Jüdischer Fundamentalismus

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Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Institut für Politikwissenschaft
Seminararbeit zum SE
„Religiöser Extremismus und Gewalt in den internationalen Beziehungen“
LV-Nr. 402206
WS 2006/07
Jüdischer Fundamentalismus
Die fundamentalistischen Strömungen im Judentum unter besonderer Berücksichtigung
der ultra-orthodoxen Bewegungen
LV-Leiter:
Dr. Franz Kernic
Eingereicht von:
Martin Gächter
Matr.-Nr. 0415620
SKZ: C300
[email protected]
Innsbruck, am 25.01.2008
PS Internationale Politik | Religiöser Extremismus
Dr. Franz Kernic
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung .................................................................................................................. 3
2
Jüdischer Fundamentalismus ..................................................................................... 4
2.1
2.1.1
Geschichtliches .................................................................................................................... 5
2.1.2
Der Staat als Grundlage des Fundamentalismus................................................................. 6
2.2
Die Orthodoxie (Haredim) .............................................................................................. 7
2.2.1
Ideologische Grundlagen ..................................................................................................... 7
2.2.2
Die Entstehung der Misrachi-Bewegung ............................................................................. 9
2.2.3
Agudat Israel........................................................................................................................ 9
2.2.4
Die Schass-Partei ............................................................................................................... 12
2.2.5
Sonstige orthodoxe Parteien ............................................................................................. 12
2.3
Messianismus .............................................................................................................. 13
2.3.1
Ideologische Grundeinstellung .......................................................................................... 13
2.3.2
Gush Emunim und die Techija-Partei ................................................................................ 14
2.4
3
Allgemeine Thesen der Einordnung ................................................................................ 4
Chauvinismus .............................................................................................................. 15
Fazit und Ausblick.....................................................................................................16
Literaturliste ....................................................................................................................18
Martin Gächter
2
PS Internationale Politik | Religiöser Extremismus
1
Dr. Franz Kernic
Einleitung
Der Begriff des Fundamentalismus weckt in den meisten Menschen keine Gedanken an extremistische Strömungen in Israel, sondern meist viel eher an radikale Bewegungen in der islamischen Welt.
Die Geschichte des jüdischen Fundamentalismus ist auch noch vergleichsweise jung: Der Begriff des
Fundamentalismus tritt im Zusammenhang mit dem Judentum – zumindest in unserem heutigen
Sinne – erst zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts auf1.
„Es gibt nach traditioneller Auffassung keine menschliche Autorität innerhalb des Judentums, die ein
fundamentalistisches Dogma in bezug auf die heiligen Schriften oder heiligen Personen aufstellen
könnte.“2
Bis heute wird von manchen bezweifelt, ob es einen jüdischen Fundamentalismus überhaupt gebe.
Dies entspricht der zentralen Position des traditionellen Judentums, wonach fundamentalistische
Ansätze schon aufgrund der geschichtlich gewachsenen Autoritätsstruktur im Judentum nicht möglich seien. Dies ist die erste von zwei Grundthesen, denen Idalovichi in seinem Text nachgeht und die
im folgenden Kapitel noch genauer betrachtet werden müssen.
Trotzdem ist es in wissenschaftlichen Kreisen heute wohl wenig umstritten, dass es auch im jüdischen Glauben extremistische Strömungen gibt und dass diese auch in der internationalen Politik –
und hier besonders im Nahost-Konflikt – eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Das Ziel dieser Arbeit soll es sein, diese verschiedenen Ansätze des jüdischen Fundamentalismus aufzuzeigen und ihre
Auswirkungen auf die politische Landschaft etwas näher zu beleuchten.
Die Literaturrecherche zu diesem Thema gestaltete sich vergleichsweise schwierig, nicht unbedingt
deshalb, weil es zu wenig Texte darüber gäbe, sondern vielmehr deshalb, weil viele Texte nur schwer
zu beschaffen waren und das Einlesen in dieses doch eher spezielle Thema nicht immer ganz einfach
war. Trotzdem konnte ich wohl genügend Literatur finden, um die Fragestellung von verschiedenen
Seiten näher beleuchten zu können. Die Frage wird in der Literatur unterschiedlich angegangen: Idalovichi schreibt etwa ganz allgemein über die verschiedenen fundamentalistischen Strömungen in
Israel3, während Maul diese Bewegungen bereits in den Zusammenhang mit der politischen Wirklichkeit in Israel bringt4. Leitner geht in ihrer Diplomarbeit ebenfalls auf verschiedene Ebenen ein und
1
Vgl. Leitner, Christina (1999): Jüdischer Fundamentalismus, Diplomarbeit am Institut für Politikwissenschaft, Universität Innsbruck, S. 19.
Idalovichi, Israel (1989): Der jüdische Fundamentalismus in Israel, in: Meyer, Thomas (Hg.): Fundamentalismus in der modernen Welt. Die
Internationale der Unvernunft, Frankfurt am Main (Edition Suhrkamp), S. 102.
3
Idalovichi, S. 101 f.
4
Maul, Stephan (2000): Israel auf Friedenskurs? Politischer und religiöser Fundamentalismus in Israel. Wirkungen auf den Friedensprozeß
im Nahen Osten, Interdisziplinäre Studien zu Politik und Religion (PuR), Band 1, Münster-Hamburg-Londen (LIT Verlag).
2
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Dr. Franz Kernic
beleuchtet die Auswirkungen dieser fundamentalistischen Strömungen auf die heutige Wirklichkeit.
Aus der sonstigen verwendeten Literatur ist vielleicht noch der Text von Bertold Meyer hervorzuheben5, der die genauen Auswirkungen auf den Friedensprozess im Nahen Osten untersucht.
Vor Beginn der Arbeit sollten noch einige zentrale Begriffe zu diesem Thema eindeutig definiert und
abgegrenzt werden6: Mit dem Begriff der Bibel wird in diesem Zusammenhang die Hebräische Bibel,
d.h. das Alte Testament, gemeint. Torah („Weisung“) bezeichnet die fünf Bücher Moses und wird
auch als Begriff der ganzen „göttlichen“ Weisung verwendet. Die Begriffe Mischna und Talmud
(„Studium“) bezeichnen die mündliche Tradition, also die aufgeschriebenen Bibelkommentare und
Gesetzesauslegungen der rabbinischen Tradition. Halacha („Weg“) bezeichnet die Gesamtheit der
jüdischen Gesetze und Vorschriften. Weitere Begriffe werden im Verlaufe der Arbeit bei ihrer Verwendung noch erklärt werden.
Die folgende Arbeit zeigt zunächst die verschieden fundamentalistischen Strömungen im jüdischen
Glauben auf, versucht diese in den heutigen Kontext der jüdischen Gesellschaft einzuordnen und
beleuchtet die Einflüsse dieser Bewegungen auf die heutige internationale Politik, bevor am Schluss
der Arbeit ein – wenn auch kurzer – Blick in die Zukunft gewagt wird.
2
Jüdischer Fundamentalismus
2.1
Allgemeine Thesen der Einordnung
Wie bereits in der Einleitung erwähnt wurde, leitet Idalovichi seinen Text mit zwei verschiedenen
Thesen ein, ob jüdischer Fundamentalismus überhaupt existiert:
„1. Die These entspricht der zentralen Position des traditionellen oder ‚überlieferten’ Judentums, die
sich auf die allgemeine Tatsache stützt, dass die ‚Halacha’ (jüdisches Gesetz) und die ‚Mitzwot’ (Religionsgebote) starke und konsistente Schranken gebildet haben, die ein Dogma innerhalb des Judentums unmöglich machen. Demnach besteht keine dauerhafte Autorität innerhalb des Judentums, um
ein fundamentalistisches Dogma bezüglich der heiligen Schrift zu statuieren.
2. Die zweite Haltung versucht zu beweisen, dass die großen Ereignisse in der neueren jüdischen Geschichte zu neuen Phänomenen geführt haben. Einige dieser Phänomene stellen die neuen fundamentalistischen Tendenzen dar, die noch nicht ausführlich wissenschaftlich analysiert worden sind.“7
5
Meyer, Bertold (2001): Aus der Traum? Das Scheitern des Nahost-Friedensprozesses und seine innenpolitischen Hintergründe, HSFKReport 2/2001, http://www.learn-line.nrw.de/angebote/umweltgesundheit/medio/global/HSFK_mat/rep0201.pdf.
6
Vgl. Ingber, Michael (2005): Fundamentalismus in Judentum und in der jüdischen Gesellschaft im Staat Israel, Vortrag vom 21. November
2005, http://wirtges.univie.ac.at/Fuchs/materialien/RV_Fundamentalismus/Ingber.pdf, S. 2 f.
7
Idalovichi, S. 101.
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Dr. Franz Kernic
Zwar steht die Tatsache, dass im Judentum eine zentrale Autorität fehlt, die fundamentalistische
Dogmen hervorbringen könnte, im Gegensatz zu den bekannten Formen des Fundamentalismus in
anderen Religionen, wie z.B. im Islam oder im Christentum. Es gibt im Judentum keine staatliche oder
kirchliche Institution, der eine Lehrgewalt zusteht, jedoch wird die Bibel im Talmud durch gelehrte
Rabbiner für jede Gegenwart neu ausgelegt. Trotzdem gibt es von dieser Tradition einige Abweichungen, wie z.B. die Abspaltung der Karäer beweist, auf die wir später noch zu sprechen kommen
werden. Insgesamt wird heute also kaum mehr bestritten, dass auch im Judentum Ansätze fundamentalistischer Denkweisen vorhanden sind.
Nach Ingber8 lassen sich zwei „Grundformen“ des Fundamentalismus im Judentum erkennen: Auf der
einen Seite stehen die „ultra-orthodoxen“ Juden, die eine religiöse und gesellschaftliche Erscheinung
sind und nicht im Zusammenhang mit dem Staat Israel entstanden. Auf der anderen Seite existieren
radikale religiös-nationalistische Bewegungen der jüdischen Siedler, deren Interessen vor allem auch
in der politischen Auseinandersetzung mit Palästina zu erkennen sind. Nachfolgend werden die wichtigsten Formen dieser beiden Richtungen zuerst geschichtlich und anschließend aktuell etwas genauer unter die Lupe genommen.
2.1.1
Geschichtliches
Die radikalen Strömungen im jüdischen Glauben sind verhältnismäßig neu. Der Grund dafür liegt vor
allem darin, dass das alltäglich Leben und die Religion im Judentum eng miteinander verbunden sind9
und sich das religiöse vom säkularen Leben nicht wirklich trennen lässt. Der Begriff „Jude“ bezeichnet
nicht nur die religiöse, sondern auch die ethnische Zugehörigkeit. Wenn jemand Jude ist, so gehört er
nicht nur einer Religion, sondern auch einem Volk an. Durch die Diaspora, die Zerstreuung der Juden
über ganz Europa und die Welt, war die Religion für einen Juden immer ein wesentlicher Bestandteil
seines Lebens, „selbst wenn er Atheist war“10. So gilt beispielsweise die Thora bis in die heutige Zeit
nicht nur als religiöse, sondern auch als gesetzgebende Schrift (z.B. die Regelung, wer Jude ist und
wer nicht). Eine Trennung zwischen religiösem und weltlichen Leben ist demnach im traditionellen
jüdischen Verständnis nur schwer möglich.
Trotzdem sind bereits früher extremistische Bewegungen zu beobachten, die zwar heute nicht mehr
so bedeutend sind, aber trotzdem zeigen, dass auch das Judentum nicht vor Fundamentalismus gefeit ist.
8
Vgl. Ingber, S. 1.
Vgl. Leitner, S. 19.
10
Leitner, S. 20.
9
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Die Karäer, die „Söhne der Schrift“, entstanden im 8. Jahrhundert und lehnten die mündliche Thora
und die Ableitung der Halacha aus der Bibel ab. Es war eine Art Sekte, die ihren Anhängern sogar das
gemeinsame Gebet mit den Rabbaniten verbot. Im Mittelpunkt stand die wortgetreue Auslegung der
Bibel. Zum Teil lehnte man sich auch an den Islam an, so beispielsweise in der Errechnung des Mondkalenders. Der Grund hierfür lag darin, dass die Karäer in Babylonien eine autonome nationale Kultur
bildeten und nicht zuletzt auch aus wirtschaftlichen Interessen entstanden. Heute haben die Karäer
kaum mehr eine Bedeutung.11
Ein zweite Strömung entstand im Chassidismus, einer Vereinigung der „Frommen“, die sich streng an
der heiligen Schrift orientierten. Besonders in Zeiten der Not und der Verfolgung ließ sich diese Radikalisierung beobachten. Jedoch haben sich die Chassidim im Gegensatz zu den Karäern nie vom traditionellen Judentum losgesagt, dazu waren die Unterschiede zu gering. Die Chassidim forderten die
Gleichheit aller und stellten damit in gewisser Weise einen Gegenpol zu den „arroganten“ Rabbinen
dieser Zeit dar. Wirtschaftliche Überlegungen spielten hier im Gegensatz zu den Karäern keine Rolle,
das Studium der heiligen Schrift wurde ins Zentrum gestellt12.
Als dritten Punkt lässt sich an dieser Stelle wohl noch die Orthodoxie aufzählen, die ebenfalls schon
früher in der Geschichte zu beobachten war.
„Wie in anderen Religionen umfasst der Begriff ‚orthodox’ alle jene Gläubigen, die sich in besonders
extremer Weise gegen alles Modernistische, Aufklärerische und Liberale wenden und ihr religiöses
sowie weltliches Leben streng gemäß den Gesetzen der heiligen Schrift ausrichten.“13
Die verschiedenen fundamentalistischen Ansätze in der jüdischen Geschichte hielten sich jedoch
meist nicht lange, da diese aufgrund der starken Verstreuung der jüdischen Bevölkerung zu wenig
Zulauf hatten. Diese Bedingung veränderte sich grundlegend, als 1948 der Staat Israel ausgerufen
wurde.
2.1.2
Der Staat als Grundlage des Fundamentalismus
Das Ausrufen des Staates Israel durch Ben Gurion 1948 schien die Verwirklichung aller zionistischen
Träume zu sein. Das „auserwählte Volk“ hatte endlich wieder das Land bekommen, das ihm nach der
Heiligen Schrift zusteht. Das Recht auf die Besiedlung arabischer Gebiete wurde aus dem „Willen
Gottes“ abgeleitet. Durch die Eroberung der Sinai-Halbinsel, des Gazastreifens, der Golanhöhen und
des Westjordanlands verschärfte sich der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern weiter, was
sich – mit einigen Hochs und Tiefs – bis heute im Wesentlichen nicht verändert hat. Der jüdische
11
Vgl. Leitner, S. 23 f.
Vgl. Leitner, S. 27 f.
13
Leitner, S. 31.
12
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Fundamentalismus ist heute offensichtlich in erster Linie „Fundamentalismus für Land“14. Seine Anhänger beharren darauf, dass ihnen auch die besetzten Gebiete zustehen. Innerhalb des Fundamentalismus im Judentum kann – wie schon weiter oben erwähnt – zwischen zionistischen und antizionistischen Strömungen unterschieden werden15. Eine Grundströmung ist die Orthodoxie, die versucht, alle Lebensbereiche nach der Thora zu regeln. Weitere stellen der religiöse Messianismus oder
auch der Chauvinismus dar, die im Folgenden etwas näher erläutert werden. Allen diesen Strömungen ist eine allgemein nationale oder religiöse Intoleranz gemeinsam, da sie davon ausgehen, dass sie
im Alleinbesitz der göttlichen Wahrheit seien16.
2.2
Die Orthodoxie (Haredim)
2.2.1
Ideologische Grundlagen
Der Oberbegriff Haredim (orthodox, gottesfürchtig) umschließt eine Vielzahl verschiedener Untergruppen, die sich in ihren Traditionen und Anschauungen unterscheiden. Gemeinsam ist allen Haredim eine radikale Interpretation der jüdischen Orthodoxie mit einer strikten Einhaltung der Thora mit
all ihren Geboten und Verboten. Der Zionismus und der jüdische Staat stellen aus deren Sicht eine
Gotteslästerung dar.17
„Die Diaspora ist eines der Prinzipien, nach denen die Haredim leben: so fühlen sie sich als eine auserwählte Gemeinschaft, die als Fremde in einem fremden Königreich leben; denn durch das Schicksal
wurden sie in alle Welt verstreut und nun ist Gott allein bemächtigt, sie wieder nach Israel zu führen
und dort zu vereinen.“18
Die orthodoxen Juden stehen nach Idalovichi bis heute unter dem Einfluss der Ängste zweier unterschiedlicher Bewegungen in der jüdischen Geschichte:
„Erstens: Der falsche Messianismus im 17. Jahrhundert … brachte ohne Zweifel die größte Erschütterung für die jüdische Religion der Neuzeit. Falscher Messianismus und falsche Prophezeiungen fanden
damals eine breite Anhängerschaft bei dem größten Teil der jüdischen Bevölkerung und deren geistigen Führern. … Der falsche ‚Messias’, Sabbatai Zwi, hob eigenmächtig einen Teil des Religionsgesetzes auf und versuchte im Gegenzug, eine neue Form der ‚Halacha’ aufzustellen. …
Zweitens: Eine wenn auch weitläufige, so doch direkte Folge dieser Erschütterung durch den falschen
Messianismus ist das Phänomen, dass die zionistische Bewegung vom orthodoxen Judentum von Anfang als der größte Feind betrachtet wurde. Der Zionismus wurde als eine Art von neuem falschen
14
Marty, Marin E. und Appleby, Scott (1996): Herausforderung Fundamentalismus – Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf
gegen die Moderne, Frankfurt am Main (Campus Verlag), S. 104.
15
Vgl. Leitner, S. 43.
16
Vgl. Idalovichi, S. 107.
17
Vgl. Maul, S. 44.
18
Leitner, S. 51.
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Messianismus gesehen, und zwar in erster Linie aufgrund der Absicht, aktiv in den Verlauf der jüdischen Geschichte einzugreifen.“19
Daher besteht in der Orthodoxie die Tendenz, Neuerungen als gefährlich zu betrachten, da das Volk
wieder falschen Lehren verfallen könnte. Nach den orthodoxen Juden, die an ihrer altertümlichen
Kleidung und an ihren Schläfenlocken zu erkennen sind, sollen die spätmittelalterliche Lebensform
und ihre Gesellschaftsstruktur das Fundament bilden, nach denen sich die Juden zu richten haben.
Zwar kann die Orthodoxie nicht als Fundamentalismus bezeichnet werden, da die jüdische Lehre
stets durch immer neue Interpretation auf die Probleme der neuen Generationen gestaltet wird.
Trotzdem wird die „Halacha“ in ihrer spätmittelalterlichen Form als starres Fundament angesehen,
an der keine wesentlichen Änderungen vorgenommen werden sollen20. Kompromisse zwischen den
orthodoxen Juden und dem Zionismus, der sich von Anfang an parallel zu den Ideen der Emanzipation und der Aufklärung entwickelt hatte, sind bis heute aus ultra-orthodoxer Sicht nicht haltbar. Dieser Kampf zwischen Orthodoxie und Aufklärung wird auch häufig als „Kulturkampf“ innerhalb des
Judentums bezeichnet.
„Ein anschauliches Beispiel für diese Form von Fundamentalismus ist jene Gruppe von ultraorthodoxen Juden, die sich ‚Neturei Karta’ (Wächter der Stadt Jerusalem) nennen. … Eines der größten
Probleme dieser Gruppe ist ihre Beziehung zum Staate Israel. Sie sehen in ihm den größten Feind, der
an allen Katastrophen schuldig ist. Gott habe das jüdische Volk im Holocaust für seinen ‚falschen messianischen Glauben’ bestraft. … Der wichtigste Imperativ für diese fundamentalistische Gruppen ist …
die Liebe zur Tora.“21
Die orthodoxen Juden streben einen religionsgesetzlich geregelten Staat an. Wie die Grenzen dieses
Staates ausschauen, steht dabei nicht im Zentrum des Interesses.
„Was die Außenpolitik der ultra-orthodoxen Parteien betrifft: Seit der Staatsgründung hatten sie eine
relativ gemäßigte Linie in der Frage des israelisch-arabischen-palästinensischen Konflikts unterstützt;
sie haben sich auch von der radikalen religiös-nationalistischen Siedlerbewegung distanziert.“22
Mit der Machtübernahme des Likud Ende der 70er-Jahre wurden die Orthodoxen im politischen Leben Israels zu einer bestimmenden Macht. Seit der Neugründung des Staates 1948 versuchen die
Orthodoxen, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Dazu wurden verschiedene Parteien gegründet, die im Weiteren etwas näher erklärt werden.23
19
Idalovichi, S. 107-108.
Vgl. Idalovichi, S. 109.
21
Idalovichi, S. 110.
22
Ingber, S. 13.
23
Vgl. Leitner, S. 46 f.
20
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2.2.2
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Die Entstehung der Misrachi-Bewegung
Um politische Einflussnahme zu ermöglichen und damit einer Verweltlichung des Zionismus leichter
entgegensteuern zu können, schlossen sich die religiösen Parteien in Osteuropa der Zionistischen
Bewegung an und gründeten 1902 die Misrachi-Bewegung („geistiges Zentrum“).24 Sie traten für ein
Land Israel in Übereinstimmung mit der Thora Israels ein.
„Die Arbeit der Misrachi-Bewegung basierte von Anfang an auf drei grundlegenden Prinzipien: Erstens, dass die Erlösung Israels allmählich durch die Besiedelung des Landes fortschreite und dass alleiniges Warten auf den Messias nicht ausreiche; zweitens, dass die Erlösung dem ganzen jüdischen
Volk gelte, also jeder einzelne daran arbeiten müsse, dieses Ziel zu erreichen. Die religiösen Kräfte
sollen zu diesem Zweck mit den säkularen Kräften innerhalb der zionistischen Bewegung kooperieren;
drittens, dass jeder Jude eine Pflicht gegenüber Israel und der Thora habe und somit jeder sich darum
bemühen müsse, dem Ideal der Thora näher zu kommen.“25
Vielen Anhängern der Misrachi-Bewegung gingen diese Grundsätze, die eine Zusammenarbeit mit
den säkularen Zionisten forderten, zu weit. Ehemalige Mitglieder der Misrachi-Bewegung schlossen
sich mit anderen orthodoxen Juden außerhalb der Zionistischen Weltorganisation zum „Bund Israels“
(Agudat Israel) zusammen.
2.2.3
Agudat Israel
„1911 aber hatten die Mizrachi-Delegierten den Zehnten Zionistenkongress in Basel unter Protest
verlassen, nachdem der Kongress sich geweigert hatte, ihre Religionsschulen in Palästina in gleicher
Höhe zu finanzieren wie säkulare Schulen. Da sie nun mit der Hauptströmung des Zionismus, die sich
offensichtlich einem radikalen Säkularismus verschrieben hatte, nicht mehr zusammenarbeiten konnten, entschlossen sie sich, mit Agudat Israel, die bald ihre Zweigstellen in Ost- und in Westeuropa
hatte, ihr Glück zu versuchen.“26
Damit war eine ultra-religiöse Partei geboren, die sich in ihrer antizionistischen Orientierung gegen
alle Einflüsse richtete, die im Gegensatz zur Thora und der jüdischen Gesetzgebung (Halacha) stehen.
Ihre Glaubensvorstellung verbot es ihnen, einen weltlichen jüdischen Staat anzustreben. Trotzdem
leistete die Partei durch die Organisation der Einwanderung von orthodoxen Juden in Palästina zur
späteren Staatsgründung ihren Beitrag.
„Der Eintritt von Agudat Israel in das politische System des Staates änderte aber ihre grundsätzliche
anti-zionistische Ideologie nicht. Diese Haltung wurde zu verschiedenen Zeit mit gewalttätigen oder
militanten Mitteln zum Ausdruck gebracht, öfter aber blieb sie eine prinzipielle ideologische Position,
die in der politischen Sphäre geäußert wurde. …
24
Vgl. Maul, S. 29.
Maul, S. 46.
26
Armstrong, Karen (2000): Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam, München (Siedler Verlag), S. 272.
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Von der Seite der Ultra-Orthodoxen wurde der Holocaust sogar als schlagendes Argument gegen den
Zionismus benützt. Mehrere haredi Rabbiner beschuldigten die zionistische Bewegung, durch ihren
Ungehorsam Gott gegenüber – d.h. durch die Beschleunigung der Rückkehr – und wegen ihrer Säkularisierungsbemühungen, die Katastrophe als Strafe Gottes für das jüdische Volk herbeigeführt zu haben.“27
Innerhalb der Misrachi-Bewegung und auch in der Agudat Israel trennten sich jeweils ein linker Flügel
von der Mutterpartei (Agudat) bzw. der Weltorganisation (Misrachi) ab. Die bereits erwähnten Neturei Karta („Wächter der Stadt“) gingen ebenfalls aus der Spaltung innerhalb der Agudat Israel hervor.
Ihnen geht die Opposition der Agudat Israel gegenüber der säkularen zionistischen Bewegung noch
nicht weit genug.
„Agudat Israel leistet allen Einflüssen Widerstand, die gegen die Bestimmungen der Thora und der
Halacha gerichtet sind, was unter anderem den Zionismus (und somit auch den Staat Israel), sowie
auch den täglichen Gebrauch der hebräischen Sprache beinhaltet. Ihrer Vorstellung nach kann eine
nationale Erlösung nur durch einen Akt der Reue und Demut gegenüber Gott erreicht werden, was die
wortwörtliche Befolgung aller in der Thora verankerten religiösen Gebote und Weisungen beinhaltet.
Obwohl ihre Glaubensvorstellung ihnen verbietet, einen weltlichen jüdischen Staat anzustreben, fand
sich die Agudat unter dem Eindruck des Holocaust dazu bereit mit den zionistischen Organisationen
zusammenzuarbeiten. … Seitdem versucht die Agudat Israel einen höchstmöglichen Einfluss auf die
religiöse Ausrichtung des zionistischen Staates auszuüben. Erster Erfolg dieses Versuchs einer Einflussnahme war der mit den zionistischen Gründervätern des späteren israelischen Staates ausgehandelte ‚Status quo’, welcher der Gestaltung des jüdischen Charakters des zionistischen Staates dienen
sollte.“28
Inhalt dieses „Status quo“-Vertragswerkes waren religionspolitische Zugeständnisse der Säkularen
gegenüber den Religiösen, wodurch mit deren Hilfe für eine Kooperation mit der politischen Elite des
noch nicht gegründeten Staates Israel geworben werden sollte. Dazu gehörte die Zusicherung, dass
der Sabbat als nationaler Ruhetag eingerichtete wurde, oder auch etwa die Zusage, dass die Ehe- und
Scheidungsjurisdiktion den rabbinischen Gerichten auf Basis der Halacha vorbehalten sei. Zudem
wurden später noch weitere Zugeständnisse von staatlicher Seite erreicht, etwa die Mitfinanzierung
religiöser Institutionen.29
Um den politischen Einfluss noch zu verstärken, schlossen sie sich mit verschiedenen anderen religiösen Parteien (Poale Agudat Israel, Misrachi und Hapoel ha Misrachi) bei den Wahlen zur 1. Knesset zu
einer gemeinsamen Wahlliste, der „Vereinigten Religiösen Front“, zusammen. Durch die spätere
Auflösung dieser Vereinigung und die Bildung anderer religiöser Parteien blieb der Einfluss der Agudat Israel bis 1981 relativ gering. Sie konnten in Wahlen nie mehr als vier Parlamentssitze erringen.
27
Ingber, S. 10.
Maul, S. 47.
29
Vgl. Maul, S. 32.
28
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Trotzdem erlaubten es die politischen Bedingungen in Israel, dass die Partei teilweise für die Koalitionsbildungen entscheidend war und sozusagen das „Zünglein an der Waage“ spielte. 1977 wurde die
Partei erstmals an der Regierung beteiligt, was ihr einige wichtige religionspolitische Zugeständnisse
brachte.
In den folgenden Jahren gab die Agudat aber ihre Distanz zu den zionistischen Institutionen immer
weiter auf. Aus dem Kampf gegen den zionistischen Staat wurde im Rahmen der politischen Möglichkeiten mehr und mehr ein Kampf um den Staat Israel auf religionsgesetzlicher Basis, was sich auch in
der folgenden Parteispaltung zeigte.
Im Jahre 1983 trennten sich die sephardischen Anhänger der Agudat und gründeten eine neue Partei,
die „Schass“-Partei, was den Einfluss der Agudat auf nur zwei Parlamentssitze verringerte.
„[Es] wird traditionell zwischen europäisch-amerikanischen Juden, den Aschkenasim oder dem ‚ersten
Israel’, und den orientalischen Juden, also Einwanderern aus arabischen und asiatischen Ländern,
auch Sephardim oder das ‚zweite Israel’ genannt, … unterschieden.“30
Nur vier Jahre später stand bereits die nächste Parteispaltung an: Der Flügel der Mitnagdim31 gründete die religiös extremistische „Degel ha-Torah“.
„Grund der Trennung war eine weit ins 18. Jahrhundert reichende erbitterte Gegnerschaft zwischen
den ‚rationalreligiösen’ Mitnagdim, die das Gesetz und das Thora-Studium betonen und ihren eher
‚populistisch-religiösen’, ebenso ‚mystisch-irrationalen’ wie ‚lebensfrohen’ chassidischen Glaubensbrüdern, die mehr Wert auf das mystische Gebet und die emotionale Erfahrung legen.“32
Bei den Wahlen zum 14. Knesset erhielt das Wahlbündnis zwischen der Agudat Israel und Degel haTorah erneut vier Knesset-Sitze und war an der Regierung Netanjahus beteiligt. In der vom LikudBlock angeführten Koalition nahm das Wahlbündnis in Bezug auf die Außen- und Sicherheitspolitik
eine eher gemäßigte Position ein. Auch an der Regierung von Barak waren sie bis 1999 beteiligt, sendeten allerdings keinen Minister in die Regierung, „um nicht mit ‚Ungläubigen’ an einem Tisch sitzen
zu müssen“33.
30
Meyer, S. 12.
In Osteuropa entstandene jüdisch-orthodoxe Gemeinschaft, die aus ideologischen Gründen in Opposition zur chassidischen Bewegung
steht.
32
Maul, S. 48.
33
Maul, S. 49.
31
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2.2.4
Dr. Franz Kernic
Die Schass-Partei
Die Schass-Partei spaltete sich Anfang der 80er-Jahre von der Agudat Israel ab und ist vorwiegend
eine sephardische Partei, die enger mit dem Likud als mit der Agudat zusammenarbeitet. Sie nimmt
für sich in Anspruch, die rabbinische Tradition des Judentums zu vertreten34. Innerhalb der orthodoxen Parteien ist Schass vor allem als Protestpartei gegen die Vorherrschaft der ashkenasischen Juden
zu sehen. Innenpolitisch pragmatisch und in religiösen Fragen klar definiert, war Schass lange Zeit
gegenüber dem Nahost-Friedensprozess grundlegend gemäßigt eingestellt. Die Befürwortung von
Siedlungsaktivitäten in den besetzten Gebieten im Wahlkampf 1999 ließen aber auch in dieser Frage
erstmals einen Umschwung innerhalb der Partei erkennen.
Die Partei gilt aufgrund ihrer fundamentalistischen Verbindung von Staat und Religion als eine der
extremistischsten religiösen Parteien in Israel. Das eigentliche Ziel ist die Schaffung eines theokratischen Staates nach dem Vorbild der Halacha, der jüdischen Gesetzgebung.35
Die Partei beteiligte sich an der Regierung unter Yitzhak Rabin, verließ diese Koalition mit der Arbeitspartei aber im Jahre 1993 nach innerparteilichen Korruptions-Vorwürfen. Bei den Wahlen 1996
entschied man sich für eine Koalition mit dem Likud-Block und unterstützte damit den Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Auch an der aktuellen Koalition unter Ministerpräsident Ehud Olmert ist
die Partei beteiligt.
2.2.5
Sonstige orthodoxe Parteien
Daneben existieren noch einige kleinere orthodoxe Parteien, wie z.B. die Degel ha-Torah oder die
Edah Haredith.
Die ashkenasische Partei Degel ha-Torah spaltete sich – wie bereits erwähnt – 1987 nach inneren
Konflikten von der Agudat Israel ab. Wenige Jahre später gingen diese Parteien jedoch – trotz ihres
anfangs erbitterten Kampfes – wieder ein gemeinsames Wahlbündnis ein. Die Partei ist streng antizionistisch und lehnt daher den säkularen Charakter des israelischen Staates grundsätzlich ab, gilt
aber im Friedensprozess als eher gemäßigt und kompromissbereit.
Die Edah Haredith umfasst drei sektenähnliche Gemeinschaften: Die Neturei Karta, die bereits angesprochen wurde, die Toldot Aharon und die Gefolgsleute des Chassidischen Rabbi von Satmar. Die
Zahl der radikalen Mitglieder dieser Gemeinschaften soll sich ungefähr auf 150 bis 200 Familienoberhäupter in Israel belaufen. Da sich ihre Mitglieder aber nicht politisch beteiligen, haben sie keinen
34
35
Vgl. Leitner, S. 48.
Vgl. Maul, S. 50.
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direkten Einfluss auf den Friedensprozess im Nahen Osten. Die Mitglieder der Neturei Karta wohnen
meist isoliert im Jerusalemer Stadtteil Mea Shearim, lehnen die Benutzung der hebräischen Sprache
im alltäglichen Leben ab, beteiligen sich nicht am Staatsleben und boykottieren sowohl lokale als
auch nationale Wahlen. Nach ihrer Ideologie kann nur Gott alleine die Erlösung für das jüdische Volk
bringen, alles menschliche Zutun halten sie für Ketzerei. Ihr Antizionismus ging sogar soweit, dass sie
mit der PLO zusammenarbeiteten:
„Höhepunkt dieser bis heute bestehenden Zusammenarbeit war 1994 die Ernennung des Rabbiners
Moshe Hirsch, dem Führer der Neturei Karta, zum Minister für jüdische Angelegenheiten im Parlament der Palästinensischen Autonomiebehörde durch Yassir Arafat.“36
Nachfolgend werden noch die übrigen fundamentalistischen Strömungen außerhalb des orthodoxen
Judentums kurz dargestellt, um die orthodoxen Parteien in einen „Gesamt-Kontext“ einordnen zu
können.
2.3
Messianismus
2.3.1
Ideologische Grundeinstellung
„Eine weitere Form des jüdischen Fundamentalismus ist der mystische Fundamentalismus, der das
messianische Ideal als praktischen Imperativ verwendet. Er basiert auf der mittelalterlichen Mystik,
‚Kabala’ (Überlieferung), und floss später mit dem nationalen Zionismus zusammen.“37
Nach den Vorkommnissen des 17. Jahrhunderts wurden jegliche messianische Strömungen unterdrückt. Das Aufkommen der zionistischen Bewegung, die Gründung des Staates Israel und der Krieg
1967 gelten innerhalb des Messianismus als „Anfang der Erlösung“, als erste „Schritte des Messias“38. Nach den Anhängern dieser Bewegung können sie selbst aktiv dazu beitragen, dass die Erscheinung des Messias beschleunigt wird. Nach dem langen Leiden, dem Holocaust und den Kriegen
in Israel soll der Messias nun wiederkehren. Das jüdische Volk hat mit der Gründung des eigenen
Staates den ersten aktiven Schritt gemacht, um die Ankunft des Messias vorzubereiten. Der Messianismus ist kein reines religiöses Phänomen, sondern hat auch Anhänger in säkularen Kreisen und ist
eng mit „Erez Israel“ verbunden. Ziel ist es, die biblischen Grenzen des israelischen Staates wiederherzustellen. Dies ist der wichtigste Grundsatz auf dem Weg zur Erlösung und zur Vorbereitung auf
das Kommen des Messias – natürlich im völligen Widerspruch zu den Lehren der Orthodoxie.
36
Maul, S. 56.
Idalovichi, S. 110.
38
Vgl. Idalovichi, S. 110.
37
Martin Gächter
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„Passivität, wie sie von den Orthodoxen gelehrt wird, ist im Messianismus negativ belastet und wird
meist mit dem Diasporajudentum in Verbindung gebracht.“39
Sie begründen ihre Haltung mit der Stellung der Juden als „auserwähltes Volk“ und spielen damit im
Nahost-Konflikt eine besonders radikale Rolle. Der wichtigste Begründer des Messianismus war Rabbi
Abraham Isaac Hacohen Kuk, der erste Oberrabiner Palästinas. Sein Sohn wurde später zum Führer
der „Gush Emunim“ (Gemeinschaft der Erez Israel Getreuen) ernannt, die im Folgenden noch weiter
beleuchtet wird.
2.3.2
Gush Emunim und die Techija-Partei
Es würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen und wohl auch deren Schwerpunkt verfehlen, wenn an dieser Stelle genauer auf die jüdische Siedlervereinigung Gush Emunim und die ihr nahe
stehende Partei Techija eingegangen würde. Trotzdem sollen die wichtigsten Grundsätze der Vollständigkeit halber nachfolgend kurz skizziert werden.
Die Gush Emunim („Block der Getreuen“) tritt für den Ausbau jüdischer Siedlungen auf arabischem
Gebiet ein. Die Mitglieder der 1974 gegründeten Bewegung sind großteils europäischer oder amerikanischer Herkunft und folgen den messianischen Lehren von Kuk. Im Zentrum aller Ziele steht die
Errichtung eines auf der Thora basierenden Königreichs, das ganz Israel (nach den biblischen Grenzen) umfasst40.
„Vor diesem Hintergrund verstehen sich die Mitglieder des Gush Emunim als legitime Stellvertreter für
die gesamte zionistische Bewegung und das jüdische Volk und kämpfen in diesem Namen für Land.“41
Aufregung erweckten die Mitglieder der Bewegung beispielsweise beim Abzug von Israel von der
Halbinsel Sinai, als sich einige Anhänger von Gush Emunim lange Zeit weigerten, das Land zu verlassen.
„Gegenüber den orthodoxen Bewegungen wenden sich diese messianischen Fundamentalisten nicht
gegen moderne Errungenschaften, sondern wissen diese gezielt in ihrem Kampf einzusetzen. … Das
größte Anliegen messianischer Fundamentalisten ist also ein Staat Israel in den biblischen Grenzen,
um dort ungestört religiösen Pflichten und dem Studium der Thora nachgehen zu können. Doch zuallererst muss der biblische Urzustand wieder hergestellt werden, wozu unter Umständen auch Gewalt
angewendet werden darf.“42
39
Leitner, S. 54.
Vgl. Leitner, S. 59.
41
Leitner, S. 60.
42
Leitner, S. 62.
40
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Politisch sind die Anhänger der messianischen Lehre vor allem in der Techija-Partei organisiert, die
1981 von ehemaligen Likud-Anhängern, Siedlerpionieren und Gush-Emunim-Aktivisten gegründet
wurde. Die Partei konzentriert sich in ihren politischen Zielen fast ausschließlich auf die Besiedlung
des Westjordanlands und des Gazastreifens. Das nationalistische überwiegt dabei eindeutig das religiöse Element innerhalb der Partei. Aus Protest der aus ihrer Sicht zu nachgiebigen Haltung der Regierung im Bereich der Siedlungspolitik drohte die Partei 1988 sogar mit der Ausrufung eines eigenen
Staates „Judäa“ im Westjordanland43.
2.4
Chauvinismus44
Der jüdische Chauvinismus ist ein extrem ausgeprägter nationaler Fundamentalismus, der auf religiöse Überlieferungen zurückgreift und diese ideologisiert45. Gemäß den Anhängern dieser Bewegung
hat das Judentum keinen Universalanspruch als Moralphilosophie, sondern wird in einer geschlossenen und fanatischen Form auf Erez Israel beschränkt. Die Bibel wird wörtlich genommen: Da Israel
das auserwählte Volk ist, hat es verschiedene Privilegien, die andere Völker nicht besitzen. Nichtjuden sollen gesetzlich weniger Rechte haben, da allein der jüdische Glaube in Israel herrschen soll. Die
Macht der Halacha gilt als oberste Instanz, es ist ein fundamentaler Totalitarismus, der eine extrem
fanatische Form angenommen hat. 46
„In Erez Israel sollen nur Gläubige, die notwendigerweise Juden sind, leben, und alle Nichtgläubigen
sollen mit Macht und Zwang entweder ‚überzeugt’ oder mit finanzieller Entschädigung aus dem Land
vertrieben werden. Der islamische Fundamentalismus trägt mit seinen extremen Ideen nicht zuletzt
dazu bei, dieser extremen Form des jüdischen Fundamentalismus mehr und mehr Zustimmung zu
verschaffen.“47
Alle anderen Völker und Nationen werden von den jüdischen Chauvinisten als minderwertig angesehen und deren Religionen als Götzenanbetung abgetan.
Ein bedeutender Vordenker dieser Strömung war Rabbi Meir Kahane, der 1968 in New York die „Jewish Defense League“ gründete, deren ursprüngliches Ziel es war, jüdische Wohngebiete vor Antisemitismus und Kriminalität zu schützen. Ab 1971 wurde er auch in Israel aktiv und forderte, dass die
Araber das „heilige Gebiet“ verlassen müssten. Er war sogar bereit, diese auch gegen ihren Willen zu
deportieren. Durch diese kompromisslose Haltung konnte er besonders im Siedlermilieu zahlreiche
Anhänger sammeln, die sich in der „Kach“-Bewegung zusammenschlossen. Als die Partei 1988 vom
obersten Gerichtshof wegen ihrer rechtsextremistischen Haltung sogar von den Knesset-Wahlen
43
Vgl. Leitner, S. 57.
Chauvinismus = extreme Parteilichkeit für die eigene Gruppe, vor allem dann, wenn mit der Parteilichkeit Schädigungsabsicht und Hass
gegenüber einer rivalisierenden Gruppe verbunden ist. [http://de.wikipedia.org/wiki/Chauvinismus].
45
Vgl. Leitner, S 63.
46
Vgl. Idalovichi, S. 114 f.
47
Idalovichi, S. 116.
44
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ausgeschlossen wurde, forderte die Bewegung sogar die Vernichtung der Demokratie – die Bewegung stellte sich also teilweise auch gegen die jüdische Bevölkerung.
Nach dem Tod des Rabbi wurde die Kach von seinem Sohn Benjamin unter dem Namen „Kahane
Chai“ weitergeführt. Wie den Anhängern der Orthodoxie und des Messianismus ist auch den Chauvinisten das oberste Ziel ein rein jüdischer Staat Israel.48
3
Fazit und Ausblick
Allen verschiedenen Richtungen des jüdischen Fundamentalismus ist die religiöse oder nationale
Intoleranz gemein. Die Anhänger der jeweiligen Strömungen glauben sich im Alleinbesitz der Wahrheit und fühlen sich in gewisser Weise verpflichtet, andere von ihrer Sichtweise zu überzeugen. Ihr
oberstes Bestreben liegt darin, ein Israel innerhalb der biblischen Grenzen bzw. einen jüdischen Religionsstaat zu schaffen. Die unterschiedlichen Traditionen des Judentums werden dabei in mehrfacher Weise instrumentalisiert, um dem eigenen Handeln Legitimität zu verschaffen. In kaum einem
anderen Staat – sieht man von einigen fundamentalistischen islamischen Staaten ab – spielt die Religion innerhalb der Politik eine derart große Rolle. Jede Strömung hat durch ihre jeweilige Partei, sei
es die Agudat Israel, die Techija oder die Kach, eine Stimme im israelischen Parlament und damit
einen starken Einfluss auf die politischen Geschehnisse des Landes. Auch außerparlamentarische
Organisationen, wie z.B. die Gush Emunim, üben starken Einfluss auf das Alltagsleben aus, da ihr
etwa 25% der jüdischen Siedler im Westjordanland angehören und sie dort einen Großteil der öffentlichen Posten innehaben.
Die Orthodoxen bilden von den beschriebenen Gruppierungen zahlenmäßig die größte Gruppe. Hier
muss allerdings betont werden, dass die Anhänger zwar ein auf die Thora fixiertes Leben führen,
viele von ihnen aber nichts mit der Politik Israels zu tun haben. Viele ultra-orthodoxen Juden verweigern dem zionistischen Staat ja sogar ihre Anerkennung. Wenn man die orthodoxen Juden als eine
fundamentalistische Strömung bezeichnen möchte, so bezieht sich dies primär auf ihren Glauben,
wohingegen sich Bewegungen wie Gush Emunim oder Kach erst aufgrund politischer Interessen im
Zusammenhang mit dem Staat Israel gebildet haben49. Obwohl auch hier ein Großteil der Mitglieder
mehr oder weniger religiös ist, geht es hier vielmehr um die Verwirklichung politischer Ziele. Die Religion wird hier in erster Linie zur Legitimation des eigenen Handelns „missbraucht“.
48
49
Vgl. Leitner, S. 64 f.
Vgl. Leitner, S. 69 f.
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Bis heute ist die Einflussnahme der fundamentalistischen Strömungen auf die israelische Politik nur
schwer durchschaubar. Durch die zahlreichen Abspaltungen innerhalb der verschiedenen Parteien ist
die Parteienlandschaft in Israel sehr zersplittert. Der jüngste Grund für die Trennung von Ariel Scharon vom Likud-Block war der Streit um den einseitigen Abzug aus dem Gaza-Streifen, den viele Parteikollegen im Likud nicht guthießen. Trotz seiner gesundheitlichen Probleme gewann seine neu gegründete Partei Kadima die Parlamentswahlen und sein Stellvertreter Ehud Olmert wurde neuer Ministerpräsident. Er führt eine Koalition zwischen Kadima, der Arbeitspartei, der Schass-Partei und der
Pensionisten-Partei an50. Durch den heurigen Libanon-Krieg wurde der Welt ein weiteres Mal eindrücklich vor Augen geführt, wie explosiv die Situation im Nahen Osten weiterhin ist.
Obwohl eine Lösung des Konfliktes derzeit immer noch nicht sichtbar ist, führt der Weg zu einer Beruhigung ganz gewiss nur über ein tieferes Verständnis der verschiedenen fundamentalistischen
Strömungen innerhalb der Judentums, die die Politik Israels nach wie vor maßgeblich beeinflussen.
50
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Israel#Parteien_und_politische_Organisationen.
Martin Gächter
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Literaturliste
Armstrong, Karen (2000): Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und
Islam, München (Siedler Verlag).
Bodenheimer, Aron Ronald (1996): Rabins Tod. Ein Essay, Zürich (Chronos Verlag).
Idalovichi, Israel (1989): Der jüdische Fundamentalismus in Israel, in: Meyer, Thomas (Hg.): Fundamentalismus in der modernen Welt. Die Internationale der Unvernunft, Frankfurt am Main
(Edition Suhrkamp), S. 101-120.
Ingber, Michael (2005): Fundamentalismus in Judentum und in der jüdischen Gesellschaft im
Staat
Israel,
Vortrag
vom
21.
November
2005,
http://wirtges.univie.ac.at/Fuchs/materialien/RV_Fundamentalismus/Ingber.pdf [abgerufen am
18.10.2006].
Leitner, Christina (1999): Jüdischer Fundamentalismus, Diplomarbeit am Institut für Politikwissenschaft, Universität Innsbruck.
Marty, Marin E. und Appleby, Scott (1996): Herausforderung Fundamentalismus – Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne, Frankfurt am Main (Campus Verlag).
Maul, Stephan (2000): Israel auf Friedenskurs? Politischer und religiöser Fundamentalismus in
Israel. Wirkungen auf den Friedensprozeß im Nahen Osten, Interdisziplinäre Studien zu Politik
und Religion (PuR), Band 1, Münster-Hamburg-Londen (LIT Verlag).
Meyer, Bertold (2001): Aus der Traum? Das Scheitern des Nahost-Friedensprozesses und seine
innenpolitischen
Hintergründe,
HSFK-Report
2/2001,
http://www.learn-
line.nrw.de/angebote/umweltgesundheit/medio/global/HSFK_mat/rep0201.pdf [abgerufen am
15.10.2006]
Martin Gächter
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