dvořák - Münchner Philharmoniker

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DVOŘÁK
»Vodník« (Der Wassermann)
MARTINU°
Doppelkonzert für zwei
Streichorchester, Klavier
und Pauken
JANÁČEK
»Sinfonietta«
VALČUHA, Dirigent
Donnerstag
04_02_2016 20 Uhr
Freitag
05_02_2016 20 Uhr
Samstag
06_02_2016 19 Uhr
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ANTONÍN DVOŘÁK
»Vodník« (Der Wassermann) B 195
Symphonische Dichtung
für großes Orchester op. 107
BOHUSLAV MARTINŮ
Konzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken H 271
»Double Concert« (Doppelkonzert)
1. Poco allegro
2. Largo
3. Allegro
LEOŠ JANÁČEK
»Sinfonietta« für großes Orchester
1. »Fanfaren«: Allegretto – Allegro – Maestoso
2. »Die Burg«: Andante – Allegretto – Maestoso
3. »Das Königin-Kloster«: Moderato (alla breve)
4. »Die Straße«: Allegretto
5. »Das Rathaus«: Allegro
JURAJ VALČUHA
Dirigent
118. Spielzeit seit der Gründung 1893
VALERY GERGIEV, Chefdirigent
PAUL MÜLLER, Intendant
2
Ludwig Michalek: Antonín Dvořák (1891)
Antonín Dvořák: »Der Wassermann«
3
Eine Oper
für Orchester
MARCUS IMBSWEILER
ENTSTEHUNG
ANTONÍN DVOŘÁK
(1841–1904)
»Vodník« (Der Wassermann) B 195
Symphonische Dichtung
für großes Orchester op. 107
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geboren am 8. September 1841 in Nelahozeves (Mühlhausen) nördlich von Prag / Böhmen; gestorben am 1. Mai 1904 in Prag.
TEXTVORLAGE
Die vierteilige Ballade »Vodník« aus der
Sammlung »Kytice« (Blumenstrauß, 1853)
des tschechischen Autors Karel Jaromír Erben (1811–1870), der sich in seiner Heimat
als Historiker, Dichter und Märchensammler
einen hervorragenden Namen gemacht hatte. Bereits 1884 hatte Dvořák Erbens Ballade »Die Geisterbraut« vertont.
Dvořák entwarf die symphonische Dichtung
»Der Wassermann« vom 6. bis 10. Januar
1896. Direkt im Anschluss daran skizzierte
er zunächst die Tondichtungen op. 108 und
op. 109, »Die Mittagshexe« und »Das Goldene Spinnrad«, um erst danach erneut auf
den »Wassermann« zurückzukommen und
ihn vom 24. Januar bis 11. Februar 1896 in
Partitur auszuarbeiten.
URAUFFÜHRUNG
Am 14. November 1896 in London in der
Queen’s Hall (Queen’s Hall Symphony Orchestra unter Leitung von Henry Wood). Der
öffentlichen Uraufführung in Großbritannien
war am 3. Juni 1896 in Prag eine vom Orchester des Prager Konservatoriums unter
Leitung von Antonín Bennewitz gespielte
Probe(ur)aufführung vor ausschließlich geladenen Gästen vorausgegangen (zusammen mit op. 108 und op. 109), nach der erst
die Veröffentlichung des Werks im Berliner
Verlag Simrock erfolgte, bevor es zur ersten
öffentlichen Aufführung in England kam.
Antonín Dvořák: »Der Wassermann«
4
WENDEPUNKT AMERIKA
Antonín Dvořáks Amerika-Aufenthalt von
1892 bis 1895 bedeutete nicht nur privat und
beruflich einen Einschnitt, sondern auch in
künstlerischer Hinsicht. Zählte Dvořák bei
seiner Rückkehr neben Bruckner und Brahms
zu den exponiertesten Vertretern »absoluter« Musik, verlegte er sich nun auf die Gattung der »Symphonischen Dichtung«. Bloße
Erweiterung des kompositorischen Repertoires – oder Wechsel ins Lager der »Zukunftsmusiker«, der Gesinnungsgenossen
und Nachfolger Wagners und Liszts ?
Tatsächlich liest sich Dvořáks »Zugangsliste« bis Jahresende 1895 wie ein Musterkatalog »klassischer« Instrumentalgattungen: Neben der 9. Symphonie entstehen
drei Streichquartette, ein Streichquintett und
das Cellokonzert. Mit dem »Wassermann«
betritt Dvořák im Januar 1896 erstmals das
Reich der Programmmusik. Vier weitere
Tondichtungen folgen innerhalb eines guten Jahres. Bis zum Ende seines Lebens
wird Dvořák überhaupt keine Instrumentalmusik mehr schreiben, nur noch drei große
Opern, darunter die berühmte »Rusalka«.
ÜBERWINDUNG DES
PARTEIENDENKENS
Eine Wende also, wie sie auf den ersten
Blick radikaler kaum hätte ausfallen können. Und doch: Sie hatte sich angebahnt.
Schon vor seiner Amerika-Reise hatte
Dvořák drei Konzert-Ouvertüren mit programmatischem Anstrich komponiert. Der
langsame Satz seiner 9. Symphonie »Aus
der Neuen Welt« trug ursprünglich den Titel
»Legenda« (Erzählung). Noch konkreter
wurde »Neptun«, ein Symphonieentwurf
aus demselben Jahr 1893, der vier Szenen
auf See schildern sollte.
Überdies hatte der alte Streit zwischen
Programm- und Instrumentalmusikern deut­
lich an Schärfe verloren. Längst existierten
Alternativkonzepte, etwa im Schaffen Franz
Liszts, das Solokonzert, Symphonie und
Tondichtung vereinigte. Und gerade Liszt
sollte für tschechische Komponisten wie
Smetana und Dvořák zum großen Vorbild
werden; unüberhörbar ist sein Einfluss auf
Smetanas berühmtestes Werk, »Mein Vaterland«. An diesem wiederum mussten sich
zukünftige symphonische Dichtungen aus
Tschechien messen lassen. Vielleicht wagte Dvořák erst jetzt, als weltweit anerkannter Komponist, dem national bedeutsamen
»Vaterland«-Zyklus Smetanas eine eigene
Werkgruppe entgegenzustellen.
DIE GEBURT DER NATION
AUS DEM GEIST DER SAGE
Einen Zyklus im engeren Sinn bilden die
fünf Tondichtungen Dvořáks aus den Jahren
1896/97 zwar nicht. Jede steht für sich,
setzt individuelle musikalische Mittel ein.
Vier von ihnen, die Opera 107–110, fußen
allerdings auf derselben Textbasis, der Balladensammlung »Kytice« (Blumenstrauß)
des tschechischen Nationalautors Karel Jaromír Erben. Durch die Verankerung in der
böhmisch-mährischen Märchen- und Sagenwelt bilden sie – ähnlich wie Smetanas
»Vaterland« – einen künstlerischen Beitrag
zur Identitätsfindung der tschechischen
Nation.
Ohne Grausamkeiten geht es dabei nicht zu.
In Erbens Balladen treiben Giftmörderin,
Hexe und böse Schwiegermutter ihr Unwesen. Dass in der Erzählung vom Wassermann ein Kind stirbt, ja sein Leichnam brutal
entstellt wird, war für manche Zeitgenossen zu viel des Schlechten: »Wie man einen
so grässlichen, jedes feinere Gefühl empö-
Antonín Dvořák: »Der Wassermann«
5
Josef Farský: Karel Jaromír Erben (1840)
Antonín Dvořák: »Der Wassermann«
6
renden Stoff zu musikalischer Darstellung
sich wählen konnte, ist mir nicht recht begreiflich«, urteilte Kritikerpapst Eduard Hans­
lick, ansonsten ein unbedingter Parteigänger des böhmischen Komponisten. Hanslick
übersah, dass die Familie Dvořák mit dem
tödlichen Verlust von eigenen Kindern nur
allzu vertraut war.
DIE ROLLE DER MUSIK
Formal ist op. 107 als Rondo gestaltet, dessen Aufbau der Balladenhandlung folgt:
Eine junge Frau gerät in die (erotischen) Fänge eines Wassermanns; als sie von einem
Besuch bei ihrer Mutter nicht zurückkehrt,
tötet er das gemeinsame Kind. Die einzelnen Stationen der Erzählung sind leicht auszumachen, vom Brautraub über das traurige
Leben in der Tiefe bis zum finalen Gewalt­
0ausbruch. Drei Mal hören wir den rasenden
Wassermann gegen die Tür hämmern, nach
dem Mord herrscht Totenstille…
Doch erschöpft sich die Musik nicht in dieser dienenden, nachgestaltenden Funktion.
Dvořák sah es als seine zentrale kompositorische Aufgabe an, »die verschiedenen
Hauptpersonen, deren Charakter und poetische Stimmung herauszuarbeiten«. Zugespitzt formuliert, sind die Figuren wichtiger
als die Handlung; nicht um ihre Taten geht
es, sondern um ihre innere Haltung.
DIFFERENZIERTE
FIGURENCHARAKTERISTIK
Gleich zu Beginn zeichnet Dvořák ein differenziertes Bild vom Charakter seiner Hauptfigur. Die Flöten spielen ein harmloses, fast
neckisches Thema mit Staccato-Tupfern
und Vorschlägen, die Streicherfloskeln lassen an Wellenbewegung denken. Aber da ist
mehr: Moll-Trübung, Starre des melodischen
Inventars sowie pianissimo-Fahlheit, die
sich nach und nach intensiviert, bis sie in
brachiale Gewalt umschlägt.
Dvořáks »Wassermann« ist also ein vielschichtiges, in sich widersprüchliches Gebilde aus Zartheit und Brutalität, Verspieltheit und emotionaler Leere. Auch Mutter und
Tochter lassen sich kaum auf einen Nenner
bringen: Dem Dur-Thema der jungen Frau
(Klarinetten in Terzen) haftet bei aller Sanftheit reichlich Naivität an, während das der
älteren (gedämpfte Geigen in hoher Lage) an
das fahle Moll vom Beginn gemahnt. Später
wird sogar die Flöte, also das Wassermann­
Instrument, zur Stimme der Mutter – lässt
das auf geistige Verwandtschaft schließen,
auf gemeinsames Besitzstreben und damit
auf doppelte Täterschaft ?
OPER IM KLEINFORMAT
Solche figurenpsychologischen Feinheiten
finden sich reichlich in einem Stück, das von
ständiger Motiv-Metamorphose und aus­
gefeilter Klangfarben-Regie lebt – fast eine
Oper »en miniature«. Wenn der Wassermann
im erregten Mittelteil Gattinnentreue einfordert, treten seine menschlichen Züge
zutage, während die beiden Frauen die Eskalation des Geschehens in Kauf nehmen.
Und noch ein Element trägt zur Opernnähe
des Werks bei: die Gestaltung markanter
Themen aus dem Sprachgestus heraus. So
könnte man der erwähnten Klarinetten­
melodie Ton für Ton Erbens Balladenzeile
»Früh am Morgen stand das Mädchen auf«
unterlegen – ein zukunftsweisendes Verfahren, wie es sich der Dvořák-Schüler Leoš
Janáček zu eigen machte.
Antonín Dvořák: »Der Wassermann«
7
Hugo Boettinger: Antonín Dvořák am Klavier (1901)
Antonín Dvořák: »Der Wassermann«
8
(K)ein einfacher
böhmischer
Musikant
JAKOB KNAUS
DAS TSCHECHISCHE ERBE
Der »einfache böhmische Musikant«, als
den sich Dvořák selbst bezeichnet hatte,
kam schon zu Lebzeiten zu allergrößten
Ehren – in England, Amerika und zu Hause,
während sein um 19 Jahre älterer Komponistenkollege Smetana in Böhmen eher
geschmäht wurde und völlig taub im Irrenhaus starb. Smetana war unfreiwillig ins
Ausland gegangen: Weil er in der tschechischen Heimat sich und seine Familie als
Musiker nicht zu ernähren vermochte, ging
er ins nördlichste Skandinavien und leitete
viele Jahre lang die Symphoniekonzerte im
schwedischen Göteborg.
VON PRAG IN DEN WELTRAUM
Dvořák hingegen wurde nach England und
Amerika bewusst eingeladen, erhielt Kompositionsaufträge und zahlreiche Auftrittsmöglichkeiten: 8-mal hat er zwischen 1884
und 1891 in England dirigiert, und von 1892
bis 1895 war er Direktor des National Conservatory in New York. Amerika erwartete
von ihm, dass er der amerikanischen Jugend den Weg zu einer eigenständigen
»amerikanischen« Musik weisen würde:
»Ich bin überzeugt, dass die zukünftige
Musik dieses Landes auf dem basieren
muss, was man die Lieder der Neger und
Indianer nennt. Sie müssen die wirkliche
Grundlage einer jeden ernsthaften und originellen Kompositionsschule sein, die in
den Vereinigten Staaten zu entwickeln ist«
(New York Herald, 21. Mai 1893). Doch damit nicht genug: Dvořáks Musik war es vergönnt, in den Weltraum vorzudringen und
zum ersten Mal die Menschheit außerhalb
ihres Planeten zu dokumentieren: Bei der
Mondlandung vom 21. Juli 1969 wurde von
Neill Armstrong ein Sender aufgestellt, der
Dvořáks 9. Symphonie (»Aus der neuen Welt«)
ausstrahlt – und das bis heute !
ZU HAUSE IN BÖHMEN
Antonín Dvořák stammte aus dem böhmischen Städtchen Nelahozeves (Mühlhausen) nördlich von Prag, direkt an der Eisenbahnlinie Prag – Dresden gelegen. Der
Vater war Metzger und Gastwirt; im Hause
wurde gesungen und musiziert, Antonín
spielte die Geige. Die musikalische Ausbildung erhielt er bei deutschstämmigen Mu-
Antonín Dvořák: Kurzportrait
9
Szene aus der Uraufführung von Dvořáks berühmtester Oper »Rusalka« (1901)
sikern – beim Volksschullehrer Josef Spitz
und beim Komponisten Anton Liehmann im
Städtchen Zlonice. Zwei Jahre lang besuchte er die Orgelschule in Prag, und als
unbesoldeter Organist begann er auch seine berufliche Laufbahn. Später verdiente
er seinen Lebensunterhalt als Bratscher im
Salonorchester des Karel Komzák und im
Orchester des sog. Prager »Interimstheaters«, wo er u. a. bei der Uraufführung von
Smetanas »Verkaufter Braut« mitwirkte:
Der 42-jährige Smetana dirigierte, und der
23-jährige Dvořák saß am ersten Bratschenpult !
MIT BRAHMS ZUM ERFOLG
Als Komponist machte Dvořák mit seiner
Kantate »Die Erben des Weißen Berges«
1873 erstmals auf sich aufmerksam, als er
immerhin schon zwei Opern und eine Reihe
von Kammermusikwerken geschrieben
hatte. Über das Heimatland hinaus aber
verhalf ihm Johannes Brahms zum Erfolg:
Antonín Dvořák: Kurzportrait
10
Er verschaffte Dvořák ein Stipendium in
Wien und setzte sich bei seinem Berliner
Verleger Simrock für den um acht Jahre
jüngeren Kollegen ein. Das Ergebnis war,
dass Simrock Dvořáks »Klänge aus Mähren« publizierte und ihm anschließend den
Auftrag für die später weltberühmten »Slawischen Tänze« erteilte. Für sie erhielt Antonín Dvořák 1878 sein erstes Komponisten-­
Honorar ! Dvořáks Gesamtwerk, das alle
musikalischen Gattungen und zahlreiche
Werke von Weltgeltung umfasst, belegt
heute überdeutlich, dass die Selbsteinschätzung des Komponisten, er sei nur ein
»einfacher böhmischer Musikant«, eine
liebenswerte, aber völlig haltlose Untertreibung war...
Antonín Dvořák: Kurzportrait
11
»Empörung, Mut
und unerschütter­
licher Glaube«
WOLFGANG STÄHR
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
BOHUSLAV MARTINŮ
(1890–1959)
Konzert für zwei Streichorchester,
Klavier und Pauken H 271
Geboren am 8. Dezember 1890 in Polička
(Böhmen); gestorben am 28. August 1959 in
Liestal bei Basel (Schweiz).
»Double Concert« (Doppelkonzert)
ENTSTEHUNG
1. Poco allegro
2. Largo
3. Allegro
Martinů komponierte sein »Double Concert« im Auftrag des Schweizer Industriellen, Musikmäzens und Orchesterleiters Paul
Sacher (1906-1999) für das 1926 von ihm
gegründete und bis zu seiner Auflösung im
Jahr 1987 geleitete Basler Kammerorchester
(BKO). Der tschechische Komponist begann
die Arbeit im August 1938 in seiner französischen Wahlheimat in Vieux-Moulin in der
Picardie und vollendete die Partitur am 29.
September desselben Jahres als Gast des
Ehepaars Sacher auf dem Schönenberg in
Pratteln bei Basel. Mit dem sog. »Doppelkonzert« krönte Martinů eine Trilogie aus
drei formal historisierenden, mehr oder minder »neobarocken« Werken für Kammerorchester, zu denen auch das »Concerto grosso« von 1937 und die »Tre Ricercari« von
1938 gehören.
Bohuslav Martinů: Doppelkonzert
12
WIDMUNG
WEITBLICK UND FERNWEH
»À mon cher ami P. S. en souvenir du séjour
calme et angoissé à Schönenberg entre les
chevreuils et la menace de guerre« (Meinem
lieben Freund Paul Sacher in Erinnerung an
den ruhigen, aber angsterfüllten Aufenthalt
in Schönenberg zwischen den Rehen und
dem drohenden Krieg); neben Arthur Hon­
egger und Béla Bartók gehörte Bohuslav
Martinů zum engeren Kreis der mit Paul Sacher befreundeten zeitgenössischen Komponisten, und so galt die Widmung nicht nur
dem Anreger, Auftraggeber, finanziellen
Förderer und ersten Dirigenten seiner Komposition, sondern auch dem langjährigen
Freund.
Unter Glockengeläut kam Bohuslav Martinů
am 8. Dezember 1890 zur Welt. 193 Stufen
hoch lebte die Familie im Turm der Jakobskirche, denn der Vater, Ferdinand Martinů, eigentlich Schuhmacher, versah als
Türmer die Feuerwacht, kontrollierte den
geregelten Gang der Turmuhr und läutete
die Glocken für die Einwohner des Ortes Polička im böhmisch-mährischen Grenzland.
Der Panoramablick war denn auch die bestimmende Weit- und Weltsicht in den ersten zwölf Jahren seines Lebens, von denen
Bohuslav Martinů sagte: »Über allem war
der große, unübersehbare Raum. Ich glaube,
dass gerade dieser Raum mir als einer der
stärksten Eindrücke aus meiner Kindheit im
Bewusstsein geblieben ist und wahrscheinlich eine nicht geringe Rolle in meiner gesamten Anschauung über Komposition spielt.«
Anders jedoch als sein großer Landsmann
und Vorgänger Antonín Dvořák lebte Martinů nicht mehr in einem gewissermaßen
»naturwüchsigen« Milieu der Volks- und
Straßenmusik – »Folklore« war für ihn bereits ein Phänomen aus zweiter Hand. »Unsere Generation ist ungleich stärker von
Niederschriften und Erinnerungen abhängig
als von direkten Beispielen oder tatsäch­
licher Kenntnis«, gestand Martinů. »Wenige
von uns wissen aus ihrer Jugendzeit, wie
Lieder und Tänze aufgeführt wurden und
wie ihre authentische Wiedergabe aussah.«
URAUFFÜHRUNG
Am 9. Februar 1940 in Basel im Neuen Basler
Theater (Basler Kammerorchester unter Leitung von Paul Sacher).
Gleichwohl erkannten die Eltern bald, dass
die musikalische Begabung des Sohnes
mehr war als ein Lokalereignis: 1906 reiste
die Mutter mit Bohuslav nach Prag; im
Herbst desselben Jahres bestand er die Aufnahmeprüfung am Konservatorium, um dort
zunächst die Violin- und später die Orgelklasse zu besuchen, bevor er 1910 das Institut wegen »unverbesserlicher Liederlich-
Bohuslav Martinů: Doppelkonzert
13
Bohuslav Martinů als Emigrant in Paris (um 1935)
Bohuslav Martinů: Doppelkonzert
14
keit« wieder verlassen musste. Doch das
avancierte Musikleben der Stadt, praktische Erfahrungen als Geiger in der Tschechischen Philharmonie und schließlich ein
kurzzeitiger, aber fruchtbarer Kompositionsunterricht bei Josef Suk retteten die
ansonsten verlorenen Lehr- und Galeerenjahre des »liederlichen« Musikers, den es
schließlich 1923 nach Paris zog.
DER FRANZÖSISCHE GESCHMACK
Bis dahin wusste Martinů vor allem, was er
nicht wollte: »Ich habe keine ästhetischen
Theorien. Es handelt sich weder um eine
Rückkehr zur Erde, noch um einen musikalischen Realismus. Es handelt sich auch
nicht um eine Entsagung, noch um Kargheit.
Es geht nur darum, dass ich von nun an meine Schreibweise derselben Disziplin unterwerfen möchte wie mein Denken.« Für dieses Ansinnen war sein künftiger Kompositionslehrer, der Franzose Albert Roussel,
der ideale Mentor, Vordenker und Förderer.
Roussel bestand auf dem Vorrang einer
»musique pure«, einer reinen Musik, »die
weder Malerei noch Literatur sein will, sondern nur Musik und nichts anderes«. Er begrüßte es ausdrücklich, dass die jungen Musiker wieder an traditionellen Formen wie
der Suite, der Symphonie oder dem Konzert
Gefallen fänden und überdies den Kontrapunkt zu neuen Ehren brächten, »einen sehr
freien Kontrapunkt, der fröhlich alle Schulregeln zertritt; der Rhythmus wird prägnanter, die melodische Linie nimmt viel kräftigere Züge an.«
Für den ausgewanderten Bohuslav Martinů
erwies sich die Begegnung mit Roussel als
ein wahrer Glücksfall: »Alles, was ich in Paris suchte, fand ich bei ihm. Ich kam zu ihm,
um die Gesetzmäßigkeit, die Proportionen,
den Geschmack und den klaren Gefühlsaus-
druck zu suchen, Eigenschaften der französischen Kunst, die ich immer bewundert
habe und die ich aufs Intimste kennenlernen wollte.« Aber seine schöpferische Neugierde und Experimentierlust kannten ohnehin keine Grenzen, weder nationaler noch
epochaler Art: Martinů liebäugelte mit dem
Jazz, er begeisterte sich für technische Innovationen und elektronische Tonerzeugungen, für barocke Formmodelle und historische Instrumente, für Folklore zweiten
Grades (die er zu rhythmischen Patterns
abstrahierte) und den motorischen Drive
des Futurismus. Der Tscheche Martinů bildete zusammen mit anderen Wahl-Franzosen aus aller Welt die »École de Paris« – keine wirkliche Künstlergruppe, sondern eher
ein lockeres, ideell und praktisch assoziiertes Zweckbündnis auf Zeit, über das ein
Mitstreiter, der Rumäne Marcel Mihalovici,
schrieb: »Sie alle arbeiteten in der französischen Hauptstadt, sie alle atmeten die Luft
dieser unvergleichlichen Stadt, und diese
Luft ging zweifellos in ihre Arbeiten ein. Es
ist meiner Meinung nach nicht nötig, den
Komponisten der ›École de Paris‹ eine gemeinsame formale oder geistige Tendenz zu
unterstellen, wenn nicht den Versuch eines
jeden von ihnen, Musik und nichts als Musik
zu machen.«
»IN WAS FÜR EINER WELT
WIR LEBEN«
Nichts als Musik ? Die harten Tatsachen der
Geschichte drangen umso brutaler in die
schöngeistigen Gegenwelten dieser Kunstjünger ein. Mit der deutschen Annexion der
Tschechoslowakei verwandelte sich Martinůs freiwilliges Exil in ein erzwungenes.
Im »Protektorat Böhmen und Mähren« durften die Werke »des größten lebenden tschechischen Komponisten«, wie er in einer Pariser Exilzeitschrift genannt wurde, nicht
Bohuslav Martinů: Doppelkonzert
15
Bohuslav Martinů im amerikanischen Exil (1944)
mehr zur Aufführung gelangen. Und während des Sommers 1940 musste Martinů
gemeinsam mit seiner französischen Frau
aus Paris fliehen, um im Frühjahr 1941 die
rettende Überfahrt nach Amerika zu erreichen. Martinůs Lebenswille in der ihm wesensfremden neuen Umgebung, seine den
bedrückenden Nachrichten aus Europa trotzende Produktivität ließen ihn die deprimierendsten Jahre seines Lebens überstehen.
Ja selbst ein verheerender Unfall im Jahr
1946 – Martinů stürzte von einem Balkon,
litt zeitweilig an Gedächtnisstörungen und
Taubheit – vermochte seine Schaffenskraft
nicht zu brechen.
Nach der Rückkehr aus den Vereinigten
Staaten lebte Martinů in Nizza, Rom und in
der Schweiz – dort meist als Gast seines
Freundes, des Mäzens und Dirigenten Paul
Sacher. Obgleich er mittlerweile die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, war
er im Amerika der McCarthy-Ära und Kommunistenhysterie als gebürtiger Tscheche
von Natur aus verdächtig. Umgekehrt aber
wider­strebte es Martinů, in die sowjetisch
Bohuslav Martinů: Doppelkonzert
16
dominierte »Tschechoslowakische Republik« heimzukehren, sofern von einer »Heimkehr« unter diesen Vorzeichen überhaupt
die Rede sein konnte. »Ihr wisst doch, in
was für einer Welt wir leben und wie unsere
Wünsche und Sehnsüchte von Umständen
abhängig sind, die außerhalb unserer Macht
stehen«, schrieb Martinů 1958 deprimiert
an seine Geschwister. »Wir sind in der heutigen Welt nichts als kleine und winzige
Marionetten.« Bohuslav Martinů starb am
28. August 1959 im Kantonalhospital von
Liestal bei Basel. Zwanzig Jahre später wurde sein Leichnam in die Tschechoslowakei
überführt und mit einem Staatsakt in seinem Geburtsort Polička bestattet. »Für
Töne und Musik und Liebe zur Heimat«, daran hatte Martinů bis zuletzt geglaubt, »ist
weder ein Raum noch die größte Entfernung
ein Hindernis.«
DIE FREIHEIT DER MUSIK
Am 29. September 1938 vollendete Martinů
in der Schweiz das Konzert für zwei Streich­
orchester, Klavier und Pauken – just am selben Tag, an dem im Führerbau am Königsplatz die »Münchner Konferenz« über die
Weltbühne ging, angeblich um des lieben
Friedens willen, doch tatsächlich mit katastrophalen Folgen für die tschechische Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit. Martinů schuf das Doppelkonzert im Auftrag
Pauls Sachers für dessen Basler Kammerorchester. Noch in Frankreich hatte er mit der
Arbeit begonnen, die er – zu Besuch bei den
Sachers – auf dem Schönenberg, unweit von
Basel, fortsetzen konnte. »Es ist eine unter
erschütternden Ereignissen zustande gekommene Komposition«, bekannte Martinů,
»aber die Empfindungen, die sie hervorruft,
sind nicht verzweifelt, eher geben sie Empörung, Mut und unerschütter­lichen Glau-
ben an die Zukunft kund. Ihr Ausdruck ist
scharf, dramatisch erregend; eine Fülle von
Tönen strömt herab, die keinen Augenblick
innehält, und die reichen Melodien fordern
leidenschaftlich das Recht auf Freiheit.«
Die »Vorahnung der nahenden Tragödie«
habe den Charakter des ganzen Werks bestimmt, betonte Martinů. Doch sagte er
auch: »Es ist mir geglückt, meine Gefühle in
eine wahrhaft klassische Form zu kleiden.«
Mit dem Doppelkonzert beschloss Martinů
eine stilistisch und aufführungspraktisch
begründete Trilogie, die er im Vorjahr, in bewusster Rückbesinnung auf Bachs »Brandenburgische Konzerte«, mit dem »Concerto grosso« für Kammerorchester und zwei
Klaviere eröffnet hatte. Als zweites der drei
Stücke komponierte er 1938 die »Tre Ricercari«, die er ausdrücklich einer »französisch« inspirierten, streng gesetzmäßigen
und »reinen« Musik zurechnete: »Absolute
Vollkommenheit ist unpersönlich. Ich mag
von meinen Werken die unpersönlichsten
am meisten.« Das dreisätzige Konzert für
zwei Streichorchester, Klavier und Pauken
besiegelte die Trilogie: Es steht in der späten Nachfolge der barocken »Concerti a due
cori«, des dialogischen, antiphonalen Musizierens. »Ich wollte vor allem die nahezu
immer gleiche und mechanische Klangwirkung der Streicher vermeiden, wie sie die
Entwicklung im Symphonieorchester gebracht hat«, erklärte Martinů. Klavier und
Pauken garantieren nicht allein die gewünschte akustische Härte und rhythmische Durchschlagskraft, sie durchkreuzen
obendrein den doppelten Streichersatz mit
Akzenten, Gegenstimmen und schockartigen Impulsen. Und der pianistische Solopart wird streckenweise sogar in den Rang
eines eigenen, dritten Orchesters erhoben.
Bohuslav Martinů: Doppelkonzert
17
Bohuslav Martinů zurück in Europa (um 1950)
»DEN MÄRTYRERN VON LIDICE«
» Passion« erscheint in diesem Konzert als
die Kehrseite der Präzision; die Klarheit des
Ausdrucks befeuert die mitreißende Dramatik, die klassische Form verleiht der Empörung festen Grund und sicheres Ziel. Martinůs Konzert verteidigt die Freiheit der
Musik gegen jegliche Vereinnahmung, aber
verschließt sich nicht gegen das Unglück
der Menschen, das Schicksal der Verfolgten
und Ermordeten. Als das Doppelkonzert
Ende 1942 von Fritz Reiner und dem Pitts-
burgh Symphony Orchestra gespielt wurde,
bald drei Jahre nach der Baseler Uraufführung, widmete Martinů den zentralen Satz,
das »Largo«, den »Märtyrern von Lidice«.
Der tschechische Ortsname steht für die
Verbrechen der deutschen Besatzer, für die
Massenerschießungen, Deportationen und
Verwüstungen. Martinůs Konzert aber steht
für die Menschlichkeit, die nur im Exil überleben konnte, und für die Heimatlosigkeit
eines Musikers, der nichts anderes sein
wollte als Musiker.
Bohuslav Martinů: Doppelkonzert
18
Kosmopolit
aus Böhmen
JAKOB KNAUS
GENIE DER VIELSEITIGKEIT
Es fasziniert immer wieder zu wissen, dass
er seine Jugendzeit 42 Meter über dem Erdboden auf einem Kirchturm verlebt hat – im
kleinen Städtchen Polička im Nordosten von
Böhmen – , weil sein Vater dort Turm- und
damit auch Feuer-Wächter war. Den Überblick hat sich Bohuslav Martinů auch später
immer wieder verschafft: Sein Gesamtwerk
umfasst über 400 Kompositionen ! Alle Gattungen sind vertreten, für alle Medien hat
er komponiert – sogar für das Radio, den
Film und das Fernsehen. Bohuslav Martinů
war lebenslang ein Meister im Parodieren;
in den verschiedensten Stilrichtungen
konnte er sich ausdrücken, in allen war er
sattelfest.
Kunst und in den Bretterbuden der Variétés
vorgeführt wurden. Er war unvoreingenommen und immer auf der Suche nach neuen
Möglichkeiten. Seine ausgeprägte Gabe,
Stile nachzuahmen, und sein phänomenales
Klanggedächtnis halfen ihm, sich alles
dienstbar zu machen: die große Geste der
symphonischen Dichtung, die bewegten
Formen der Ballettmusik, den Jazz, die Unterhaltungsmusik. Vor kurzem ist ein Klavierstück mit dem Titel »Par T. S. F.« zum
Vorschein gekommen, das Martinů 1928
dem soeben erfundenen Radio gewidmet
hatte, dem »Télégraphe sans fil«. Der kleine
Tscheche vom Lande hatte offene Augen
und Ohren, und doch verließ ihn die Sehnsucht nach seiner Heimat nie.
FRÜHER RUHM IN PARIS
ZWISCHEN KUNSTMUSIK
UND VARIÉTÉ
Vor allem in den 20er Jahren hat Martinů im
musikalischen Schmelztiegel von Paris die
Grundlagen zu seinem Ruhm gelegt. 1919
war er nach Paris gekommen, als zweiter
Geiger der Tschechischen Philharmonie.
1923 kam er erneut – diesmal aber allein, um
bei Albert Roussel zu studieren. Martinů war
offen für alle Formen, die in den Tempeln der
Martinů blieb in Frankreich und musste
dann, nachdem Hitler sein Heimatland besetzt hatte und später auch in Frankreich
einzog, 1941 nach Amerika emigrieren. In
der Begabung, die Musik seiner ländlichen
Heimat mit der Aura der Großstadt in Einklang zu bringen, hat er sich zeitlebens ein
Stück Unverwechselbarkeit bewahrt: Im
Bohuslav Martinů: Kurzportrait
19
Bohuslav Martinů, der Heimatlose (um 1950)
Bohuslav Martinů: Kurzportrait
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Blick über Polička (von der Türmer-Wohnung der Martinůs aus gesehen, um 1900)
Finalsatz seiner Ballettmusik »La Revue de
Cuisine oder Die Versuchung des heiligen
Kochtopfs« z. B. gelang es ihm, »klassische« Melodien mit »volkstümlichen« zu
kombinieren und wie selbstverständlich
einem Jazzrhythmus zu unterlegen. Andererseits hat ihn in den 30er Jahren das barocke Concerto grosso fasziniert: die Instrumentalmusik dieser Zeit, vom Konzert für
Streichquartett und Orchester (1931) bis hin
zum Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken (1938), ist davon
geprägt.
HEIMATLOS BIS ZUM
BITTEREN ENDE
Mit der frühen Radio-Oper »Komödie auf der
Brücke« (1935) hatte er zwar erst 1951 in
New York Erfolg, dann aber so nachhaltig,
dass sie ihm den Zugang zum damals neuesten Medium verschaffte: seine beiden
Opern »Wovon die Menschen leben« (nach
Tolstoj) und »Die Heirat« (nach Gogol) sind
Auftragswerke des Fernsehens ! Martinůs
bedeutendste Bühnenwerke sind aber die
fantastische Oper »Julietta oder Der Traumschlüssel« (1937) nach dem gleichnamigen
Theaterstück von Georges Neveux und die
»Griechische Passion« (1957) nach dem Roman »Der wiedergekreuzigte Christus« von
Nikos Kazantzakis. Nach Abschluss seiner
letzten, der 6. Symphonie, und nachdem er
die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, ist Martinů 1953 endgültig in
die Alte Welt zurückgekehrt – aber nie wieder nach Böhmen oder Prag, denn dort waren 1948 die Kommunisten an die Macht
gelangt. Martinů blieb vorerst in Frankreich
und ging dann in die Schweiz, wo er bei Paul
Sacher, der auch der Mäzen Béla Bartóks
und Arthur Honeggers gewesen war, seine
zwei letzten Lebensjahre verbrachte. Am
28. August 1959 ist er im Krankenhaus von
Liestal bei Basel einem Krebsleiden erlegen.
Bohuslav Martinů: Kurzportrait
21
Patriotismus
mit universalem
Anspruch
TOBIAS NIEDERSCHLAG
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
LEOŠ JANÁČEK
(1854–1928)
»Sinfonietta« für großes Orchester
1. »Fanfaren«:
Allegretto – Allegro – Maestoso
2. »
Die Burg«:
Andante – Allegretto – Maestoso
3. »
Das Königin-Kloster«:
Moderato (alla breve)
4. »
Die Straße«:
Allegretto
5. »
Das Rathaus«:
Allegro
Geboren am 3. Juli 1854 in Hukvaldy (Hochwald, Bezirk Místek / Mähren); gestorben
am 12. August 1928 in Moravský Ostrava
(Mährisch-Ostrau / Mähren).
ENTSTEHUNG
Für den VIII. Kongress des 1861 gegründeten tschechischen Sportvereins »Sokol«
(Falke), dessen Mitglied er seit 1876 war,
komponierte Janáček Anfang März 1926
eine festliche Eröffnungsfanfare; aus der
Gelegenheitsarbeit entwickelte sich bis Mai
1926 ein 5-sätziges symphonisches Projekt, in dem sich die tschechische Revolution von 1918 mit einem musikalischen Portrait der Stadt Brünn zur gedanklichen Einheit verband.
WIDMUNG
»Dem freien tschechischen Menschen«: Mit
dieser Widmung spielte Janáček auf die Befreiung der tschechischen Nation vom Joch
der Habsburger-Herrschaft an. Eine zweite
Widmung ging an Rosa Newmarch (1857–
1940), eine englische Musikpublizistin und
Leoš Janáček: »Sinfonietta«
22
Konzert­managerin, die sich tatkräftig für
die Verbreitung von Janáčeks Werken in
Großbritannien einsetzte. Im Autograph
hatte der Komponist seinem Werk noch den
Titel »Militär-Sinfonietta« gegeben und es
der »tschechoslowakischen Wehrmacht«
gewidmet.
Bäumen: man schaut hin, und aus der Lende
des Baums wächst ein junges Zweiglein
hervor. Meine letzte schöpferische Periode
– die ist so ein neuer Ausbruch einer Seele,
die mit der übrigen Welt fertig ist und dem
schlichten tschechischen Menschen so
nahe wie nur möglich sein will.«
URAUFFÜHRUNG
Leoš Janáčeks Worte machen deutlich, wie
sehr sich der Komponist in seinen letzten
Lebensjahren der tschechischen Heimat verbunden fühlte. Seit Gründung der Tsche­
choslowakischen Republik am 28. Oktober
1918 und der damit verbundenen, lang ersehnten Befreiung von der Habsburger-­
Fremdherrschaft befand er sich in einer andauernden patriotischen Hochstimmung,
die er in vielen seiner Spätwerke zum Ausdruck brachte. Eine dieser Kompositionen
ist die 1926 entstandene »Sinfonietta«, mit
der Janáček, mittlerweile 71 Jahre alt, noch
einmal kompositorisches Neuland betrat:
Galt er bis dahin in erster Linie als Opernkomponist (der Durchbruch war ihm erst
1916 mit der Prager Aufführung seiner Oper
»Jenůfa« gelungen), so bereicherte er sein
überschaubares Instrumentalschaffen nun
erstmals um ein symphonisches Werk – eine
»kleine Symphonie« für großes Orchester.
Am 26. Juni 1926 in Prag (Orchester der
Tschechischen Philharmonie unter Leitung
von Václav Talich); der 1. Satz (»Fanfaren«)
als separates Werk wurde seiner ursprünglichen Bestimmung entsprechend am 7. Juli
1926 in Prag beim VIII. Kongress des tschechischen Sportvereins »Sokol« erstaufgeführt.
»DURCH KAMPF ZUM SIEG«
INSTRUMENTALES SPÄTWERK
»Ich habe den Eindruck, als sei mir in meinem letzten Werk, in der ›Sinfonietta‹, am
besten gelungen, mich so dicht wie nur
möglich dem Gemüt des schlichten Menschen anzuschmiegen. Auf diesem Wege
möchte ich weitergehen. Obwohl ich bei
Jahren bin, beginnt, so will mir scheinen, in
meinem Schaffen ein neues Äderchen, ein
neues Zweiglein zu wachsen. Wie an den
vier- und fünfhundertjährigen Hukvalder
Verschiedene Einflüsse regten Janáček zur
Komposition des Werkes an. Eine erste Inspiration erhielt er im Sommer 1925, als er
mit Kamilla Stösslová, der Muse seiner späten Jahre, ein Freiluftkonzert in der südböhmischen Stadt Písek besuchte. Dort
spielte eine Militärkapelle, deren strahlender Klang Janáček faszinierte. Bleibenden
Eindruck hinterließ auch die Spielweise der
Musiker, die sich beim Anstimmen ihrer Fanfaren jeweils von ihren Plätzen erhoben. Der
konkrete Auslöser für die Komposition der
Leoš Janáček: »Sinfonietta«
23
Leoš Janáček im Garten seines Sommerhauses in Hukvaldy/Mähren (1926)
Leoš Janáček: »Sinfonietta«
24
»Sinfonietta« war dann aber ein Artikel in
der Tageszeitung »Lidové noviny«, in dem
nach »irgendwelchen Noten« für ein 1926
geplantes Schauturnen der Turnergemeinschaft »Sokol« (Falke) in Prag gesucht wurde. Janáček war seit 1876 Mitglied dieser
Vereinigung, die – durchaus vergleichbar
der Mission des deutschen »Turnvaters«
Friedrich Ludwig Jahn – Nationalbewusstsein mit einer an antiken Idealen orientierten Sportbegeisterung verband, und ließ
sich nicht zweimal bitten: Anfang März 1926
begann er mit der Komposition einer Fest­
fanfare.
Im Laufe der Arbeit wuchs die geplante Freiluftmusik schließlich Satz um Satz zu einer
letztendlich fünfsätzigen »Sinfonietta« an.
Am 29. März 1926, nach nur drei Wochen,
teilte Janáček Kamilla Stösslová mit, dass
er soeben eine »gar nette ›Sinfonietta‹ mit
Fanfaren« beende. Im Autograph gab er
dem Werk den patriotischen Titel »Militär-­
Sinfonietta« und widmete es der »tsche­
choslowakischen Wehrmacht«. Deren Aufgabe sah er darin, die schwer errungene
politische Freiheit des jungen tschechischen Staates zu verteidigen.
VERBORGENES PROGRAMM
Der VIII. »Sokol«-Kongress fand am 7. Juli
1926 in Prag statt. Zu diesem Anlass erklang – wie geplant – die festliche Eröffnungsfanfare der »Sinfonietta«. Das vollständige Werk war aber bereits am 26. Juni
in Prag zum ersten Mal zu hören, gespielt
von der Tschechischen Philharmonie unter
Václav Talich. Für diese Uraufführung skizzierte Janáček eigens einen programmatischen »Entwurf«, mit dem er auf ein verborgenes Programm des Werkes hinwies. Die
einzelnen Sätze bezeichnete er darin wie
folgt: »1. Fanfaren, 2. Die Burg, 3. Das Köni-
gin-Kloster, 4. Die Straße, 5. Das Rathaus«.
Diese Anmerkungen schienen das Verständnis der »Sinfonietta« zunächst nicht
zu erleichtern; ihr Erklärungswert entpuppte sich erst im Zusammenhang mit einer
Textstelle aus Janáčeks Feuilleton »Moje
město« (Meine Stadt) vom 27. Dezember
1927 – einer Huldigung an »seine Stadt«
Brno (Brünn): »Und da gewahrte ich die
Stadt in wunderbarer Verwandlung. In mir
schwand der Widerwille gegen das düstere
Rathaus, der Hass gegen den Berg, in dessen Eingeweiden so viel Schmerz gebrüllt
hatte, die Abneigung gegen die Straße und
was in ihr wimmelte. Über der Stadt der
Lichtglanz der Freiheit, die Wiedergeburt
des 28. Oktober 1918 ! Ich konnte mich an
dem Glanz nicht satt sehen, ich war ein Teil
von ihm. Und das Schmettern sieghafter
Trompeten, die heilige Ruhe des im Hohlweg
versunkenen Königin-Klosters, die nächt­
lichen Schatten und die Atemzüge des grünen Berges und die Vision des sicheren
Aufschwungs und der Größe der Stadt erstanden in meiner ›Sinfonietta‹ aus dieser
Erkenntnis, aus meiner Stadt – Brno !«
Die »Sinfonietta« spiegelt also in gewisser
Weise die Revolutionstage von 1918 wider,
wie sie Janáček in Brünn erlebte: Bei dem
»Rathaus« handelt es sich um das tschechische Rathaus in Brünn, die »Burg« bezeichnet den »Berg, in dessen Eingeweiden so
viel Schmerz gebrüllt hatte«, den berüchtigten Brünner Spielberg mit seinen für politische Häftlinge bestimmten Kasematten.
Und die »Straße« ist nichts anderes als die
Brünner Gasse, mit ihrem neu gewonnenen
freien Leben und Treiben. Der Janáček-Biograph Jaroslav Vogel wies darauf hin, dass
die Stadt Brünn hier als »pars pro toto« aufzufassen ist – »als Symbol der gesamtstaatlichen Wiedergeburt, […] und wir verstehen nun auch das Eingreifen dieser frei-
Leoš Janáček: »Sinfonietta«
25
Leoš Janáček zwischen Rosa Newmarch (links) und Jan Masaryk (rechts),
als dieser noch tschechischer Gesandter in London war (1926)
Leoš Janáček: »Sinfonietta«
26
lich nur imaginären ›Militärsignale‹ in alle
Sätze der ›Sinfonietta‹ mit Ausnahme des
›Kloster‹-Satzes«.
LEBENDIGES KEIMEN
Mit ihren gut 20 Minuten Spielzeit ist die
»Sinfonietta« durchaus eine »kleine Symphonie«; in einigen Aspekten aber unterscheidet sie sich grundlegend von der
spätromantischen Symphonie-Tradition.
Mit kurzen, prägnanten Motiven etwa (statt
groß angelegten symphonischen Themen)
schafft sie sich ihre eigene Form – eine ähnliche Gestaltung wie in Janáčeks Opern.
Darüber hinaus verzichtet die Komposition
weitgehend auf den Mischklang vieler
spätromantischer Symphonien. In den fünf
Sätzen werden die Instrumentengruppen
vielmehr klar voneinander abgegrenzt. Jeder Satz hat sein eigenes instrumentatorisches Profil. So ist der 1. Satz (Allegro), die
ursprüngliche Fanfare, dem Charakter einer
Freiluftmusik entsprechend einzig auf den
Klang von Blechbläsern und Pauken gestellt: Das Ensemble besteht hier aus neun
Trompeten, zwei Tenortuben, zwei Bass­
trompeten und zwei Paar Kesselpauken
(eigentlich verlangt Janáček Militärmusiker,
die nach dem Vorbild von Písek im Stehen
blasen). Das musikalische Material zeichnet
sich durch häufige Quarten und Quinten
aus. Janáček führt in diesem Satz ein »Keimen« von Motiven vor, wie es in vielen seiner Werke anzutreffen ist: Aus einem glockenartigen Ostinato-Motiv in den Tuben
entwickelt sich ein weiteres, schnelleres
»Glockenmotiv« der Pauken. Als nächste
Ableitung setzen die Trompeten mit ihren
Fanfaren ein. Diese werden im weiteren
Verlauf beschleunigt (Allegro), durch kanonische Einsätze verdichtet und gipfeln
schließlich in einer majestätischen Vergrößerung (Maestoso).
Der 2. Satz, ein Andante, lebt weitgehend
von der Gegenüberstellung von Holzbläsern
und Streichern. Zunächst dominiert das
Holz, mit einer strudelnden Klangfläche,
bestehend aus Ganztönen. Die Oboen stimmen darauf ein burleskes Tanzmotiv an, das
schon bald von den Streichern aufgegriffen
wird. In einem ruhigeren Abschnitt werden
die anfänglichen Figurationen als Begleitung fortgesetzt, dazu erklingt – zunächst
in Flöte und Oboe – ein weit gespannter,
lyrischer Melodiebogen, der von verschiedenen Instrumenten übernommen wird. In
einer durchführungsartigen Episode schich­
tet sich die Musik immer höher empor – und
mündet letztlich in den Wiedereinsatz der
Trompeten (Maestoso): ein Freiheitssymbol,
das die vorherigen Schrecken des Spielbergs sieghaft überstrahlt.
LYRISCHES HERZSTÜCK
Zunächst vom Streicherklang beherrscht ist
der 3. Satz (Moderato), das lyrische Herzstück des Werks. In einer Art »Notturno«
schildert Janáček eine Nacht in der Umgebung des Alt-Brünner Königin-Klosters. Die
Musik ist von chromatischer Farbigkeit, ein
Gegensatz zur Schroffheit des diatonischen
2. Satzes. Über einem Orgelpunkt in Tuba
und Bassklarinette intonieren die gedämpften Violinen und Celli eine sehnsuchtsvolle
Melodie, begleitet von Achtelfiguren in Harfe und Bratschen. Das Hauptmotiv wandert
durch verschiedene Instrumente, scheint
schließlich in Flöten und Celli zu verklingen.
Plötzlich wechselt der Charakter: Im Mittelteil präsentieren die Posaunen ein dunkles,
synkopiertes Motiv, darüber sausende Einwürfe der Flöten; die Musik nimmt dramatische Züge an. Vogel deutete diesen nächtlichen Spuk als den »Reiterauftritt eines
Fasnachtshusaren auf einem künstlichen
Pferd«. Aber erinnerte sich Janáček hier
Leoš Janáček: »Sinfonietta«
27
Leoš Janáček, 70-jährig (1924)
Leoš Janáček: »Sinfonietta«
28
nicht vielleicht auch an Strenge und Zucht
seiner Internatszeit, die er in dem Augustinerkloster absolvierte, an sein »armes, dort
verbrachtes Jünglingsdasein« ?
Der 4. Satz (Allegretto) hat die Funktion
eines Scherzos. Von zentraler Bedeutung
ist ein kurzes, tanzartiges Ostinato-Motiv,
das zu Beginn von den Trompeten vorgestellt wird. Unter ständiger Wiederholung
wird es variiert, nimmt in verschiedenen
Instrumenten immer neue Gestalt an. Dabei
fehlt es nicht an musikalischem Witz: »Vorzeitige« Einsätze in Trompete und Glockenspiel werden vom restlichen Orchester quasi »korrigiert«. Der bunte Charakter des Satzes wird durch unvermittelt einsetzende
Presto-Passagen unterstrichen, die sich
aber schnell wieder beruhigen – ein leben­
diges Bild der »Straße und was in ihr wimmelte«.
PERSÖNLICHE BEFREIUNG
Als Finale folgt ein Allegro (mitunter auch
als Andante con moto bezeichnet), das zunächst eine Melodie der Holzbläser mit Figurationen der Streicher kombiniert. Das
wehmütige Thema, das die Flöten in den
Anfangstakten anstimmen, wird im weiteren Verlauf kunstvoll verarbeitet, in einzelne Motive aufgespalten, verwandelt. Die
ständige, suggestive Steigerung der Musik
mündet schließlich in den Unisono-Einsatz
der Trompeten, welche die Wiederkehr der
feierlichen Fanfaren des Kopfsatzes einleiten: Die Klänge von Blech und Pauken sind
nun um flirrende Triller und Tremoli der
Streicher und Holzbläser erweitert, das Orchester zum Tutti ergänzt. Das Werk gipfelt
in einem kurzen, monumentalen Nachspiel
(Adagio). Auch der Finalsatz lässt sich biographisch deuten: Schildert der Beginn die
»düstere« Atmosphäre des Rathauses, in
dem Janáček die deutsche (!) Unterrealschule besuchte, so bedeuten die strahlenden Fanfaren am Satzende neben der politischen auch eine ganz persönliche Befreiung.
Die »Sinfonietta« als eine Art klingende
Autobiographie ? Und zugleich eine patriotische Militärmusik ? Das persönliche Schicksal ist in dieser Komposition eng mit dem
nationalen verschränkt. Dies geht u. a. auch
aus den verschiedenen Widmungen hervor,
die Janáček dem Werk beifügte: Neben der
»nationalen« Widmung an die »tschechische Wehrmacht« eignete er die Druckausgabe der »Sinfonietta« der Musikschriftstellerin Rosa Newmarch zu, die sich in England für seine Werke einsetzte und der er
sich freundschaftlich verbunden fühlte.
Tschechische Nationalmusik in England ?
Der Patriotismus der »Sinfonietta«, wie der
Spätwerke Janáčeks generell, ist vermutlich in einem größeren Zusammenhang zu
sehen: etwa im Sinne des politischen Programms des »Sokol«-Vereins, das Vogel als
ein »warmes nationales Fühlen mit Vermeidung jeglicher Unduldsamkeit gegen Menschen einer anderen Sprache und Nation«
beschrieb. Vor diesem Hintergrund stehen
die Fanfaren der »Sinfonietta« für die Befreiung von Unterdrückung ganz allgemein,
der Optimismus des Werkes für eine grundsätzliche Freude über die wieder erlangte
Freiheit. Dies wohl schloss Janáček mit ein,
als er – in einer wieder anderen Widmung
– erklärte, dass er in der »Sinfonietta« »den
freien tschechischen Menschen von heute
zum Ausdruck bringen« wollte, »seine geistige Schönheit und Freudigkeit, aber auch
seine Kraft und seinen Mut, durch Kampf
zum Sieg zu schreiten«.
Leoš Janáček: »Sinfonietta«
29
Juraj
Valčuha
DIRIGENT
Juraj Valčuha (geb. 1976) ist Chefdirigent
des Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI
Turin. Er studierte Komposition und Dirigieren in Bratislava, in St. Petersburg (bei Ilya
Musin) und in Paris. 2005/06 dirigierte er
das Orchestre National de France sowie anschließend regelmäßig die Münchner Philharmoniker, das Rotterdam Philharmonic,
die Staatskapelle Dresden, das Philharmonia Orchestra, die Swedish Radio Symphony, das Los Angeles Philharmonic, die Pittsburgh Symphony, die National Symphony
Washington, das Orchestre de Paris, das
Orchestra di Santa Cecilia und das Orches­
tra del Maggio Musicale Fiorentino. Mit dem
Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI
gastierte er im Wiener Musikverein, in der
Berliner Philharmonie und mit Cellist Yo-Yo
Ma bei den Abu Dhabi Classics. 2012 debütierte er bei den Berliner Philharmonikern,
beim Royal Concertgebouw und bei der
Boston und Cincinnati Symphony. Wiedereinladungen führten ihn zum Philharmonia
Orchestra, zur Staatskapelle Dresden, zu
den Münchner Philharmonikern und zur
Pittsburgh Symphony. 2013/14 debütierte
er beim New York Philharmonic, bei der San
Francisco Symphony sowie bei der Filarmonica della Scala und dirigierte das Philharmonia Orchestra, die Pittsburgh Symphony
sowie die WDR- und NDR-Orchester in Köln
und Hamburg. In Florenz leitete er Puccinis
»Madama Butterfly« und Prokofjews »Liebe
zu den drei Orangen«. Highlights in 2014/15
umfassten seine Rückkehr zum Los Angeles
Philharmonic, zur Montreal, Pittsburgh, Cincinnati und San Francisco Symphony sowie
sein Debüt bei den Wiener Symphonikern
und beim Konzerthausorchester Berlin.
Außerdem leitete er Puccinis »Turandot« in
Neapel und Janáčeks »Jenůfa« in Bologna.
2015/16 steht er wieder am Pult des New
York Philharmonic, der Pittsburgh und San
Francisco Symphony, des Philharmonia Orchestra, des NDR-Sinfonieorchesters Hamburg, der Tschechischen Philharmonie und
der Santa Cecilia in Rom.
Der Künstler
30
Die Philharmoniker
als Botschafter
tschechischer und
polnischer Musik
GABRIELE E. MEYER
Am 14. Oktober 1893 begann die philharmonische Orchestergeschichte in München mit
der Wiedergabe von Smetanas Ouvertüre zu
»Die verkaufte Braut«. Dieses Stück sowie
die Tondichtungen »Die Moldau« und
»Vyšehrad« aus »Má Vlast« gehörten über
viele Jahre ebenso zum Standardrepertoire
wie Antonín Dvořáks Cellokonzert op. 104.
Gerne wurden auch die beiden Klavierkonzerte von Frédéric Chopin aufs Programm
gesetzt, ergänzt durch das Konzert-Allegro
A-Dur in einer Bearbeitung von Jean Louis
Nicodé für Klavier und Orchester. Andere
polnische und tschechische Komponisten
wurden meist nur einmal vorgestellt. Zu
­ihnen zählten Mieczysław Karłowicz, Emil
Młynarski, Ignacy Paderewski, Karol Szymanowski und Henri Wieniawski sowie Josef
Suk und Jaromír Weinberger. Eine Ausnahme
bildete Leoš Janáček, von dem innerhalb
kurzer Zeit gleich drei Werke zu hören waren.
Sehr viel später setzte man aus politisch-­
ideologischen Gründen fast ausschließlich
auf kroatische Komponisten wie Krešimir
Baranović, Jakov Gotovac, Boris Papandopulo und Josip Slavenski.
Wie unterschiedlich heute zum klassischen
Kanon zählende Werke erstmals aufgenommen wurden, zeigen zwei Beispiele. Kaum zu
glauben: Am 16. April 1904 wurde Ignacy
Paderewskis in München noch unbekanntes
Klavierkonzert op. 17 mit wesentlich größerem Beifall bedacht als Schumanns »selten
gehörtes« Konzert op. 54; andererseits aber
stieß Dvořáks Symphonie »Aus der Neuen
Welt« bei ihrer ersten Aufführung am 5. Januar 1898 zunächst auf indignierte Ablehnung. So ließ die »Münchner Post« verlauten,
dass man anstelle der »neuen amerikanischen, bei den Yankees patentirten Unterhaltungs- und Plantagen-Symphonie des
vielstrebenden Herrn Dvorak« lieber einen
zeitgenössischen deutschen Tondichter wie
Richard Strauss gehört hätte. Die »Münchner
Neuesten Nachrichten« bekrittelten die
»dummpfiffige Lustigkeit« des zweiten, national gefärbten Themas (Kopfsatz), die motivische Kleinteiligkeit »und alle möglichen,
mit äußerster Finesse in Szene gesetzten
Instrumentaleffekte des langsamen Satzes,
der durch seine Länge allerdings doch sehr
ermüdend wirkt«. Das verhältnismäßig origi-
Slawische Musik in München
31
Konzertankündigung für den 6. März 1930 mit der Münchner Erstaufführung
der »Glagolitischen Messe« von Leoš Janáček durch die Münchner Philharmoniker
Slawische Musik in München
32
nelle Scherzo lehnte sich ihrer Meinung nach
zu sehr an den gleichartigen Satz aus der
»Harold«-Symphonie von Berlioz an. Und
auch dem effektvoll aufgebauten Finale
sprach der Kritiker keine besondere Originalität zu. Als Bereicherung der symphonischen Literatur, so sein Fazit, könne man das
Werk jedenfalls nicht bezeichnen.
Janáčeks 1926 entstandene »Sinfonietta«
erklang in München zum ersten Male am
1. März 1929. Nur ein knappes Jahr später
folgte unter der Leitung von Adolf Mennerich
die Orchester-Rhapsodie »Taras Bulba«,
schließlich, am 6. März 1930, im Rahmen der
»Woche Neuer Musik«, die »Glagolitische
Messe«. Vier Tage vor der Aufführung ver­
öffentlichten die »Münchner Neuesten
Nachrichten« eine ausführliche Einführung,
erstaunlich in ihrer detaillierten Beschreibung der einzelnen Teile, gepaart mit viel
Einfühlungsvermögen in die stilistischen
Besonderheiten des Werks. Gleichwohl rea­
gierten Konzertbesucher und Pressevertreter
ob der Auslegung des Messetextes teilweise
irritiert, ungeachtet der Tatsache, dass sie
das satztechnisch geniale Können, die phänomenal temperamentvolle Schaffenskraft,
die den 72-jährigen Komponisten diese großartige Schöpfung vollbringen ließ, durchaus
anerkannten. Der stürmische Beifall in der
ausverkauften Tonhalle galt zuvörderst der
ausgezeichneten Leistung aller Ausführenden, dem Chor, »der die enormen Schwierigkeiten schon hinsichtlich Treff­sicherheit und
Intonation hervorragend bewältigte«, den
Philharmonikern, »die alles gaben, was der
Dirigent an Klang und Ausdruck von ihnen
forderte« und dem ausgezeichneten Organisten. Einhelliges Lob gab es auch für die
Solisten, vor allem für Julius Patzak.
Auch für das Konzert am 5. Januar 1938, das
im Rahmen des deutsch-polnischen Kulturaustausches stattfand, gab es einen Vorbericht, der Bezug nimmt auf ein vorausgegangenes, äußerst erfolgreiches Konzert in
Polen. Der Dirigent Adolf Mennerich war
Anfang Dezember 1937 in Begleitung des
philharmonischen Solocellisten Hermann
von Beckerath nach Posen gereist und hatte mit dem dortigen Symphonieorchester
musiziert. »Die Hauptstadt der Bewegung«,
so hieß es, »hält es nun für eine Ehrenpflicht, auch den polnischen Gästen einen
würdigen Empfang zu ihrem Konzert zu bereiten und dabei ihrem Dank für die außerordentliche herzliche Aufnahme der deutschen Künstler in Polen Ausdruck zu geben«.
Neben Wagners »Holländer«-Ouvertüre und
Dvořáks »Neunter« stellte Zygmunt Latoszewski zwei in München noch unbekannte
Komponisten vor: Von Mieczysław Karłowicz erklang die romantische Legende
»Stanislaw und Anna Oswiecimowie«, von
Karol Szymanowski dessen Violinkonzert
Nr. 1 op. 35, gespielt von Zdzislaw Jahnke.
Dirigent und Solist wurden nicht nur »hinsichtlich der glänzenden Wiedergabe der
von ihnen gebrachten Stücke« bejubelt,
sondern auch dafür, dass sie zwei neue
Werke ihrer Landsleute mitgebracht hatten.
– Der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 beendete die »friedliche Verständigung zwischen den beiden Nationen«
abrupt. In der Folge wurde der Anteil an
ausländischer Musik je nach Kriegsverlauf
auf ein Mindestmaß reduziert. Von den slawischen Komponisten blieben am Ende nur
noch die kroatischen übrig.
Slawische Musik in München
33
Sonntag
14_02_2016 11 Uhr m
Dienstag
16_02_2016 20 Uhr f
Mittwoch
17_02_2016 20 Uhr a
Dienstag
01_03_2016 20 Uhr f
Mittwoch
02_03_2016 20 Uhr h4
Donnerstag
03_03_2016 20 Uhr b
WOJCIECH KILAR
»Orawa« für Streichorchester
WITOLD LUTOSŁAWSKI
Konzert für Orchester
BEDŘICH SMETANA
»Vyšehrad«, »Vltava« (Die Moldau)
und »Šárka« aus dem Zyklus
»Má Vlast« (Mein Vaterland)
ANTON BRUCKNER
»Ave Maria« für
7-stimmigen Chor
a cappella
KAROL SZYMANOWSKI
»Stabat Mater« für Sopran, Alt,
Bariton, Chor und Orchester
ANTON BRUCKNER
Symphonie Nr. 2 c-Moll
(Fassung 1877)
KRZYSZTOF URBAŃSKI
Dirigent
Montag
22_02_2016 20 Uhr e4
Dienstag
23_02_2016 19 Uhr
2. Jugendkonzert
Montag
22_02_2016 10 Uhr
Öffentliche Generalprobe
THOMAS DAUSGAARD
Dirigent
TATIANA MONOGAROVA
Sopran
OLESYA PETROVA
Mezzosopran
ADAM PALKA
Bariton
PHILHARMONISCHER CHOR MÜNCHEN
Einstudierung: Andreas Herrmann
FRANCISCO COLL
»Hidd’n Blue« für Orchester
ROBERT SCHUMANN
Konzert für Violoncello und
Orchester a-Moll op. 129
LUDWIG VAN BEETHOVEN
Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68
»Pastorale«
GUSTAVO GIMENO
Dirigent
JULIAN STECKEL
Violoncello
Vorschau
34
Die Münchner
Philharmoniker
1. VIOLINEN
Sreten Krstič, Konzertmeister
Lorenz Nasturica-Herschcowici,
Konzertmeister
Julian Shevlin, Konzertmeister
Odette Couch, stv. Konzertmeisterin
Lucja Madziar, stv. Konzertmeisterin
Claudia Sutil
Philip Middleman
Nenad Daleore
Peter Becher
Regina Matthes
Wolfram Lohschütz
Martin Manz
Céline Vaudé
Yusi Chen
Iason Keramidis
Florentine Lenz
2. VIOLINEN
Simon Fordham, Stimmführer
Alexander Möck, Stimmführer
IIona Cudek, stv. Stimmführerin
Matthias Löhlein, Vorspieler
Katharina Reichstaller
Nils Schad
Clara Bergius-Bühl
Esther Merz
Katharina Triendl
Ana Vladanovic-Lebedinski
Bernhard Metz
Namiko Fuse
Qi Zhou
Clément Courtin
Traudel Reich
BRATSCHEN
Jano Lisboa, Solo
Burkhard Sigl, stv. Solo
Julia Rebekka Adler, stv. Solo
Max Spenger
Herbert Stoiber
Wolfgang Stingl
Gunter Pretzel
Wolfgang Berg
Beate Springorum
Konstantin Sellheim
Julio López
Valentin Eichler
Yushan Li
VIOLONCELLI
Michael Hell, Konzertmeister
Floris Mijnders, Solo
Stephan Haack, stv. Solo
Thomas Ruge, stv. Solo
Herbert Heim
Veit Wenk-Wolff
Sissy Schmidhuber
Elke Funk-Hoever
Manuel von der Nahmer
Isolde Hayer
Sven Faulian
David Hausdorf
Joachim Wohlgemuth
Das Orchester
35
KONTRABÄSSE
Sławomir Grenda, Solo
Fora Baltacigil, Solo
Alexander Preuß, stv. Solo
Holger Herrmann
Stepan Kratochvil
Shengni Guo
Emilio Yepes Martinez
Ulrich Zeller
Thomas Hille
Alois Schlemer
Hubert Pilstl
Mia Aselmeyer
TROMPETEN
Guido Segers, Solo
Bernhard Peschl, stv. Solo
Franz Unterrainer
Markus Rainer
Florian Klingler
FLÖTEN
POSAUNEN
Michael Martin Kofler, Solo
Herman van Kogelenberg, Solo
Burkhard Jäckle, stv. Solo
Martin Belič
Gabriele Krötz, Piccoloflöte
Dany Bonvin, Solo
David Rejano Cantero, Solo
Matthias Fischer, stv. Solo
Quirin Willert
Benjamin Appel, Bassposaune
OBOEN
PAUKEN
Ulrich Becker, Solo
Marie-Luise Modersohn, Solo
Lisa Outred
Bernhard Berwanger
Kai Rapsch, Englischhorn
Stefan Gagelmann, Solo
Guido Rückel, Solo
Walter Schwarz, stv. Solo
KLARINETTEN
Alexandra Gruber, Solo
László Kuti, Solo
Annette Maucher, stv. Solo
Matthias Ambrosius
Albert Osterhammer, Bassklarinette
FAGOTTE
Lyndon Watts, Solo
Jürgen Popp
Johannes Hofbauer
Jörg Urbach, Kontrafagott
HÖRNER
Jörg Brückner, Solo
~eira, Solo
Matias Pin
Ulrich Haider, stv. Solo
Maria Teiwes, stv. Solo
Robert Ross
SCHLAGZEUG
Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger
Jörg Hannabach
HARFE
Teresa Zimmermann
CHEFDIRIGENT
Valery Gergiev
EHRENDIRIGENT
Zubin Mehta
INTENDANT
Paul Müller
ORCHESTERVORSTAND
Stephan Haack
Matthias Ambrosius
Konstantin Sellheim
Das Orchester
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IMPRESSUM
Herausgeber:
Direktion der Münchner
Philharmoniker
Paul Müller, Intendant
Kellerstraße 4
81667 München
Lektorat:
Stephan Kohler
Corporate Design:
HEYE GmbH, München
Graphik:
dm druckmedien gmbh
München
Druck:
Gebr. Geiselberger GmbH
Martin-Moser-Straße 23
84503 Altötting
TEXTNACHWEISE
Marcus Imbsweiler, Jakob
Knaus, Wolfgang Stähr,
Tobias Niederschlag und
Gabriele E. Meyer schrieben ihre Texte als Originalbeiträge für die Programmhefte der Münchner Philharmoniker. Stephan Kohler
redigierte bzw. verfasste
die lexikalischen Werkangaben und Kurzkommentare zu den aufgeführten
Werken. Künstlerbiographie (Valčuha): Nach Agenturvorlagen. Alle Rechte bei
den Autorinnen und Autoren; jeder Nachdruck ist
seitens der Urheber ge-
nehmigungs- und kostenpflichtig.
BILDNACHWEISE
Abbildungen zu Antonín
Dvořák: Antonín Hořejš,
Antonín Dvořák – Sein Leben und Werk in Bildern,
Prag 1955. Abbildungen zu
Bohuslav Martinů: Hans
Jörg Jans / Felix Meyer /
Ingrid Westen (Hrsg.),
Kom­ponisten des 20. Jahrhunderts in der Paul Sacher
Stiftung, Basel 1986; Otto
Tomek / Eric Marinitsch
(Hrsg.), Universal Edition
1901–2001, Wien 2000;
Sammlung Stephan Kohler,
München. Abbildungen zu
Leoš Janáček: Jaroslav V­ogel, Leoš Janáček – Leben
und Werk, Kassel 1958.
Abbildung »Slawische Musik in München«: Münchner Stadtbibliothek – Musik­
bibliothek. Künstlerphotographie (Valčuha): Vermont
Classics.
TITELGESTALTUNG
»Dvořáks Stück handelt
von einem Wassermann,
der ein Mädchen in die Tiefen der See entführt und
sie schwängert. Das Mädchen bittet den Meeresbewohner, ihre Mutter besuchen zu dürfen, muss jedoch dafür ihr eigenes
Kind als Pfand bei ihm lassen. Als sie nicht zurück-
Impressum
kehrt, tötet der Wassermann das Kind und legt es
vor die Haustüre der Mutter. Die Brutalität und der
grausame Mord spiegeln
sich wieder in dem toten
Stück Schweinehaut, das
ich für das Plakat tätowiert
habe. Zu sehen ist der vereinsamte und grausame
Wassermann.«
(Miriam
Frank, 2016)
DIE KÜNSTLERIN
Miriam Frank wurde 1985
in München geboren und
ist damit ein echtes
Münchner Kindl. Auch
wenn sie immer wieder die
Stadt verlässt und zum
Gasttätowieren unterwegs
ist, zieht es sie regelmäßig
zurück in die Heimat – zu
Freunden und Familie, den
Bergen und die Stadt. Anlaufstelle ist auch stets
das eigene Tattoo-Atelier
»Farbenpracht« in München.
HAUPTSPONSOR
UNTERSTÜTZT
SAMSTAG, 16. JULI 2016, 20.00 UHR
VALERY GERGIEV DIRIGENT
DANIIL TRIFONOV KL AVIER
MÜNCHNER PHILHARMONIKER
PJOTR IL JITSCH TSCHAIKOWSKY
BALLET T- SUITE „SCHWANENSEE“ OP. 20A
KONZERT FÜR KL AVIER UND ORCHESTER NR.1 B - MOLL OP. 23
RICHARD STR AUSS
ORCHESTERSUITE AUS DER KOMÖDIE FÜR MUSIK
„DER ROSENK AVALIER“, OP. 59
M AURICE R AVEL
„BOLÉRO“
KARTEN: MÜNCHEN TICKET TEL.
089 / 54 81 8181
UND BEKANNTE VVK-STELLEN
WWW.KLASSIK–AM–ODEONSPLATZ.DE
DANK AN: MERCEDES-BENZ MÜNCHEN, BAYERNLB,
GAHRENS + BATTERMANN, ORGATECH,
STRÖER DEUTSCHE STÄDTE MEDIEN
’15
’16
DAS ORCHESTER DER STADT
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