382 ATF-ANERKANNTE INTERAKTIVE FORTBILDUNG ATF-ANERKANNT 1 DOI 10.2377/0023-2076-61-382 Kleintierpraxis Rheinallee, Mainz Desensibilisierung und Gegenkonditionierung – was verbirgt sich dahinter? Eine Übersicht für den praktischen Tierarzt Patricia Kaulfuß Zusammenfassung Summary Bei vielen Verhaltensauffälligkeiten findet man in der Literatur häufig als Therapieansätze Desensibilisierung und Gegenkonditionierung. Egal, ob es ängstliches Verhalten ist, Aggression oder auch abnormal-repetitive Verhaltensweisen (Stereotypien und Zwangsverhalten), bei fast allen Verhaltensstörungen bzw. Verhaltensproblemen kann man diese beiden Trainingsmethoden als Therapiemaßnahmen anwenden. Die Desensibilisierung gewöhnt ein Tier an einen Stimulus, worauf es zuvor unerwünscht reagiert hat. In den meisten Fällen ist dies Angst oder die daraus folgende Verhaltensweise des Tieres. Gegenkonditionierung hingegen ist eine Methode, durch die ein Verhalten aufkonditioniert wird, welches mit dem unerwünschten Verhalten unvereinbar ist. Beide Techniken werden üblicherweise gemeinsam verwendet, um die Therapie eines Verhaltensproblems zu optimieren. Doch wie erkläre ich den Besitzern die Durchführung und was ist der Schlüssel zum Erfolg? Dieser Artikel gibt dem praktizierenden Tierarzt einen Überblick über therapeutische Möglichkeiten in Form von verschiedenen Trainingsmethoden bei Problemverhalten mit praktischen Tipps für die Anwendung. Kenntnisse über die passende Trainingsmethode für bestimmte Bereiche der Verhaltensmedizin bieten dem Tierarzt die Möglichkeit, Besitzer kompetent zu beraten und auch bei Problemverhalten helfen zu können. Desensitisation and counter-conditioning. What exactly lies behind them? An overview for the practicing veterinarian Not only organic diseases can adversely affect the wellbeing of an animal, but also psychological discomfort often does not remain without consequences. In the literature, many behavioural problems are reported and both desensitisation and counter-conditioning have several times been suggested as therapeutic approaches. These two training methods can be applied as behavioural therapy in almost all behavioural disorders or problems whether the animal shows fearful behaviour, aggression or abnormal repetitive behaviour (stereotypies and compulsive behaviour). Desensitisation means getting an animal used to a particular stimulus to which it has previously responded undesirably. In most cases, the undesirable behaviour is fear or a behaviour resulting from fear. Counter-conditioning, however, is a method by which a behaviour is induced, which is incompatible with the undesirable behaviour. Both techniques are commonly used together to optimise the treatment of a behavioural problem. But how can the practicing veterinarian explain the implementation of these methods to the owner and what is the key to success? This overview should provide the practitioner with a little insight into these methods, including practical tips for their application. In addition, the article provides the practicing veterinarian with an overview of the different therapeutic options in the form of various practical training methods used in problem behaviour. Knowledge of the appropriate training method for certain areas of behavioural medicine provides the veterinarian with the opportunity to advise owners competently and also to help in combatting problem behaviour. Schlüsselwörter: Desensibilisierung, Gegenkonditionierung, Spieltherapie, Flooding Keywords: desensitisation, counter-conditioning, play therapy, flooding Einleitung Im Zuge der Domestikation unserer Haustiere und der damit immer weiter zunehmenden innigen Verbindungen zwischen Mensch und Tier spielt das Verhalten der Tiere eine wichtige Rolle in der Tier-Halter-Beziehung. Ist aber ein harmonisches Zusammenleben von Mensch und Tier aufgrund von problematischen Verhaltensweisen nicht mehr gewährleistet, bietet dies Anlass für eine Verhaltenstherapie. Kleintierpraxis 61, Heft 7 (2016), Seiten 382 - 398 383 ATF-ANERKANNTE INTERAKTIVE KTIVE FORTBILDUNG 1 Problemverhalten kann bei Haustieren in unterschiedlichster Form auftreten (z. B. Schroll und Dehasse, 2007): • abnormal-repetitive Verhaltensweisen, Stereotypien/ Zwangsverhalten (z. B. Putzzwang, Schwanzjagen, Gitternagen) • affektive Störungen (z. B. Posttraumatisches Stresssyndrom) • aggressives Verhalten (z. B. gegen Menschen, andere Tieren, Artgenossen) • Angstverhalten (z. B. vor Geräuschen, Menschen, anderen Tiere, unbekannten Dingen, Trennungsangst) • Persönlichkeitsstörungen (z. B. Hyperattachment) • Problemverhalten (z. B. Zerstören von Gegenständen, Vokalisation) • unangemessenes Jagdverhalten (z. B. von Personen, anderen Tieren) • usw. Mit der Häufigkeit des Auftretens von Verhaltensstörungen/Verhaltensproblemen wird auch die Bedeutung der Tierverhaltensmedizin immer größer, welche sich mit der Prophylaxe, Diagnosestellung und der Therapie von Verhaltensstörungen bzw. Verhaltensproblemen beschäftigt. Neben Modifikationen in der Haltung, kognitiven Therapien, Psychopharmaka, Nutriceutical, Pheromonen, komplementären und anderen Therapien stellt die Verhaltenstherapie einen der wichtigsten Grundpfeiler in der Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten dar (Landsberg et al., 2003; Horwitz und Mills, 2009; Schroll und Dehasse, 2009). Dabei wird der Begriff der Verhaltenstherapie als Intervention zwischen Tier und Halter verstanden. Zu den verschiedenen Techniken der Verhaltenstherapie gehören u. a. die systematische Desensibilisierung und Gegenkonditionierung, welche bei nahezu allen der o. g. Problemverhaltensweisen wirksame Anwendungen finden können. Daher soll die folgende Übersicht dem praktizierenden Tierarzt einen kleinen Einblick geben, wie man diese Trainingsmethoden erfolgreich einsetzen und somit verschiedenes Problemverhalten der Patienten reduzieren kann. Definitionen Desensibilisierung und Gegenkonditionierung sind zwei unterschiedliche Verhaltensmodifikationstechniken, welche entweder gemeinsam oder auch einzeln eingesetzt werden können. Beide Techniken sind zur Therapie von Verhaltensstörungen bei vielen Tierarten anwendbar. Nicht nur Hunde und Katzen sprechen gut darauf an, sondern auch bei Pferden (Diez und Huskamp, 2006; Zeitler-Feicht, 2008), Kaninchen (Kaulfuß, 2013) oder Vögeln (Luescher, 2006) finden diese Techniken Anwendung. Die Desensibilisierung ist eine Trainingsmethode, welche durch graduelle Konfrontation mit dem Stimulus (z. B. Feuerwerk), auf den zunächst die unerwünschte Reaktion folgt (z. B. Angst), eine Gewöhnung an den jeweiligen Stressor erzielen soll. Dabei muss die Intensität des Stimulus so gering gewählt werden, dass die unerwünschte Reaktion nicht ausgelöst wird. Nach und nach wird der Schwellenwert des Tieres in kleinen Schritten erhöht, bis das Problemverhalten schließlich gänzlich ausbleibt (Crowel-Davis, 2008). Die Gegenkonditionierung beruht auf der klassischen Konditionierung. Hierbei wird eine neue Reaktion, welche physiologisch und verhaltenstechnisch inkompatibel mit dem unerwünschten Verhalten ist, auf jenen Reiz aufkonditioniert, der ein unerwünschtes Verhalten auslöst (Crowel-Davis, 2008). Da beide Techniken verschiedene Trainingsansätze verfolgen und gemeinsam oftmals die größten Erfolge erzielen, werden sie häufig in Kombination eingesetzt (Crowel-Davis, 2008). Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Therapiesitzung Um bestmögliche Erfolge zu erzielen, ist es wichtig, dass die jeweilige Trainingsmethode ganz gezielt auf jeden einzelnen Patienten zugeschnitten wird (Landsberg et al., 2003; Horwitz und Mills, 2009). Um die Dauer und die Zielsetzung der Therapie zu optimieren, sollten die Einzelheiten sehr detailliert mit den Patientenbesitzern besprochen werden. Dazu gehören die Art, Dauer und Intensität des verursachenden Reizes und wo die Reizschwelle des Tieres liegt. Hinzu kommen die Vorlieben des Tieres, die Dauer und Häufigkeit der Sitzungen und die Möglichkeiten der Durchführung, was im Detail mit den Besitzern besprochen werden muss. Besonders bei ängstlichem Verhalten ist es wichtig, unterhalb der angstauslösenden Reizschwelle zu beginnen. Viele Besitzer erkennen jedoch die ersten Stressanzeichen ihrer Tiere nicht. Hecheln (z. B. Hund) oder mit der Schwanzspitze zucken (z. B. Katze) wird nicht von jedem Besitzer als Stressreaktion wahrgenommen. Unterschiede in den Haltungsbedingungen (z. B. bei Zwingerhaltung) oder auch tierartspezifische Unterschiede machen das Erkennen einer akuten Stressreaktion für manche Besitzer noch schwieriger. Bei langhaarigen Hunderassen wie z. B. Bobtails könnten Stressanzeichen wie Piloerektion oder geweitete Pupillen übersehen werden (weiterführend: Kaulfuß, 2015). Dennoch sollten solche Anzeichen wahrgenommen und individuell mit den Besitzern besprochen werden. Die Geschwindigkeit des Voranschreitens sollte an das individuelle Lerntempo des jeweiligen Patienten und nicht an die Ungeduld des Besitzers angepasst werden. Erfahrungsgemäß ist der häufigste Fehler der Besitzer ein zu schnelles Arbeiten während der Trainingseinheiten (Abb. 3B). Ein realistischer Zeitplan für die Zielsetzung kann hier hilfreich sein (Schroll und Dehasse, 2009). Aber nicht nur die ausführliche Anamnese, sondern auch die Compliance der Besitzer kann den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg ausmachen. Da nicht nur das Tier lernen sollte, mit dem unerwünschten Reiz richtig umzugehen, sondern auch der Besitzer lernen muss, dem Tier dabei zu helfen und das richtige Verhalten beizubringen, sollte man als Tierarzt auch verschiedene Lehransätze berücksichtigen. Genau wie jedes Tier nicht gleich lernt, haben auch Menschen unterschiedliche Gewohnheiten oder Ausrichtungen, sich Dinge zu merken. Daher sollen im Folgenden einige hilfreiche Tipps für eine erfolgreiche Therapiesitzung gegeben werden. Alle Bezugspersonen einbeziehen! Das Einbeziehen aller Bezugspersonen ist ein wichtiger Punkt, der unbedingt berücksichtigt werden sollte. Nicht selten wird bei der Erhebung einer Anamnese ein Pärchen zum Krankheitsbild ihres Tieres befragt, zeitgleich sagt der eine „ja“, während der andere vehement mit dem Kopf schüttelt. Ebenso verhält es sich oft bei unterschiedlichen Personen im Verhalten gegenüber dem Tier. Daher ist es wichtig, alle Bezugspersonen in die Trainingsmethoden 384 ATF-ANERKANNTE INTERAKTIVE IN FORTBILDUNG Kleintierpraxis 61, Heft 7 (2016), Seiten 382 - 398 1 einzubeziehen, damit ein gleichsam konsequentes und konsistentes Verhalten aller Personen gegenüber dem Tier erzielt wird. Nur wenn alle Bezugspersonen „am gleichen Strang ziehen“ und sich z. B. während der Gegenkonditionierung gleich verhalten, kann das Tier am schnellsten lernen. Inkonsistenz erschwert die Zielsetzung, da eine Verwirrung des Tieres erfolgen und alle Beteiligten im Lernerfolg zurückwerfen kann. Des Weiteren kann man so sicherstellen, dass alle Personen die Trainingsansätze auch gleich verstanden haben und nicht Informationen bei der Weitergabe von Erklärungen verloren gehen. Ein zusätzlicher Vorteil ist auch, dass sich die Besitzer somit untereinander kontrollieren und korrigieren können, wenn der Tierarzt selbst beim Training nicht mehr anwesend ist. Lernverhalten: Lesen, schreiben, hören, tun! Wie oben bereits erwähnt, lernt jeder Mensch anders. Die einen lesen einen Text und nehmen die Informationen damit auf. Die nächsten lassen sich die Dinge lieber erklären. Wiederum andere schreiben sich die wichtigsten Informationen auf und andere müssen das Training einmal selbst gemacht haben, um sich die Details am besten merken zu können. Da man während der Therapie nicht wissen kann, zu welcher Lerngruppe die jeweiligen Personen gehören, wendet man am besten alles an. Unterstützend kann man sich Merkblätter für die Patientenbesitzer anfertigen, welche man aushändigen kann und worin die wichtigsten Punkte der Desensibilisierung und Gegenkonditionierung beschrieben sind. Dann sollte man den Besitzern die wichtigsten Punkte erneut erklären und den Text mit Ergänzungen individualisieren, die auf das jeweilige Tier zugeschnitten sind. Die Besitzer selbst sollten sich auch in eigenen Worten Stichpunkte aufschreiben dürfen. Alle wichtigen Punkte sollte man sich nochmals vom Besitzer erklären lassen, um sicherzustellen, dass alles richtig verstanden wurde. Zu guter Letzt sollte praktisch mit den Besitzern gearbeitet werden, wobei nicht nur der Tierarzt selbst mit dem Tier arbeiten, sondern auch die Besitzer unter Anleitung üben sollten. Hilfreich zeigt sich auch, dem Besitzer zu erklären, warum was wie gemacht werden sollte, um die Zielsetzung besser verständlich zu machen. Selbst Erarbeitetes lernt sich besser! Jeder Besitzer sollte die Therapie unter Mithilfe des Verhaltenstherapeuten mitentwickeln. Es ist wichtig, dass die jeweilige Trainingsmethode ganz gezielt auf jeden einzelnen Patienten zugeschnitten wird. Das bedeutet wiederum auch, dass nicht alles, was man als Therapeut vielleicht als wünschenswert erachtet, auch für die Besitzer möglich und machbar ist. Daher sollten die jeweiligen Möglichkeiten der Besitzer berücksichtigt und gemeinsam das am besten Machbare herausgearbeitet werden. Des Weiteren haben manche Besitzer manchmal auch selbst eine Teilschuld, dass sich das Verhalten des Tieres auf diese Art entwickelt hat. Dies bedeutet wiederum, dass dem Besitzer ggf. Fehler in seinem eigenen Verhalten aufgezeigt und somit auch korrigiert werden müssen, um einen Behandlungserfolg zu erzielen. Oftmals gehen die Besitzer auch mit einem besseren Gefühl an die Trainingsmethoden heran, wenn sie selbst ausgearbeitet haben, wie man das Training realisieren kann. Mit der Verwendung von Imperativen ruft man schlimmstenfalls nur Reak- tanz aufseiten der Besitzer hervor, was den Trainingserfolg minimieren kann. Hilfestellung anbieten! Erfahrungsgemäß ist es oftmals so, dass die Besitzer mit einer hohen Motivation die Therapiesitzung verlassen und zu Hause aufgrund von Rückschlägen, Zeitmangel oder Schwierigkeiten mit der Umsetzung die Motivation wieder schwindet und der Erfolg von gezielter Gegenkonditionierung und/oder Desensibilisierung geschmälert wird. Daher sollte der Tierarzt Hilfestellung anbieten, um die Besitzer in der Durchführung der Therapie zu unterstützen. So haben diese nicht das Gefühl, mit dem Problem alleingelassen zu werden, zudem fördert es die Kundenbindung. Desensibilisierung – was ist wichtig? Um die Desensibilisierung erfolgreich zu gestalten, ist es wichtig, den problematischen Stimulus genau zu erfassen und die ersten Stress-Symptome des Tieres sofort wahrzunehmen. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen: Bei der Angst eines Pferdes beim Verladen sollte darauf geachtet werden, ob das Tier bereits auf dem Weg zum Hänger zögert, die Rampe oder doch der Hänger selbst der auslösende Stimulus ist. Benutzt der Besitzer beim Verladen ein anderes Geschirr, welches bereits den Stress beim Pferd auslöst. Oder zieht sich der Besitzer beim Verladen spezifisch an, was dem Pferd bereits den Stressauslöser signalisiert? Ein weiteres Beispiel soll an der Silvester-Angst erläutert werden: Ist es tatsächlich der Knall, der das Tier ängstigt, oder sind es die „Heuler“? Ist es vielleicht das Lichtspiel oder der Geruch der Feuerwerkskörper? Hat das Tier überall Angst vor dem Feuerwerk oder nur, wenn es zu Hause ist? Als Hilfe zur Desensibilisierung gibt es eine Vielzahl von Audio-CDs, welche diverse Geräusche reproduzieren. Allerdings reagieren manche Tiere nicht auf diese künstlichen Stimuli, da ggf. der tatsächliche Angstauslöser fehlt und daher nochmal überprüft werden sollte oder die künstliche Töne doch anders klingen als die eigentlichen Auslöser. Ist der wahre Auslöser erfasst, sollte man auf die richtige Intensität des dargebotenen Stimulus achten. Beim Beginn der Desensibilisierung wird nun das Tier mit dem Stimulus konfrontiert, welcher das unerwünschte Verhalten auslöst (Landsberg et al., 2003; Horwitz und Mills, 2009). Allerdings sollte man mit dem niedrigsten Reizniveau beginnen, bei dem das Tier noch keinerlei Anzeichen zeigt (Abb. 1). Angelehnt an die oben erwähnten Beispiele sollte z. B. die Entfernung zum Hänger so groß sein, dass das Pferd noch keine Stressanzeichen zeigt (weder Ohrenspiel noch erweiterte Pupillen), und z. B. der Ton des Feuerwerks so leise sein, dass das Tier diesen zwar wahrnimmt, aber weder unruhig wird noch andere Stress-Symptome (z. B. Erstarren) zeigt. Wie bereits erwähnt, haben einige Besitzer Schwierigkeiten, die Stress-Symptome ihrer Tiere korrekt wahrzunehmen. Bei manchen Tieren werden die Anzeichen oftmals auch nur subtil gezeigt und somit häufig übersehen. Geweitete Pupillen oder Speichelfluss werden nicht von jedem Besitzer als Stressreaktion wahrgenommen. Daher ist es wichtig, dass dem Besitzer diese Stressreaktionen tierartspezifisch erklärt werden. Die Übersicht zeigt Stressanzeichen bei Hund und Katze (alphabetisch) an: 386 ATF-ANERKANNTE INTERAKTIVE IN FORTBILDUNG Kleintierpraxis 61, Heft 7 (2016), Seiten 382 - 398 1 • Angelegte Ohren • Aufmerksamkeitsforderndes Verhalten (z. B. Stupsen des Besitzers) • Auf- und Ablaufen • Defensive Aggression • Demutshaltung (z. B. auf den Rücken legen, Lippen lecken) • Entleerung der Analdrüsen • Eingezogener Schwanz • Erstarren • Exzessive Aktivitäten (z. B. Buddeln) • Flucht • Geweitete Pupillen • Haarverlust • Hecheln • Kontakt suchen (zu Menschen, anderen Tieren) • Schwanzwedeln • Speicheln • Transpiration (feuchte Pfoten) • Urin- und Kotabsatz • Übersprungshandlungen (z. B. sich Kratzen) • Vermeidung des Reizes, Ausweichen • Verstecken • Vokalisation In kleinsten Schritten wird nun langsam die Intensität des Stimulus erhöht. Dies sollte aber nur unter kontrollierten Bedingungen und über mehrere Sitzungen geschehen. Wichtig dabei ist, dass Spektrum, Intensität und Dauer des Stimulus langsam erweitert werden und das Tier dabei entspannt bleibt. Zeigt es das ungewünschte Verhalten, war die Intensität zu hoch oder die Zeit der Gewöhnung zu kurz. In diesem Fall muss wieder ein Schritt zurückgegangen und von dort aus erneut begonnen werden (Abb. 1A–C). Häufige, kurze Trainingssessions führen in der Regel schneller zum Erfolg als wenige lange Übungszeiten. Auch wenn dieses langsame Voranschreiten für viele Besitzer frustrierend ist, bringt die Kontinuität dennoch den Erfolg. Daher sollte man an die Geduld der Besitzer appellieren. Um die Desensibilisierung zu optimieren, wird sie häufig mit der Gegenkonditionierung kombiniert. A B Gegenkonditionierung – worauf muss geachtet werden? Die Gegenkonditionierung bezeichnet eine Trainingsmethode zur Verhaltensänderung anhand von Nichtbestätigung eines unerwünschten Verhaltens bei gleichzeitiger Bestärkung des erwünschten Verhaltens durch wiederholte Kopplung mit einer Belohnung (Horwitz und Mills, 2009). Hierbei muss jedes Mal der unangenehme Reiz mit einer Belohnung kombiniert werden; keinesfalls darf man ihn ohne die Belohnung präsentieren. Durch die Assoziation des auslösenden Stimulus mit einer zeitgleichen Belohnung erfolgt bestenfalls ein Wechsel von negativen Empfindungen (z. B. Angst) hin zu einer positiven Erfahrung (Leckerli, Spiel etc.). Ziel dabei ist, dass der Stimulus (z. B. ein anderes Tier), welcher zuvor das ungewünschte Verhalten verursacht hat (z. B. Aggression), nun das gewünschte Verhalten hervorruft (z. B. ruhig bleiben). Dadurch wird ein unerwünschtes Verhalten durch ein gewünschtes (z. B. ruhig bleiben) ersetzt und das Negative (Stimulus) in etwas Positives (Belohnung) umgekehrt (Horwitz und Mills, 2009). C ABBILDUNG 1: Hund während der Desensibilisierung gegen Silvester-Angst. Das Wichtigste bei der Anwendung dieser Trainingsmethode ist, dass das Tier entspannt bleibt und keinerlei Stressanzeichen zeigt. A Entspannte Körperhaltung beim Beginnen der Desensibilisierung mit einer Geräusch-CD (z. B. Sounds Scary®). B Die Intensität wurde zu schnell erhöht und löste damit Stressanzeichen aus (hier: Kopf heben und Lippenlecken als Beschwichtigung). C Die Intensität des Stimulus wurde angepasst und das Tier entspannte sich wieder. 388 ATF-ANERKANNTE INTERAKTIVE IN FORTBILDUNG Kleintierpraxis 61, Heft 7 (2016), Seiten 382 - 398 1 Die einfachste Form der Gegenkonditionierung ist z. B. die Handfütterung (Abb. 2). Diese kann bei Tieren angewendet werden, die Angst vor Menschen haben. Dabei wird die Hand als negativer Stimulus durch die Belohnung in eine positive Erfahrung umgewandelt. Welche Belohnung verwendet wird, muss individuell vom Tier abhängig gemacht werden und dessen Vorlieben berücksichtigen. Es sollte in jedem Falle eine hohe Motivation dafür bestehen. Bei adipösen Tieren sollte die Anzahl der Kalorien von der normalen Tagesration abgezogen werden. Außerdem reichen sehr kleine Stücke als Belohnung aus, damit die Tiere nicht zu schnell satt werden und die Motivation damit sinkt (Horwitz und Mills, 2009). Man unterscheidet zwischen der klassischen, operanten bzw. instrumentellen Konditionierung (Mazur, 2006; Gluck et al., 2010). ABBILDUNG 2: Die einfachste Form der Gegenkonditionierung ist die Handfütterung. Hierbei wird bei Angst oder Aggression gegenüber dem Menschen der negative Stimulus (die Hand des Menschen) in etwas Positives (Futter) umgekehrt. Foto: Kaulfuß/ Peters Anzeige Klassische Konditionierung Das bekannteste Beispiel der klassischen Konditionierung ist der Pawlowsche Hund. Hierbei reagiert ein Hund auf die Darbietung von Futter mit Speichelfluss. In dem Experiment aus dem Jahre 1905 erklang ein Glockenton wiederholt in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Anbieten von Futter. Nach einer gewissen Zeit reagierten 389 die Hunde schließlich auf den Ton allein (ohne Futter) mit Speichelfluss. Damit wird ein neuer Reiz zum Auslöser des natürlichen (unbedingten) Reflexes. Diese Erkenntnis macht man sich auch heute noch zunutze. Klassische Gegenkonditionierung in Kombination mit einer Desensibilisierung am Beispiel von Angst oder Aggression beim Bürsten: • neue Bürste verwenden, womit das Tier noch keine negativen Erfahrungen gemacht hat • Wort für „Bürsten“ definieren, damit das Tier Bürsten mit dem Wort verbinden kann und weiß, dass nun nichts Schlimmes passiert • vorher Bürste beschnuppern lassen, um die Ängstlichkeit davor zu nehmen • ruhiges Umfeld suchen • Tier zu sich rufen (Aufmerksamkeit gewinnen) • „Bürsten“ sagen und Bürste zeitgleich mit Futter präsentieren • Stress-Display beachten und berücksichtigen; sobald das Tier Stressanzeichen zeigt, sollte die Intensität des Kontaktes reduziert werden • Aggressionen gegenüber der Bürste nicht bestrafen! • ruhige Interaktionen mit der Bürste mit Futter/Leckerli belohnen • mit einem Bürstenstrich anfangen und belohnen • Auflösungssignal nennen, wenn das Training beendet ist, und dieses mit einer besonderen Belohnung schließen • sukzessive Spektrum, Intensität und Dauer des Kontaktes mit der Bürste unter Belohnung erweitern Ziel hierbei ist, den Auslöser des ungewünschten Verhaltens positiv zu belegen. Immer, wenn der Stressor (z. B. die Bürste) kommt, erfährt der Patient etwas positives, wie der Glockenton beim Pawlowschen Hund. Operante Konditionierung Der Begriff der operanten bzw. instrumentellen Konditionierung geht auf die frühen Versuche von Edward Lee Thorndike (1874–1949) zurück und wurde später durch die (auch heute noch genutzte) Skinner-Box von Burrhus Frederic Skinner (1904–1990) optimiert. Das Tier bewirkt durch sein Verhalten (seine Operation) eine bestimmte Konsequenz. Dafür nimmt man ein vom Tier selbst spontan angebotenes Verhalten, welches als gewünschtes Verhalten genutzt werden kann und bestenfalls mit dem unerwünschten Verhalten unvereinbar ist. Dabei wird das unerwünschte Verhalten z. B. durch Nichtbestätigung gemildert und erwünschtes Verhalten durch Belohnung verstärkt. Das Verhalten kann von dem jeweiligen Tier auch unbeabsichtigt bzw. zufällig und auch vom Stimulus unabhängig gezeigt werden (z. B. Anschauen des Besitzers). Ziel hierbei ist, den Auslöser des ungewünschten Verhaltens mit einem Alternativverhalten zu verbinden. Immer, wenn der Stressor (z. B. ein anderer Hund) kommt, schaut der Patient seinen Besitzer an und bekommt dafür eine Belohnung. Der Vorteil der operanten Konditionierung ist, dass der Lernerfolg größer und schneller sein kann, als bei der instrumentellen Konditionierung, das Training aber auch etwas aufwendiger ist. Anzeige Kleintierpraxis 61, Heft 7 (2016), Seiten 382 - 398 390 ATF-ANERKANNTE INTERAKTIVE IN FORTBILDUNG Kleintierpraxis 61, Heft 7 (2016), Seiten 382 - 398 1 A B ABBILDUNG 3: Desensibilisierung und Gegenkonditionierung einer Katze gegenüber dem neuen Hund der Besitzer. A Für die Besitzer war es nicht ersichtlich, dass beide Tiere nicht entspannt waren und der Abstand für die Gegenkonditionierung viel zu gering gewählt war. Zusätzlich war das Timing der verabreichten Belohnung suboptimal, da es diskontinuierlich und zu zeitverOperante Gegenkonditionierung am Beispiel Hund-HundAggression: • Verhalten auswählen, welches vom Tier angeboten wird, z. B. „Schau mich an“ • immer wenn der Hund den Besitzer anschaut, wird dies mit einem Kommando belegt und zeitgleich belohnt • dies führt dazu, dass der Hund den Besitzer häufiger anschaut, weil er dafür belohnt wird und das Kommando bestenfalls mit der Interaktion in Verbindung bringt • ruhiges Umfeld suchen ABBILDUNG 4: Abnormal-repetitives Rute-jagen eines Schäferhundes. Ein alternativ aufkonditioniertes „Sitz“ wäre mit diesem Verhalten unvereinbar und könnte das unerwünschte Verhalten mit einer gezielten Gegenkonditionierung mindern. Weitere verhaltenstherapeutische Maßnahmen (z. B. Überprüfung der Haltungsbedingungen) wären hierbei zusätzlich angezeigt. zögert einsetzte. B Ein zu schnelles Voranschreiten der Besitzer während der Trainingseinheiten. Aufgrund des hohen Erregungszustandes konnte die Katze nicht mehr motiviert werden, die Belohnung anzunehmen. Die Gegenkonditionierung wurde somit nicht korrekt ausgeführt und der Erfolg blieb aus. Fotos: Herz/Kaulfuß • Stimulus (anderer Hund) in einer ausreichenden Entfernung präsentieren, wo der Patient noch keine Aggressionsanzeichen zeigt, dabei sollte das Display aufmerksam betrachtet werden; auch schon das Aufrichten der Ohren oder das Starren in die Richtung sind erste Anzeichen und damit die Entfernung zu gering gewählt (Abb. 3A, B) • schaut der Patient nun zu seinem Besitzer, wird dieses Verhalten belohnt • wenn der Patient zu sehr mit seiner Umwelt beschäftigt ist und dem Besitzer keine Aufmerksamkeit schenkt, kann dieser seinen Hund auch rufen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken • Auflösungssignal nennen, wenn das Training beendet ist, und dieses mit einer besonderen Belohnung schließen, damit der Patient ein erfolgreiches Ende des Trainings erfährt • sukzessive Entfernung verkürzen und Dauer des Kontaktes mit dem anderen Hund unter Belohnung erweitern • weiterführend unterschiedliche Orte und Trainingshunde wählen, um das Verhalten zu generalisieren Instrumentelle Konditionierung Das Verhalten des Tieres ist instrumentell für bestimmte Konsequenzen. Die instrumentelle und operante Konditionierung werden häufig als Synonyme verwendet. Der einzige Unterschied zur operanten Konditionierung ist der, dass hierbei ein Verhalten instrumentalisiert wird. Dies bedeutet, dass ein aufkonditioniertes Verhalten als Mittel eingesetzt wird, um ein bestimmtes Alternativverhalten herbeizuführen und damit ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das Alternativverhalten wird damit nicht spontan angeboten, sondern ein Kommando, welches vorher gelernt wurde (z. B. Sitz), wird befolgt. Es sollte aber dennoch mit dem unerwünschten Verhalten unvereinbar sein. 392 ATF-ANERKANNTE INTERAKTIVE IN FORTBILDUNG Kleintierpraxis 61, Heft 7 (2016), Seiten 382 - 398 1 • Auflösungssignal nennen, wenn das Training beendet ist, und dieses mit einer besonderen Belohnung schließen • sukzessive Intensität und Dauer des Stimulus unter Belohnung erweitern • weiterführend unterschiedliche Orte und Tageszeiten wählen, um das Verhalten zu generalisieren Ziel hierbei ist, dass der auslösende Stimulus zukünftig nicht mehr zum unerwünschten Verhalten (Rute-jagen) führt, sondern zum gewünschten Verhalten (Sitz), da dies eine Belohnung beinhaltet. Führt eine bestimmte Verhaltensweise (Sitz) zur erwünschten Konsequenz (Belohnung), so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Verhalten zukünftig wieder gezeigt wird und das erwünschte Ziel zur Folge hat (Beenden des Rute-jagens). ABBILDUNG 5: Spieltherapie. Ins Spiel vertieft, sorgt diese Situation für einen stressfreien Kontext, sodass das Tier trotz des negativen Reizes (hier ein fremder Mensch mit Fotokamera) ruhig bleibt und dafür belohnt wird. Foto: Thöwe/Kaulfuß Instrumentelle Gegenkonditionierung am Beispiel von abnormal-repetitivem Rute-jagen (Abb. 4): • Auslöser des unerwünschten Verhaltens identifizieren • Alternativverhalten wählen, welches vorher gut aufkonditioniert wurde und sicher vom Patienten beherrscht wird (mind. 7 von 10 Versuchen sind erfolgreich) • moderate Konfrontation mit dem auslösenden Stimulus in angepasster Intensität • beim ersten Anzeichen des unerwünschten Verhaltens in Konfrontation mit dem Auslöser (z. B. Tier dreht ansatzweise den Kopf, um abnormal-repetitiv die eigene Rute zu jagen) wird das Kommando des Alternativverhaltens genannt (z. B. „Sitz“) • beendet der Patient nun sein Verhalten und setzt sich, wird dieses Verhalten belohnt • dabei muss jedoch beachtet werden, dass das Kommando sofort erfolgt und die Zeitspanne zwischen dem Ausüben des Problemverhaltens und der Belohnung des Alternativverhaltens groß genug ist, damit das Tier die Belohnung mit dem Alternativverhalten („Sitz“) und nicht mit dem Rute-jagen verbinden kann Anzeige Wenn ein Tier aufgrund einer hohen Erregungslage nicht für Futter als Belohnung empfänglich ist, sind auch Streicheleinheiten möglich. Besonders geeignet sind tierartübergreifend sogenannte Tellington-Touches. Dabei handelt es sich um eine spezielle Massagetechnik, welche in unterschiedlicher Form mittlerweile bei vielen Tierarten Anwendung findet (weiterführend: Zurr, 2005). Eine weitere Alternative zur Trainingsmethode mit Futterbelohnung ist die Spieltherapie, welche eine Kombination aus Desensibilisierung und Gegenkonditionierung darstellt. Insbesondere wenn ein Besitzer nicht mit Leckerli arbeiten möchte oder das jeweilige Tier nicht sehr futtermotiviert ist, kann diese eingesetzt werden (Schroll und Dehasse, 2007). Hierbei sorgt das Spiel für einen stressfreien Kontext, sodass das Tier dem auslösenden Reiz in einer positiven Haltung entgegentritt. Dabei sollte es bereits ins Spiel mit dem Besitzer vertieft sein, bevor der Stressor (z. B. ein fremder Mensch) in einer sehr abgeschwächten Form präsentiert wird. Bleibt das Tier ruhig bzw. ins Spiel vertieft, wird es weiter belohnt (Abb. 5). Zeigt es Stress-Symptome, war der Stimulus evtl. schon zu stark gewählt (z. B. zu nah) und sollte dann erneut in einer noch abgeschwächteren Form versucht werden. Auch hierbei sollten die Intensität, Dauer und das Spektrum des auslösenden Reizes sukzessive erweitert bzw. angepasst werden. Das Spiel sollte immer erfolgreich und positiv für das Tier beendet werden (z. B. Überlassen der „Beute“). 393 Anzeige Kleintierpraxis 61, Heft 7 (2016), Seiten 382 - 398 A ABBILDUNG 6: Automutilation aufgrund von einer hohen Stressbelastung. A Automutilation beim Hund, welcher sich seinem Stressor nicht entziehen konnte und die dadurch bedingte Frustration gegen sich selbst richtete. B Ein Kaninchen, das mit der Aussage „das regeln die Tiere untereinander“ in einem Kaninchengehege belassen wurde. Abgesehen von starken, behandlungswürdigen Bissverletzungen, die ihm zugefügt wurden, richtete es zusätzlich seine Frustration auch gegen sich selbst. B Stellt sich trotz aller Bemühungen nicht der gewünschte Erfolg ein oder lässt sich der auslösende Stimulus schlichtweg nicht kontrollieren, ist es bei einigen Tieren sinnvoll, unterstützend Medikamente oder Hilfsmittel einzusetzen. Diese können das Voranschreiten einer Desensibilisierung beschleunigen oder helfen, bereits vorhandene Traumata besser zu verarbeiten. Die Möglichkeiten umfassen ein weites Spektrum: Pheromone, Ergänzungsfuttermittel, Bach-Blüten, Phytotherapeutika, etc. bis zu schulmedizinischen Psychopharmaka. Dabei ist zu beachten, dass Tiere je nach Tierart und Individuum sehr unterschiedlich auf Medikamente reagieren können. Gerade der Einsatz von Psychopharmaka erfordert gute Kenntnisse der Wirkungsweise und Erfahrung bei deren Einsatz (Landsberg et al., 2003). Im Zweifelsfall sollte vor der Verordnung ein Kollege mit Zusatzbezeichnung Verhaltenstherapie hinzugezogen werden. Eine Liste mit Kollegen in ganz Deutschland findet man auf der Homepage der Gesellschaft für Tierverhaltensmedizin und -therapie (www.gtvmt.de). 395 Anzeige Kleintierpraxis 61, Heft 7 (2016), Seiten 382 - 398 ABBILDUNG 7: Das Fahren im Auto versetzt viele Hunde in Angst. Durch eine gezielte Desensibilisierung und Gegenkonditionierung kann das Problem gelöst werden. Foto: Kocher/Kaulfuß Das Flooding Der Desensibilisierung und Gegenkonditionierung gegenüber steht das sogenannte Flooding (Reizüberflutung). Hierbei wird das Tier so lange dem stressauslösenden Reiz ausgesetzt, bis das unerwünschte Verhalten zurückgegangen ist. Es wird bei zuvor fehlkonditionierten Ängsten oder schlechter Sozialisation eingesetzt (Crowel-Davis, 2008). Dies ist jedoch nicht als unproblematisch anzusehen, da es häufig im Widerspruch zu § 1 des Tierschutzgesetzes angesehen wird. Daher sollte es nur unter professioneller Aufsicht durchgeführt werden, da traumatische Erfahrungen gegenteilige Effekte bewirken können. Hat eine FloodingSession einmal begonnen, muss sie auch zu Ende geführt werden. Dies bedeutet, dass sie so lange andauern muss, bis das Tier das unerwünschte Verhalten abgelegt hat und sich entspannt. Dies wiederum kann bedeuten, dass das Tier über Stunden den stressauslösenden Reizen ausgesetzt wird. Bei der Anwendung des Floodings bei Aggressionsverhalten (z. B. intraspezifische Angst-Aggression) können andere Tiere verletzt werden. Die Aussage „das regeln die Tiere untereinander“ ist damit als fragwürdig anzusehen (Abb. 6B). Auch kann sich das Aggressionsverhalten gegen Menschen umrichten, die vorher kein Problem darstellten, oder das Tier richtet Frustrationsverhalten gegen sich selbst in Form von Automutilation (Abb. 6A, B). Durch nicht kontrollierbare Panikreaktionen besteht ebenfalls die Gefahr, dass sich das Tier selbst verletzen kann (Zeitler-Feicht, 2008). Dies alles sind Aspekte, die als höchst problematisch anzusehen sind. Des Weiteren ist in solchen Situationen nicht nur das Tier äußerst gestresst, auch die Besitzer fühlen sich in der Regel mehr als unwohl. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Flooding aufgrund dessen verfrüht abgebrochen werden muss, ist demnach hoch. Die Entwicklung einer daraus resultierenden Posttraumatischen Belastungsstörung bzw. eines Posttraumatisches Stresssyndroms (Schroll und Dehasse, 2009) kann die Folge sein. Zusätzlich kann durch diesen enormen Stress auch die Tier-Halter-Bindung stark in Mitleidenschaft gezogen werden und sich somit das Problem ebenfalls verschärfen. Gerade im Hinblick auf den Tierschutz-Aspekt kann daher aus Sicht der Autorin das Flooding nur bedingt empfohlen werden. Die gezielte Desensibilisierung und Gegenkonditionierung ist häufig die bessere Wahl (Abb. 7). 396 ATF-ANERKANNTE INTERAKTIVE IN FORTBILDUNG Kleintierpraxis 61, Heft 7 (2016), Seiten 382 - 398 1 Prognose Literatur Alle oben genannten Faktoren spielen eine wichtige Rolle bezüglich des Erfolges, aber auch des Misserfolges eines Desensibilisierungs- und Gegenkonditionierungsprogramms. Der Teufel steckt demnach im Detail. In der Praxis ist es jedoch manchmal nicht möglich, alle wichtigen Aspekte zu berücksichtigen. Der Tierarzt hat bei der Übernahme eines verhaltenstherapeutischen Falls zwar die Verantwortung, sowohl die Zusammenhänge zu verstehen als auch diese dem Besitzer verständlich zu vermitteln. Die Prognose steht und fällt jedoch oftmals mit dem Engagement, der Bereitschaft und den Fähigkeiten der Besitzer, diese Trainingsmethoden auch erfolgreich durchzuführen. Viele Besitzer sehen zwar die Problematik von unerwünschten Verhaltensweisen, haben aber nicht den Wunsch, tatsächlich etwas daran zu verändern (Pirrone et al., 2015). Andere möchten das Verhalten vielleicht ändern, haben aber weder die Zeit noch die Geduld dazu, dies wirklich konsequent durchzuführen. Daher sollte der Tierarzt bei der Gestaltung des Trainingsprogramms sehr offen mit den Besitzern darüber sprechen und prüfen, ob die ausreichende Bereitschaft, den Empfehlungen zu folgen, auch vorhanden ist (Crowel-Davis, 2008). Sollte dies nicht der Fall sein, ist die Prognose als vorsichtig zu stellen, das Verhalten zu verbessern. Auch das sollte mit den Besitzern offen kommuniziert werden, um Frustrationen auf beiden Seiten zu vermeiden und dadurch die Kundenbindung zu gefährden. Wenn jedoch sowohl die Bereitschaft als auch die Fähigkeiten der Besitzer ausreichen, das TrainingsProtokoll konsequent durchzuführen, sollte der Tierarzt in jedem Falle zur Verfügung stehen, die Betroffenen auf diesem Weg zu begleiten. Der Behandlungserfolg spricht dann für sich. Crowell-Davis SL (2008): Understanding behavior: desensitization and counterconditioning: the details of success. Compend Contin Educ Vet 30: 589–594. Dietz O, Huskamp B (2006): Handbuch Pferdepraxis. Enke, 3. Aufl., Stuttgart. Gluck MA, Mercado E, Myers CE (2010): Lernen und Gedächtnis. Vom Gehirn zum Verhalten. Spektrum, Heidelberg. Horwitz DF, Mills DS (2009): BSAVA Manual of Canine and Feline Behavioural Medicine. 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Zeitler-Feicht (2008): Handbuch Pferdeverhalten: Ursachen, Therapie und Prophylaxe von Problemverhalten. Ulmer, 2. Aufl., Stuttgart. Zurr D (2005): TTEAM und TTouch in der tierärztlichen Praxis: Wege zum entspannten Patienten. Thieme, Stuttgart. Conflict of interest Hiermit erklärt die Autorin, dass sie keine geschützten, finanziellen, beruflichen oder anderen persönlichen Interessen hat, welche die im Manuskript dargestellten Inhalte oder Meinungen beeinflussen könnten. Anzeige Korrespondenzadresse: Dr. Patricia Kaulfuß Kleintierpraxis Rheinallee Rheinallee 19 55118 Mainz [email protected]