Onkologie und Neuropathie - Österreichische Ärztezeitung

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Onkologie und
Polyneuropathie
Schmerz, Computer Artwork
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› österreichische ärztezeitung ‹ 22 ‹ 25. november 2007
DFP - Literaturstudium
War früher die Hämatoxizität der limitierende Faktor bei einer
Chemotherapie, ist es heute vielfach die Neurotoxizität, die
vorwiegend zu Störungen im peripheren Nervensystem, zu
Chemotherapie induzierten Polyneuropathien, führt. Die häufigsten
Symptome: Gefühlsverlust und Parästhesien, die zunächst an den
Akren auftreten und sich dann ausbreiten. Von Wolfgang Grisold*
Aktuelle Entwicklungen
D
ie Onkologie hat in den letzten Jahren durch neue Therapien große Fortschritte gemacht. Neben den chirurgischen und
strahlentherapeutischen Maßnahmen
ist der Einsatz von Chemotherapien
und biologischen Therapien („Biologicals“) unabdingbar geworden und stellt
in der Regel eine länger anhaltende und
die Patienten begleitende Maßnahme
dar.
Die Nebenwirkungen von Chemotherapien sind substanzspezifisch und
gehen mit Hämatoxizität, Haarverlust,
Erbrechen und Neurotoxizität einher.
War früher die Hämatoxizität der limitierende Faktor, ist diese heute fast immer durch therapeutische Maßnahmen
behebbar. Wichtigster limitierender
Faktor bei zahlreichen Substanzen ist
die Neurotoxizität, welche vorwiegend
zu Störungen im peripheren Nervensystem, zu Chemotherapie induzierten
Polyneuropathien (CIN) führt. Die
Neurotoxizität wird zwar von den
Hämatologen schon seit Jahrzehnten
besonders beachtet (bei VinkristinTherapie sind Parästhesien an den Fingerkuppen ein untrügliches Zeichen
für Neurotoxizität). Neuere Substanzen
– besonders Platinderivate und Taxane
– haben aber in den letzten Jahren auch
besondere Aufmerksamkeit in Bezug
auf Polyneuropathiesyndrome gelenkt.
Zwei weitere Aspekte sind zu erwähnen: Bei Patienten, die keine vorbestehende Polyneuropathie haben, können
die Veränderungen therapiebedingt im
Sinne einer toxischen Neuropathie
entstehen. Patienten mit bereits vorbestehenden Polyneuropathie – etwa bedingt durch Diabetes mellitus, Alkohol
oder genetisch bedingte Neuropathie
– haben möglicherweise ein höheres
Risiko für eine durch Chemotherapie
induzierte Polyneuropathie.
Pathogenetische
Mechanismen
Die Ursachen der Neurotoxizität
sind substanzspezifisch und stehen
auch oft in zeitlichem und dosisabhängigem (kumulativem) Zusammenhang
mit der Verabreichung der Chemotherapie. In der Regel kommt es zu
axonalen Schäden an den peripheren
Nerven (zum Beispiel bei Vinka-Alkaloiden und Taxanen), seltener zu Ganglionopathien der Spinalganglien (beispielsweise durch Platinderivate). Die
Toxizität hängt von der Gesamtdosis
(kumulative Dosis) ab und tritt in der
Regel erst nach mehreren Zyklen von
Chemotherapien auf. Über die Auswirkungen von vorangegangenen Chemotherapien (etwa „First line“ Therapie)
oder gleichzeitig verabreichten anderen
neurotoxischen Substanzen (Wechselwirkungen) ist wenig bekannt. Akute Toxizität unmittelbar während der
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Verabreichung, unter Umständen auch
schon bei der ersten Gabe; dies kommt
nur bei Oxaliplatin vor und ist durch
eine Ionenkanal-Störung verursacht.
Die Bedeutung von präexistenten
Neuropathien auf die Entwicklung von
Chemotherapie induzierten Neuropathien ist nicht ganz klar. Dosisabhängigkeit von der kumulativen Dosis (die
für die einzelnen Substanzen bekannt
ist; zum Beispiel Cis-Platinum ca.
400 mg/m2 ) ist eine wichtige Besonderheit der durch Chemotherapie induzierten Neuropathien. Ein weiteres
Phänomen, das „Coasting“, wurde vorwiegend bei Platin-Derivaten beschrieben. In Analogie zum „Roller Coaster“
(Hochschaubahn), die hinunter, und
dann wieder von selbst hinauf fährt,
wird beschrieben, dass sich die Symptome nach Beendigung der Chemotherapie über längere Zeit verschlechtern können.
Krankheitsbilder
und drei Symptome
Die Chemotherapie induzierten Polyneuropathien zeigen ein relativ stereo­
types Verhalten. Sie sind vorwiegend
sensomotorisch, wobei die Sensibilitätsstörung gegenüber der motorischen
Komponente überwiegt, längenabhängig (das heißt: die distalen Extremitätenabschnitte – hier besonders die Füße
– sind am deutlichsten betroffen) :
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© Wolfgang Grisold
Drei klinisch verwendete Untersuchungsmethoden, zur näheren Untersuchung von
Polyneuropathie Syndromen: v. l. n. r. Rydell Seiffert Stimmgabel, Weinstein Filament und
ein einfaches Gerät zur Prüfung der Temperaturdiskrimination.
Abb. 1
: und symmetrisch verteilt ist. Gefühlsstörungen stehen für die Patienten im Vordergrund; neuropathische
Schmerzen oder unangenehme Missempfindungen können vorkommen.
Symptome
Gefühlsstörungen, also Gefühlsverlust (Taubheit) oder Missempfindungen (Parästhesien) sind das häufig­
ste Symptom. Diese Störungen treten
zunächst an den Akren, vorwiegend an
den Zehen, dann am gesamten Fuß,
erst später an den Fingern auf und nehmen eine sockenförmige beziehungsweise handschuhförmige Verteilung an.
Die Sensibilitätsstörung in den Füßen
kann zu ausgeprägter Gangunsicherheit
(Ataxie) führen. Ebenso können Pruritus und neuropathische Schmerzen
hinzukommen. Sensibilitätsstörungen
in den Händen führen zur Störung der
Feinmotorik und Ungeschicklichkeit.
Motorische „Ausfälle“ sind deutlich
seltener, aber Fußheberschwäche und
Fallfuß können vorkommen. Muskel-
Typen der durch Chemotherapie induzierten Neuropathien
Sensomotorisch
Haupttyp, Betonung der sensorischen Komponente. Motorische
Symptome bei CIN seltener.
Sensorisch
Gefühlsstörungen, Taubheit, Missempfindungen, Schmerzen
Sensibel-ataktisch Gefühlsstörung vorwiegend der großen Fasern führt zu Koordinations
störungen und Gangstörungen (Ataxie).
Motorisch
Rein motorische Neuropathien sind selten. Monoparesen (z. B. N.
radialis, Peroneus) oder Hirnnerven wurden als lokale Schädigung bei
Vinkristin-Therapie beschrieben. Muskelkrämpfe der kleinen Fuß
muskel und Handmuskel können ein Hinweis für ein Polyneuropa
thie-Syndrom sein.
Schmerzhafte-sen- Eher selten; können durch eine Beteiligung der kleinen Fasern
sible Neuropathien „Small fiber“ bedingt sein.
Autonome Störungen Selten (außer bei Vinkristin).
Tab. 1
34/35
krämpfe der Fuß-, seltener der Handmuskulatur kommen häufig vor und
werden vom behandelnden Arzt oft
kaum beachtet (siehe Tab. 1).
Zeichen
Bei der neurologischen Untersuchung kann eine grobe Zuordnung der
betroffenen Fasertypen gemacht werden: Verlust von Lagesinn und Vibrationsempfinden weist auf einen Ausfall
der großen myelinisierten Fasern hin,
Störung von Schmerz- und Temperaturempfinden auf einen Befall der kleinen Fasern. Oft sind mehrere Faserpopulationen betroffen.
Der Ausfall der Motorik ist zwar
selten; hingegen können durch Ausfall oder Störung der Sensibilität Bewegungsabläufe trotz erhaltener Kraft
deutlich gestört sein. Die Reflexe sind
abgeschwächt oder fehlen.Es resultiert
Ungeschicklichkeit bei feinen motorischen Bewegungen, die bis hin zu Koordinationsstörungen und athetoiden
Bewegungen gehen können. Gefühlsstörungen an den Beinen beeinträchtigen auch die Koordination und verursachen möglicherweise Gang­unsicherheit
oder Gangstörungen. Autonome Störungen wie Orthostase, Störungen des
Gastrointestinaltraktes oder des Urogenitaltraktes sind selten .
Die Erfassung der Schmerzsyndrome ist schwierig und muss immer von möglichen tumorbedingten
Schmerzsyndromen abgegrenzt werden. Schmerzcharakteristika und Dokumentation mit einer Visuell Analog
Skala sind hilfreich. (siehe Tab. 1) :
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National Cancer Institute: Toxizitäts-Kriterien
Adverse Event
0
1
Neuropathy-motor Normal Subjective weakness
but no objective findings
Neuropathy-
Normal Loss of deep tendon reflex-
es or paresthesia (inclu-
ding tingling) but not inter-
fering with function
:
3
Objective weakness in-
terfering with activities
of daily living
Sensory loss or par-
esthesia interfering
with activities of
daily living
4
Paralysis
Permanent sensory loss that
interferes with function
Tab. 2
Diagnostik
Wie kann eine CIP am besten diagnostiziert werden? In der Onkologie
existieren zahlreiche Skalen, wie die
NCIC-(= National Cancer Institute
Common Toxicity Criteria) Skala, die
eine Mischung aus Symptomen, Zeichen und Funktionalität darstellt,
die aber im praktischen Gebrauch sowohl ungenau als auch unzuverlässig
ist (siehe Tab. 2). Zahlreiche andere
Skalen werden gegenwärtig diskutiert
(WHO, ECOG) wobei die Total Neuropathy Skala derzeit vielfach angewandt wird. Zunehmend werden aber
auf Patientenangaben basierte Skalen
eingesetzt.
Eine Mischung aus Fakten, Patientensymptomen (patient orientated examination) und Funktion stellt die in
Entwicklung befindliche PNME („Peripheral nerve mini examination“) dar,
die eine schnelle Erfassung von möglichen neuropathischen Prädispositionen im Sinn einer Checkliste erfragt.
Werden mehrere Fragen – besonders
der Funktion, der Sensibilität und der
Motorik – mit „ja“ beantwortet, sollte
der Patient neurologisch begutachtet
werden. (siehe Tabelle 3 auf Seite 37)
Die Einführung von einfachen und
leicht durchführbaren Skalen könnte
zur besseren Erfassung von Patienten
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© Wolfgang Grisold
Grade:
2
Mild objective weakness
interfering with function,
but not interfering with
activities of daily living
Objective sensory loss or
paresthesia (including
tingling), interfering with
function, but not interfering
with activities of daily living
A: Typisches Verteilungsbild der CIN: Handschuh und sockenförmige, distale Betonung.
Aufgrund der Längenabhängigkeit sind die Beine stärker und früher als die Arme
betroffen.
1-4: Zunahme der Neuropathie mit Erreichen der kumulativen Dosis. Während bei den
beiden ersten Chemotherapie-Zyklen CIN nicht zu erwarten sind, treten sie mit nach dem
dritten, vierten und weiteren Zyklen häufiger auf.
Abb. 2
mit Symptomen der Polyneuropathie
führen. Diese Entwicklung berücksichtigt die immer wichtiger werdende
Lebensqualität und auch die zunehmende Zahl von langzeitüberlebenden
Krebspatienten, bei denen Polyneuropathien zu deutlichen Einschrän-
kungen der Lebensqualität führen
können.
Die klinische Angaben und die klinische neurologische Untersuchung
sind von großer Bedeutung. Besonders
wichtig ist der Informationsstand über
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DFP - Literaturstudium
bisher verabreichte Substanzen und deren kumulative Dosis. Zusatzuntersuchungen sollen bei der Quantifizierung
des Ausmaßes des Nervenschadens helfen, obwohl elektrodiagnostische Tests
(zum Beispiel Nervenleitgeschwindigkeit) nicht immer genau mit dem Ausmaß der Polyneuropathie korrelieren.
Standard-Untersuchungen wie Nervenleitgeschwindigkeiten, Elektromyographie, quantitative sensible Testung
(wie zum Beispiel Vibrationsprüfung
mit der Stimmgabel, Prüfung der Oberflächensensibilität mit Weinstein-Filamenten und Zweipunktdiskrimination
mit dem Greulichrad, Abb. 1) und autonome Testungen sind die wichtigsten
Methoden, die eingesetzt werden. Nervenbiopsien werden bei dieser Fragestellung praktisch nicht eingesetzt, die
Rolle der Hautbiopsie bei „small fiber
neuropathy“ ist bei den durch Chemotherapie induzierten Neuropathien
noch nicht klar.
Welche Substanzen
sind zu berücksichtigen?
Nicht alle Chemotherapeutika sind
neurotoxisch. Von den Alkylantien sind
es vorwiegend die Platinderivate, welche zu Polyneuropathien führen können. Es handelt sich um eine vorwiegend sensorische Neuropathie, bei der
sensible Ausfälle und bei schwereren
Formen auch Koordinationsstörungen
auftreten. Bei Cisplatin handelt es sich
um eine kumulative Toxizität, das bedeutet praktisch, dass mit jedem weiteren Zyklus einer Chemotherapie die
Wahrscheinlichkeit für ein ein Polyneuropathie-Syndrom steigt. Bei Oxaliplatin, welches ebenso eine kumulative
Toxizität besitzt, kann es außerdem bereits schon bei der ersten Anwendung
zu Muskelkrämpfen und Missempfindungen kommen, die durch eine Ionenkanalstörung an den spannungsabhängigen Natriumkanälen verursacht
wird und kälteabhängig ist.
:
Polyneuropathie Mini Examination (PNME)*
Checkliste für das Auftreten von Polyneuropathien bei Patienten,
die mit Chemotherapie behandelt werden:
Begleitkrankheiten, Medikamenteneinnahme,
toxische Einflüsse
Diabetes mellitus
Chronischer Alkoholismus
Chronische Medikamenten-
verabreichung
Funktion der Hände:
Beim Essen
Knöpfe öffnen/schließen
An- und Ausziehen
Schreiben
der Beine:
Unmöglichkeit, auf einem Bein zu stehen
(zum Beispiel beim An-und Ausziehen)
Unsicherheit beim Stehen
Unsicherheit beim Gehen
Sensibilität
OE: Taubheit
Hereditäre Neuropathien
Kribbeln
UE: Taubheit
Kribbeln
Motorik
OE: Schwäche Hände
OE: Schwäche Arme
UE: Schwäche Beine
UE: Fallfuß
Schmerz
OE
UE
0E: Muskelkrämpfe
UE: Muskelkrämpfe
In Entwicklung: LBI für Neuroonkologie, Wien
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✔
Tab. 3
37
: Bei den Antimetaboliten werden
bei Methotrexat und Cytosinarabinosid nur Einzelfälle von Neuropathien
berichtet; lediglich bei Gemcitabine,
einem Deoxycytidine-Analogon, sollen Parästhesien und Myalgien in rund
zehn Prozent der Fälle vorkommen.
Während 5-FU praktisch keine Nebenwirkungen am peripheren Nervensystem erwarten lässt, sind bei Capecitabin Einzelfälle von Mononeuropathien
beschrieben. Häufiger tritt das „HandFoot Syndrom“ oder „Palmare Plantare
Erythrodysesthesiie“ auf, welches mit
Parästhesien, gefolgt von Hautveränderungen unterschiedlichen Ausmaßes
einhergeht.
und Taxane. Vincristin und Vindesin
weisen von der Gruppe der Vinkaalkaloide die höchste Neurotoxizität auf. Es
sind wichtige Substanzen, die in zahlreichen Therapieschemata , besonders
bei Leukämien und Lymphomen, angewandt werden. Schon früh kommt es
zu Parästhesien mit distaler Betonung;
Muskelkrämpfe und Muskelschwäche
können auftreten, besonders peroneale
Schwächen (Fallfuss) kommen vor. Die
Sehnenreflexe fehlen früh. Hirnnervenbeteiligung, Mononeuropathien und
autonome Störungen sind beschrieben.
Bei präexistenten hereditären Polyneuropathien sind unter Vinkristin dramatische Verschlechterungen beschrieben.
Zu den Pflanzenalkaloiden gehören
Vinka-Alkaloide, Podophyllin (Analoga sind Etoposide und Tenoposid)
Paclitaxel (Taxol®) und Docetaxel
(Taxotere®) werden aus der Rinde eines
Baumes (Pacific Yew tree oder Taxus
Durch Chemotherapie induzierte Polyneuropathien
Substanz
Klinisches Bild
Alkylantien:
Kumulative Dosis
Cisplatin
Vorwiegend sensorische Neuropathie, auch 400 mg /m2
Carboplatin
mit Koordinationsstörungen bei Ataxie.
600 mg /m2
Lhermitte Zeichen
Oxaliplatin
Akute (kälteabhängige) Muskelschmerzen
als Akuttoxizität.
Kumulative Toxizität wie andere Platin-Derivate
Andere Alkylantien spielen
eine untergeordnete Rolle
Antimetaboliten:
MTX, Cytosin Arabinosid
Gemcitabine
Pflanzenalkaloide:
Vinkaalkaloide
Docetaxel
Paclitaxel
Andere Substanzen:
Suramin
Sensomotorische Polyneuropathien
Thalidomid
und sensorische Polyneuropathein,
und Lenalidomide
möglicherweise auch Ganglionopathien
Bortezomib
38/39
Epithelone gehören zu den Mikrotubulin-stabilisierenden Substanzen, die
eine neue Gruppe von anti-tumorösen
Substanzen darstellen. Auch bei diesen
soll es zu sensiblen Neuropathien kommen.
Proteasom-Hemmer (Bortezomib®)
sind ebenso eine neue Klasse von antineoplastischen Substanzen. Sie werden
vorwiegend zur Behandlung von Myelomen verwendet. Dabei tritt bei einem
Drittel der Patienten eine leichte, bei
etwa zehn Prozent eine schwere sensorische Neuropathie auf.
175–200 mg/m2
Auch bei zahlreichen anderen Sub­
stanzen werden Polyneuropathien beschrieben. Erwähnenswert sind sensorische Polyneuropathien, die beim
Einsatz von Thalidomid und etwas weniger bei einem neuen Analogon Lenalidomide auftreten. Auch bei anderen
Substanzen wie Suramin, Arsentrioxyd,
Radiosensitizern (die kaum mehr angewendet werden) und zahlreichen „biologischen“ Substanzen wie alpha-Interferon, Retinoiden u.a. sind in Einzelfällen
Polyneuropathien beschrieben worden,
eindeutige Aussagen über Frequenz und
Risiko sind jedoch nicht möglich.
50 g
(Alter > 70 a)
Tab. 4
In der Literatur gibt es Hinweise,
dass Substanzen wie Trastuzumab oder
Bevacizumab in Kombination mit Pa­clitaxel eine gering höhere Neurotoxizität am peripheren Nerven verursachen.
Hypothetisch kann angenommen werden, dass dies auch durch Ausschal- :
Selten
Parästhesien und Myalgien
Dosisabhängige sensomotorische Polyneur-
opathie. Hirnnervenbeteiligung, gelegentlich
Mononeuropathie
Vorwiegend sensorische Polyneuropathien
brevifolia) gewonnen. Beide Substanzen werden allein oder in Kombination mit anderen Substanzen zur Behandlung des Mamma-, Ovarial- und
Lungenkarzinoms verwendet. Bei beiden Sub­stanzen kann eine vorwiegend
sensible Polyneuropathie auftreten. Bei
Docetaxel kommt es zu ausgeprägteren
Symptomen. Proximale, schmerzhafte
Muskelschwächen wurden bei TaxanTherapien auch beobachtet.
30–50 mg
(Gesamtdosis)
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Elektrophysiologische Befunde
bei antineoplastischen Substanzen
Substanz NLG
EMG
Autonome
Störungen
Cisplatin
Motorische NLG normal Normal
Amplitudenreduzierte
und verlangsamte
sensible NLG
Carboplatin Motorische NLG normal Normal
Amplitudenreduzierte
und verlangsamte
sensible NLG
Oxaliplatin Akute Toxizität
Pseudomyo-
tonie-artige
Entladungen
Kumulative Toxizität
wie oben
Vinkristin
Amplitudenreduzierte
Spontanaktivi- Selten;
(und andere motorische und sen-
tät, neurogene können
Vinka
sible Potentiale, dis-
Veränderungen vorkommen
Alakaloide) tal betonte Verlang
samung der NLG
Taxane
Verlangsamte Distal neurogeneSelten
Docetaxel motorische und
Veränderungen, autonom
Paclitaxel
sensible NLGs
Spontanaktivität
Andere Substanzen:
Thalidomid Pathologische
sensible NLGs
Bortezomib Axonale
sensomotorische
PNPs
Suramin
Demyelinisierende
Neuropathien
Normal
Kälteabhängig,
Zungen und
Schlundmuskulatur
Hirnnerven,
Mononeuropathien
Proximale
Muskelschwäche
bei Paclitaxel
Ataktische Paresen
Neurogene
Veränderungen
: ten von „Repair-Mechanismen“ verursacht wird.
Die Strahlentherapie kann ebenso lokale Nervenschäden (Mono- und
Plexopathien) verursachen. Systemische
Polyneuropathien sind hier nicht als
Nebenwirkung zu erwarten. (siehe dazu
Tabelle 4 auf Seite 38 sowie Tabelle 5)
Differentialdiagnose
Bei Patienten mit Tumorerkrankungen gibt es zahlreiche andere Ursachen für Polyneuropathien. Eine
40
Besonderheiten
Tab. 5
direkte Invasion der peripheren Nerven ist zwar äußerst selten, kann aber
gelegentlich bei Lymphomen („Neurolymphomatose“) oder Leukämien
auftreten. Eine ausgedehnte Infiltration
der spinalen Nervenwurzeln kann bei
meningealem Tumorbefall („Meningealkarzinose“) vorkommen, ähnelt aber
selten einem Polyneuropathiesyn­drom.
Paraneoplastisch verursachte Polyneuropathien werden oft vermutet, kommen aber auch eher selten vor. Im Unterschied zu den durch Chemotherapie
induzierten Neuropathien treten diese
meist vor der Diagnose des Tumors auf
oder führen zu dessen Entdeckung.
Vom Typ der Neuropathie weist die
seltene sensorische Neuronopathie mit
Ataxie sehr auf eine paraneo­plastische
Ursache hin.
Auch in fortgeschrittenen Stadien
einer Tumor­erkrankung können milde
sensomotorische Polyneuropathien auftreten, die eher bei der Untersuchung
auffallen, als dass sie den Patienten
Beschwer­den bereiten.
Lokale, segmentale schmerzhafte
Neuropathien lassen eher an periphere
Nerven-Kompressionssyndrome als an
durch eine durch Chemotherapie induzierte Polyneuropathie denken. Bei
Tumorpatienten sind derartige asymmetrische schmerzhafte Neuropathien
sorgfältig abzuklären. Auch die durch
Chemotherapie induzierten Neuropathien beginnen aufgrund der Längenabhängigkeit eher an den Beinen.
Gefühlsstörungen, die auf beide Hände
beschränkt sind, sollten zunächst an ein
Karpaltunnelsyndrom denken lassen.
Multiplex-Neuropathien im Zusammenhang mit Vaskulitis sind zwar
in Einzelfällen beschrieben, insgesamt
aber selten und unwahrscheinlich.
Spinale Kompressionssyndrome, besonders im HWS Bereich, die vorwiegend die Hinterstrangfunktionen betreffen, können mit einer sensorischen
Poly­neuropathie verwechselt werden.
Langsam zunehmende Kompressionen
der Cauda im LWS-Bereich kann eine
sensomotorische Polyneuropathie imitieren.
Therapie
Die wichtigste Maßnahme ist es zu
vermeiden, dass es zum Auftreten einer durch Chemotherapie induzierten
Neuropathie kommt, da derzeit keine kausalen, sondern nur symptomatische Therapien zur Verfügung stehen.
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Durch Chemotherapie induzierte Neuropathien können zu schwerwiegenden
Beeinträchtigung der Lebensqualität,
Schlafstörungen, Schmerzen und Behinderung bei den Activities of Daily
Living (ADL) führen. Eine der wichtigsten Maßnahmen ist die Aufklärung der
Patienten, dass es zu einer durch Chemotherapie induzierten Neuropathie
kommen kann, die durchaus wesentlich
die Lebensqualität beeinträchtigt.
Die erste Strategie ist die Dosisanpassung, Reduktion oder auch Verzögerung
der Verabreichung der Sub­stanz, welche
die durch Chemotherapie induzierte
Neuropathie auslöst. Dabei sollte in Zusammenarbeit zwischen Onkologen und
Neurologen die potentielle Toxizität und
die Wirksamkeit anderer, weniger toxischer Substanzen abgewogen werden.
Bei der Mehrzahl der Patienten
nimmt die durch Chemotherapie induzierte Neuropathie nach dem Ausschleichen oder der Beendigung der
Therapie in der Intensität wieder ab.
Die zweite wichtige Strategie sind
supportive Maßnahmen, also Neurorehabilitation, Schuhwerk, eventuell
Orthesen. Die Schmerztherapie gegen
neuropathische
Schmerzsyndrome
oder unangenehme Missempfindun­gen
erfolgt mit Antikonvulsiva (wie zum
Beispiel Gabapentin, Carbamazepin,
Lamotrigin, Pregabalin), Tramal und
NSAIDs, während in dieser Indikation
stark sedierende Alkaloide möglichst
vermieden werden sollen.
Die zusätzliche Verabreichung von
klassischen trizyklischen Antidepressiva
(etwa Amitryptilin) oder auch Duloxetin hat sich bewährt. Auch lokal applizierbare Lokalanästhetika („Skin Patches“) werden eingesetzt.
Als dritte Strategie wäre eine medikamentöse Prophylaxe wünschenswert, die aber leider derzeit noch nicht
zur Verfügung steht. Die Hauptsorge
bei der Prophylaxe der durch Chemotherapie induzierten Neuropathie ist,
dass eine solche Prophylaxe auch zu
einer Wirkminderung der Chemotherapie auf die Tumorzellen führen und
die antikanzerogene Wirkung reduzieren könnte. Zahlreiche Substanzen wie
Amiofostin, Erythropoetin, Gluthat­
ion, Glutamin, N-Acetylcystein,
Wachstumsfaktoren und Vitamin E
wurden untersucht, zeigten jedoch
keine zuverlässigen Ergebnisse.
Fallgruben
Die wichtigsten „diagnostischen
Fallgruben“ wurden unter der Differentialdiagnose zusammengefasst. Im
klinischen Alltag sollten zwei oft konträre Aspekte immer berücksichtigt
werden: 1) Neurologische Symptome
bei onkologische Patienten sind nicht
immer metastatisch und 2) Nicht alle
Tumortherapien sind neurotoxisch.
Erst das sorgsame Abwägen der
einzelnen Charakteristika der Krankengeschichte des Patienten, der Begleitkrankheiten und der Therapien
lassen oft eine genaue Zuordnung zu.
Zusammenfassung
Aufgrund der zunehmend erfolgreichen Therapie mit Chemotherapeutika und der daraus resultierenden
Verlängerung der Überlebenszeit beziehungsweise sogar der kurativen
Erfolge wird die durch Chemotherapie induzierte Neuropathie weiter an
Bedeutung zunehmen. Der Einsatz
von neuen Substanzen mit peripherer
Neurotoxizität lässt das Auftreten der
durch Chemotherapie induzierten
Neuropathie vermehrt erwarten.
Prophylaxe, Diagnostik und Therapie sollten in einem interdisziplinärem
Setting zwischen Onkologen und
Neurologen durchgeführt werden.
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Vom klinischen Typ ist die durch
Chemotherapie induzierte Neuropathie eine längenabhängige, vorwiegend
sensible Polyneuropathie, die durch
Gefühlsstörungen (Taubheit, Kribbeln), Schmerzen und auch gelegentlich durch Koordinationsstörungen
bis zur Ataxie in Erscheinung tritt.
Entscheidend für die Diagnose ist
die klinisch neurologische Symptomatik, da Zusatzuntersuchungen wie die
Nervenleitgeschwindigkeitsmessung
nicht immer mit dem Ausmaß des Polyneuropathie-Syndromes korrelieren.
Ausschluss von möglichen anderen
Differentialdiagnosen und in jedem
Fall eine genaue Kenntnis der bisher
verabreichten Substanzen und deren
Kumulativdosis sind notwendig. 9
Literatur beim Verfasser
*) Univ. Prof. Dr. Wolfgang Grisold,
Kaiser Franz-Joseph-Spital Wien/SMZ Süd/
Neurologische Abteilung,
Kundratstraße 3,
1100 Wien;
Tel: 01/60 191/2001,
E-Mail: [email protected]
Lecture Board:
Univ. Prof. Dr. Wolfgang Löscher,
Medizinische Universität Innsbruck/
Universitätsklinik für Neurologie
Univ. Prof. Dr. Stefan Quasthoff,
Medizinische Universität Graz/Universitätsklinik
für Neurologie
Dr. Andrea Vass,
Sozialmedizinisches Zentrum Floridsdorf Wien
Herausgeber:
Neurologische Abteilung des Kaiser Franz
Joseph-Spitals Wien
Diesen Artikel finden Sie auch im Web unter
www.arztakademie.at/ls
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