VIII Flexion - Derivation Eine gängige

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Fortmann, Proseminar Morphologie / Universität Konstanz Wintersemester 2006/07
VIII Flexion - Derivation
Eine gängige Unterscheidung, die in der Tradition der grammatischen Theorie in
die griechisch/römische Antike zurückreicht, ist die von Flexion und Derivation.
Sie ist nicht typologisch, differenziert nicht verschiedene Sprachtypen nach der
Art und Weise morphologischer Strukturbildung, sondern ist eher funktional,
differenziert innerhalb einer Sprache die durch morphologische Prozesse, namentlich Affigierung bedingte Bildung von Wortformen.
Fürs Deutsche illustrieren die Beispiele in (1) und (2) jeweils Wortformen, die
auf Flexion resp. auf Derivation beruhen.
(1)
a. schieb-e
b. schieb-st
c. schieb-t
d. schieb-en
e. klein-er
f. klein-es
g. klein-em
h. klein-en
(2)
a. schieb-ung
b. schieb-er
c. ver-schieb-
d. lad-ung
e. lad-er
f. ver-ladg. be-ladh. ent-lad-
Es gibt einige gang und gäbe Kriterien, nach denen Flexion und Derivation unterschieden werden. Bezogen auf eine gegebene Sprache mag auch die Scheidung von Flexionsmorphologie und Derivationsmorphologie einigermaßen triftig sein. Es ist aber zu gewärtigen, daß beim Vergleich verschiedener Sprachen
diese Kriterien nicht immer zu übereinstimmenden Resultaten führen.
Differenzierungskriterien
Kriterium Nr. 1
Wortformen werden unter verschiedene lexikalische Kategorien subsumiert. Sie
bilden Verben, Nomen, Adjektive... Ein morphologischer Prozeß wie die Affigierung hat möglicherweise Konsequenzen für die lexikalische Kategorisierung der
resultierenden Wortform. In den Fällen unter (1) geht man davon aus, daß die
lexikalische Kategorie durch die Suffigierung nicht verändert wird: schieb bildet
einen Verbstamm wie schiebe eine hinsichtlich PERS, NUM, TENSE, MOD qualifizierte Verbform. Entsprechendes gibt für das Adjektiv. Der morphologische
Prozeß in (1), bei dem die lexikalische Kategorie der resultierenden Wortform
dem Stamm gegenüber unverändert bleibt, zählt zur Flexion.
1
In (2a) und (2d) ebenso wie in (2b) und (2e) führt die Suffigierung indessen zu
einer Änderung der lexikalischen Kategorie. Die resultierende Wortform stellt
ein Nomen dar und kein Verb wie der Stamm, an den affigiert wird. Führt ein
morphologischer Prozeß zu einer Änderung der lexikalischen Kategorisierung
einer Wortform, handelt es sich um einen Fall von Derivation.
Die Änderung der lexikalischen Kategorie ist allerdings lediglich eine hinreichende Bedingung dafür, einen morphologischen Prozeß unter die Derivation zu
rechnen. Die in (2c) und (2f) bis (2h) gegebenen Beispiele werden gleichfalls
der Derivation zugerechnet. Allerdings bleibt die Zuordnung der Wortform zur
lexikalischen Kategorie dem Stamm gegenüber unverändert, es handelt sich jeweils um Verben. Die Konservierung der lexikalischen Kategorie infolge der
Affigierung ist damit umgekehrt auch keine notwendige Bedingung, den Prozeß
stattdessen unter die Flexion zu rechnen.
Wenn auch zwischen lad(en), verlad(en), belad(en) und entlad(en) keine Differenz in der lexikalischen Kategorisierung besteht, gibt es dennoch eine in der
lexikalischen Bedeutung. Mit den respektiven Verben wird auf je unterschiedliche Ereignisse oder Ereignisvarianten Bezug genommen. Einen Wagen zu beladen ist offensichtlich etwas anderes als ihn zu ent-laden. Es ist auch offensichtlich, daß die Bedeutungsnuancen von der Wahl des Präfixes abhängig sind
und durch diese ausgelöst werden. 1
Neben der Modifikation der Bedeutung bei gleichbleibender lexikalischer Kategorie hat die Derivation möglicherweise auch Konsequenzen mit Rücksicht auf
die Subkategorisierung, also die Bestimmung von Anzahl, Form, Funktion und
thematischer Rolle der notwendigen Ergänzungen einer lexikalischen Kategorie.
(3)
a. Theo lädt die Kisten auf den Wagen
b. Theo verlädt die Kisten
c. Theo belädt den Wagen (mit Kisten)
d. Theo entlädt den Wagen
Beim Verb laden ist neben dem Akk-Objekt eine direktionale Präpositionalphrase obligatorisch, bei verladen nur ein Akk-Objekt. beladen erfordert ein AkkObjekt und nimmt ein fakultatives Präpositionalobjekt zu sich. Gegenüber (3a)
und (3b) ist jedoch die thematische Rolle des Akk-Objekt verändert. Es bezeichnet nicht den Gegenstand, der eine Ortsveränderung erleidet, sondern denjenigen, der das Ziel der Positionierung bezeichnet, wogegen das Präpositionalobjekt den Gegenstand der Ortsveränderung ausdrückt. Der Fall (3d) entla-
1
Es ist hier zu bemerken, daß eine systematische Bedeutungsdifferenzierung, wie sie im
Deutschen durch die Präfixe be-, ver- etc. bewirkt wird, nicht notwendigerweise einen
unmittelbar morphologischen Ausdruck erhalten muß. Im Englischen bildet beispielsweise das Verb load die Entsprechung sowohl zum Verb laden als auch zu beladen.
2
den verhält sich analog zu (3c) hinsichtlich des Objekts, nur daß hier ein Präpositionalobjekt eher ausgeschlossen ist.
Es ist auch offensichtlich, daß in den unter die Flexion gerechneten Beispiele in
(1) die Subkategorisierungseigenschaften nicht verändert werden. 2 Als ein Kriterium für die Unterscheidung von Flexion und Derivation kann daher (4) gelten.
(4) Flexion ändert weder die lexikalische Kategorie noch die lexikalische Bedeutung einer Wortform gegenüber dem Stamm;
Derivation ändert die lexikalische Kategorie oder/und die lexikalische Bedeutung einer Wortform gegenüber dem Stamm. 3
Kriterium Nr. 2
Flexion und Derivation können mit Rücksicht auf die Faktoren unterschieden
werden, die die Wahl der jeweils resultierenden Wortform determinieren.
Die Flexion, i.e. die Wahl einer durch Flexion gebildeten Wortform, unterliegt
Anforderungen, die durch die Syntax gesetzt werden. Ein Hauptsatz des Deutschen verlangt regelmäßig eine finite Verbform, die durch Affigierung eines
passenden Flexionssuffixes gebildet wird.
(5)
2
3
a. Theo schnarcht/schnarchte
b. *Theo schnarchen
c. *Theo geschnarcht
Allerdings ist auch hier Vorsicht geboten. Auch wenn die Änderung von Subkategorisierungseigenschaften unter Derivation ein verbreiteteres Phänomen ist, ist eine entspreche nde Wirkung bei der Flexion nicht überhaupt ausgeschlossen. Die Bestimmung des genus
verbi fällt (im Deutschen) unter die Flexion. Die aktivische und die passivische Verbform
sind in ihrer lexikalischen Kategorie nicht unterschieden. Gleichwohl unterscheiden sich
beiden in den Subkategorisierungseigenschaften.
Man kann natürlich berechtigterweise fragen, warum zwei unterschiedliche Wortformen
zur gleichen lexikalischen Kategorie gehören, also was die Kriterien dafür sind, zwei ve rschiedene Wortformen gleichwohl beide als Verben oder als Nomen zu kategorisieren.
Warum etwa tangiert die unterschiedliche Bestimmung von Kasus die Qualifikation einer
Wortform als Nomen nicht, wohl aber die Anfügung des Suffix –lich? Die schnelle Antwort, daß Nomen Kasusmorphologie aufweisen können, Verben dagegen nicht erweist
sich als zirkuläres Vorurteil. Allein, eine Rechtfertigung mag sich daraus ergeben, daß eine Änderung des Kasus bei einer Wortform innerhalb einer syntaktischen Struktur nur eine beschränkte Folge für eine spezifische Klasse von Ko-Konstituenten hat. Die Komb inationsmöglichkeit eines Nomens mit Artikel und Adjektiven wird durch die Bestimmung
des Kasus nicht modifiziert – wenngleich der Kasus möglicherweise Konsequenzen für
die Form eben dieser Ko-Konstituenten hat, insofern sie kongruieren müssen. Ebenso ändert die Tempus- und Modus-Bestimmung des Verbs, ausgedrückt durch die Flexion, dessen Subkategorisierung und damit dessen Ko-Konstituenten nicht. Aus Gründen wie diesen ergibt sich also eine Rechtfertigung für die genannte Annahme.
3
Die Wortform einer nominalen Verbergänzung wird gleichfalls syntaktisch,
durch das regierende Verb bestimmt.
(6)
a. Theo jagt Hunde
b. *Theo jagt Hunden
Innerhalb einer Wortfolge, die eine nominale Verbergänzung bildet, wird die
Wortform von Artikel und attributiven Adjektiven ebenfalls syntaktisch aufgrund von Kongruenz mit dem Nomen hinsichtlich des vom Verb regierten Kasus festgelegt.
(7)
a. Theo jagt die kleinen Hunde
b. *Theo jagt der kleinen Hunde
c. *Theo jagt den kleinen Hunde
d. Theo jagt den kleinen Hund
e. *Theo jagt der kleines Hund
Die Wahl der Wortformen in (8) und (9) unterliegt indessen keinen syntaktischen Anforderungen, allenfalls können semantische Bedingungen diese Wahl
steuern.
(8)
a. der Bruch ist deutlich zu erkennen
b. die Brechung ist deutlich zu erkennen
c. der Brecher ist deutlich zu erkennen
(9)
a. der Fund hat uns überrascht
b. die Findung ist gelungen
c. der Finder ist ein Depp
Als weiteres Kriterium für die Differenzierung von Flexion und Derivation kann
in diesem Sinne (10) postuliert werden.
(10) Flexion unterliegt syntaktischen Bedingungen, Derivation hingegen nicht.
Kriterium Nr. 3
Flexionsmorphologie fungiert als Exponent von morphosyntaktischen Kategorien. Lexeme (hier Nomen, Verb, Adjektiv) sind festgelegt bezüglich der Kategorien deren Spezifikation sie als Elemente der syntaktischen Struktur ausweisen müssen. Diese Festlegung gilt allgemein, d.h. für jedes Element der respektiven lexikalischen Kategorie. Wenn ein lexikalisches Element ein Nomen ist,
dann muß es einen Exponenten für die morphsyntaktischen Kategorien aufweisen, die im gegebenen syntaktischen Kontext für ein Nomen zu spezifizieren
4
sind. Dies sind zum Teil inhärente, wie GENUS und NUMERUS, zum Teil relationale, wie der Kasus. Bei inhärenten Kategorien, die eine Wahlmöglichkeit der
Spezifikation für einen gegebenen Lexikoneintrag zulassen, wie etwa der NUMERUS, mag es Fälle geben, in denen aus semantischen Gründen die Wahl beschränkt ist. Das pluraletantum resp. das singularetantum unterliegt solcher Restriktion.
(11) a. Leute – *Leut
b. Masern – *Maser
(12) a. Mehl – *Mehle
b. Blei – *Bleie
Auch wenn hier eine mögliche Spezifikation ausfüllt, so bedeutet das stets die
Beschränkung auf die verbleibende Möglichkeit und nicht etwa, daß das resp.
Nomen hinsichtlich des NEMRUS unbestimmt bleibt. Die Festlegung dieses
Merkmals ist daran erkennbar, daß innerhalb einer Nominalphrase Kongruenz
mit Artikel und attributivem Adjektiv ausgelöst wird ebenso wie Subjekt-VerbKongruenz im finiten Satz.
Im gleichem unterliegen alle Elemente der lexikalischen Kategorie Verb der
Spezifikation für Tempus und Person- und Numerus-Kongruenz mit dem Subjekt.
Das generelle Erfordernis einer lexikalischen Kategorie, morphosyntaktische
Merkmale durch Flexionsmorphologie in der Wortform auszudrücken, hat auch
zur Folge, daß Neologismen, also unter dieser Kategorie neu ins Lexikon aufgenommene Elemente ihm gleichfalls unterliegen.
Die Bildung von Wortformen durch Derivation ist hingegen weniger allgemein
als die durch Flexion. Die Kombination mit einem Derivationsaffix steht nicht
notwendig allen Elementen einer lexikalischen Kategorie offen.
Durch Verknüpfung mit dem Suffix lich wird aus Adjektiven, Verben oder Nomen als Basis ein Adjektiv deriviert. Allerdings gibt es auch unter diesen kategorial möglichen Basen Einschränkungen, wie die Adjektive in (13) zeigen mögen.
(13) a. röt-lich
b. klein-lich
c. läng-lich
d. kürz-lich
e. neu-lich
f. ält-lich
g. *orange-lich
h. *winzig-lich
i. *breit-lich
j. *eng-lich
k. *schnell-lich
l. *groß-lich
5
Eine entsprechende Einschränkung zeigt sich bei der Derivation von Nomen auf
der Grundlage verbaler Basen.
(14) a. Stau
b. Fall
c. Schrieb
d. Fahrt
e. *Renn
f. *Spül
g. *Les
a'. Stauung
b'. *Fallung
c'. Schreibung
d'. *Fahrung
e'. *Rennung
f'. Spülung
g'. Lesung
a". Stauer
b". ??Faller
d. Schreiber
d". Fahrer
e". Renner
f". Spüler
g". Leser
Wenn man unter Produktivität eines morphologischen Prozesse den Umfang
oder Grad versteht, in dem er auf eine lexikalische Kategorie, i.e. die unter diese
subsumierte Menge von lexikalischen Elementen, angewendet werden kann,
dann läßt sich (15) als drittes Kriterium zur Unterscheidung von Flexion und
Derivation heranziehen.
(15) Flexion ist ein produktiverer morphologischer Prozeß als Derivation.4
Kriterium Nr. 4
In (4) ist das Verhältnis der lexikalischen Kategorie von resultierender Wortform und Stamm als Grundlage in die Differenzierung von Flexion und Derivation eingegangen. Aus dem Umstand, daß die Flexion eine kategoriale Bestimmung des Stamms als Verb, Nomen oder Adjektiv voraussetzt und Derivationsmorphologie gegebenenfalls zur Änderung der syntaktischen Kategorie der
Wortform gegenüber dem Stamm führt, läßt sich eine plausible Annahme über
die Abfolge von morphologischen Prozessen ableiten, die der Flexion und der
Derivation zuzurechnen sind. Ein Flexionsmorphem, welches mit einer nominalen Basis zu verknüpfen ist, kann erst hinzugefügt werden, wenn eine solche Basis vorliegt. D.h., wenn das flektierende Nomen erst durch Derivation abgeleitet
wird, sollte, im Fall daß sowohl die Flexion wie auch die Derivation durch Suffixe bewirkt ist, das Derivationssuffix näher beim Stamm stehen als das Flexionssuffix. Diese Abfolgebeschränkung ist vielfach belegt.
(16) a. Beschreibung
b. grünlich
4
a'. Beschreibung-en
b'. grünlich-er (Stoff)
a". *Beschreiben-ung
b". *grüner-lich (Stoff)
Dieses Kriterium ist nicht immer mit den übrigen konsistent. Beispielsweise ist im Englischen die Affigierung des Suffix ing an Vollverbstämme zur Bildung des nominalen Gerundiums allgemein möglich, wäre demnach gemäß dem Kriterium Nr. 3 der Flexion zuzurechnen, wird aber – wegen des Wechsels der le xikalischen Kategorie – unter die Derivation gerechnet.
6
Aus diesem Sachverhalt ist als weiteres Kriterium (17) abgeleitet worden.
(17) Formative, welche Derivation ausdrücken, stehen der Basis der Derivation näher als Formative, welche die Flexion des Derivats ausdrücken.
Dieses Kriterium ist indessen nicht ohne Ausnahme beispielsweise bei der Diminutiv-Bildung im Deutschen. Das Suffix chen resp. lein ist ein Derivationssuffix. Seine Affigierung resultiert in einer Modifikation der lexikalischen Bedeutung und einer grammatischen Modifikation, welche zwar nicht die lexikalische Kategorie (als ganze) betrifft, wohl aber gegebenenfalls das Genus. Diminutive sind im Deutschen generell GENUS:MASC spezifiziert unabhängig von der
diesbezüglichen Spezifikation der Basis.
(18) a. der Herr
b. die Frau
c. das Schwein
a'. das/die Herrchen
b'. das/die Frauchen
c'. das/die Schweinchen
Die Pluralformen sind mit den Singularformen in Fällen wie (18) homonym. Bei
einigen Nomen kann bei der Diminutiv-Form ein Pluralsuffix erscheinen. Dieses
Pluralsuffix geht allerdings dem Derivationssuffix in der Folge voran, steht also
der Basis der Derivation näher als der Derivationssuffix.
(19) a. das Haus
b. das Kind
c. das Kalb
a'. die Häuschen a". die Häuser-chen
b'. die Kindchen b". die Kinder-chen
c'. die Kälbchen c". die Kälber-chen
Man könnte vielleicht gegen die Annehme, das dem Diminutiv-Suffix vorangehende er sei ein Exponent für NUM:PL, einwenden, es handele sich um ein Fugenelement. Ein Fugenelement in Gestalt von el kommt beispielsweise in den
unter (20) aufgeführten Fällen vor.
(20) a. das Buch
b. das Tuch
c. das Ding
d. der Ring
a'. das/die Büchel-chen
b'. das/die Tüchel-chen
c'. das/die Dingel-chen
d'. das/die Ringel-chen
Wie man sieht, ist das Vorkommen des Fugenelements gleichgültig gegenüber
der Numerus-Spezifikation des Diminutivs. Das ist aber bei den Formen in (19)
nicht der Fall. Das Infix -er- kommt nur im Plural vor nicht bei den Singularformen.
7
(21) a. *das Häuser-chen
b. *das Kinder-chen
c. *das Kälber-chen
Hieraus können wir schließen, daß es sich bei dem Infix in (19), das dem Derivationssuffix vorangeht, tatsächlich um die Flexion handelt, welche dem Derivat
zukommt und nicht der Basis. Insofern gilt also Kriterium (17) nicht ohne Einschränkung.
Kriterium Nr. 5
Zur Unterscheidung von Flexion und Derivation wird schließlich auf die Regularität der damit einhergehenden semantischen Konsequenzen rekurriert.
Der semantische Effekt der Affigierung eines Pluralsuffix ist unabhängig von
der Wahl des Nominalstamms stets der gleiche: Das resultierende Nomen referiert auf eine Mehrheit von Individuen. Entsprechendes gilt für die Affigierung
von Tempussuffixen. Es mag zwar – wie beim Präsens im Deutschen – die temporale Referenz ihre Eindeutigkeit verlieren – insofern auch auf zukünftige Ereignisse Bezug genommen werden kann. Dies trifft dann jedoch jedes Tempusflektierte Verb.
Die Folgen der Derivation für die Interpretation des resultierenden Derivats sind
dagegen vielfach weniger systematisch. Deverbale Nomen, die beispielsweise
aus der Suffigierung durch -erei oder -ung hervorgehen, haben keine durchgängig gleiche Interpretation. Sie sind in vielen Fällen mehrdeutig, allerdings oft
mit divergierendem Umfang. (22) und (23) illustrieren diesen Sachverhalt (aber
keineswegs abschließend).
(22)
Ereignis
+
+
+
+
a. wasch
b. druck
c. schrei
d. sauf
a'. Wäsch-erei
b'. Druck-erei
c'. Schrei-erei
d'. Sauf-erei
a. dicht
b. verstreb
c. sitz
d. sperr
e. begrenz
Ereignis
a'. Dicht-ung
–
b'. Verstreb-ung
–
c' Sitz-ung
+
d'. Sperr-ung
+
e'. Begrenz-ung
+
(23)
Örtlichkeit
+
+
–
–
gegenständl. Resultat
+
+
–
–
+
Hieraus ist als weiteres Kriterium (24) abgeleitet worden.
8
(24) Die semantischen Konsequenzen der Flexion sind regulärer als die der
Derivation.
Diese Differenzierung wird auch mit der Konstituierung des Lexikons in Zusammenhang gebracht. In Abschnitt 5 p.2 ist auf die Vorstellung verwiesen,
nach der das Lexikon ein Register alles Unsystematischen abgibt. Aus dem Umstand, daß die semantischen Effekte der Derivation weniger systematisch sind
als die der Flexion, hat man denn auch gefolgert, daß Wortformen, welche durch
Derivation gebildet werden, im Lexikon als individuelle Einträge enthalten sind.
Wortformen, die aus Flexion hervorgehen und eine systematische Interpretation
in Korrelation zum morphologischen Prozeß haben, werden dagegen nicht darin
verzeichnet, sondern nur deren resp. Stämme. Es gelte demnach die Annahme:
(25) Derivierte Wortformen bilden Elemente des Lexikons, flektierte nicht.
Eine Verifikation dieser Annahme setzt naturgemäß spezifische Kenntnisse über
die Organisation des mentalen Lexikons deren Beziehung zu strukturbildenden
Prozessen, wies sie jeweils bei aktueller Sprachproduktion ablaufen voraus.
Psycholinguistische Untersuchungen dieser Sachverhalte deuten indessen darauf
hin, daß auch flektierte Wortformen ebenso gespeichert sein können, wie derivierte.
Der theoretische Status der Differenzierung
Die Unterscheidung von Flexion und Derivation ist tradiert und hat unter didaktischen Prämissen ihren festen Platz im Unterrichtsgeschehen. Betrachtet man
die unter diesen Begriffen gefaßten morphologischen Strukturphänomene unter
dem Gesichtspunkt des menschlichen Sprachvermögens, gibt es aber Zweifel an
der Annahme, daß diese Unterscheidung für dessen Funktionsweise wesentlich
ist.
Ein Einwand ist eben schon genannt – er betrifft die Speicherung der Wortformen im Lexikon, damit eine Gedächtnisleistung. Er geht darauf hinaus, daß sowohl derivierte wie auch flektierte Wortformen als Ganze mit den korrespondierenden grammatischen Spezifikationen als lexikalische Elemente gespeichert
werden und bei der Sprachverarbeitung nicht jeweils eine morhologische Analyse resp. Synthese der Wortform im Einzelfall erforderlich ist.
Ein weiterer Grund des Zweifels ist formaler Natur. Es gibt keinen formalen Unterschied zwischen den morphologischen Prozessen, deren Resultat als Flexion
resp. Derivation geschieden werden. Sowohl Flexion wie auch Derivation wird
durch Affixe oder Umformung des Stamms ausgedrückt.5 In der internen mor5
Derivation durch Umlaut gibt es bei: geh – gang, steh – stand, lieg – lage.
9
phologischen Struktur besteht kein Unterschied komplexer Wortformen, ob sie
nun flektiert oder deriviert sind. Die Differenzierung von Flexion und Derivation ist eher funktionaler Natur und erweist sich in den Disributionsbedingungen
für die Wortform in der Syntax.
Schließlich ist in einigen Fällen auch nicht ohne weiteres erkennbar, welchen
der beiden Sparten der Prozeß einer Wortformbildung zuzurechnen ist. So ist die
Komparation der Adjektive sowohl unter die Derivation als auch unter die Flexion subsumiert worden. Allein, für die klaren Fälle ist sie eine probate Handhabe für die deskriptive Unterscheidung.
Paradigmen
In der Flexion manifestiert sich kumulative Exponens. Eine Menge von Spezifikationen morphosyntaktischer Kategorien wird durch eine morphologische nicht
differenzierte Lautform ausgedrückt.
Im Unterschied zur verkettenden Agglutination kann der mit einer Wortform
vorliegende Gehalt an morphosyntaktischer Spezifikation nicht unmittelbar als
Resultat der sukzessiven Verkettung von morphologischen Elementen angesehen werden. Während etwa im Türkischen bei einfacher Exponens die jeweils
verschiedene morphosyntaktische Spezifikationen repräsentierenden Wortformen:
(26) el -Hand
a. el-i
b. el-ler-i
c. el-ler-in
HAND .SG.AKK .
HAND .PL.AKK.
HAND.PL.GEN.
als Resultate unterschiedlicher Verknüpfungsoperationen betrachtet werden
können, ist das bei deren Pendant in flektierenden Sprachen nicht möglich.
Im Fall der Flexion wird daher die Beziehung zwischen den unterschiedlich spezifizierten Wortformen einer lexikalischen Kategorie durch eine Matrix kenntlich gemacht, die gewöhnlich als Paradigma bezeichnet wird.6
(27)
SG
NOM
GEN
DAT
AKK
6
Haus
Hauses
Haus(e)
Haus
PL
Häuser
Häuser
Häusern
Häuser
Die Darstellung von Flexionsparadigmen ist aus naheliegenden Gründen in der Regel
zweidimensional. Ihrem Gehalt nach sind sie meistens jedoch mehrdimensional.
10
Der Begriff des Paradigmas wird in zweierlei Weise verwendet, einmal zur
Kennzeichnung der Wortformen eines individuellen Lexems – wie in (27), zum
andern aber auch zur Bezeichnung von Klassen. In Flexionsklassen werden
Mengen von Wortformen zusammengefaßt, die sich lediglich in ihren Stämmen
unterscheiden aber mit Rücksicht auf die morphologischen Exponenten der morphosyntaktischen Kategorien gleich sind. Das individuelle Paradigma (27) kann
als Instantiierung des allgemeinen (28) verstanden werden. 7
(28)
NOM
GEN
DAT
AKK
SG
PL
-∅
-es
-(e)
-∅
-er
-er
-ern
-er
Flexionsklassen wiederum werden unterschieden nach der Form der Exponenten
für eine gegeben Menge morphosyntaktischer Spezifikationen. So stellt das Paradigma (28) eines unter den möglichen nominalen dar. Daneben gibt es andere
wie das in (29) – nach welchem das Nomen Fell u.a. flektieren.
(29)
NOM
GEN
DAT
AKK
SG
PL
-∅
-es
-(e)
-∅
-e
-e
-en
-e
Für die Bildung von Flexionsklassen wird auf unterschiedliche Bedingungen
Bezug genommen. So können einmal morphologische Eigenschaften der Stämme die Grundlage bilden. Die Wahl eines der beiden Paradigmen in (28) und
(29) hängt vom Stamm des flektierenden Nomens ab.
Der durch starke vs. schwache Flexion bezeichneten Differenzierung der Verben
liegt eine entsprechende Bedingung zugrunde. Sie hängt davon ab, ob die
Stammform bei der Flexion gleich bleibt oder nicht.
7
Von möglicher Umlautung des Stamms ist hierbei abgesehen.
11
(30)
TENSE:PRET SCHWACH
NUM PERS
SG
PL
1
2
3
1
2
3
arbeitete
arbeitetest
arbeitete
arbeiteten
arbeitetet
arbeiteten
STARK
ging
gingst
ging
gingen
gingt
gingen
Neben dieser inhärenten Bedingung der Flexionsklassendifferenzierung gibt es
auch noch eine externe, bei der die Distribution der Wortform in der syntaktischen Struktur die Bezugsgröße darstellt. Die Flexion attributiver Adjektive, i.e.
die Form des Exponenten für die der Kongruenz innerhalb einer Nominalphrase
unterliegenden morphosyntaktischen Kategorien, hängt davon ab, ob, und wenn
ja, was für ein Artikel neben dem Adjektiv vorkommt. Hier sind die drei in (31)
– (33) aufgeführten Fälle möglich.
(31) Attribut und definiter Artikel
SG
MASK /NEUT
NOM
GEN
DAT
AKK
-e
-en
-en
-en
-e
PL
FEM
-e
-en
-en
-e
-en
-en
-en
-en
(32) Attribut ohne Artikel
SG
MASK NEUT
NOM
GEN
DAT
AKK
-er
-en
-em
-en
-es
-en
-em
-es
PL
FEM
-e
-er
-er
-e
-e
-er
-en
-e
(33) Attribut und indefiniter Artikel
SG
MASK NEUT
NOM
GEN
DAT
AKK
-er
-en
-en
-en
-es
-en
-en
-es
FEM
-e
-en
-en
-e
12
Man spricht bei den Paradigmen (31) und (32) von schwacher resp. starker Flexion und bei (33) von gemischter. Diese dreifache Differenzierung bezieht sich wohlbemerkt auf die möglichen Paradigmen. Bei den jeweiligen Suffixen gibt es bei den alternierenden Formen nur je zwei Varianten, die starke
oder die schwache.
Suppletion
Durch ein Paradigma werden einer Menge von morphosyntaktischen Kategorien
und deren mögliche Wertspezifikationen verschiedenen Wortformen eines Lexems zugeordnet. Dem liegt umgekehrt die generelle Annahme zugrunde, daß
bei einem gegebenes Lexem für jede durch das Paradigma definierte Merkmalskombination eine Wortform als Exponent zur Verfügung steht. Bis auf wenige
Ausnahmen ist dies auch der Fall.
Es gibt allerdings Ausnahmen. Einmal kommt es vor, daß für ein Lexem nicht
alle durchs Paradigma gegebenen Optionen realisiert werden. Die Gründe dafür
sind unterschiedlicher Natur. Lücken im Paradigma können semantisch motiviert sein. So gibt es Verben, die aufgrund ihrer Bedeutung nur mit einem pluralen Subjekt verträglich sind.
(34) a. *ich umzingele die gleich
b. wir umzingeln dich gleich
Gleiches gilt für das plurale tantum resp. das singulare tantum bei den Nomina.
In diesen Fällen bezeugen die fehlenden Wortformen effektive Lücken im Paradigma.
Daneben gibt es aber auch den Fall, daß die Positionen des Paradigmas durch
Wortformen repräsentiert sind, die nicht auf eine einzige Stammform zurückgeführt werden können. Im Deutschen begegnet dieses Phänomen beim Auxiliarverb sein.
(35)
PRÄS. AKT
PRET.AKT
FUT.AKT
bin, bist, ist
sind, seid, sind
war, warst, war
waren, wart, waren
werde, wirst, wird
werden, werdet, werden
Man spricht in einem Fall, bei dem die verschiedenen Positionen eines Paradigmas durch Wortformen verschiedener Stämme gleicher Bedeutung komplementär repräsentiert werden, von Suppletion.
Im Englischen und französischen findet man Suppletion nicht nur bei den Auxiliaren, sondern auch bei den Vollverben.
13
(36) go(es)
think(s)
catch
went
thought
caught
Unter den Adjektiven des Deutschen liefert das Lexem gut ein Beispiel für
Suppletion bei der Komparation.
(37) gut
bes-ser/t
Suppletion hat vielfach eine diachrone Erklärung im Zusammenfall von Paradigmen gleichbedeutender Lexeme.
Übungsaufgaben
Aufgabe 1
1. Bestimmen Sie Wurzel und Affixe der Wortformen in (i).
2. Bestimmen Sie anhand der gegebenen Kriterien die Zuordnung der Affixe zu
Flexion oder Derivation.
(i)
a. Geborgenheit
b. (mit) vergrößertem (Rahmen)
c. ausgeschlafen
d. Veranlassungen
e. kleinere (Mengen Marihuanas)
Aufgabe 2
Überlegen Sie anhand der Beispiele in (ii) wie die Wahl der schwachen resp. der
starken Flexion beim attributiven Adjektiv unter Berücksichtigung der Formen
von Artikel und Nomen erklärt werden könnte.
(ii)
der kleine Mann
des kleinen Mannes
dem kleinen Mann
den kleinen Mann
ein kleiner Mann
eines kleinen Mannes
einem kleinen Mann
einen kleinen Mann
14
kleiner Mann
kleinen Mannes
kleinem Mann
kleinen Mann
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