Probleme bei der Begutachtung der posttraumatischen

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Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Sektion für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie (Leiter: Prof. Dr. K. Foerster)
M. Leonhardt, K. Foerster
Probleme bei der Begutachtung
der posttraumatischen Belastungsstörung
Zusammenfassung Die Begutachtung der posttraumatischen Belastungsstörung hat eine große Bedeutung erlangt. Frühere Häufigkeitsangaben
für diese Störung waren zu hoch. Die korrekte Erfassung der Traumakriterien ist für die Diagnose wichtig. Weder aus der Psychopathologie noch
aus der Beschwerdeschilderung lässt sich erschließen, ob ein objektiv schweres Ereignis vorlag. Diese Frage muss vorab vom Auftraggeber geklärt werden. Die Komorbidität der posttraumatischen Belastungsstörung ist sehr hoch. Die Symptomatik verändert sich zeitbezogen, da Krankheitsverarbeitung ein dynamischer Prozess ist. Fehler, die zu falsch positiven und falsch negativen Diagnosen führen, werden genannt. In der Untersuchung sollte sich das Vermeidungsverhalten reproduzieren lassen. Die Untersuchung Traumatisierter erfordert ein sensibles Vorgehen. Bei
korrekter Durchführung besteht keine Retraumatisierungsgefahr. Hinweise für die Untersuchung von Probanden, die (fälschlich) mit den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung identifiziert sind, werden gegeben. Aussagen zur Kausalität sind mit dem deskriptiven Konzept der
posttraumatischen Belastungsstörung nicht verbunden.
Schlüsselwörter posttraumatische Belastungsstörung – Trauma – posttraumatische Störungen
Einleitung
Die posttraumatische Belastungsstörung (posttraumatic stress
disorder – PTSD) ist eine Diagnose mit hoher Anziehungskraft,
gerade auch im gutachtlichen Bereich. Andere posttraumatische
Störungen wie depressive Reaktionen, Angst-, dissoziative und
Schmerzstörungen drohen dagegen aus dem Blickfeld zu geraten oder tauchen vor allem im Zusammenhang des PTSD-Konzeptes auf. In Ergänzung zu unserem Aufsatz zur Diagnose der
PTSD in diesem Heft, haben wir für diese Arbeit eine problembezogene Darstellung gewählt, die der besonderen Situation des Gutachters Rechnung tragen soll.
Neue wissenschaftliche Konzepte werden anfangs meist überbewertet. Man erhofft sich von ihnen Lösungen für komplexe
Probleme, die sich einem vollständigen Verständnis entziehen.
Es gibt Gründe zur Annahme, dass dies auch für das PTSDKonzept gilt. Der Versuch, alle psychoneurotischen Störungen
traumatologisch abzuleiten, ist bereits vom Ansatz verfehlt,
ebenso wie die Ausweitung des Traumabegriffs auf Mobbing
und Arbeitslosigkeit, wie sich mancherorts beobachten lässt [6].
Das komplexe Zusammenspiel von Ereignis und Persönlichkeit
(oder wie ein Außen ein Innen beeinflusst und umgekehrt) lässt
sich nicht einseitig auflösen. Die Grundfrage auch der Psychotraumatologie ist, wie ein Mensch von seiner Umwelt beeinflusst wird und sich mit ihr auseinandersetzt. Die Apperzeption schwerer, potentiell traumatisierender Ereignisse ist ein
Spezialproblem der ubiquitären Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt. Das heißt aber auch, dass nicht jede,
auch nicht jede belastende Apperzeption eines äußeren Ereig-
Anschrift der Verfasser:
Dr. med. Martin Leonhardt
Prof. Dr. med. Klaus Foerster
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Sektion für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
(Leiter: Prof. Dr. K. Foerster)
Osianderstraße 24
72076 Tübingen
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nisses traumatisierend wirkt. Eine Traumatisierung liegt nur
dann vor, wenn ein objektiv schweres Ereignis eine tiefgreifend
verstörende, psychisch nicht zu integrierende Erfahrung hinterlässt. Hier haben allerdings die Erkenntnisse der Psychotraumatologie zu wesentlichen Fortschritten in Diagnose und Therapie geführt.
Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Angaben zur Lebenszeitprävalenz der PTSD in früheren Studien deutlich zu hoch angesetzt waren. Heute wird von einer Prävalenz von unter 10 %
ausgegangen [3, 12]. Das Risiko, nach einem Ereignis entsprechender Schwere eine PTSD zu entwickeln, wird heute je nach
Studie auf weniger als 10 % bis zu 25 % geschätzt [3, 9]. Ältere Arbeiten kamen teilweise zu weitaus höheren Angaben.
Neuere, methodisch anspruchsvolle Studien veranschlagen das
Risiko zur Entwicklung einer PTSD deutlich geringer. In einer
aktuellen mitteleuropäischen Studie über die Folgen schwerer
Verkehrsunfälle wiesen nach dem Unfall innerhalb eines Zeitraums von 12 Monaten zu keinem Zeitpunkt mehr als 5 % der
Patienten eine voll ausgebildete PTSD auf, die Prävalenz im gesamten Untersuchungszeitraum lag bei 8,5 % [20]. In älteren
Arbeiten lagen dagegen die Inzidenzzahlen im ersten Jahr
bei bis zu 39 % [1]. Der Grund für diese erheblichen Unterschiede dürfte in Selektionseffekten liegen. Sorgfältig ausgewählte Stichproben von gesunden Probanden zeigen weitaus
niedrigere Erkrankungsziffern [20].
Allerdings wurde auch deutlich, dass nach bestimmten, von
Menschenhand gemachten traumatisierenden Ereignissen („man
made desasters“ wie z. B. Folter) 50 % oder mehr der Betroffenen eine PTSD entwickeln [22]. In Übereinstimmung damit
zeigte es sich, dass Ereignisse, die einen Angriff auf eine bisher als vertrauensvoll erlebte Beziehung darstellen, wie Gewalttaten im familiären Kontext, grundsätzlich schwerer zu verarbeiten sind als non-interpersonale Ereignisse [13]. Dieser
Sachverhalt ist ein weiterer Beleg dafür, dass zusätzlich zur
objektiven Schwere des Ereignisses die Bedeutung, die das Ereignis für den Betroffenen annimmt, besonders relevant ist. Daraus resultiert, dass im diagnostischen und gutachtlichen Kontext immer zu fragen ist, welche Funktionen ein Ereignis für
das Binnenleben des Betroffenen angenommen hat, auf welche
innere Resonanz es gestoßen ist und was diese Erfahrung für
die post hoc-Wahrnehmung seiner Umwelt bedeutet. Solche
Einschätzungen sind nur in einem intersubjektiven Dialog mögMED SACH 99 (2003) No 5
lich. Daher ist die gutachtliche Untersuchung psychoreaktiver
Störungen, noch dazu wenn auch Kausalitätsfragen zu beantworten sind, immer auch eine psychotherapeutische Untersuchung. Es ist weder möglich, allein über Ereignisqualitäten (objektive Schwere und weitere Charakteristika) noch über die deskriptive Psychopathologie abzuschätzen, an welchem inneren
Ort das Ereignis für den Betroffenen angesiedelt ist.
Probleme des Traumakriteriums,
Unterschiede zwischen DSM-IV und ICD-10
Es wird immer wieder auf die Unterschiede in den Konzepten
des DSM-IV und der ICD-10 hingewiesen (vgl. auch Schnyder
in diesem Heft). Generell ist zu sagen, dass die diagnostischen
Kriterien im DSM-IV klarer definiert sind. Das gilt auch für die
PTSD. Die konsequente Anwendung operationalisierter Kriterien, die dem subjektiven Ermessensspielraum des Untersuchers
weniger Platz lässt, führt dazu, dass die Prävalenzzahlen der
PTSD etwa um die Hälfte niedriger sind, wenn nach DSM-IV
diagnostiziert wird, als bei Diagnosen nach der ICD-10 [17].
Dieser Sachverhalt ist in Gutachten zu berücksichtigen, da hier
häufig gegenüber den nicht sachkundigen Auftraggebern argumentiert wird, dass die diagnostischen Kriterien, wahlweise der
ICD-10 oder des DSM-IV, gegeben seien und daher eine PTSD
anzunehmen sei. In beide Klassifikationssysteme gehen allerdings Vorannahmen ein, die wertenden Charakter haben und die
gegebenenfalls gegenüber dem Auftraggeber offengelegt werden müssen. Fabra hat darauf hingewiesen, dass hier evtl.
bereits rechtliche, normative Gesichtspunkte mit überlegt werden müssen [5]. Liegt tatsächlich auch ein schädigendes Ereignis i. S. der für das Gutachten geltenden gesetzlichen Grundlagen vor?
Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Klassifikationen der ICD-10 und des DSM-IV sind die Traumakriterien.
Wann ist davon auszugehen, dass eine Traumatisierung vorliegt,
wann nicht? Im DSM-IV heißt es, dass in der Vorgeschichte der
Störung ein Ereignis vorgelegen haben muss, das sowohl objektiv lebensbedrohlich war (A1-Kriterium) als auch subjektiv
als extrem (lebens-)bedrohlich erlebt wurde (A2-Kriterium).
Nur wenn beide Voraussetzungen erfüllt sind, darf man von
einem Trauma oder einer Traumatisierung sprechen. Hingegen
sind in der ICD-10 der subjektive und objektive Aspekt des
Traumas nicht so deutlich getrennt, was zu Vagheiten und Interpretationsspielräumen führt. In der ICD-10 wird die PTSD
als eine „Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine
Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher
Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“, definiert. Das
DSM-IV stellt hingegen klar, dass Trauma ein janusköpfiger Begriff mit einer doppelten Bezogenheit nach Außen und Innen
ist, der eine dialektische Bewegung enthält [6], in den Subjektives und Objektives eingehen [2]. Ein Ereignis, das subjektiv
zwar als extrem bedrohlich wahrgenommen wurde, ohne aber
entsprechend objektiv bedrohlich gewesen zu sein, erfüllt daher
nicht die Traumakriterien des DSM-IV, möglicherweise aber
diejenigen der ICD-10. Im Sinne des DSM-IV liegt dann evtl.
eine andere reaktive Störung vor, allerdings ohne die Vorgeschichte einer Traumatisierung. Daher kann in solchen Fällen
auch nicht die Diagnose einer PTSD gestellt werden. Eine Traumatisierung kann nicht allein aus dem subjektiven Erleben des
Ereignisses begründet werden, ebensowenig wie aus dem objektiven Schweregrad ohne entsprechende subjektive Perzeptionsqualitäten. Vielmehr ist der Nachweis eines Ereignisses
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erforderlich, das unabhängig vom Erleben objektiv schwer
bedrohlich war.
Bei genauerer Betrachtung enthalten die Traumakriterien ein
normierendes Element. Die Traumakriterien definieren, dass das
subjektiv erlebte Maß an Bedrohung mit dem Ausmaß an objektiver Bedrohung korrespondieren muss. Die objektive und
subjektive Ereignisschwere müssen gewissermaßen im Gleichgewicht sein, um eine Traumatisierung annehmen zu können.
Die Verhältnismäßigkeit der Reaktion muss gewahrt sein. Wenn
diese Gleichgewichtigkeit fehlt, kann keine PTSD diagnostiziert
werden. Es ist dann um so mehr von der Bedeutung konflikthaft-neurotischer Anteile auszugehen.
Das Konzept der PTSD darf nicht missverstanden werden, wie
es gelegentlich geschieht, i. S. des Infektionsmodells der somatischen Medizin. Das PTSD-Konzept macht als rein deskriptives Konzept keinerlei Aussagen darüber, auf welche Weise ein
Ereignis ein Trauma „macht“. In die Konzeption der PTSD gehen vielmehr implizit Vorstellungen über „normale“ Reaktionen
und Verarbeitungsweisen äußerer Ereignisse ein. In der Vorgeschichte einer PTSD muss, wie es in der ICD-10 heißt, ein Ereignis vorgelegen haben, das „bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde“. Die PTSD ist ein eng definierter,
zu einer typischen Symptombildung führender Spezialfall der
Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt [15]. Andere Formen der Verarbeitung belastender Ereignisse zählen
nicht dazu. Dieser Sachverhalt ist besonders im gutachtlichen
Kontext immer zu bedenken. Das gilt ganz unabhängig von der
rechtlichen Bewertung. So kann selbstverständlich ein belastendes äußeres Ereignis, das nicht zu einer Traumatisierung
führte, im rechtlichen Sinne Ursache einer Depression oder
einer Angststörung sein mit der Folge, dass die daraus resultierenden Einschränkungen entschädigungspflichtig sind (je nach
Rechtsgebiet und gesetzlichen Grundlagen).
Anamnestische Probleme
Bei den Problemen, die mit dem Traumakriterium verbunden
sind, handelt es sich um anamnestische Probleme. Der Untersucher war nicht beim Ereignis anwesend, sondern muss das
Ereignis, dessen subjektives Erleben und die peritraumatische
Situation retrospektiv beurteilen. Wie dargelegt, enthält die
Traumatisierung einen subjektiven (Erlebens-) und einen objektiven (Ereignis-)Aspekt. Der subjektive Aspekt kann nur über
eine Rekonstruktion des Erlebens erschlossen werden. Daher ist
bei der Exploration zu untersuchen, ob das peritraumatische Erleben tatsächlich die tief verstörende, existenziell bedrohliche
Qualität beinhaltete, wie sie für das Vorliegen einer Traumatisierung zu fordern ist. Es ist nicht möglich, die Diagnose einer
posttraumatischen Belastungsstörung zu stellen, ohne eine sorgfältige Untersuchung des peritraumatischen Erlebens.
Der objektive Ereignisaspekt ist dagegen nicht Gegenstand der
gutachtlichen Untersuchung. Mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln kann nicht sicher erschlossen werden, ob
tatsächlich in der Vorgeschichte ein Ereignis vorlag und wie dieses geartet war. Für eine solche historische Rekonstruktion stehen dem Gutachter keine Methoden zur Verfügung. Die Rekonstruktion vergangener Ereignisse ist selbst in sehr langen,
i. e. psychoanalytischen Behandlungen, die sich dezidiert ein
solches Ziel gesetzt haben, äußerst schwierig und im Ergebnis
hinsichtlich ihrer Objektivität und Gültigkeit außerhalb der therapeutischen Dyade immer umstritten [4, 19]. Auch wenn sie
gelingt, ist sie mit Unsicherheiten verbunden, die mit der im
gutachtlichen Kontext zu fordernden Exakheit nicht zu verein151
baren sind. Systematische Untersuchungen Traumatisierter
haben gezeigt, dass deren Schilderungen der akuten peritraumatischen Situation und Symptomatik zwei Jahre nach dem Ereignis starke Veränderungen zeigen verglichen mit der Ausgangsschilderung. Betroffene mit geringen posttraumatischen
Symptomen bei der Nachuntersuchung lassen bei der erneuten
Schilderung des Ereignisses gravierende peritraumatische Symptome aus, die sie anfangs genannt hatten. Personen mit schweren posttraumatischen Symptomen nennen dagegen neue peritraumatische Symptome, die sie vorher nicht genannt hatten.
D. h. die aktuelle Symptomatik beeinflusst die retrospektive Erzählung des Geschehens [10]. Der Grund ist, dass die narrative
Rekonstruktion der eigenen Biographie situationsabhängig ständigen Transformationsprozessen unterliegt. Das gilt auch für
traumatische Ereignisse.
Auch die Psychopathologie bietet keinen Ausweg aus diesem
Problem. Es existiert kein psychopathologisches Symptom, von
dem aus spezifisch auf ein Ereignis in der Vergangenheit geschlossen werden kann [21]. Das gilt beispielsweise auch für
die intrusive Symptomatik, wie sie bei der PTSD vorkommt. Es
existiert kein methodisch zuverlässiges Kriterium, um zu entscheiden, ob und in welchem Umfang intrusive Inhalte ein Ereignis oder wenigstens Aspekte desselben sicher abbilden. Die
Umbildung der ursprünglichen Situationswahrnehmung beginnt
bereits sofort nach einem Ereignis. Anders gesagt: Aus der psychopathologischen Symptomatik lässt sich kein Kriterium gewinnen, anhand dessen über die Glaubwürdigkeit anamnestischer Angaben des Probanden entschieden werden kann. Eine
diagnostische Untersuchung im Hinblick darauf, ob eine posttraumatische Störung vorliegt, ist etwas völlig anderes als die
Glaubhaftigkeitsbegutachtung von Probanden. Letztere bedient
sich Methoden, die von denjenigen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Untersuchung deutlich unterschieden sind. Eine
Vermengung der Erkenntnisziele (Glaubhaftigkeit versus Vorliegen einer Störung) führt zu unsicheren, spekulativen Ergebnissen.
Aus diesen Gründen muss vor einer gutachtlichen Untersuchung
einer evtl. PTSD geklärt sein, von welchem Ereignis der Gutachter als mögliche Ursache auszugehen hat. Diese Klärung ist
Aufgabe des Auftraggebers, der auch die Möglichkeit (und die
Pflicht) zu Ermittlungen hat. Solche Ermittlungen sind nicht
Aufgabe des Gutachters.
Psychopathologische Probleme
Nach den anamnestischen Problemen nun zu den psychopathologischen Problemen. Die Psychopathologie der PTSD beinhaltet spezifische (traumaassoziierte) und unspezifische Symptome. Spezifisch sind die Symptome der Intrusion und des
Vermeidungsverhaltens, unspezifisch die Symptome der chronischen Alarmreaktion, die beispielsweise nicht von der Symptomatik bei Angststörungen unterschieden werden kann, und
die weitere Symptomatik wie Schlafstörungen oder erhöhte
Reizbarkeit. Dazu kommt die konkomitante Symptomatik aus
dem gesamten Spektrum der psychoneurotischen Störungen.
Da die Komorbididät sehr hoch ist (je nach Untersuchung bis
100 %), liegt in der Regel kein „reines“ Störungsbild einer
PTSD vor. In der klinischen Situation besteht vielmehr ein komplexes psychopathologisches Zustandsbild, in dem die spezifischen, traumaassoziierten Symptome eine unterschiedlich große,
wechselnde, im Verlauf in der Regel abnehmende Rolle spielen. Die PTSD ist keine statische Störung, sondern Ausdruck
eines im Verlauf wechselnden dynamischen Anpassungsprozes152
ses [6]. Es handelt sich bei der PTSD um eine komplexe psychophysiologische Reaktion auf eine schwere äußere Belastung
(„posttraumatic stress spectrum disorder“ [16]). Es liegt keine
abgegrenzte Krankheitsentität vor, deren Symptome von denjenigen einer Depression oder einer Angsterkrankung in jeder
Hinsicht klar unterschieden werden können (wie etwa eine Unterschenkelfraktur von einer Tuberkulose), sondern ein fließendes, dynamisches Zustandsbild. Das ist von besonderer gutachtlicher Bedeutung, da bei einer Begutachtung im Sozialrecht
gemäß den rechtlichen Vorgaben (Theorie der wesentlichen Bedingung) nicht nach der Diagnose einer Störung gefragt wird,
sondern nach dem Vorliegen von Krankheitsentitäten. Damit ist
die umschriebene, abgrenzbare Wesenhaftigkeit einer Erkrankung gemeint. Eine solche Forderung ist logisch unvereinbar
mit den theoretischen Voraussetzungen der heute gültigen Klassifikationssysteme, die vom deskriptiven Komorbiditätskonzept
ausgehen. Die Frage, welche Krankheit ereignisbedingt ist, ist
mit den Vorgaben von ICD-10 und DSM-IV nicht zu beantworten bzw. würde zu rechtlichen Verwirrungen führen, da ein
Störungsbild im Verlauf stark wechseln kann. Vielmehr muss in
solchen Fällen exakt herausgearbeitet werden, welche Anteile
der meist komplexen Gesamtsymptomatik traumaassoziiert sind
und welche nicht. Traumaassoziiert sind immer die Kernsymptome der PTSD, die unspezifischen und komorbiden Symptome verlaufsabhängig zu wechselnden Anteilen. Es existiert keine Möglichkeit, mit psychopathologischen Mitteln die unspezifischen und komorbiden Symptome kausalitätsbezogen der
einen oder anderen Störung zuzuordnen. Das liegt daran, dass
Störungsklassifikationen rein deskriptiv sind und kein ätiologisches Konzept beinhalten.
Die psychopathologische Konzeption der PTSD stellt den Gutachter vor weitere Probleme. Die traumaassoziierten Symptome
(Intrusion und Vermeidung) repräsentieren neue psychopathologische Konzepte, die es – anders als z. B. Depressivität, Angst
oder Zwang – vorher in der Psychiatrie nicht gab. Das kann zu
diagnostischen Unklarheiten nach beiden Seiten führen. Bei
einem Untersucher, der wenig differenzialdiagnostische Erfahrung mit psychiatrischen Krankheitsbildern hat, ist unserer Erfahrung nach häufig eine Überdehnung des Konzeptes zu
beobachten. Es sollte aber bezüglich der Intrusionen immer
berücksichtigt werden, dass es sich um eine besondere Form
dysfunktionaler Erinnerungen handelt, die mit einem schweren,
dem peritraumatischen Erleben vergleichbaren Affektsturm verbunden sind. Andere evtl. auch schwer belastende Erinnerungsaffekte zählen nicht dazu. Angst, die z. B. auftaucht, wenn
ein Betroffener erneut an einer früheren Unfallstelle vorbeifährt
und die ihn zu einer Verringerung der Geschwindigkeit bewegt,
ist nicht dysfunktional, sondern Ausdruck eines gelungenen
Warnsystems mit einem adäquaten Auftauchen des Angstaffektes. Intrusive Erinnerungen sind ferner ichdyston. Der Betroffene will sie nicht haben, er wendet viel psychische Energie darauf, sie zu unterdrücken und vom Erleben fern zu halten. Intrusive Alpträume reproduzieren nicht beliebige Bedrohungssituationen, sondern beziehen sich – wie die Flashbacks – auf
Aspekte der traumatisierenden Situation.
Das Vermeidungsverhalten als weiteres spezifisches Symptom
ist primär stets ein inneres, nicht ein äußeres Vermeidungsverhalten. Der Betroffene will es vermeiden, mit den traumaassoziierten Affekten in Berührung zu geraten, die durch äußere Trigger ausgelöst werden können. Wenn bestimmte Situationen aus
anderen Gründen gemieden werden, ist diese Bedingung nicht
gegeben.
Pitman et al. nennen als häufige Fehler, die zu einer falsch
positiven Diagnose der PTSD führen [18]: Unfähigkeit, adäMED SACH 99 (2003) No 5
quaten emotionalen Stress von krankheitsbedingtem zu unterscheiden; Auslassen bestimmter diagnostischer Kriterien (des
DSM-IV); Nichtberücksichtigung früherer traumatischer Ereignisse und daher falsche Kausalzuordnung der aktuellen Störung;
fehlende Diagnose einer präexistierenden Psychopathologie;
fehlende Erhebung der Familienanamnese, die Hinweise für
das Vorliegen einer anderen Erkrankung geben könnte; fehlende differenzialdiagnostische Erörterungen.
Zu falsch negativen Diagnosen können führen: Betrachtung der
PTSD-Symptome als im wesentlichen verständliche, nachvollziehbare Reaktionen auf das Ereignis; oberflächliche Exploration ohne den konsequenten Versuch, die peritraumatische
Situation und das peritraumatische Erleben zu explorieren; persönliche Vorbehalte gegenüber der Diagnose; fehlende Anerkennung des Sachverhalts, dass eine PTSD trotz schwerwiegender präexistenter Auffälligkeiten diagnostiziert werden kann;
falsche Zuschreibung der Symptomatik zu anderen Ereignissen;
Rekurs auf einseitige oder veraltete Theorien hinsichtlich der
Störungsverursachung (wie: „Jede psychische Krankheit hat
ihre Wurzeln in der Kindheit“ oder „Alle Krankheiten sind genetisch.“); keine Berücksichtigung der relevanten Literatur.
Probleme der Untersuchungstechnik
Traumatisierte Menschen meiden es mit großer psychischer Anstrengung, mit den traumatisierenden Inhalten und Gefühlen in
Verbindung zu geraten. Zurecht wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Betroffene auf den ersten Blick durchaus den
Anschein von Normalität vermitteln können, was zu diagnostischen Fehleinschätzungen führt. Gelegentlich kommt es zu
Koalitionsbildungen zwischen Proband und Untersucher, die
beide das Trauma bagatellisieren, um die damit verbundenen
verstörenden Gefühle abzuwehren [11].
Die wichtigste Regel bei der Untersuchung (wie bei der Behandlung) traumatisierter Menschen ist, einen Rahmen zu schaffen, in dem diese sich sicher fühlen können. Nur dann hat man
als Untersucher eine Chance, sich an die für die Diagnosestellung unumgänglichen, für den Probanden (und den Untersucher)
aber sehr belastenden Gefühle heranzutasten. Dazu benötigt
man Zeit und Ruhe.
Untersuchungsabschnitte, die der Beziehungssicherung, also
mehr „technischen“ als direkt diagnostischen Zwecken dienen,
nehmen einen größeren Raum ein als bei anderen Probanden.
Eine sorgfältige Exploration des peritraumatischen Erlebens und
der peritraumatischen Situation ist dann allerdings ein zwingend
notwendiger Bestandteil der Untersuchung. Dafür gibt es zwei
Gründe. Einmal muss in anamnestischer Hinsicht geprüft werden, ob das primäre Situationserleben so gestaltet war, dass es
die Traumakriterien erfüllt. Es geht also um eine Rekonstruktion dieses Erlebens, so weit dies möglich ist. Zum anderen muss
psychopathologisch geprüft werden, wie der Proband auf die
Thematisierung der mutmaßlich traumatisierenden Situation
reagiert. Im typischen Fall reagiert der Betroffene mit wahrnehmbar gesteigerter Anspannung, Unruhe und Angst. Vielen
Probanden gelingt es im Vorfeld, diesen Explorationsversuchen
unmerklich und elegant auszuweichen und dabei ein Gefühl von
Normalität zu vermitteln, so dass man als Untersucher quasi
verführt wird, derartige Bestrebungen aufzugeben („nichts zu
holen“). Das sollte man gerade dann aber auf keinen Fall tun.
Wenn man eine solche Beobachtung gemacht hat, ist es vielmehr sinnvoll, diese dem Probanden mitzuteilen, der sich dadurch verstanden, entlastet und geschützt fühlt und sich daher
eher auf die für ihn belastenden Gefühle einlassen kann.
MED SACH 99 (2003) No 5
Auf diese Weise entsteht nach und nach während der Exploration ein interaktionelles Muster, das durch ein An- und Abschwellen der beobachtbaren Anspannung bis hin zu brüsker
Abwendung in Abhängigkeit davon, wie nahe sich der Proband
an traumatisierenden Inhalten bewegt, gekennzeichnet ist. Ein
solches Interaktionsverhalten beweist (im Kontext) die Diagnose einer PTSD. Da die anderen beobachtbaren Symptome der
PTSD-Probanden unspezifisch sind, wir aber auf beobachtbare
Befunde zur Sicherung der Diagnose angewiesen sind, kann auf
ein solches Vorgehen und den Nachweis solcher Beobachtungen nicht verzichtet werden. Denn im Gegensatz zu den Symptomen, die der Proband nur anamnestisch schildert, kann man
auf diese Weise das Vermeidungsverhalten quasi „in vivo“ reproduzieren.
Gelegentlich können Probanden das Ereignis relativ frei schildern. In diesem Fall ist besonders auf den begleitenden Affekt
zu achten. Fehlende affektive Resonanz bei kühlen, distanzierten Schilderungen widerlegt eine Traumatisierung nicht, sondern ist häufig ein Hinweis auf einen abgespaltenen traumatischen Affekt. Nicht von einer noch fortdauernden Traumatisierung auszugehen ist dagegen bei Schilderungen, die relativ
flüssig vorgetragen werden und mit einem adäquaten traurigen, weinenden oder auch wütend-zornigen Affekt verbunden
sind, der aber nicht die Charakteristika der tiefgreifenden
Verstörung aufweist, wie sie für eine Traumatisierung typisch
sind.
Umstritten ist, ob man nicht nur das Vermeidungsverhalten, sondern auch intrusive Phänomene, vor allem Flashbacks, während
der Untersuchung gezielt reproduzieren soll. Manche Untersucher tun das. Unseres Erachtens ist das nicht zwingend erforderlich. Wir bevorzugen das gerade beschriebene, sensible Vorgehen. Wenn man es tut, sollte man über fundierte therapeutische Erfahrungen verfügen, um den Probanden auffangen zu
können. Prinzipiell können allerdings auch bei einem Vorgehen,
wie wir es bevorzugen, Flashbacks auftreten. Allerdings ist das
Risiko dafür sehr gering.
Spezielle Probleme des gutachtlichen Settings
Zu den Problemen des gutachtlichen Settings gehört, dass der
Proband nicht als Patient kommt. Er ist als Proband meist noch
misstrauischer und zurückgezogener als es traumatisierte Patienten ohnehin sind. Die Notwendigkeit, unter diesen Voraussetzungen eine vertrauensvolle Situation zu schaffen, muss noch
einmal betont werden.
Gelegentlich wird von Probanden oder deren Anwälten argumentiert, dass eine Untersuchung nicht möglich sei wegen einer
angeblichen Retraumatisierungsgefahr. Es muss darauf hingewiesen werden, dass es nicht möglich ist, eine medizinische
Diagnose ohne eine vorherige persönliche Untersuchung zu stellen. Diagnosen lassen sich nicht nach Aktenlage stellen oder
allein aus der Beschwerdeschilderung eines Betroffenen ableiten. Auf der anderen Seite sollte der Gutachter selbstverständlich zusichern und alles dafür tun, um die Untersuchung möglichst wenig belastend durchzuführen. Gelegentlich ist es erforderlich zu erläutern, dass eine Untersuchung zwar belasten
kann (auch bereits im Vorfeld), aber nicht mit der Gefahr einer
Retraumatisierung sensu strictu verbunden ist. Die Untersuchungssituation ist kein objektiv schweres Ereignis, wie es für
die Traumakriterien erforderlich ist. Schlimmstenfalls können
Flashbacks auftreten. Hier muss aber gesagt werden, dass diese andererseits für therapeutische Zwecke gezielt ausgelöst und
dort auch in Kauf genommen werden.
153
Das Argument der drohenden Retraumatisierung dient unserer
Erfahrung meist dazu, einer notwendigen Untersuchung auszuweichen. Oft sind es auch Probanden, die eine gutachtliche Untersuchung wegen der angeblichen Retraumatisierungsgefahr
verweigern, andererseits aber schon lange in psychotraumatologischer Behandlung sind, bei denen über Imaginationen gezielt Flashbacks ausgelöst werden. Findet eine Untersuchung
in einer solchen Konstellation doch statt, liegt häufig keine
Traumatisierung vor, sondern ein anderes, neurotisches Krankheitsbild. Andererseits sind uns keine traumatisierten Probanden bekannt, die aus diesen Gründen eine Untersuchung verweigert haben. Traumatisierte Patienten stellen sich in der
Regel mit großer Gewissenhaftigkeit der Untersuchung zur
Verfügung, auch weil sie hoffen, dass das gutachtliche Ergebnis ihnen – durch die Anerkennung der traumatischen Realität
– bei der Verarbeitung hilft.
Große gutachtliche Probleme schaffen Probanden, die nicht an
einer PTSD leiden, sondern mit einer solchen identifiziert sind.
Dabei handelt es sich nicht um einen Ausdruck von Simulation, sondern um Personen, die subjektiv davon überzeugt sind,
traumatisiert worden zu sein und nunmehr unter den Symptomen einer PTSD zu leiden. Meist existiert in solchen Fällen bereits eine lange Vorgeschichte von Begutachtungen und psychotraumatologischen Behandlungen und Attesten, ganz ähnlich
wie bei Patienten, die mit den Symptomen einer körperlichen
Erkrankung identifiziert sind. Oft finden sich enge, teilweise mit
Heilserwartungen aufgeladene Koalitionsbildungen zwischen
Proband und Behandlern oder auch Vorgutachtern im Sinne
eines geschlossenen Systems. Die Folge sind (iatrogene) Artefakte. Diese Probanden können die Symptome der PTSD und
der Traumatisierung lehrbuchartig schildern. Psychopathologisch fällt in der Untersuchung dann auf, dass die Präsentation
der Symptome durch die Probanden immer zum genau „richtigen“ Zeitpunkt erfolgt und ausgestaltet wirkt. Wenn man nachfragt, kontrastiert die demonstrierte Beschwerdestärke auffällig
zur Vagheit der Angaben. Beim Untersucher entstehen rasch die
Gegenübertragungsgefühle, wie sie auch sonst bei demonstrierten Störungen bekannt sind (Gefühl des Unechten, des Manipuliertwerdens, Ärger, Gereiztheit). Traumatisierte Menschen
stellen dagegen eine völlig andere Untersuchungssituation her,
die vom Versuch gekennzeichnet ist, das Trauma vor dem Untersucher (und vor sich selbst) zu verbergen.
Wegen der manchmal sehr schwierigen differenzialdiagnostischen Probleme ist davor zu warnen, dass die Begutachtung
traumatisierter Probanden, wie es manchmal geschieht, von
Untersuchern durchgeführt wird, die ihre klinische Erfahrung
überwiegend aus der Psychotraumatologie beziehen und keine
gründliche Erfahrung mit dem gesamten Spektrum psychischer
Störungen haben. Denn woher soll man als Untersucher sonst
seine Maßstäbe beziehen zur Unterscheidung, ob eine traumatogene Störung oder beispielsweise eine Angststörung oder eine
Persönlichkeitsstörung vorliegen?
Wenn der Verdacht auf eine Symptomatik auf der Basis einer
Identifizierung vorliegt, empfiehlt sich zuerst eine sorgfältige
Prüfung, ob tatsächlich ein objektiv schweres Ereignis in der
Vorgeschichte belegt ist. Bei Zweifeln ist der Gutachtenauftrag
zur weiteren Sachaufklärung zurückzugeben. Dann sollte untersucht werden, ob sich aus der Vorgeschichte des Probanden
Hinweise für eine nur unzureichend gelungene Lebensbewältigung oder gar für eine manifeste psychische Erkrankung ergeben. Bei der Exploration sollten diese Punkte vertieft werden,
um auf diese Weise ein Bild von der Persönlichkeitsstrukur des
Probanden zu gewinnen, wie es bei der Begutachtung neurotischer Patienten regelmäßig erforderlich ist [7]. Sind die Anga154
ben zur persönlichen Entwicklung vage und bagatellisierend,
obwohl manifeste Probleme in der Vorgeschichte belegt sind
(z. B. Eheprobleme), taucht die Frage auf, ob die angebliche
Traumatisierung, die über eine Verschiebung innerer Konflikte
nach außen eigentlich der psychischen Stabilisierung dient, so
nicht stattgefunden hat, aber aus Schutz vor seelischem Schmerz
an ihr festgehalten wird. Daher muss die Lebenssituation des
Probanden zum Zeitpunkt des Ereignisses besonders sorgfältig
untersucht werden. Es ist wichtig, sich bei der Untersuchung
vor Augen zu halten, dass es nicht darum geht, den Probanden
zu „überführen“ – echte Simulation ist eine Rarität – , sondern
gemeinsam mit ihm eine alternative Erklärung für seine Beschwerden zu entwickeln. Dazu ist die Vertrauenssituation eines
quasi psychotherapeutischen Kontakts erforderlich. Meist handelt es sich um schwer leidende Menschen, deren Störung nur
eine andere Ursache hat als eine Traumatisierung. Wegen der
häufig bestehenden Koalitionsbildungen im Vorfeld kann eine
solche Untersuchung sehr schwierig sein.
Kausalitätsprobleme
Wenn die Störung erkannt und die Diagnose richtig gestellt wurde, ist die Kausalitätsbeurteilung einer isolierten PTSD einfach.
Das gilt für alle relevanten Rechtsgebiete (soziales Entschädigungsrecht, gesetzliche Unfallversicherung, Zivilrecht). Das
liegt daran, dass – anders als beispielsweise bei einer depressiven Störung – bei der PTSD das zugrundeliegende Ereignis in
den traumaassoziierten Kernsymptomen direkt wieder auftaucht. Schwierigkeiten treten dann auf, wenn ein buntes psychopathologisches Zustandsbild besteht, das neben anderen
auch traumaassoziierte Symptome enthält (Intrusionen, Vermeidungsverhalten). Es ist dann im Einzelfall sorgfältig zu
klären, welches der Symptome dem Ereignis zuzuordnen ist und
welches nicht. Dafür gelten dann die Regeln der Kausalitätsbeurteilung, wie wir sie an anderen Stellen ausgeführt haben
[8, 14]. Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich bei langjährigen
chronifizierten Verläufen, die häufig von einer depressiven
Symptomatik begleitet sind, deren Ursachen evtl. anderswo gesucht werden müssen.
In der ICD-10 heißt es, dass „prädisponierende Faktoren“ zwar
die Schwelle für die Entwicklung einer PTSD senken oder deren Verlauf erschweren können, aber „weder notwendig noch
ausreichend [seien], um das Auftreten der Störung zu erklären.“
Aus dieser Formulierung wird von manchen Gutachtern
geschlossen, dass eine gesicherte PTSD prämorbide Persönlichkeitsauffälligkeiten ausschließen würde. Dieser Umkehrschluss ist falsch. Das PTSD-Konzept ist ein deskriptives Konzept, das keine Aussagen zur Ätiologie enthält. Daher kann es
auch nicht zu gutachtlichen Kausalitätsbeurteilungen benutzt
werden. Ferner gilt, dass eine Traumatisierung immer das
Resultat einer Auseinandersetzung von Ereignis- und Persönlichkeitsqualitäten ist. In der Regel muss dieser Sachverhalt
bei der Kausalitätsbeurteilung der PTSD, wie oben dargelegt,
allerdings nicht ausführlich diskutiert werden. Wenn aber keine
monosymptomatische PTSD vorliegt oder bei chronischen
Verläufen, darf die Kausalitätsbeurteilung für die gesamte
Symptomatik nicht über den gerade beschriebenen Umkehrschluss „erledigt“ werden. Dann ist die Einzelsymptombeurteilung erforderlich.
Bei einer „bunten“ Symptomatik, gesicherten prämorbiden Auffälligkeiten oder schweren Chronifizierungen können die Probleme der Kausalitätsbeurteilung so komplex sein, dass sie mit
den Mitteln eines psychiatrischen Gutachtens nicht gelöst werMED SACH 99 (2003) No 5
den können. Der Gutachter sollte sich dann nicht scheuen, die
methodisch bedingten Grenzen seiner Aussagen klar zu kennzeichnen. Es ist dann eine Werteentscheidung erforderlich, die
Aufgabe des Juristen ist.
Literatur:
1 Blanchard, E. B., E. J. Hickling, A. E. Taylor, W. R. Loos: Psychiatric
morbidity associated with motor vehicle accidents. J Nerv Ment Dis
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3 Breslau, N., R. C. Kessler, H. D. Chilcoat, L. R. Schultz, G. C. Davis,
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4 Cremerius, J.: Die Konstruktion der biographischen Wirklichkeit im
analytischen Prozeß. In ders.: Vom Handwerk des Psychoanalytikers,
Das Werkzeug der psychoanalytischen Technik, Bd. 2. FrommannHolzboog, Stuttgart, 398–465, 1984
5 Fabra, M.: Das sogenannte Traumakriterium (A-Kriterium des DM-IV)
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8 Foerster, K.: Die Kausalitätsbeurteilung bei funktionellen psychischen
Störungen nach Unfällen. In: Psychische Störungen und die Sozialversicherung – Schwerpunkt Unfallversicherung. Hrsg. E. Murer.
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9 Green, B.: Psychosocial research in traumatic stress: an update. J
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10 Harvey, A. G., R. A. Bryant: Memory for acute stress disorder symptoms:
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11 Henningsen, F.: Traumatisierte Flüchtlinge und der Prozeß der Begutachtung. Psyche – Z Psychoanal 57, 97–120 (2003)
12 Kessler, R. C., A. Sonnega, E. Bromet, M. Hughes, C. B. Nelson:
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13 Kunzke, D., F. Güls: Diagnostik einfacher und komplexer posttraumatischer Störungen im Erwachsenenalter. Psychotherapeut 48,
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15 Leonhardt, M.: Psyche und Trauma: Eine Einführung. In: Psychische
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Hrsg. Beassel A. van der Kolk; Alexander C. McFarlane, Lars Weisaeth. Gilford Press, London 1996, 378–397
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21 Stoffels, H., C. Ernst: Erinnerung und Pseudoerinnerung: Über die
Sehnsucht Traumaopfer zu sein. Nervenarzt 73, 445–451 (2000)
22 Van Velsen, C., C. Gorst-Unsworth, S. Turner: Survivors of torture
and organized violence: demography and diagnosis. J Traumatic
Stress 9, 181–193 (1996)
Buchbesprechungen
Ärztliches Berufsrecht
Ausbildung – Weiterbildung – Berufsrecht
Von H. Narr (Begr.)
Deutscher Ärzte-Verlag, Köln, 2. Auflage mit der 15. Ergänzungslieferung,
Stand: 1. Januar 2002, 1760 Seiten, Loseblattwerk in zwei Ordnern, 74,95 a,
ISBN 37691-3028-6
Das nunmehr von dem Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. jur. Reiner Hess, und dem
Justitiar der Bundesärztekammer und
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung,
Horst-Dieter Schirmer, bearbeitete Werk
sichert auch in der 2. Auflage seinen begründeten Ruf als „Standardwerk des
Ärztlichen Berufsrechts“. Die umfassenden beruflichen Erfahrungen der Autoren,
aber auch ihre in vielen Veröffentlichungen ausgewiesene Fähigkeit, praktische
MED SACH 99 (2003) No 5
Fragen wissenschaftlich aufzubereiten
und einer rechtlich abgesicherten Beantwortung zuzuführen, rechtfertigen schon
vorab die uneingeschränkte Empfehlung
insbesondere – aber nicht nur – für freiberuflich tätige Ärzte, Krankenhausärzte,
Ärzteorganisationen,
Krankenkassen,
Krankenversicherer, Verwaltungsbeamte
und Richter, um nur einige zu nennen.
In drei Kapiteln (Ausbildung zum Arzt –
Weiterbildung der Ärzte – Berufsausübung) und insgesamt 25 größeren bis
großen Unterabschnitten werden alle wesentlichen Fragen, die das ärztliche Berufsrecht und die sie anwendende Praxis
stellen, übersichtlich, klar und informativ
dargestellt. Als Loseblattwerk ist die notwendige Aktualität gesichert, wie z. B.
der im 2. Kapitel eingefügte neue Abschnitt zur Anerkennung der Weiterbildung mit dem Recht zum Führen einer
Facharzt-, Schwerpunkt- oder Zusatzbezeichnung zeigt. Im Mittelpunkt stehen
dabei die Anerkennungs- und Prüfungsverfahren zur Erlangung dieser Weiterbildungsbezeichnungen. Den umfangreichsten Teil bildet jedoch – worauf in
dieser Zeitschrift besonders hinzuweisen
ist – die neugefasste ausführliche Darstellung zu den Anstellungsbedingungen
der angestellten Ärzte, den Chefarztverträgen und der Privatliquidation sowie der
beruflichen Kommunikation und zum
kollegialen Verhalten im 3. Kapitel.
Der Preis ist bei 1760 Seiten nahezu
schon erstaunlich gemäßigt und wohl nur
darauf zurückzuführen, dass die Nachfrage entsprechend groß ist, und dies zeigt
wiederum, wie eingangs erwähnt: es ist
ein Werk, das eigentlich jedem Arzt, sei
es in freier Praxis als auch im Krankenhaus, zur Verfügung stehen müsste. Also:
es ist wirklich das Standardwerk.
O. E. Krasney, Kassel
155
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