, sorgfältig zusammengeführte Musikstücke von konkreten Komponisten handelt, ist es empfehlenswert, wo es möglich ist, auf die Hauptquelle zurück zu greifen. Wenn man Glück hat und der eine oder andere ausgewählte Komponist nicht nur sein Musikschaffen den zukünftigen Darstellern überlassen hat, sondern auch die Musikschriften oder die großen Lehrwerke (wie es bei Carl Philipp Emanuel Bach der Fall ist), dann kann man sich sehr gründlich und mit konkreten Anweisungen des Komponisten, mit den jeweiligen Werken beschäftigen. Leider wurden keine Schriften und keine Traktate von Wilhelm Friedemann Bach überliefert. Wer mehr über die aufführungspraktische Seite seiner Musik erfahren will, sollte entweder nur mit dem Notentext arbeiten oder aus den anderen historischen Quellen schöpfen. Zu den adäquatesten Quellen gehört mit Sicherheit der Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen von Carl Philipp Emanuel Bach. Er ist im Jahre 1753 (2. Teil 1762) entstanden und beschreibt sehr exakt alle Aspekte der Aufführungspraxis in der zweiten Hälfte 18. Jahrhunderts. Zum konkreten Thema, welches über die Fermaten handelt, befinden sich sehr genaue und detaillierte Beschreibungen in diesem Werk. Carl Philipp schreibt sehr interessant über die Fermaten und die Art, sie zu verzieren. „Sie erwecken eine besondere Aufmerksamkeit. Man deutet sie durch das gewöhnliche Zeichen eines Bogens mit einem Punckte darunter an und hält so lange dabey stille, als es ohngefehr der Inhalt des Stückes erfordert“118. Es existieren drei verschiedene Arten von Fermaten. Bei der ersten sollte man an der vorletzten oder an der letzten Note des Basses halten oder nach diesen 117 Johann George Tromlitz, Ausführlicher und Gründlicher Unterricht die Flöte zu spielen, Leipzig 1791, IV. Capitel, S. 98, § 10. 118 Bach, Versuch, S. 112f, §1-3. 75 Noten auf der Pause. Er erwähnt, dass die Fermaten über die Pausen mehrmals in Allegro vorkommen und sollten ganz einfach vorgetragen werden. Was die zwei anderen Arten von Fermate betrifft, sind diese meistens in langsamen und sehr „affecktuösen“ Stücken zu finden. Man sollte die beiden Arten verzieren, sonst „fällt man in den Fehler der Einfalt“. Carl Philipp Emanuel Bach platziert in seinen Tabellen nicht nur Manieren und ihre Lösungen, sondern auch Beispiele, wie man die Fermaten zweiter und dritter Art verzieren sollte (Notenbeispiel 57/4). Notenbeispiel 57/4 76 „Diese Exempeln erfordern eine langsame oder wenigstens gemäßigte Zeitmaaß. Da diese Verzierungen allezeit ein Verhältnis mit dem Affeckte des Stückes haben müssen, so kann man sie mit Nutzen brauchen, wenn man auf diesen Affeckt genaue Achtung giebt. Aus der Bezifferung des Basses lassen sich die übrigen ähnlichen Fälle dieser Fermaten leicht entdecken“119. Man kann natürlich von den Beispielen Bachs sehr viel lernen und viel profitieren. Es wäre aber viel besser, wenn jeder ganz alleine die Fermaten verzieren könnte. Es ist für die Musiker, die sich viel, oder ausschließlich mit der Alten Musik beschäftigen, die einzige Lösung, solche Stellen selber zu verzieren. Es war damals ganz üblich, dass jeder Künstler das Verzieren der Fermaten oder das Ausdenken von Kadenzen, als etwas Normales betrachtet hat. Es gab natürlich auch diejenige, die eine solche Kunst nicht ausüben wollten, oder konnten. Es waren aber ganz seltene Fälle. Wenn es um Fermaten in Fantasien geht, gibt es mehrere Beispiele von solchen, die man verzieren sollte. Das erste betrachtete Stück ist die Fantasie aMoll F. 23. In den ersten Klängen ergibt sich der sehr improvisatorische Charakter des Stückes. Obwohl die Fermate über der Note steht, sollte sie nicht verziert werden. Sie besitzet schon einen Mordent, es ist aber nicht der einzige Grund sie nicht zu „verschönern“ wollen. Kurz danach kommen improvisierende Läufe in der rechten Hand. Wenn man noch dazu die Fermate verziert, könnte es vom schlechten Geschmack sprechen (Notenbeispiel 58/4). Notenbeispiel 58/4 119 Ebenda, S. 113f, § 5. 77 Die andere Fantasie von Wilhelm Friedemann e-Moll F. 21 besitzt fünf Stellen mit einer Fermate, die viermal über der Note steht und einmal über der Pause. Die ersten zwei Fermaten sind die üblichen, die nicht zum Verzieren geeignet sind (Notenbeispiele 59/4 und 60/4). Die dritte Stelle (Notenbeispiel 61/4) befindet sich vor dem letzten Grave. Es steht die Fermate über der Pause, die, laut Bericht Bachs, verziert sein müsste. In dem Fall sollte die Verzierung (eigentlich Kadenz), als Überleitung zum Grave dienen. Es könnte Elemente von Prestissimo nützen, aber schon im Charakter des nächsten Abschnitts. Die vierte kommt schon in der ersten Takten des Grave. Es ist auch die Fermate über der Note und wird auch nicht verziert (Notenbeispiel 62/4). Natürlich ist es möglich, einen Doppelschlag, vielleicht noch mit Triller dazu zu spielen, aber nicht mehr. Erstens ist es Mitte des Grave, und es hätte musikalisch nicht viel Sinn, und zweitens, es gab kurz davor eine verzierte Fermate und es nicht mehr vom guten Geschmäcke wäre. Ganz am Ende des Stückes vor (Notenbeispiel 63/4). Es ist harmonisch und musikalisch ganz klar, dass es die Stelle für eine freie Kadenz ist. In der Notenausgabe von Schott gibt es zwei Kadenzvorschläge des Herausgebers. Es ist natürlich die Frage, ob der Spieler kreativ sein will, und wird selbst sich etwas einfallen lassen, oder benutzt die fertigen Lösungen. Mit der ganzen Kenntnisse und Vielfalt der Quellen, könnte man denken, dass es jeder auf die Idee kommt, ein wenig kreativ zu sein. Zu Beurteilung, jedem Künstler gelassen. Notenbeispiel 59/4 Notenbeispiel 60/4 78 Notenbeispiel 61/4 Notenbeispiel 62/4 Notenbeispiel 63/4 Im nächsten Stück (Fantasie d-Moll F. 19) kommt die Fermate-Stelle nur einmal vor, im vorletzten Takt. Es ist der gleiche Kasus, wie im vorherigen Exempel. Die Realisierung der Fermate kann auch in die andere Richtung gehen. Es handelt sich um die letzte zwei Takte, nach sehr schnellem und figurativem Allegro di molto. Wie es in Notenbeispielen zu sehen ist, es könnte nur mit Triller 79 und Doppelschlag beendet werden (Notenbeispiel 64/4), sonst zerstört das ganze Stück und seinen Charakter. Notenbeispiel 64/4 Die Fantasie A-Dur Wq 58/7 ist sehr dem Stück im Beispiel 61 ähnlich. Es hat auch zwei Fermaten, wobei die erste über der Note mit dem Doppelschlag und Triller, und zweite über der Pause steht (Notenbeispiele 65/4 und 66/4). Das Erste ist unproblematisch. Charakter des vorherigen und folgenden Abschnitts weist auf die Art der unverzierten oder, in dem Fall, leicht verzierten Fermate. Bei der zweiten Sache, wahrscheinlich wird die Lösung gleichartig, wie im Notenbeispiel 61. Notenbeispiel 65/4 Notenbeispiel 66/4 Die nächsten zwei Stücke, die Fantasie C-Dur Wq 59/6 und die Fantasie fisMoll Wq 67, wurden mit Absicht für diese Analyse zusammengestellt. Es kommt 80 die gleiche Problematik vor, die die Aufführung der Fermate in folgenden Werken betrifft. In beiden Stücken gibt es Stellen, die, obwohl sie nicht gleich notiert sind, die ähnlichen oder genau die gleichen Lösungen benötigen. Aus jedem Stück wurden zwei, oder drei Fragmente ausgewählt und zusammengefasst. Das Ziel war, die Ähnlichkeiten bei der Aufführungspraxis zeigen zu können. Aus der ersten Fantasie C-Dur (Notenbeispiel 67a-d/4) wurden vier Stellen ausgewählt. Es kommen Fermaten, die neben den Noten stehen und solche, die über den Noten notiert sind (jeweils zweimal). Aus Fantasie fis-Moll wurden zwei Stellen ausgesucht (Notenbeispiel 68a,b/4). Notenbeispiel 67/4 a) b) 81 c) d) Notenbeispiel 68/4 a) b) 82 In den Notenbeispielen 67 a), b) ,c) und 68 a), b) wurden dazu noch ein paar Takte hinzugefügt, um zu zeigen, was an diesen Stellen nach der Fermate kommt. Es ist sehr wichtig für die praktischen Lösungen, die hier gefunden wurden. Das erste Notenbeispiel 67 a) ist eindeutig und weist konkret auf die richtige Pause, oder ein richtiges Anhalten hin. Nach dem improvisatorischen Anfang (erste 6 Takte des Stückes) kommt das Fermate-Zeichen, das über den Notenlinien steht. Man könnte denken, dass es doch eine gute Stelle für die verzierte Fermate ist. Es steht nicht über der Note. Vielleicht fehlt die Pause, weil sie ein Kopist des Stückes vergessen hat? Was entscheidet, dass sie als Pause abgehandelt sein sollte? In einem solchen Fall muss man genau analysieren, was hier musikalisch am besten passen würde. Der Meinung der Autorin nach, steht die Fermate zwischen zwei sehr ähnlichen Fragmenten mit den unterschiedlichen Tonarten (Quint-Verwandtschaft). Der Affekt des ersten Abschnitts ist ziemlich abwechselnd. Die ersten zerlegten Akkorde sind mutig (forte), aber als Antwort kommen die schüchternen Doppelgriffe in piano. Das ganze moduliert durch schnelle Läufe zu G-Dur, bis zum zweiten Teil des erstes Abschnitts, der genau in dieser Tonart vorkommt. Bevor aber der G-Dur Teil kommt, gibt es eine Fermate. Wenn man schon weiß, wie es musikalisch und logisch ausschaut, kommt die Idee, dass diese konkrete Fermate nur als Pause, als überraschender Halt der Gedanken gelten sollte. Die nächsten Punkte (b, c) aus dem Notenbeispiel 67 und das ganze Beispiel 68 betrachten die gleiche Art der Fermate. Entweder steht das Bogen-Zeichen zwischen zwei ähnlichen Fragmenten (wo es keinen konkreten musikalischen Grund gibt, es zu verzieren), oder es befindet sich zwischen zwei ganz unterschiedlichen (nicht nur in Tonarten, sondern auch wegen Charakter), Teilen (Abschnitten). In jedem Fall ist es nicht erforderlich die großen Kadenzen oder Überleitungen zu komponieren. Eine kleine Ausnahme kann man im Punkt d) des 67. Beispiels machen. Die Fermate kommt auf der zweiten von zwei gleichen Noten. Um die einfache Wiederholung des zweiten ges2 zu vermeiden (was auch musikalisch sehr sinnvoll ist), sollte man die Fermate mit einem kleinen und kurzen Triller, beziehungsweise mit dem Mordent verzieren. 83 Es gibt noch zwei sehr interessante Beispiele von verzierten Fermaten, in denen es sich um kurze Kadenzen handelt. Sie befinden sich in den beiden, oben beschrieben Fantasien (C-Dur Wq 59/6 und fis-Moll Wq 67). Im Takt 132 in Fantasie C-Dur (Notenbeispiel 69/4) befinden sich zwei FermateZeichen. Es ist ein sehr spannendes Beispiel, wo es unterschiedliche Aufführungen der Fermaten, die nacheinander kommen, gibt. Auf der ersten Fermate sollte man eine kurze Kadenz, die zu den nächsten Ton führt, komponieren. Die Aufführung der nächsten Fermate sollte mit dem Triller, oder Triller mit Doppelschlag stattfinden. Es gibt auch die interessante Lösung, die bei dem ähnlichen Fall von Carl Philipp Emanuel Bach vorgestellt wurde (Notenbeispiel 70/4). Er bietet an, die beiden Fermaten zu verzieren. Notenbeispiel 69/4 84 Notenbeispiel 70/4 Ein letztes Beispiel für die Fermaten und ihre Aufführung findet man in der Fantasie fis-Moll Wq 67 (Notenbeispiel 71/4). Es handelt sich wieder um eine verzierte Fermate. Die Verzierung, in dem Fall eine kurze Kadenz, kommt auf die Note, die unter dem Fermate-Zeichen steht. Es befindet sich in Largo und ist in der Mitte des Abschnitts platziert. Es sollte wie eine Suspension sein, wie ein kurzes Atemholen, bevor es weiter geht. Die Note nach der Fermate ist schon vom Komponist reichlich mit dem Doppelschlag und Triller, verziert. Notenbeispiel 71/4 Bemerkenswert sind die Fragmente, die als arpeggio in manchen ClavierFantasien der Bach-Brüder vorkommen. In Fantasien von Carl Philipp Emanuel Bach trifft man die Stellen mit Bezeichnung arpeggio in drei von seinen ClavierFantasien (Notenbespiel 72/4 a, b, c), in A-Dur Wq 58/7, F-Dur Wq 59/5 (jeweils am Ende des Stückes) und in Fantasie Es-dur Wq 58/6 (kommt zweimal im Stück vor). Notenbeispiel 72/4 a) 85 b) c) Wilhelm Friedemann Bach notiert diese Stellen als Akkorde, die in halben Noten ausgeschrieben sind (Notenbeispiele 73/4 und 74/4). In seinen beiden cMoll Fantasien (F. 15, F. 16) befinden sich arpeggii, die gleich notiert wurden. Notenbeispiel 73/4 Notenbeispiel 74/4 Wer Informationen zur Ausführung der Arpeggio-Akkorde sammeln will, sollte wieder zu der Hauptquelle gehen. Der Versuch von Carl Philipp Emanuel Bach ist wie eine Enzyklopädie mit fast allen Lösungen aufführungspraktischer Probleme. Im zweiten Teil des Werkes, im allerletzten Kapitel, Von der freyen Fan86 tasie, wurde, ab § 13 bis zum Ende des Kapitels, sehr detailliert beschrieben, wie man ein Harpeggio ausführt. „Alle Akkorde können auf vielerley Art gebrochen und in geschwinden und langsamen Figuren ausgedrucket werden“ …. “Bey allen gebrochenen Dreyklängen und Aufgaben, welche sich auf einen Dreyklang zurück führen lassen, kann man aus Zierlichkeit vor jedem Intervalle die grosse oder kleine Untersecunde mit berühren, ohne sie nachher liegen zu lassen. Dieses nennet man: mit Acciaccaturen brechen.“ Man kann keine besseren Erklärungen finden um die Kunst des ArpeggioSpiels zu verstehen. Weiter beschreibt Emanuel Bach, dass man die Intervalle des Akkordes bei den Läufen ausfüllen darf. Es ist auch erlaubt, rauf und runter auf der Tastatur zu spielen, dazu noch fremde Töne, die nicht dem Akkorde gehören, bei der Wiederholungen reinzubringen. Es baut sich dadurch die Möglichkeit auf, „angenehme Veränderungen“ machen zu können. Es können auch verschiedene Nachahmungen „in der geraden“ und „Gegenbewegungen“ (Notenbeispiel 75/4) sein. Es ist ein großes Glück, dass es so genaue und gründliche Beschreibungen vom Autor des Versuches gibt. Notenbeispiel 75/4 87 Carl Philipp Emanuel Bach schreibt im 41. Kapitel des zweiten Teils seines Traktats (§ 14): „Damit meine Leser in verbundenen Exempeln von allerhand Art einen deutlichen und nutzbaren Begriff von der Einrichtung einer freyen Fantasie bekommen: so verweise ich sie auf das im vorigen Paragraph angeführte Probestück, und auf das in der beygefügten Kupfertafel befindliche Allegro“. Beide Stücke enthalten eine „freye Fantasie“120 (Notenbeispiele 76/4 und 77/4). Er schreibt weiter, dass jeder Akkord im „harpeggio“ zweimal gespielt werden sollte. Bei der Wiederholung sollten aber andere Lagen des Akkordes vorkommen. Die unten angeführten Beispiele sind: Bassstimme mit Bezifferung und das fertig komponierte Stück, das auf Basis des 75. Beispiels gefertigt wurde. Alle oberen Bemerkungen wurden dann in dieses Stück (schon realisiertes Beispiel) reingebracht. Es ist jetzt viel leichter, die Lösungen für das Arpeggio-Spiel für die Clavier-Fantasien zu finden. Man kann sich natürlich auch nur inspirieren lassen und selbst, in Form der Improvisation, die Stellen mit arpeggio spielen. Notenbeispiel 76/4 Notenbeispiel 77/4 120 Bach, Versuch, S. 340. 88 Es ergibt sich nur noch eine Frage: ob es, nach der Art der Notation von Arpeggien in Fantasien von Wilhelm Friedemann, bindend ist, die Arpeggio-Stellen genau nach dem Notentext zu spielen. Und ob es sich nicht um eine ganz gewöhnliche Art des Arpeggierens handelt? Der nächste wichtige Aspekt der Aufführung ist, Fingersetzung. Auch in diesem Fall haben die Spieler sehr viel Glück. Carl Philipp Emanuel Bach hat sehr genaue Anweisungen und „Hilfsmittel“ den zukünftigen Musiker, die seine Musik heutzutage sehr schätzen, gelassen. Diejenigen, die ernst die Stücke Emanuel Bachs behandeln und annehmen wollen, sollten sich sofort sein Traktat besorgen. Wie wichtig die richtige Fingersetzung ist, merkt man bei dem Lesen des ersten Hauptstücks Von der Finger-Setzung, aus dem Versuch über die wahre Art das 89 Clavier zu spielen121. Nur der Umfang des Kapitels alleine (Seiten 15-50) zeigt, dass es Emanuel Bach sehr klar war, dass dieses Thema wahrscheinlich detailliert „besprochen“ sein sollte. Er schreibt: „Die Setzung der Finger ist bey den allermeisten Instrumenten durch die natürliche Beschaffenheit derselben gewissermassen festgesetz ist: bei dem Klaviere aber scheint sie am willkürlichsten zu sein, indem die Lage der Tasten so beschaffen ist, daß sie von jedem Finger niedergedruckt werden können“122. Weiter erwähnt er, dass es viele Menschen gab, die sich „auf diesem schlupfrichen und verführerischen Wege“, wegen Mangel an genügenden Informationen irren mussten. Wenn man daran denkt, wie es heutzutage bei den Tasteninstrumenten-Spielern aussieht, ist es ebenso zu glauben, dass die meisten nicht so viel Gewicht auf die richtige Kunst der Fingersetzung legen. „Da man hieraus erkennen kann, daß der rechte Gebrauch der Finger einen unzertrennlichen Zusammenhang mit der ganzen Spielart hat, so verlieret man bey einer unrichtigen Finger-Setzung mehr als man durch alle mögliche Kunst und guten Geschmack ersetzen kann“ 123 . Der Meinung CarlPhilipp Emanuel Bachs nach, ergab sich zu seiner Zeit eine neue Art der Applicatur, die sich von den „vorigen Zeiten gar besonders unterscheidet“. Was das neue Denken in Gebrauch der Fingersetzung damals beeinflusst hatte, war, laut Bachs Überlegungen, die andere Art die Tasteninstrumente zu temperieren. Man brauchte vorher nicht in allen Tonarten zu spielen. Das heißt, dass es nicht notwendig war, für alle möglichen Passagien den Fingersatz auszudenken. Schon Johann Sebastian Bach hat den Daumen mehr zum Einsatz bei dem Clavierspielen124 gebracht. Carl Philipp erzählte, dass sein Vater sich eine neue Art der Fingersetzung ausdenken musste, vor allem für die schweren Tonarten. Die weitere Entwicklung in der Art der Finger-Setzung wurde von der Entwicklung der ande121 Bach, Versuch, S. 15. Ebenda, S. 15, § 1. 123 Ebenda, S. 16, § 4. 124 Die Begriffe Clavierspielen und Clavier wurden im 18. Jahrhundert in Verbindung mit allen Arten der Tasteninstrumente gebraucht. 122 90 ren Stimmungen der Tasteninstrumente, aber auch von der Musik für oben erwähnte Instrumente, gezwungen. Je mehr Tonarten, in denen man spielen durfte, desto reichere und mehr komplizierte Applicaturen wurden gebraucht. Bevor Carl Philipp die neue Art der Fingersetzung detaillierter beschreibt, erinnert er dem Leser an die Grundlagen des Clavierspiels. Beschrieben wurde, wie man bei dem Instrument sitzen sollte, wie hoch die Hände platziert werden müssen, aber auch, dass man „mit gebogenen Fingern und schlaffen Nerven“ spielen sollte. Dieser Kapitel ist sehr empfehlenswert für alle „Clavieristen“, die die hohe Kunst des Spiels erreichen wollen. Es sind nur Basis-Informationen, aber jeder weiß, dass es sehr oft überhaupt nicht gedacht wird, wie wichtig die offensichtlichen Sachen sind. Jeder Spieler sollte, der Meinung der Autorin nach, ab und zu eine gründliche Wiederholung der fundamentalen Kenntnisse machen. Es ist der gute Ausgangspunkt, immer wieder die eigenen musikalischen Fähigkeiten zu prüfen und mit „frischer“ Sicht das eigene Spiel zu betrachten. Im weiteren schreibt er: „Wir sehen hieraus restlich, daß, ohngeachtet der unendlichen Verschiedenheit der Applicaturen, dennoch wenige gute HauptRegeln hinlänglich sind, alle vorkommende Aufgaben aufzulösen; zweitens, daß durch eine fleißige Uebung der Gebrauch der Finger endlich so mechanisch wird und werden muß, daß man, ohne sich weiter darum zu bekümmern, in den Stand gesetzet wird, mit aller Freyheit an den Ausdruck wichtigerer Sachen zu dencken“125. Es ist natürlich nicht alles, nur die Fähigkeiten der Finger einzuüben. Der Spieler muss genug Kenntnisse haben, seine Fingerfertigkeit der schönen Aufführung der Musik zu Nutze bringen. Aus den allgemeinen Gedanken, die in dem Kapitel geäußert wurden, entstehen die Regeln der Fingersetzung. Die erste Hauptregel betrifft den kleinen und den ersten Finger. Sie sollten nicht anders, als nur im Notfall die oberen Tasten des Instruments berühren. Da es nur fünf Finger in jeder Hand gibt und viel mehr Tasten auf dem Clavier zu beherrschen gilt, wurden zwei Mittel vom Autor vorgeschlagen, und zwar, das Untersetzen und Überschlagen. Durch diese zwei Vermittlungen kann der Spieler „so viel Finger gleichsam kriegen“, als er 125 Bach, Versuch, S. 20, § 15. 91 braucht. Folgend schreibt der Autor: „Da die Natur keinen von allen Fingern so geschickt gemacht hat, sich unter die übrigen andere so zu biegen, als den Daumen, so beschäftiget sich dessen Biegsamkeit samt seiner vortheilhaften Kürze ganz allein mit dem Untersetzen an den Oertern und zu der Zeit, wenn die Finger nicht hinreichen wollen“126. Das, was nicht empfohlen wurde, ist „das Untersetzen des Daumens nach dem kleinen Finger, das Ueberschlagen des zweyten Fingers über den dritten, des dritten über den zweyten, des vierten über den kleinen, ingleichen des kleinen Fingers über den Daumen ist verwerflich“127. Dies sind die Regeln, die jeder Spieler heutzutage kennt, oder besser gesagt, kennen sollte. Die bisherigen genauen Beschreibungen von Bach werden im Lauf des ersten Kapitel noch genauer und detaillierter. Die ausführlichen Betrachtungen in Thema Fingersetzung wurden in der ersten und zweiten Tabelle („Kupfer-Tafeln“) aus praktischer Sicht notiert. Es sind die genauen Lösungen für Fingersatz, in verschiedenen Tonarten (Bach notiert bis zu drei differenzierten Fingersetzungen für jede Skala), bei den Doppelgriffen, bei den wiederholten Noten, bei unterschiedlichen Passagien, Läufen und Sprüngen, so wie bei den Akkorden. Diese unglaublich genauen Erklärungen setzt Bach in den 18 Probestücken, die er zusammen mit dem Versuch…herausgegeben hat. In diesen sechs Sonaten, jeweils 3 Sätze, wurden alle Regeln der Fingersetzung (Notenbeispiel 78/4), der Manieren, des guten Vortrages in Praxis zusammengesetzt. Glücklicherweise, ist der letzte Satz der sechsten Sonate, eine Fantasie. Hier kann man die detaillierten Hinweise zu Applicatur des Stückes finden (Notenbeispiel 79/4). Notenbeispiel 78/4 126 127 Ebenda, S. 23, § 26. Ebenda, S. 23, § 28. 92 Notenbeispiel 79/4 Es folgen ausgewählte Beispiele aus den Fantasien von beiden Komponisten, in denen gezeigt wird, wie und an welchen Stellen die Kenntnisse über die Art der Fingersetzung, die man aus dem Versuch lernte, adäquat umzusetzen sind. Zuerst werden die verschiedenen Arten von Läufen betrachtet. In der a-MollFantasie (F. 23) gibt es sehr interessante Beispiele (Notenbeispiel 80/4) mit Sprüngen, Läufen und mit gebrochenen Terzen. Im ersten Fall hat man einen großen Sprung und danach drei Noten, die abwärts steigen. Nach den Tabellen sollten sie mit dem zweiten Finger anfangen und auf den fünften springen, danach in üblicher Reihenfolge absteigen. Obwohl, im ersten Blick kommt es vor, als die rechte Hand alleine alle Noten spielen sollte, schnell wird es klar, dass man die untere Note zu der linken Hand nehmen sollte. In dem Fall wird es der 3. oder 2. Finger links und der 4., 3., 2. Finger rechts. Eine solche Lösung hat sich aus praktischen Gründen ergeben. Der Anfang des Stückes ist improvisatorisch im Charakter und es bietet sich an, ihn in schnellem und noch dazu aufsteigendem Tempo zu spielen. Wie es in dem nächsten Beispiel (Notenbeispiel 81/4) zu merken ist, kann man die vier runtersteigenden Noten mit dem einfachen Fingersatz aus dem Notenbeispiel 82/4 aufführen und die, danach kommenden Terzen gleich, wie im Beispiel 83/4 lösen. 93 Notenbeispiel 80/4 Notenbeispiel 81/4 Notenbeispiel 82/4 94 Notenbeispiel 83/4 In der Fantasie e-Moll (F. 21) findet man einen sehr schnellen Lauf in e-Moll (Notenbeispiel 84/4). Bei den Tabellen aus dem Versuch gibt es einfache Lösungen, die Tonleiter zu spielen (Notenbeispiel 85/4). Es sollte aber sehr furioso und sehr schnell gespielt werden, dafür empfehlt die Autorin dieser Arbeit den folgenden Fingersatz zu nehmen - 1 2 3 4 1 2 3 4. Den ersten Ton nächstes Taktes deutlicher zu machen, deswegen scheint es wohl sehr passend, die Lösung für den Fingersatz in e-Moll von Carl Philipp Emanuel Bach zu nehmen. Notenbeispiel 84/4 Notenbeispiel 85/4 Ein bemerkenswertes Beispiel aus der Fantasie fis-Moll Wq 67 von Carl Philipp Emanuel Bach zeigt die Verbindung von Passagien und Läufen (Notenbeispiel 86/4). Die passende Lösung (Notenbeispiel 87/4) findet man in der fünften Sonata aus den 18 Probestücken desselben Komponisten. 95 Notenbeispiel 86/4 Notenbeispiel 87/4 Wenn es sich um Passagien handelt, gibt es ein gutes Exempel in der Fantasie Es-Dur Wq 58/6 (Notenbeispiel 88/4). Die Passagien sind auf die beiden Hände verteilt. Nach dem es kein ähnliches oder mindestens zum Teil vergleichbares Beispiel gab, wurde ein allgemeines Exempel mit Applikatur in Passagien in gleicher Tonart ausgewählt. Man sieht im Beispiel 89/4, dass der Komponist die, in Sekundenschritten gehende Noten und die, nach denen kommende, um Terz, oder größere Intervalle springende Noten, in zweier Gruppen aufteilt. Es könnte in dem Beispiel 88/4 auch eine gute Lösung gewesen sein, da es hier sehr ähnliche Figuren gibt. Die Autorin würde sogar alle Noten in zweier Bindungen einzuteilen empfehlen. 96 Notenbeispiel 88/4 Notenbeispiel 89/4 In der folgenden Fantasie fis-Moll (Wq 67) befinden sich, auf zwei Hände aufgeteilte, figurative Stellen (Notenbeispiel 90/4). Der Lösung am nahenden liegend ist der Beispiel (Notenbeispiel 91/4) aus der zweiten Tabelle (Fig. XLIV a) von Carl Philipp Emanuel Bach. Weil der Beispiel 90 in fis-Moll Tonart steht, sollte man folgenden Fingersatz empfehlen: a) für die unteren Töne, die der linken Hand gehören, 3., 4., 2. und wieder den 3. Finger; b) für die oberen Noten, die mit der rechten Hand aufgeführt werden sollten, die Gruppen 2/4/2, 2/5/2, 2/3/2 und wieder 2/4/2. Notenbeispiel 90/4 97 Notenbeispiel 91/4 Wenn es um die wiederholten Noten geht, gibt es zwei Lösungen. Wenn sie in dem langsamen Tempo aufgeführt werden (Notenbeispiel 92/4, aus Fantasie fis-Moll Wq 67), ist es erlaubt mit dem gleichen Fingersatz sie aufzuführen (Notenbeispiel 93/4, aus dem ersten Satz, Sonata Nr. 5, 18 Probestücke). Notenbeispiel 92/4 Notenbeispiel 93/4 Im zweiten Fall, in dem die wiederholten Noten im schnellen Tempo dargestellt werden, sollte man den Finger, oder die Finger wechseln. Das beste Beispiel (Notenbeispiel 94/4) kommt wieder aus der fis-Moll Fantasie Wq 67. Notenbeispiel 94/4 98 Den richtigen Hinweis wegen dem Fingersatz in dem oberen Beispiel, findet man in der ersten Tabelle, bei der Figur XLI (Notenbeispiel 95/4). Es sind zwei unterschiedliche Lösungen vom Komponist gegeben. Welchen man auswählen sollte, ist jedem Spieler selbst überlassen zu entscheiden. In dem Fall würde die Autorin dieses Aufsatzes den unteren Fingersatz (die Lösung mit dem 3. und dem 2. Finger) empfehlen. Es ist für die Tonart des Stückes und die bestimmte Reihenfolge der Noten sehr adäquat. Notenbeispiel 95/4 Es sollte noch etwas über das Instrumentarium und über die Dynamik geschrieben werden. Warum es in solcher Zusammenstellung erwähnt wurde, wird sich in Kürze klären lassen. Wenn über Instrumente gesprochen wird, ist im ersten Moment nicht ganz klar, für welches Tasteninstrument die Clavier-Fantasien komponiert wurden. Es können entweder das Klavichord, das Cembalo oder das Hammerklavier sein. Bei den Stücken von Carl Philipp Emanuel Bach steht der beste Hinweis auf dem Titelblatt der Notenausgabe. Clavier-Sonaten und freye Fantasien nebst einigen Rondos fürs Fortepiano für Kenner und Liebhaber. Für das Fortepiano bedeutet hier für das Hammerklavier. Es ist wichtig zu erkennen, dass alle Fantasien aus der Sammlung für Kenner und Liebhaber in den letzten Jahren Emanuel Bachs Leben komponiert wurden128. Es war schon die Zeit des Hammerklaviers. Aber unabhängig vom Titelblatt der Fantasien, könnte man es von der Struktur, vom Charakter, vom Umfang, aber auch von der Dynamik der Stücke, herausfinden. In den Noten der Clavier-Fantasien. Emanuel Bachs, kommen sehr viele Dynamik-Bezeichnungen vor, die ganz schnell von piano zu forte wechseln (Notenbeispiel 96/4, aus der C-Dur Fantasie Wq 59/6). Natürlich sind solche dynamischen Wendungen auch auf dem Cembalo möglich. Es gibt 128 Die Ausgaben der letzten drei Sammlungen stammen aus den Jahren 1783, 1785 und 1787. Die allerletzte Fantasie Wq 67 wurde 1788, im Todesjahr Carl Philipp Emanuel Bachs, komponiert. 99 aber ziemliche Beschränkungen. Es handelt sich beim Cembalo um einen Manualwechsel bei den piano und forte Stellen. Noch ein Grund, warum die Fantasien von Carl Philipp mit Sicherheit (mit Ausnahme des Titels) für das Fortepiano (Hammerklavier) komponiert worden ist, da es, außer piano und forte, noch andere Bezeichnungen gibt. Es sind nebeneinander stehende Zeichen, wie pianissimo, mezzoforte, fortissimo (Notenbeispiel 97/4 aus fis-Moll Fantasie Wq 67). Als weiterer Hinweis gilt das Wort crescendo, das ebenfalls in der Fantasie fis-Moll vorkommt (Notenbeispiel 98/4). Notenbeispiel 96/4 Notenbeispiel 97/4 Notenbeispiel 98/4 Es sind nicht nur die dynamischen Bezeichnungen, sondern auch die ganze Struktur der Werke, die auf das Hammerklavier als bevorzugtes Instrument hinweisen. Es gibt sehr viele Beispiele von bestimmten Stellen in den Stücken von Carl Philipp Emanuel Bach, die man aufzeichnen könnte, um zu zeigen, 100 dass bestimmte Passagen nicht mehr gut, oder besser gesagt, nicht mehr richtig auf dem Cembalo klingen würden. Die werden aber nicht weiter besprochen, da es sich in dieser Arbeit, grundsächlich nicht um die Instrumente handelt. Wenn es sich um die Werke des anderen Bruders handelt, kann man mit Sicherheit sagen, dass sie sowohl für das Klavichord, wie für das Cembalo geeignet sind. Fantasien von Wilhelm Friedemann stammen aus der früheren Zeit. Sie wurden zwischen 1733 und 1770129(vielleicht auch später) komponiert. Außer gelegentlich zutreffenden forte und piano, befinden sich fast keine dynamischen Bezeichnungen in Friedemann Bachs Clavier-Fantasien. Man kann behaupten, dass seine Werke, schwerpunktmäßig, für das Cembalo komponiert worden sind. Auch anhand der Struktur kommt man zu ähnlichen Ergebnissen. Es kann auch sein (und wahrscheinlich kommt das auch vor), dass manche Künstler, die Fantasien von Wilhelm Friedemann auf dem Hammerklavier aufführen wollen. Es gibt nichts, was dagegen sprechen sollte, außer der Frage: werden die gleichen Werke, die für das Cembalo erschaffen wurden, auch gleich wirken? Oder verlieren sie viel von ihren Charme und vor dem Ausdruck, der so wichtig für den Affekten-Stil war? Es muss jeder Künstler selbst überlegen, welche Antwort hier passend ist. 5. Zusammenfassung. Die Form der Fantasie für Tasteninstrumente in der Geschichte der Musik hat sehr lange „reisen“ müssen, bis sie zu dem Ergebnis, das den Höhepunkt im 18. Jahrhundert hatte, angekommen ist. Es gibt wenige Gattungen in der Musik, die sich so reichlich und vielfältig entwickelt haben. Von den Anfängen, die in der vokalen Musik 14. Jahrhunderts sich widerspiegelten, durch die Betrachtung als allgemeiner Terminus (Vorstellungskraft und geistiges Bild) im 15. Jahrhundert, über das 16. und 17. Jahrhundert, wo der Begriff Fantasie in der instrumentalen Musik herrschte, bis zum Apogäum der Clavier-Fantasie und ihrer Form im 18. Jahrhundert. Das faszinierende und sehr spannende Studium 129 Wegen des Mangels an Autographen der Fantasien kann man nicht genau sagen, wann die letzten Werke komponiert wurden. 101 dieses Themas öffnete der Autorin viele, bisher ihr unbekannte Aspekte der Fantasie-Form. Die Analyse der musikalischen Exempel hat die meiste Zeit und den größten Aufwand gekostet. Die langen Überlegungen zuerst, welche Stücke sollten in dem Kapitel Analyse ausführlich beschrieben werden und welche nur am Anfang kurz erwähnt, danach die Behauptungen, ob die getroffene Wahl richtig war, bis zu den weiteren Reduzierungen der Notenbeispiele, die auf Grund des Umfangs der Arbeit, gemacht werden mussten. Es wurden im Endeffekt nur einige Exempeln zum Zweck der Analyse ausgesucht. Die Idee der Autorin war, solche Fragmente auszuwählen, die am besten den Aspekten, die in dieser Arbeit zusammengestellt und beschrieben wurden, entsprechen. Der Vielfalt der „fantastischen“ Werke, die von zwei talentierten und vielseitigen Komponisten des Barock stammten, wurde in ziemlich engem Umfang in diesem Aufsatz erfasst. Es hat sich ergeben, dass das Thema viel zu groß für den Umfang der Masterarbeit ist. Es gab viele Schwierigkeiten mit nicht genügenden Materialien und Informationen. Im Thema Wilhelm Friedemann Bach wurden noch viel zu wenige Nachforschungen gemacht, sowohl zu seinen Werken (z. B. Datierung seiner Fantasien), als auch zu einigen Aspekten seines Lebens. Die wiederentdeckte Faszination von Thema Fantasie und ihre Form, von Musik des späten 18. Jahrhunderts, von beiden Komponisten und ihren Werken, fuhr die Autorin zu neuen Ideen und Überlegungen, die sich wahrscheinlich in Kürze in neuen Projekten und Unternehmungen widerspiegeln werden. Es braucht vielleicht neue Herausforderungen, wie ein Doktoratstudium oder die Zusammenarbeit mit jemandem, der auch so fasziniert von dem Thema ist? Die Autorin wird auf jeden Fall weitere Recherchen zum Thema ClavierFantasie führen, um neue Ergebnisse zu bekommen und ihre Kenntnisse auf diesem Gebiet zu erweitern. 102 Bibliographie Adlung, Jacob: Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit, Erfurt 1758, Faksimile-Nachdruck, Kassel-Basel 1953. Autobiographie und Verzeichniß des musikalischen Nachlasses von Carl Philipp Emanuel Bach, Faksimiles of Early Biographies, Vol.4, Buren, 1991. Bach, Carl Philipp Emanuel: The Complete Works, (Series I, Volume 3. / 4.2 / 8.1 / 8.2), hrsg. v. Peter Wollny, Los Altos, California, 2005/2009. Bach, Carl Philipp Emanuel: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, 1. Teil, Berlin 1753 und 2. Teil, Berlin 1762, Faksimile-Nachdruck, Leipzig 1976. Barford, Philip: The Keyboard Music of C.P.E.Bach, New York 1966. Bäßler, Hans: Das fantastische Fantastische, in: Musik & Bildung: Praxis Musikunterricht 34 (4) (Oktober-Dezember 2002), Mainz 2003. Batel, Günther: Meisterwerke der Klaviermusik. Ein Führer durch die Klavierliteratur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wilhelmshaven 1997. Betz, Marianne: Art. Fantasia, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Stuttgart 1971-2006, Ordner III: F-L. Das Deutsche Wort, Leipzig 1933. Duden Deutsches Universalwörterbuch, 6. Auflage, Mannheim 2007. Edler, Arnfried: Handbuch der musikalischen Gattungen, Band 7,1, Gattungen der Musik für Tasteninstrumente, Teil 1: Von den Anfängen bis 1750, Laaber 1997. 103 Falck, Martin: Wilhelm Friedemann Bach. Sein Leben und seine Werke, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1913, Hildesheim, New York, 1977. Ferand, Ernest T.: Die Improvisation in Beispielen aus neun Jahrhunderten abendländischer Musik“, 2. Auflage, Köln 1961. Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802. Hartmann, Günter: Artikel „Es ist vollbracht“. Zu Carl Philipp Emanuel Bachs „Freyer Fantasie“ fis-Moll von 1787 (Wq 67), in: Musiktheorie 7. Jg (1992). Hensel, Daniel: Wilhelm Friedemann Bach. Epigone oder Originalgenie, verquere Erscheinung oder großer Komponist?, Stuttgart 2011. Giese, Stefan: Art. „Fehleinschätzung. Zu Wilhelm Friedemann Bachs Biographie“, in: Wilhelm Friedemann Bach. Der streitbare Sohn, Heinemann, M. u. Strodthoff, J.(Hrsg.), Dresden 2005, S. 35-37. Kahmann, Ulrich: Wilhelm Friedemann Bach. Der unterschätzte Sohn, Bielefeld 2010. Kinderman, William: Mozart’s piano music, Oxford 2006. Kirnberger, Johann Philipp: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, Berlin 1771, Faksimile-Nachdruck, Kassel 2004. Kreyszig, Walter Kurt: Der Begriff der Fantasie bei Mozart und dessen Beeinflussung durch Sonate, Präludium und Toccata, in: Ingrid Fuchs (Hrsg.), Internationaler Musikwissenschaftlicher Kongress zum Mozartjahr 1991 Baden-Wien, Band II: Free Papers, Tutzing 1993. 104 Lee, Douglas A.: C. P. E. Bach and the Free Fantasia for Keyboard: Deutsche Staatsbibliothek Mus. Ms. Nichelman, in: Stephen L. Clark, C. P. E. Bach Studies, Oxford 1988. Marpurg, Friedrich Wilhelm: Anleitung zum Clavierspielen der schönern Ausübung der heutigen Zeitgemäß entworfen, Berlin 1755. Marpurg, Friedrich Wilhelm: Kritische Briefe über die Tonkunst I, Berlin 1760, Faksimile-Nachdruck, Hildesheim, New York 1974. Marx, Hans Joachim (Hrsg.): Carl Philipp Emanuel Bach und die europäische Musikkultur des mittleren 18. Jahrhunderts, Bericht über das Internationale Symposium der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg 1988, Göttingen 1990. Mattheson, Johann: Das neu eröffnete Orchestre, Hamburg 1713, FaksimileNachdruck , Hildesheim, Zürich, New York, 1993. Mattheson, Johann: Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, Faksimile-Nachdruck, Kassel, Basel 1954. Ott, Karin und Eugen: Handbuch der Verzierungskunst in der Musik, Band 6/Tasteninstrumente, München 2000. Poos, Heinrich (Hrsg.): Carl Philipp Emanuel Bach. Beiträge zu Leben und Werk, Mainz 1993. Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, Berlin 1752, Faksimile-Nachdruck, Wiesbaden 1988. Rampe, Siegbert (Hrsg.): Bachs Klavier- und Orgelwerke. Das Handbuch. Teilband 1, Laaber 2007. Richards, Annette: C. P. E. Bach Studies, Cambridge 2006. 105 Schipperges, Thomas und Teepe, Dagmar: Art. Fantasie, in: MGG-Sachteil 3 (1995), Sp. 316-345. Schleuning, Peter: Der Bürger erhebt sich. Geschichte der deutschen Musik im 18. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 2000. Schmidt-Beste, Thomas: Die Sonate. Geschichte-Formen-Ästhetik, Kassel 2006. Scholz-Michelitsch, Helga (Hrsg.): Ornamentik der Musik für Tasteninstrumente, Band 1/Deutschsprachige Quellen, Graz 2005. Schulenberg, David: The Keyboard Music of J. S. Bach, New York, London 1992. Sorge, Georg Andreas: Anleitung zur Fantasie, Lobenstein 1767. Sorge, Georg Andreas: Vorgemach der musicalischen Composition, Teil 1, Lobenstein 1745. Tromlitz, Johann George: Ausführlicher und Gründlicher Unterricht die Flöte zu spielen 1791, Faksimile-Nachdruck, Amsterdam 1973. Türk, Daniel Gottlob: Clavierschule oder Anweisung zum Clavierspielen für Lehrer und Lernende, Leipzig und Halle 1789, Faksimile-Nachdruck, Kassel 1997. Wagner, Günther: Traditionsbezug im historischen Prozess zwischen 1720 und 1740 am Beispiel von J. S. Bach und C. P. E. Bach, Neuhausen-Stuttgart 1985. Wagner, Günther und Leisinger, Ulrich: Carl Philipp Emanuel Bach, in: MGGPersonenteil 1 (1999), Sp. 1312-1358. Walther, Johann Gottfried: Musicalisches Lexikon oder Musicalische Bibliothec, Leipzig 1732, Faksimile-Nachdruck, Kassel 2001. 106 Wiemer, Wolfgang: Art. Carl Philipp Emanuel Bachs Fantasie in c-Moll - ein Lamento auf den Tod des Vaters?, in: Bach-Jahrbuch, 74. Jg (1988), S. Wollny, Peter, Art. Wilhelm Friedemann Bach, in: MGG-Personenteil 1 (1999), Sp. 1536-1547. Wollny, Peter (Hrsg.): Bach-Jahrbuch, 97. Jahrgang (2011), Leipzig 2011. 107