Hirnstammaudiometrie Wahlpraktikum 2-34 - Medizinstudium 2. Jahr - Universität Bern Roman Balsiger, Veronika Halter Praktikumsleiter: Dr. Mattheus Vischer, Phoniatrie, HNO-Klinik, Inselspital Bern Symposium 14. Juni 2004 Anatomie des Ohres Ableitung akustisch evozierter Potenziale Das Hörorgan wird in äusseres, mittleres und inneres Ohr gegliedert. Die Ohrmuschel des äusseren Ohrs fängt die Schallwellen auf. Ihre Form und Stellung sind wichtig für die Lokalisation der Schallquelle. Das Trommelfell (Membrana tympani) schliesst die Paukenhöhle (Cavum tympani) des Mittelohrs gegen den äusseren Gehörgang ab. Es wird durch Schallwellen in Schwingung versetzt. Die Gehörknöchelchen (Malleus, Incus und Stapes) übertragen die Schwingungen am Fenestra vestibuli auf die Flüssigkeit im Innenohr. In der Cochlea führen diese Schwingungen zu Scherbewegungen zwischen der Tektorialmembran und der Basilarmembran, welche die Haarzellen beherbergt. Dadurch werden die Stereozilien der Haarzellen abgebogen, so dass Transduktionskanäle geöffnet werden und Rezeptorpotenziale entstehen. Der Patient sollte während der Messung möglichst keine Bewegungen ausführen, um nicht zusätzliche Störungen (Muskelartefakte) hervorzurufen. Ist dies im Wachzustand nicht realisierbar, kann eine Hirnstammaudiometrie auch beim schlafenden oder sedierten Patienten erfolgen. Dem Patienten werden vier Elektroden angebracht: je eine an das Mastoid rechts und links, eine an die Stirn und eine auf den Scheitel. Über einen Kopfhörer werden dem Patienten Klickreize mit verschiedenen Schalldruckpegeln abgegeben. Ein Klick ist ein breitbandiger Rechteckimpuls definierter Dauer und Polarität (Sog oder Druck). Die Ableitung der Hirnstammpotenziale ergibt nach einer Summation von 1000-2000 Reizantworten innerhalb der ersten 10 ms nach Reizbeginn eine typische Folge von 5-7 positiven Wellen, die vereinfacht den Schaltstationen der Hörbahn zugeordnet werden können. Sie werden mit römischen Ziffern bezeichnet: Die Welle I zeigt die Aktivität des ersten Neurons im Ganglion spirale, während Welle II an den Nuclei cochleares generiert wird. In Welle III stellt sich die elektrische Aktivität des Corpus trapezoideum dar, in Welle IV die der Nuclei lemnisci laterales. Im Colliculus inferior entsteht die Welle V. Ausserdem können noch die Wellen VI und VII abgeleitet werden, welche die auditiven Reaktionen des Corpus geniculatum mediale beziehungsweise der Radiatio acustica widerspiegeln. Abb.5.1: Hirnstammaudiometrie; Kopfhörer, Elektroden, Verstärker, Computer Abb.1: Organum Vestibulocochleare, Atlas der Anatomie des Menschen, Frank H. Netter Zentrale Hörbahn Die Sinneszellen des Corti-Organs werden durch bipolare Nervenzellen des Ganglion spirale innerviert, deren Axone den N. cochlearis bilden. Fasern aus dem Ncl. cochlearis posterior ziehen als Striae acusticae posteriores unverschaltet auf die Gegenseite. Fasern aus dem Ncl. cochlearis anterior ziehen ipsilateral nach oben, der grösste Teil kreuzt als Corpus trapezoideum zur Gegenseite. In das Corpus trapezoideum sind Kerne eingeschaltet, in denen die meisten Fasern zum zweiten Mal verschaltet werden. Verschaltete und unverschaltete Fasern ziehen gemeinsam als Lemniscus lateralis zu den Colliculi inferiores. In den Ncll. lemnisci lateralis wird ein Teil der Fasern verschaltet, diese kreuzen auf die ipsilaterale Seite zurück. In den Colliculi inferiores kreuzt ein Teil der Fasern zum Colliculus der Gegenseite, die meisten ziehen zum Corpus geniculatum mediale, wo sie erneut verschaltet werden und als Hörstrahlung in den Heschel-Querwindungen enden. Da Fasern sowohl ipsi- wie kontralateral verlaufen, erhält die primäre Hörrinde Informationen von beiden Cochleae. Dadurch wird einerseits das Richtungshören ermöglicht, andererseits sind einseitige Schädigungen der Hörbahn nicht von einem totalen Hörverlust begleitet. Abb.2: Hörbahn, Atlas der Anatomie des Menschen, Johannes Sobotta Abb.5.2: Hirnstammantworten, Audiometrie, G. Böhme und K. Welzl-Müller Anwendungsbereiche Da es für eine Hirnstammaudiometrie keine subjektiven Angaben des Patienten benötigt (objektive Audiometrie), ist sie besonders für Hörschwellendiagnostiken bei Säuglingen (Screening), Kleinkindern und nichtkooperativen Patienten geeignet. Die Hirnstammaudiometrie ist auch die Methode der Wahl für die Abklärung von Schallleitungsschwerhörigkeiten, Innenohrschwerhörigkeiten und retrocochleären Hörstörungen, Innenohrfunktion bei Vertäubungsproblemen, Überprüfung und Anpassung von Hörgeräten und neurologischen Fragestellungen (z.B. Multiple Sklerose). Auswertung Je höher der Schalldruckpegel (SPL), desto besser werden die einzelnen Wellen unterscheidbar, wobei die Welle V auch bei tiefem SPL gut erkennbar bleibt. Bei hohem SPL erfolgt eine Rekrutierung von Nachbarhaarzellen, was eine Verkürzung der Latenzzeit (Reiz bis Potenzial) zur Folge hat. Die Abbildungen 6.1 bis 6.5 zeigen verschiedene Ableitungen eines gesunden Probanden bei jeweils gleichen Reiz-/ Ableitungsbedingungen. rechts Klick Sog links rechts Klick Sog links Methode Wirkt ein akustischer Reiz auf das Corti-Organ ein, kommt es zu Rezeptorpotenzialen in den Sinneszellen des Innenohres, welche zu elektrischen Erregungen im Nervus cochlearis, der zentralen Hörbahn und den Heschl-Querwindungen führen. Diese Antworten führen zu minimalen Potenzialen, die an der Schädeloberfläche, wie beim EEG, abgeleitet werden können. Die Potenziale sind gekennzeichnet durch: Latenzzeit frühe Antwortpotenziale: 0 – 15 ms mittlere Antwortpotenziale: 20 – 50 ms späte Antwortpotenziale: 100 – 300 ms Amplitude Polarität Ziel der Hirnstammaudiometrie ist es, die frühen im Hirnstamm evozierten Antworten zu messen. Ein Problem besteht darin, dass die auftretenden Potenziale von anderen gleichzeitig auftretenden Potenzialen (physiologischen und nicht physiologischen Ursprunges) überlagert werden (Störung). Das Ergebnis einer einzelnen Ableitung zeigt ein Bild der Gesamtaktivität des Gehirns. Erst durch Mittelung und Filterung werden die gesuchten Potenziale darstellbar. ipsilateral rechts I III V kontralateral links ipsilateral links III I I III III Klick Sog kontralateral rechts V V V V V Abb.3: Akustisch evozierte Potenziale, Audiometrie, G. Böhme und K. Welzl-Müller Klick Sog Abb. 6.2: normale Hirnstammaudiometrie, jeweils ipsilateral, mit High-Pass Filter (niederfrequente Potenzialschwankungen werden herausgefiltert; Bsp. 65dB rechts) I V Prinzip des Mittelungsverfahrens: Gemittelt wird über die zu gleichen Zeiten nach dem Reiz auftretenden Spannungen bei Reizwiederholungen. Die vier oberen Kurven stellen messbare Spannungsschwankungen dar. Die unterste Kurve entsteht durch Summierung der zu gleichen Zeitpunkten nach dem Reiz auftretenden Amplituden. Um ein Mittelungsverfahren anwenden zu können müssen einerseits Störungen zufallsverteilt sein und andererseits Amplitude und Latenzzeit des Signals in jedem Mittelungsschritt konstant sein. Abb.4: Prinzip des Mittelungsverfahrens, Audiometrie, G. Böhme und K. Welzl-Müller Abb. 6.1: normale Hirnstammaudiometrie, jeweils ipsilateral, ohne High-Pass Filter V Abb. 6.3 & 6.4: normale Hirnstammaudiometrie, jeweils ipsilateral und kontralateral, ohne High-Pass Filter. Durch den gekreuzten Verlauf der Hörbahn können auch auf der kontralateralen Seite Potenziale abgeleitet werden. rechts Klick Sog links 85dB 65dB 45dB 25dB Abb. 6.5: normale Hirnstammaudiometrie, ipsilateral links; Abb. 6.6: pathologische Hirnstammaudiometrie, jeweils ipsilateral; gut sichtbar sind die längeren Latenzzeiten am Bsp. von Welle V es sind auch bei hohen Schalldruckpegeln keine typischen Kurven erkennbar bei niedrigerem Schalldruckpegel