In der Fachwelt entbrannte eine heftige Debatte um den Nutzen der

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T I T E L T H E R A P I E N In der Fachwelt entbrannte eine heftige Debatte um den Nutzen der wichtigsten Antidepressiva. Sind
Von Doris Simhofer
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profilwissen 2 • 15. Juni 2016
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ie Präparate haben nicht gerade den besten Ruf: Medical Journal“. Und vielfach seien die NebenwirkunAntidepressiva machen abhängig, glauben bis zu gen größer als der Nutzen dieser Präparate. Healy ent80 Prozent der Bevölkerung. Sie verändern, so fachte damit eine breite Debatte über die Wirkung von
heißt es oft, die Persönlichkeit und verursachen enorme SSRI. Hart ins Gericht mit diesen Substanzen geht auch
Nebeneffekte. Auch die gut dokumentierte Wirkweise der Peter C. Gøtzsche, Leiter des Nordic Cochrane Center, in
heute gebräuchlichen Generationen solcher Psychophar- seinem im Vorjahr erschienenen Buch „Tödliche Medimaka hat an dieser Überzeugung wenig geändert: Sero- zin und organisierte Kriminalität“. Gøtzsches 500-Seitonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), seit den ten-Werk ist eine Abrechnung mit der Pharmaindustrie,
1980er-Jahren auf dem Markt, beruhen auf der Seroton- die generell Negativstudien vertusche, das Serotonin-Märinhypothese, die davon ausgeht, dass der Gehirnstoff- chen erfunden habe, Zulassungen erkaufe und alte, nicht
wechsel von Serotonin und Noradrenalin aus der Balan- mehr gewinnbringende Medikamente mit neuem Namen
ce geraten ist.
versehe, um sie teuer zu verhökern.
Vor einiger Zeit schürten ausgerechnet Fachleute die
Haben die Kritiker womöglich recht? Gerät die wichSkepsis gegenüber diesen Medikamenten – und lösten tigste Substanzklasse zur Behandlung gravierender psydamit eine Kontroverse über die Sinnhaftigkeit von An- chiatrischer Leiden mit gutem Grund in Verruf? Die Anttidepressiva aus. Die Serotoninhypothese sei eine blan- wort auf diese Fragen ist von höchster Relevanz: Mehr als
ke Marketingerfindung der Pharmaindustrie, schrieb der 17 Prozent aller Menschen erleiden im Laufe ihres Lebens
irische Psychiater David Healy im renommierten „British mindestens ein Mal eine depressive Episode. In Öster-
die Substanzen unsinnig oder sogar schädlich? Österreichische Experten klären über die Faktenlage auf.
reich sind jährlich etwa 900.000 Menschen von psychider Pharmabranche zumindest nicht an die
Die Pharma­
schen Erkrankungen betroffen, rund 840.000 erhalten
große Glocke gehängt werden. Tatsächlich beeine Behandlung mit Psychopharmaka, 65.000 eine er- industrie habe stätigt die Cochrane Collaboration, ein intergänzende Psychotherapie. Zugleich steigt die Zahl der
nationales Expertennetzwerk, das die medidas Seroto­
Verordnungen um etwa 20 Prozent jährlich, die Behand- nin-Märchen
zinische Forschung systematisch und kritisch
lungs- und Medikamentenkosten beliefen sich 2010 auf
prüft, dass negative Studienergebnisse gerne
in die Welt ge­ mal in der Schublade verschwinden. Andereretwa 100 Millionen Euro.
setzt, meint
Schätzungen der WHO zufolge wird sich die Zahl der
seits hat Cochrane ein weltweites Netzwerk
von Wissenschaftern und Ärzten, das systevon depressiven Erkrankungen Betroffenen bis 2020 auf
Peter C. Gøtzsche,
350 Millionen Menschen weltweit erhöhen. Für die Phar- Leiter des Nordic
matische Übersichtsarbeiten (Reviews) zur
Wirkung medizinischer Behandlungen vermaindustrie sind SSRI und Antidepressiva im Allgemei- Cochrane Center
nen daher ein gutes Geschäft. Die Konzerne sind außeröffentlicht. Die Mitglieder durchforsten Fachdem ausreichend potent, um in die Forschung zu inveszeitschriften und andere Quellen nach Studien im jeweitieren. In der universitären Forschung fehlt es hingegen
ligen Interessengebiet. Medizin-Transparent arbeitet eng
mit der Österreichischen Cochrane- Zweigstelle (cochrane.
an Geld, die öffentliche Hand ist sparsam mit Forschungsgeldern.
at) zusammen und hat die Wirkung von Antidepressiva
Angesichts dieser Situation liegt der Verdacht nahe,
anhand von 14 Metastudien untersucht. Das Ergebnis:
dass unliebsame Daten über unerwünschte Effekte von
Die Substanzen sind bei mittelschweren und schweren
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TITEL THERAPIEN
Depressionen durchaus wirksam und außerdem gut ver- stände konnten sie verstärken. Die Zeit war reif für Neuträglich. Bei leichteren Formen der Krankheit ist die Wir- es.
Bei der Entwicklung von selektiven Serotoninwiederkung hingegen eher moderat und weniger überzeugend.
Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenz- aufnahmehemmern setzte die Wissenschaft der
basierte Medizin und Klinische Epidemiologie der Do- 1980er-Jahre am Serotoninmodell an. Basis dafür war die
nau-Universität Krems, ließ Ende 2015 zudem mit neu- Erkenntnis, dass bei Patienten bestimmte Mechanismen
en Daten aufhorchen: Gemeinsam mit amerikanischen im Kommunikationsweg zwischen den Nervenzellen geKollegen analysierte Gartlehner 45 Studien. Das bemer- stört sind – und damit ein sehr empfindliches Gleichgekenswerte Fazit: Bei schweren Depressionen ist eine ko- wicht aus dem Lot gerät. Immerhin müssen Milliarden
gnitive Verhaltenstherapie als Erstbehandlung offenbar von Nervenzellen im Gehirn durch ein großes Netzwerk
genauso wirksam wie Antidepressiva. „Das heißt natür- verbunden sein, um miteinander kommunizieren zu könlich nicht, alle Patienten sollten von Antidepressiva auf nen. Dieses Netzwerk wird mithilfe von Synapsen gebilVerhaltenstherapie umsteigen“, sagt Gartlehner. Die Stu- det, also von Nervenverbindungen, zwischen denen ein
die zeige vielmehr, dass Betroffene gemeinsam mit ihrem synaptischer Spalt liegt. Wichtig im konkreten ZusamArzt eine individuelle Option finden müssen, um die bes- menhang ist außerdem, dass ein Protein der Zellmemte Behandlung zu sichern. Gegenwärtig erfolgen aber 80 bran üblicherweise den Botenstoff Serotonin als „SerotoProzent aller Psychopharmakaverordnungen durch All- nintransporter“ zu den Nervenzellen befördert.
Der Transportmechanismus sowie die Aktivität der
gemeinmediziner und nicht durch Fachärzte mit entspreSerotoninrezeptoren im Gehirn sind bei Depressiven alchenden Diagnosetools und therapeutischer Erfahrung.
Doch abgesehen von lerdings weniger aktiv, die Biochemie im Gehirn gerät
der Frage, ob eine me- daher aus der Balance. Die entwickelten Medikamente
dikamentöse Therapie zielen nun darauf ab, den Serotoninspiegel gezielt – also
im Einzelfall überhaupt „selektiv “ – zu erhöhen, indem eine Wiederaufnahme von
die beste Wahl ist – was Serotonin durch die vorgeschaltete Nervenzelle blockiert
hat es generell mit den wird. Die Erfolgsquote, um diesen Kommunikationsfluss
Was Depressionen verursacht – und
selektiven
Seroto- zu unterstützen, liegt bei einer Behandlung mit SSRI im
womit Ärzte heute dagegen vorgehen.
nin-Wiederaufnahme- Schnitt bei 70 Prozent.
Mithilfe bildgebender Verfahren ist es heute möglich,
hemmern auf sich, und
ie Ursachen einer Depression sind
die
Wirkung von SSRI wie auch jene einer Psychotheraworauf
beruht
deren
vielfältig: Genetische Komponenten,
Wirkung? Bereits seit pie nachzuweisen. Während die Serotonintherapie auf
psychosoziale Gründe und Veränderunden
1960er-Jahren einen Bereich im Hirnstamm einwirkt, hinterlässt Psygen im Stoffwechsel des Neurotransmitkommt den Botenstof- chotherapie im Großhirn ihre Spuren, die mit funktionitersystems gelten als Auslöser. Grundfen Serotonin und Nor- eller Magnetresonanztomografie (fMRT) sichtbar gemacht
sätzlich kann jedes Gehirn depressiv weradrenalin große Bedeu- werden können. Mittels Positronenemissionstomografie
tung zu. „Wir wurden (PET) kann der Antwortmechanismus auf SSRI bei Ängsden – Einzelhaft, Dunkelhaft, Folter sind
belächelt, als wir die ten, Depressionen oder Essstörungen bildlich dargestellt
Extrembeispiele. Bei der Behandlung
ersten Arbeiten zum werden. Siegfried Kasper: „So kann das Muster der Serostützt sich die Medizin heute vor allem
Serotoninmechanismus tonintransporter vorhergesehen werden, und es ist besauf die Dysbalance im Neurotransmittervorlegten. Doch Unter- ser voraussehbar, ob eine Therapie wirkt.“
stoffwechsel, der auch auf natürliche
In jedem Fall sind SSRI die inzwischen meistverordsuchungen zeigten, dass
Weise Veränderungen unterworfen ist.
Serotonin eine wichtige neten Medikamente und machen 50 Prozent aller PsySo ist das serotonerge System im SomRolle bei Depressionen chopharmaka respektive 80 Prozent aller Antidepressimer aktiver, im Winter hingegen sinkt
spielt“, sagt Siegfried va aus. Als sicher gilt auch, dass die neueren Substanzen
Kasper, Vorstand der ihren Vorgängern in der Behandlung von Depressionen
die Serotoninaktivität leicht ab, was eine
Universitätsklinik für vielfach überlegen sind: Sie haben kaum NebenwirkunErklärung für die „Winterdepression“ ist.
Psychiatrie
und Psycho- gen, da sie nicht die Rezeptoren für andere NeurotransDer erste selektive Serotonin-Wiedertherapie in Wien und mitter beeinflussen. Sie machen kaum müde und veruraufnahmehemmer kam 1988 in den USA
einer der Mitentwickler sachen nahezu keine Effekte wie Mundtrockenheit, erauf den Markt: Prozac (Fluoxetin) war
von SSRI. Viele der da- höhten Herzschlag, Schweißausbrüche, Unruhe oder
bis 2005 die meistverschriebene Subsmals auf dem Markt be- Darmstörungen. Daher werden sie vor allem in der amtanz aus der SSRI-Klasse. Ab Mitte der
findlichen Psychophar- bulanten Behandlung in der Ersttherapie den älteren Anmaka – etwa Trizykli- tidepressiva vorgezogen.
1990er-Jahre folgten die Substanzen FluDoch was ist mit gefürchteten Begleiterscheinungen
sche
Antidepressiva
voxamin und Citalopram, die bei depresund
Monoaminooxidawie
der Annahme, dass SSRI süchtig machen oder gar die
siven Erkrankungen und Zwangsstörunsehemmer (MAO-Hem- Persönlichkeit verändern? Kasper verweist dies ins Reich
gen, Fluvoxamin auch bei Bulimie angemer) – hatten beträcht- der Mythen: „Diese Annahmen entstammen meist einwendet wurden. Heute sind in Österreich
liche Nebenwirkungen schlägig religiösen Kreisen, wo angenommen wird, die
acht SSRIs auf dem Markt. Mittlerweile
wie Müdigkeit, Abge- Seele sei göttlich.“
sind sie die am häufigsten verordneten
Demgegenüber sei es eine Tatsache, dass Depressioschlagenheit, Bluthochdruck. Selbst Angstzu- nen mittlerweile ein massives Gesundheitsproblem sind,
Medikamente bei Depressionen.
Das gefolterte
Gehirn
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DONAU-UNIVERSITÄT KREMS
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ähnlich wie Bluthochdruck, Diabetes oder Übergewicht.
nicht nur ein abruptes, sondern auch ein zu
Lipidsenker würden im Gegensatz zu Antidepressiva
frühes Absetzen hat Auswirkungen: SSRI
aber nicht stigmatisiert – wiewohl an Letzteren im Falmüssen mindestens ein halbes Jahr lang,
häufig aber über mehrere Jahre geschluckt
le einer solide diagnostizierten Depression oftmals kein „Wir sagen
Weg vorbeiführe, so Kasper: „Bei unbehandelten Depres- nicht, alle Pati- werden, ein vorzeitiges Absetzen kann eine
sionen steigt das Suizidrisiko um das Drei- bis Vierfache.
neuerliche Depression zur Folge haben. Eine
enten sollten Statistik
Zusätzlich zu SSRI müssen in diesem Fall auch Benzoder Sozialversicherung zeigt, dass 40
diazepine verabreicht werden, um den Antrieb zu redu- auf VerhalProzent der Betroffenen das Medikament nur
zieren. In jedem Fall braucht der Patient Begleitung. Man
tenstherapie maximal einen Monat einnehmen. Derartimuss ihn behandeln, nicht anders als einen Patienten
ge Applikationsfehler stärken erst recht den
umsteigen.“
mit Lungenentzündung.“
Glauben, SSRI wirkten nicht oder seien beGerald Gartlehner,
Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass es
denklich. Tatsächlich müssen sie jedoch korDonau Uni Krems
in Verbindung mit SSRI zu äußerst unangenehmen Efrekt angewendet und nach Wiedererlangen
der psychischen Stabilität allmählich „ausfekten kommen kann, beispielsweise zum Absetz- oder
zum Serotoninsyndrom. Nach dem abruptem Absetzen
geschlichen“ werden. Je nach Schweregrad sind die Mebestimmter Substanzen* können Schwindel, Übelkeit und
dikamente mitunter auch auf Lebenszeit einzunehmen.
just Symptome eintreten, die typisch für die Depression
Freilich raten Experten wie Kasper stets zu einem mesind. Hauptursache: Viele Betroffene nehmen das Medidizinischen Gesamtpaket, um den bestmöglichen Erfolg
kament oft auf eigenen Entschluss nicht mehr ein, weil
zu erzielen: „Grundsätzlich sollte jede medikamentöse
die erhoffte Wirkung nicht sofort eintritt, sondern erst
Therapie in eine Psychotherapie eingebettet werden, denn
nach etwa 14 Tagen. Dies bewirkt jedoch, dass die Serodiese trägt dazu bei, die Krankheit besser bewältigen zu
können.“
toninproduktion plötzlich heruntergefahren wird. Doch
n
*Ein „Absetzsyndrom“ ist lediglich für Paroxetin und Venlafaxin dokumentiert
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