Beitrag aus: „Sächsisches Handbuch zum Extremismus und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen 2009“ KAMERADSCHAFTEN und FREIE NATIONALISTEN Extremismusbereich: Rechtsextremismus Historie und Strukturentwicklung Die Herausbildung von Kameradschaften war eine Reaktion der rechtsextremistischen Szene auf die Verbote zahlreicher rechtextremistischer Parteien und Vereinigungen von Anfang bis Mitte der 1990er Jahre. Diesen war eine Zunahme rassistischer Übergriffe und Brandanschläge bis hin zu pogromartigen Ausschreitungen vorausgegangen. Auf Grund der staatlichen Maßnahmen suchten rechtsextremistische Protagonisten nach einem Ausweg aus dieser Bedrängnis. Während Teile der Szene eine neue politische Heimat in der NATIONALDEMOKRATISCHEN PARTEI DEUTSCHLANDS (NPD) bzw. deren Jugendorganisation JUNGE NATIONALDEMOKRATEN (JN) fanden, entschied sich die Mehrheit der Szene für einen anderen Weg ohne Anbindung an Parteistatuten und Regularien. Der Gründungsphase der Kameradschaften lag folgender Leitgedanke zugrunde: „Wo keine erkennbare Organisation vorhanden ist, kann diese auch nicht zerschlagen werden“. Das Prinzip der „Organisierung ohne Organisation“1 versprach einen besseren Schutz gegen staatliche Maßnahmen, weil die Szene infolge hoher Fluktuation und Mobilität schwer zu beobachten und wegen fehlender Vereinsstrukturen juristisch kaum zu sanktionieren sei. Dennoch verzichtete auch die nun selbst ernannte „Organisierung ohne Organisation“ keineswegs auf hierarchische Strukturen. Die in den regionalen Aktionsbüros aktiven Kader waren weiterhin die wichtigsten Impulsgeber für die Entwicklung kampagnenbezogener Bündnisse der Kameradschaften. So genannte NATIONALE AKTIONSBÜROS sowie Internetforen, insbesondere das THULE-Netz mit seinem Mailbox-System, Fanzines und NATIONALE INFOTELEFONE bildeten fortan die ideologische Klammer und den Koordinierungsrahmen für geplante Aktionen. Das Konzept der FREIEN KAMERADSCHAFTEN war geboren. Bereits in dieser Phase setzte neben der Herausbildung der FREIEN KAMERADSCHAFTEN eine Parallelentwicklung zu noch unverbindlicheren Strukturen ein. Die so genannten FREIEN NATIONALISTEN agierten als NATIONALER W IDERSTAND, der als Oberbegriff der Bewegung als kleinster gemeinsamer Nenner angesehen werden kann. Demnach solle sich jeder Einzelne, jede Gruppierung und jedes Parteimitglied als Teil des NATIONALEN WIDERSTANDES betrachten, wenn er mit dem grundsätzlichen Ziel, der „Ausschaltung aller volks- und naturfeindlichen Vorgänge in unserer Heimat“2 übereinstimmt, dies als eine Verpflichtung zur Tat ansieht und in öffentlichkeitswirksamen Aktionen als eine politische Kraft aufzutreten bereit ist. In der sächsischen Kameradschaftsszene setzt sich die bereits seit 2003 erkennbare Entwicklung, auch die festen Kameradschaftsstrukturen aufzugeben und lose Organisationsformen in Form von Vernetzungen zu wählen, mit hoher Dynamik fort. Während auf der einen Seite das Personenpotenzial der Kameradschaftsszene insbesondere außerhalb fester Strukturen kontinuierlich steigt, sinkt auf der anderen Seite die Zahl der Kameradschaften. Der überwiegende Teil der Kameradschaftsangehörigen im Freistaat Sachsen hat ein Alter zwischen 18 und 30 Jahren. Der Anteil weiblicher Kameradschaftsmitglieder liegt bei ca. 10 %. Eine Zuordnung zu festen Strukturen wird durch zunehmende Konspirativität ehemaliger Mitglieder aufgelöster Kameradschaften, Mitglieder (in-)aktiver oder verbotener Strukturen 1 2 Vgl. hierzu den Abschnitt „Rechtsextremismus – Organisierung ohne Organisation“ im Beitrag „Erörterungen zu besonderen Strategien und Taktiken von Extremisten“ im 2. Hauptteil „Hintergründe und Zusammenhänge“. Beitrag „Was bedeutet NATIONALER W IDERSTAND?“ auf einer dem NATIONALEN W IDERSTAND zuzurechnenden Internetseite. Mittlerweile nicht mehr abrufbar. Seite 1 von 4 Beitrag aus: „Sächsisches Handbuch zum Extremismus und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen 2009“ und unorganisierter gewaltbereiter Rechtsextremisten erschwert. Sie formieren sich – dem bundesweiten Trend folgend – unter der Kampagnenbezeichnung FREIER W IDERSTAND und treten mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen regional unter Bezeichnungen wie FREIER W IDERSTAND (Leipzig), FREIE KRÄFTE (Chemnitz, Dresden) oder FREIE NATIONALISTEN (Chemnitz) als eine politische Kraft auf. Sie treten aber auch anlassbezogen als vordergründig nicht extremistische „Bürgerinitiativen“ (z. B. unter dem Motto „Schöner wohnen in ...“) in Erscheinung. Neben der Desorganisation ist auch eine fortschreitende Ideologisierung sowohl der Kameradschaftsszene als auch der neuen strukturlosen Bündnisse hin zu einer neonationalsozialistischen Prägung erkennbar. Personenpotenzial der rechtsextremistischen Kameradschaftsszene3 und Anzahl der Kameradschaften im Freistaat Sachsen 400 49 890 800 870 2004 100 Kameradschaftsmitglieder Freie Kräfte 750 50 38 120 0 500 1200 850 150 1.000 1600 2005 41 250 500 28 22 2006 2007 2008 0 Anzahl der Kameradschaften Seit 2002 ist bei einem Teil der FREIEN KRÄFTE bundesweit eine Tendenz feststellbar, sich hinsichtlich Habitus, Kleidung und Aktionen dem Stil linksextremistischer AUTONOMER anzunähern. So treten vermehrt Personen bei rechtsextremistischen Demonstrationen auf, die dem traditionellen Erscheinungsbild der neonationalsozialistischen Szene nicht mehr entsprechen. Nicht nur ihre Kleidung wird von Rechtsextremisten mehrheitlich abgelehnt (z. B. Hip-Hop-Stil), sondern auch deren Forderungen nach einer offensiveren, gewaltbereiten Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner und der Polizei. Diese so genannten AUTONOMEN NATIONALISTEN sind für Außenstehende, aber teilweise auch für die jeweiligen Szeneangehörigen, nicht mehr ohne weiteres von linksextremistischen Autonomen zu unterscheiden. Zu deren identitätsstiftenden Merkmalen zählen ein eigener Jargon, bestimmte Musik und eigene Codes. Im Gegensatz zu den konventionellen Kameradschaften sind AUTONOME NATIONALISTEN Zusammenschlüsse ohne feste Bindung und regelmäßige Basisarbeit, wie z. B. Kameradschaftsabende und politische Schulungen. Bei ihnen gilt das Prinzip „Mitgliedschaft durch Mitmachen“. Auf dieses gemeinsame Erleben werden auch politische Aktivitäten ausgerichtet. Zentrale Aktionsfelder sind „Anti-Antifa“-Aktivitäten, d. h. das Ausspähen und Sammeln von Daten sowie die Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Agiert wird u. a. durch das Anbringen von Aufklebern, Farbschmierereien sowie die Bildung „schwarzer Blöcke“ bei rechtsextremistischen Demonstrationen. Bereits bei der Demonstration am 1. Mai 2005 in Leipzig wurde die hochgradige Militanz von (hier aus Berlin angereisten) AUTONOMEN NATIONALISTEN augenscheinlich. Deren anfängliche „Durchbruchversuche“ durch Polizeiabsperrungen sollten den Beginn des Marsches erzwingen. In einschlägigen Internetforen wurde dieses Vorgehen positiv 3 Die für Kameradschaftsmitglieder ausgewiesene Zahl umfasst das Potenzial neonationalsozialistischer und anderer rechtsextremistischer Kameradschaften. Seite 2 von 4 Beitrag aus: „Sächsisches Handbuch zum Extremismus und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen 2009“ kommentiert: „Positiv war (...) des weiteren, das ENDLICH der Wille zum Widerstand wächst und auch durchgeführt wird! Nicht wilde Gewalt exsezze wie bei den (Links-)Faschisten, sondern das Recht zur Notwehr muß von uns endlich genutzt werden! Leipzig war 2005 ein guter Ansatz“4 Die AUTONOMEN NATIONALISTEN stellen bisher zahlenmäßig eine Randerscheinung im Spektrum der gewaltbereiten Rechtsextremisten dar. Deren Personenpotenzial liegt bundesweit bei etwa 150 bis 200 Personen. Im Freistaat Sachsen traten AUTONOME NATIONALISTEN bisher nur in Einzelfällen im Bereich der Landesdirektion Leipzig und in Hoyerswerda mit Plakatierungen öffentlich in Erscheinung. Vereinzelt mitgeführte Demonstrationstransparente lassen beim Layout einen Bezug zu den AUTONOMEN NATIONALISTEN HOYERSWERDA (ANH) erkennen. Am 20. April 2008 soll sich einer Internetmeldung des FREIEN NETZES LEIPZIG zufolge ein loser Zusammenschluss AUTONOMER NATIONALISTEN in Leipzig gegründet haben. Ideologie / Politische Zielsetzung Die rechtsextremistischen Kameradschaften verstehen sich als Teil des so genannten NATIONALEN W IDERSTANDS. Die Begriffe NATIONALER oder FREIER W IDERSTAND sind eine Kampagnebezeichnung der rechtsextremistischen Szene, unter der sich alle rechtsextremistischen Kräfte – Einzelpersonen, Kameradschaften, Parteien oder andere Organisationen – gemeinsam formieren und in öffentlichkeitswirksamen Aktionen als eine politische Kraft auftreten sollen. Von diesem Selbstverständnis ausgehend strebt der FREIE W IDERSTAND folgende Ziele und Strategien an: - gemeinsamer Kampf gegen das „System“, wie die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland von Rechtsextremisten bezeichnet wird, - Überwindung politischer Differenzen innerhalb der rechtsextremistischen Szene, - Favorisierung lockerer Strukturen, - Zusammenarbeit in zeitweiligen, meist anlassund themenbezogenen Aktionsbündnissen. Ein weiteres ideologisches Element ist die Thematisierung der „sozialen Frage“. Auch die sächsischen FREIEN KRÄFTE besetzten Themen wie „Kapitalismus-Kritik“, die Bezüge zum „linken“ Flügel innerhalb des Nationalsozialismus und dem damit verbundenen Antikapitalismus Ernst Röhms und der Gebrüder Strasser5 erkennen lassen. Slogans wie „Arbeit zuerst für Deutsche“ oder antikapitalistische Parolen sind zum festen Bestandteil rechtsextremer Argumentationsmuster geworden. Auf rechtsextremistischen Demonstrationen werden diese Slogans in die Öffentlichkeit getragen. Zunehmend bilden Alltagsprobleme einen Anlass für Demonstrationen. So griffen sächsische Rechtsextremisten im Jahr 2008 die öffentliche Diskussion im Zusammenhang mit einem sexuell motivierten Kindermord in Schkeuditz (Landkreis Leipzig) sowie weitere Straftaten mit gleicher Motivlage in anderen sächsischen Städten auf und meldeten themenbezogene Demonstrationen an. An diesen beteiligten sich trotz kurzfristiger und teilweise lediglich interner Mobilisierung jeweils etwa 150 bis 200 Personen, zum Teil aus benachbarten Bundesländern. 4 5 Schreibweise wie im Original. Anhänger der politischen Gegenseite werden auf rechtsextremistischen Internetseiten schon seit Längerem als „Linksfaschisten“ bezeichnet. Gregor und Otto Strasser bildeten ebenso wie Ernst Röhm etwa ab Mitte der 1920er Jahre einen eigenständigen antikapitalistischen, sozialrevolutionären Kurs innerhalb der „nördlichen“ NSDAP. Dieser stand im Widerspruch zu Hitlers „süddeutschem Parteiflügel“ der NSDAP. Otto Strasser unterstützte teilweise Streiks der sozialdemokratischen Gewerkschaften und votierte für eine Anlehnung Deutschland an die Sowjetunion. Ernst Röhm lehnte jegliche Arrangements mit für seine Begriffe korrupten Mächten wie der Großindustrie ab. Gregor Strasser wurde am 30. Juni und Ernst Röhm am 1. Juli 1934 im Rahmen des so genannten „Röhm-Putsches“, bei dem sich Hitler von fast der gesamten SAFührung und weiterer „unliebsamer“ Oppositioneller entledigte, von der Gestapo erschossen. Seite 3 von 4 Beitrag aus: „Sächsisches Handbuch zum Extremismus und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen 2009“ Die rechtsextremistische Weltanschauung stellt zwar das Bindeglied zwischen Kameradschaftsanhängern dar. Sie steht jedoch nicht bei allen Aktionen im Vordergrund. Kameradschaften bieten Jugendlichen einen Zusammenhalt als Clique und wollen für viele junge Menschen oft auch Familienersatz sein. Daher gelingt es Kameradschaften eher als Parteien, die bestimmten Regularien und Ritualen unterworfen sind, Jugendliche und Jungerwachsene zu interessieren und an sich zu binden. Allgemeine Aktivitäten Musik und Konzerte spielen seit dem Beginn der Politisierung von Teilen der SkinheadBewegung Ende der 1970er Jahre in England eine bedeutsame Rolle für die subkulturell geprägte rechtsextremistische Szene, also auch für den Bereich der Kameradschaften. Die Musik stellt das zentrale Kommunikationsmittel der Szene dar. Über den Besuch der Konzerte werden das Gemeinschaftsgefühl gestärkt und Kontakte zwischen den regionalen rechtsextremistischen Gruppierungen geknüpft und aufrechterhalten. Seit geraumer Zeit ist eine Verstärkung der Jugendarbeit der Kameradschaftsszene und der FREIEN KRÄFTE sowie deren Präsentation in der Öffentlichkeit festzustellen. Sie werden auch künftig – zum Teil öffentlichkeitswirksame – Freizeitaktivitäten durchführen, um damit sowohl Nachwuchs zu rekrutieren als auch das Zusammengehörigkeitsgefühl zu festigen. Darüber hinaus zeichnet sich ein offensives Demonstrationsverhalten ab. Es werden vordergründig „spontane“ Versammlungen durchgeführt, um versammlungsrechtliche Vorgaben zu umgehen und Proteste von Veranstaltungsgegnern zu vermeiden. Bei diesen Veranstaltungen werden u. a. Alltagsprobleme aufgegriffen und typische rechtsextremistische „Lösungsansätze“ angeboten. Seite 4 von 4