Band 21 Schulbuch-Nummer 160.460 Modest Mussorgsky Bilder einer Ausstelllung in der Orchesterfassung von Maurice Ravel Postdidaktische - Hörpartitur Modest Mussorgsky (1839-1881) Klavier-Suite “Bilder einer Ausstellung” in der Orchesterfassung von Maurice Ravel. Entstehung der Klavier-Suite: Vollendet am 22. Juli 1874. Orchesterfassung von Maurice Ravel: Uraufführung, 19. Oktober 1922 in Paris. Spieldauer: ca. 35 min Orchesterbesetzung Die Besetzung der Orchesterfassung von Ravel: 3 Flöten (2.+3. auch Piccolo), 3 Oboen (3. auch Englischhorn), 2 Klarinetten (beide: B+A), 1 Bassklarinette (B+A), 2 Fagotte, 1 Kontrafagott, 1 Altsaxophon (Es), 4 Hörner (F), 3 Trompeten (C), 3 Posaunen, 1 Tuba, Pauken, Schlagwerk (Triangel, Tamburin, Peitsche, Ratsche, Becken, Große Trommel, Tamtam, Glockenspiel, Xylophon, Röhrenglocke oder Glocke (nur Es), Celesta, 2 Harfen und Streicher. 1922 hatte der aus Russland emigrierte Dirigent des Pariser „Concerts Symphoniques”, Sergej Kussewitzky, die Bearbeitung der “Bilder einer Ausstellung” bei Maurice Ravel in Auftrag gegeben und sich nach der sensationellen Uraufführung in der Oper von Paris am 19. Oktober 1922 für sechs Jahre die exklusiven Rechte an der Partitur gesichert. Dabei war Ravel nicht der erste und auch nicht der letzte gewesen, der eine Bearbeitung dieses Werkes vornahm; aber wirklich durchsetzen konnte sich nur die besonders einfühlsame Fassung von Ravel. Seine Instrumentierung, die so treffend den musikalischen Ausdruck des Werkes charakterisiert, wurde nicht eilig hingesetzt, sondern ist sehr genau durchdacht. Zwischen der Komposition der Klavier-Suite (1874) und der Orchestrierung durch Ravel liegen fast ein halbes Jahrhundert. Dies ist umso bemerkenswerter, als nicht nur diese zeitliche Entfernung, sondern auch stilistisch beide Komponisten nicht in einem Atemzug genannt werden können. Zwei Komponisten mit jeweils unterschiedlichen Modernitätsansprüchen machen die “Bilder einer Ausstellung” im doppelten Sinn zum Zeugnis ihrer jeweils eigenen Modernität, ohne dass das eine durch das andere Schaden nehmen würde. Modest Mussorgsky “Bilder einer Ausstellung” in der Orchesterfassung von Maurice Ravel. Promenade Allegro giusto, nel modo russico; senza allegrezza, ma poco sostenuto. (Allegro in angemessenem Tempo, im russischen Stil; ohne Heiterkeit, aber ein wenig zurückhaltend.) Abschnitt A Thema A Trompete - Solo b A & b 45 œ - Melodieteil a 3/4 œ- 2 f œ- Pentatonische Melodik. Melodieteil b 2/4 - œ œ œ 64 œ- œ œ œ- œ- œ œMelodieteil b 2/4 - Halbschluss Melodieteil a’ 4/4 (=Umkehrung a’) Im Sekunde-Quarte-Motiv wird der Grundton b völlig verschleiert. Die häufige Verwendung von Quarte-Sprüngen (die jeweils von einem Sekunde-Schritt “vorbereitet” werden) verleiht der Melodie A einen signalartigen, feierlichen Charakter. Hinzu kommt ein permanenter Wechsel verschiedener Metren, die Verschleierung der Tonalität und unregelmäßige Akzentsetzungen, Eigentümlichkeiten, die dieser Melodie ihren unverwechselbaren Charakter im “russischen Volkston” unterstreichen. “Chor” Die einstimmige Melodie A wird nunmehr im mehrstimmigen Blechbläsersatz wiederholt. (Pentatonische Melodik.) 2 b 5 b & 4 œ œ 6 œ- œ œ- œ- œœ œ œ- œ4 œ- œMelodieteil a 3/4 g-moll F-Dur g-moll “Ganztonrückung” f Melodieteil b 2/4 - F-Dur d-moll Trompete feierlich, schreitend B-Dur Melodieteil b 2/4 F-Dur B-Dur Melodieteil a’ 4/4 g-moll (C-Dur) ZD F-Dur “Ausweichung” Die „Promenade“, die zwischen den nachfolgenden Bildern in veränderter Form ritornellartig wiederkehrt, eröffnet das Werk und stellt Mussorgsky selbst dar, wie er in einer Ausstellung von Bild zu Bild wandert. Der Kunstkritiker und engagierte Förderer der russischen Komponistengruppe der “Fünf Novatoren”, Wladimir Stassow (1824-1906), den mit Mussorgsky eine enge Freundschaft verband, schrieb in seiner Mussorgsky Biographie (1881) hinsichtlich dieser “Promenade”, dass “der Komponist sich selbst dargestellt hat, wie er hin und her geht, manchmal stehen bleibt, dann rasch weitergeht, um näher an ein Bild heranzutreten. Manchmal stockt sein Gang - Mussorgsky denkt voll Trauer an den toten Freund.” (Calvocoressi, Mussorgsky, 1919). Mussorgsky selbst schrieb 1874 in einem Brief an Stassow: “Mein geistiges Abbild erscheint in den Zwischenspielen. Bis jetzt halte ich es für gelungen.” Bemerkenswert sind die detaillierten Satzbezeichnungen, die Mussorgsky den einzelnen Bildern voran stellt. Diese beziehen sich nicht nur auf das Tempo, sondern auch auf den Charakter bzw. auf den Ausdruck eines Musikstückes und zeigen wie wichtig Mussorgsky die richtige Wahl des Tempos war. Damit steht Mussorgsky in enger Tradition mit Beethoven, der sich bereits 1817 in einem Brief an Ignaz von Mosel gegen den groben Schematismus der italienischen Bezeichnungen wandte und eine Vielzahl detaillierender Anweisungen (wie molto, poco, serioso, scherzoso usw.) einfügte, die sich insbesondere auf den Charakter eines Musikstückes beziehen. 4 Die pentatonische Grundgestalt des “Promenadenthemas” “Chor” erhält nunmehr einen modalen Charakter. Trompete - Solo b A1 & b 45 œ œ œ- œ- œ œ - Melodieteil b’ 2/4 Umkehrung a 3/4 2 eines reinen Blechbläsersatzes. Melodieteil b’ 2/4 64 œ œ œ- œ- œ- œ- œ œMelodieteil c B-Dur Trompete feierlich, schreitend mixolydisch auf f g-moll f Unisono So wie der Betrachter sich noch keinem bestimmten Bild zuwenden möchte, schwankt auch die Tonalität der Promenade zwischen verschiedenen Tonarten (B-Dur, F-Dur, pentatonisch und mixolydisch). Solo (Trompete - ohne Orchester) Umkehrung a 3/4 2 Modulation “Chor” nach Des-Dur. Des-Dur. eines reinen Blechbläsersatzes. b5 - œ 6 b œ bœ & 4 œ- œ- œ œ- œ b œ 4 Melodieteil b’ 2/4 b œ- œ- œbœ œ - Melodieteil b’ 2/4 Melodieteil c Solistische und chorische Abschnitte wechseln sich in kürzeren Abständen ab. Dies erweckt den Eindruck einer Tempobeschleunigung. Des-Dur b-moll7 Halbschluss as Unisono Abschnitt B Thema B Im “Chor” B2 b b & b œ œ œ- œ œ œ œ œ Melodieteil a’ As7 fm7 mf Im “Chor” eines reinen Holz- und Streichersatzes. eines reinen Streichersatzes. Melodieteil d As7 es-moll b œ œ œ b œ b œ œ œ- œ œ b œ œ - Melodieteil e As-Dur b-moll Des-Dur Halbschluss As-Dur fließend, sanglich Des-Dur 1. und 2. Violine Mediante von B-Dur T(G). Die bislang quasi “responsoriale” Vortragsweise wird nunmehr durch eine “antiphonale” ersetzt und erreicht im Tutti-Einsatz einen ersten Höhepunkt. Im “Chor” Im “Chor” 2 b5 b & 4 eines reinen Streichersatzes. Melodieteil d (verkürzt) Melodieteil a’ b œ œ œ- œ œ œ œ 64 As7 fm7 es-moll eines Holz- und Streichersatzes. Melodieteil d Melodieteil a’ œ œ œ- œ œ œ œ œC7 g-moll am7 g-moll C7 Rückung nach F-Dur. Das “Promenaden-Thema A” wird am Beginn von der Solo-Trompete vorgetragen. Diese einstimmige Melodie wird sogleich vom Chor (der Blechblasinstrumente) im mehrstimmigen Satz wiederholt. Diese Gegenüberstellung von “Vorsänger” und “Chor”, ein Prinzip das sich in vielen Volks- und Kirchenliedern bis in die Gegenwart hinein erhalten hat (etwa in Form von “call” and “response”), ist ein wesentliches stilistisches Merkmal gerade der Promenade. 5 Erster melodischer Höhepunkt. Tutti. & 1 bb œ œ œ œ F-Dur C-Dur - œ Melodieteil e g-moll F-Dur œ œ œ - œ- C7 F-Dur Halbschluss œ œ C-Dur d-moll f Durchführungsartiger Einschub. Eine motivisch-thematische Auseinandersetzung. 2 Um keh run gb œ- n œ œœ œ b & b 23 œ- œ œ œ a-moll B-Dur e7 F-Dur mf 2 > b6 b & 4 œœ- œ nœ œ œ œœ œ- œœ œ œ œ F-Dur e7 dm7 mf p gm7 d-moll œ œœ- œ œ bœ nœ œ c-moll F-Dur gm7 c-moll F-Dur g-moll œ œ. - gm7 dm7 gm7 p > œ œ œ œ n œ -œ œ œ œœ œ- œ- œ œ œ œ- œœ- œœ œ C-Dur dm7 œf œ œ œ C-Dur F-Dur Es-Dur F-B-Dur Bereits in der Promenade zeigen sich wesentliche stilistische Merkmale der Mussorgskyschen Tonsprache. So ist etwa der pentatonische Duktus der Melodie A eine bewusste Loslösung vom Dur-Moll-System und verweist auf ältere, in der Volks- und Kirchenmusik verwurzelte Melodietypen. Hinzu kommt noch die starke Einbindung von modalen Tonleitern und Ganztonrückungen. Anstelle von Quintbeziehungen treten die spannungsloseren Sekunde- und Terzbeziehungen. Der Leitton wird häufig durch einen Ganztonschritt verdrängt. Dies alles bewirkt eine Archaisierung des musikalischen Satzes. Um 1900 wurden solche Rückgriffe auf die modale Harmonik zu einem geschätzten Stilmittel in der Musik. Der “Modale-Satz” (etwa bei Hugo Distler, Paul Hindemith oder Johann N. David) half schließlich zur Überwindung der Dur-Moll-Tonalität. In dieser Hinsicht zeigt sich insbesondere die Modernität Mussorgskys. Die “Kirchentonleitern” (Modi) waren für die Entwicklung der abendländischen Musik von fundamentaler Bedeutung. Sie stellten zunächst die Gesamtheit der im Mittelalter verwendeten Skalen dar und waren vor allem auf die einstimmige Musik fixiert. Bei der Entwicklung der Mehrstimmigkeit treten die Kirchentonarten gegenüber Dur und Moll, das sich aus den im 16. Jahrhundert hinzugefügten Modi Ionisch und Äolisch entwickelt hatte, zunehmend in den Hintergrund. Die Unterteilung der kleinen Terzschritte der Pentatonik führt zu diatonischen Durchgangsnoten: B-Dur 1/1 & 1/1 bw w w 1. 2. 1/1 1+1/2 3. bw w w 4. 5. 1+1/2 w bw mixolydisch auf f: 1/1 & w w 1. 2. 1/1 w bw w 1/2 3. 1/1 4. 5. 1/1 w 1/2b w 1/1 w 6. 7. 8. 6 Modulation nach B-Dur. B-Dur. 2 & bb œ œ F-Dur B-Dur 2 & bb œ> œ> œ> œ œ œ F-Dur g-moll F-Dur (Unisono) (Unisono) (Unisono) Es-Dur F-Dur œ> œ œ> œ> œ> > g-moll Es-Dur F-Dur F-Dur B-Dur F-Dur F-Dur (Unisono) (Unisono) Es-Dur F-Dur B-Dur œ> œ œ> œ> œ> Unisono > œ œ œ > œ œ> œ œ - - Unisono > - œ> œ > C7 F-Dur g-moll F-Dur g-moll F-Dur (Unisono) (Unisono) f Abschnitt A (Reprise) Thema A Vordersatz A 2 & bb œ œ œ œ- œ œ- Melodieteil b (2/4) - Melodieteil a (3/4) œ - œ- œ- Es-Dur F-Dur ( IV ) ( V ) f - B-Dur (I) B-Dur F-Dur Erstmals erscheint der Grundton (b) völlig gefestigt. Melodieteil b (2/4) F-Dur œ- Melodieteil a’ (4/4) œ - g-moll Trompete, Posaune würdevolle Unruhe B-Dur œ- œ- (C-Dur) ZD F-Dur Melodieteil > a’ (4/4) Ganzschluss (Zwischendominante) (Pentatonische Melodik.) Nachsatz 1 & bb Tutti Melodieteil a (3/4) œ> g-moll œ> F-Dur œ œ œ œ> > Melodieteil b (2/4) > œ > g-moll F-Dur B-Dur g-moll œ c-moll > œ F-Dur > œ B-Dur So wie der Betrachter sich nunmehr dem ersten Bild (“Der Gnom”) zuwendet, findet das Promenaden-Thema (A) erstmals auf der Tonika von B-Dur einen eindeutigen Abschluss (Ganzschluss). Das B-Dur ist aber nicht nur die lang ersehnte und immer wieder verschleierte Tonika des Promenaden-Themas, sondern gleichzeitig auch die Dominante der kommenden Tonart es-moll. Mussorgsky hat der traditionellen motivisch-thematischen Arbeit (etwa im Sinne einer Sonatenform oder einer Fuge) weitgehend den Rücken gekehrt. Dementsprechend wandte er sich gegen die, wie er es nannte, “sinfonischen Päpste und unverbesserlichen Konservatoren.” Für ihn ist die Musik eine "vom Leben gespeiste Sprache", nicht abstrakte Form. Daraus erklärt sich auch seine einfache Formensprache, etwa nach dem hier vorliegenden (Liedform-) Muster: Abschnitt A Thema A: A - A1 Abschnitt B Thema B: B Durchführungsartiger Einschub Abschnitt A Thema A: A I. Der Gnom 7 Abschnitt A Thema A Vivo. Unisono. A 3 ...und in stocksteifer Erstarrung. U ˙. ˙ œ ‰ J œ Wild, impulsiv... œ œ œ nœ nœ ? b b b b 34 bb ff ges Unisono f es-moll (harmonisch) 3 ...und wieder A, diesmal allerdings wie aus weiter Ferne. Meno vivo. Unisono. ...und in stocksteifer Erstarrung. Wild, impulsiv... œ ? bb b b b b œ nœ p 4 ? bb b b b b œ ˙. nœ ˙. mp (“Leitton”) Wild, impulsiv... œ œ ges Unisono ...und ein abrupter Halbschluss auf der Dominante. Vivo. Unisono. œ. U œ. œ Œ œ œ œ b œ .. dann skurrile Sprünge...j œ nœ bœ œ œ nœ œ ‰ & œ œ b œ> œ> n œ> ff ff Thema A “Leere Oktavenparallelen” in verkürzter Form. œ A ? bbbb b b Vivo. Unisono. Wild, impulsiv... œ nœ œ œ U ˙. ..und in stocksteifer Erstarrung. nœ ˙ œ‰ J 3 ff es-moll ff (harmonisch) Wild, impulsiv... 5 ? bb b b b b œ Unisono .. dann skurrile Sprünge... ges Unisono U œ .œ œ U œ. œ ∑ œ ...und ein abrupter Halbschluss auf der Dominante. œ œ n œ œb œ b œ œ œ œ œ n œ œj‰& b œ> œ> n œ> ff G. P. “Leere Oktavenparallelen” Für das Bild der “Gnom” hat sich kein Bild Hartmanns erhalten. Allerdings gibt es eine Bildbeschreibung von Stassow. Die Zeichnung stellte demnach “einen kleinen Zwerg dar, der linkisch auf missgestalteten Beinen einhergeht.” Diese Zeichnung diente als Vorlage für einen kleinen Spielzeugnussknacker, der 1869 nach einem Entwurf Hartmanns angefertigt wurde. Mussorgsky greift in tonmalerischer Weise (durch auf und ab, langsam und schnell, laut und leise usw.) charakteristische Bewegungsformen dieses Zwerges heraus. Die psychologische Seite des Gnoms wird durch die Darstellung bestimmter Gefühle und Stimmungen vermittelt.