Nonverbale Reittherapie?! Ich bin sprachlos!?

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Ergotherapie allgemein Nonverbale Reittherapie?! Ich bin sprachlos!?
Pferdgestützte Interventionen in der Arbeit mit Klienten,
die sich nicht verbal äußern können oder wollen
Nora Ringhof
1. Einführung
Ob in der Arbeit mit sogenannten
verhaltenskreativen, herausfordernden Kindern, Menschen mit geistiger
oder körperlicher Behinderung, mit
Autismus-Spektrum-Störung, Aphasie, neurologischen oder psychischen
Erkrankungen: Das Setting am Pferd
bietet eine Vielfalt an Kommunikations- und Wahrnehmungswegen, um
in einen echten Dialog zu kommen.
Dies vermittle ich bereits seit einigen
Jahren u. a. in Form von Seminaren für
Fachkräfte verschiedener Berufsgruppen aus der Praxis für die Praxis. Hierbei stehen weniger die wissenschaftlichen Fakten als vielmehr die sich aus
der entwicklungsbegleitenden Grundhaltung ergebenden Dialog-Chancen
für Klient und Therapieprozess im
Vordergrund.
In der reittherapeutischen Praxis nutzen wir die Ressourcen des Pferdes,
um Menschen wortlos und nachhaltig
in ihrer Entwicklung zu unterstützen.
Anhand von Fallbeispielen aus der
Praxis dokumentiere ich nachfolgend
die intensive Auseinandersetzung der
Klienten mit sich und einem anderen
Lebewesen sowie die sinnlich-subtile
Kontaktebene unter Einbezug der Beziehungskomponente zum Therapeuten.
2. Klienten
Herr Müller ist 34 Jahre alt und aufgrund eines Unfalls vor drei Jahren
schwerst-mehrfach behindert. Er kann
nicht sehen und besitzt nur ein Resthörvermögen. Aufgrund eines inkom-
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pletten Querschnitts kann er lediglich
seine Hände unter großer Anstrengung
anheben und seinen Kopf frei bewegen.
Phantomschmerzen rauben ihm Schlaf
und Kräfte. Was Herr Müller kognitiv
erfassen kann, ist unklar. Seine Eltern
haben sich bereits intensiv mit pferdgestützter Intervention beschäftigt und
stellen ihn vor. Weil sie erlebt haben,
dass sich sein Gesichtsausdruck etwas
entspannt, wenn sein Hund auf seinen
Schoß springt, erhoffen sie sich ein
besseres Verständnis für „das gefangene Innenleben“ ihres Sohnes und
für ihn die Möglichkeit, sich partiell
zu spüren bzw. wahrgenommen zu
fühlen. Herr M. besucht seit kurzem
eine Tagesförderstätte. Das Therapiesetting ist so gestaltet, dass sein Bezugsbetreuer ihn von der Einrichtung
zum Hof fährt, wo wir gemeinsam mit
ihm und den Eltern am Pferd arbeiten
(Abb. 1).
Frau Meier ist 86 Jahre alt und dement. Vor zwei Jahren ist ihr Ehemann,
der sie bis dato auf einem Aussiedlerhof pflegte, plötzlich und unerwartet
verstorben. Es gibt keine näheren Angehörigen. Sie lebt seitdem in einer
Altenresidenz, verhält sich apathisch
und spricht oder lautiert nicht. Eine
ehrenamtliche ältere Dame aus der
Kirchengemeinde begleitet sie zum
Pferd.
Anton ist 30 Monate alt und besucht
gemeinsam mit seiner Mutter wöchentlich die Frühförderung am Pferd.
Bereits pränatal erlitt er eine Hirnblutung, es folgten diverse Operationen
und monatelange Krankenhausaufenthalte. Sichtbar sind spastische Lähmungen der Extremitäten, eine geringe
Kopf- und Blickkontrolle. Diagnosti-
Abb.1: Haflingerstute Tara steht entspannt am
Hof und lässt sich aus dem Rollstuhl heraus
betasten und beriechen. Dieser Dialog ist
für den blinden Rollstuhlfahrer von großer
Bedeutung und auch das Tier genießt dieses
„Gespräch“ sichtlich. Durch den Führstrick
kann der Klient die Situation besser kontrollieren, kann sich den Kopf sanft herbeiholen,
spart zudem Kräfte in den Armen.
ziert sind Entwicklungsverzögerungen
sowie eine kognitive Behinderung.
Anton brabbelt und lautiert, ohne jedoch gezielt Töne einzusetzen, um sich
mitzuteilen. Er schreit und weint nach
Aussage der Mutter in Situationen, die
ihn überfordern, anstrengen oder auch
freuen und Spaß machen.
Mit Schicksalen und Ausgangssituationen dieser Art sind wir in der Reittherapie und in anderen professionellen Kontexten konfrontiert. Die Frage,
ob sich jemand verbal nicht mitteilen
kann oder will, oder ob es für ihn in
seinem Alltag überhaupt Sinn macht,
bleibt oft ungeklärt. Sicher ist: Der
Mensch braucht Kommunikation, in
welcher Art und Weise sie auch ablaufen mag. Ein Dialog auf nonverbaler
Ebene ist immer dann möglich, wenn
sich das Umfeld darauf einlässt. Dies
bedeutet im Kontakt mit Klienten oder
Patienten, dass fruchtbare Begegnungen da entstehen, wo sich jemand
wahrgenommen fühlt und spürt, dass
er angenommen wird und seine kleinsten Regungen empfangen werden. Es
ist möglich, dass Klienten/Patienten
schweigen, die Fähigkeit oder Motivation zu Sprechen verlieren oder
nicht besitzen, aber wir sollten nie
vergessen, dass sie mit allen anderen
körperlichen Ausdrucksebenen überaus präsent sind.
Was also ist Kommunikation?
3. Definition von
Kommunikation
„Wir können nicht nicht kommunizieren. Kommunikation findet immer
statt, wo Menschen als soziale Wesen
zusammen sind. Unser Körper verrät
uns.“ (Watzlawick 1974, S. 53)
Ergotherapie allgemein
Als Kommunikation im Sinne von
Verständigung bezeichnen wir hier
die Übertragung von Informationen
via verschiedenster Kanäle von einem
Lebewesen (Mensch und/oder Tier) zu
einem anderen (vgl. Abb. 2).
Die verbale Kommunikation (Lautsprache) beschreibt ausschließlich
die gesprochene Informationsübertragung. Wissenschaftler gehen davon
aus, dass lediglich ein winziger Prozentsatz der zwischenmenschlichen
Kommunikation auf rein sprachlicher
Ebene abläuft.
Unterstützte Kommunikation (UK)
umfasst sonderpädagogische und therapeutische Förderangebote zur Erweiterung von Kommunikation und
Verständigung von Menschen mit Beeinträchtigung in der Lautsprache. Sie
beinhaltet den Einsatz von Handzeichen, Piktogrammen, Bild- oder Symbolkarten, Kommunikationstafeln,
technischen Hilfsmitteln wie symboloder schriftsprachorientierten Computern etc. (Abb. 3). „UK hat das Ziel,
die Mitbestimmung des Betroffenen
zu verbessern und seine kommunikativen Fähigkeiten zu erweitern.“ (van
der Stam 2014)
Abb. 2: Kontaktaufnahme über taktile, thermale, olfaktorische und auditive Kanäle: Das Kind
spürt das weiche Fell, die borstige Mähne, Muskeltonus, Körperwärme und Atmung des Pferdes,
während es das Schnauben und Kauen hören und den pferdspezifischen Körpergeruch und Schweiß
riechen kann.
Abb. 3: „Drehscheibe“ zur emotionalen Befindlichkeit: im Einsatz in der Schule und beim
therapeutischen Reiten für eine autistische
Schülerin
Nonverbale oder averbale Kommunikation ist jegliche außersprachliche,
nicht linguistische Kommunikation.
Der Begriff bezeichnet „alle Formen
der persönlichen Kommunikation
(…), die sich nicht auf eine symbolische (vor allem sprachliche) Informationsübertragung stützen. Im Zusammenhang mit der Sprache wird
nonverbale Kommunikation auch als
„analoge Kommunikation” bezeichnet.“ (Gabler Wirtschaftslexikon) Sie
unterstreicht, ergänzt oder ersetzt im
alltäglichen Miteinander die verbale
Kommunikation und regelt zwischenmenschliche Beziehungen. Nonverbale Kommunikation kann bewusst (z. B.
in Form von Zeichen oder Gebärden)
und unbewusst (durch Gestik, Mimik,
Körperspannung, Ausschüttung von
Hormonen, Adrenalin etc.) stattfinden.
„Weitere Übertragungswege sind nonverbale auditive Signale (vokale und
musikalische Signale), taktile Signale
(Wahrnehmung von Berührungen),
olfaktorische Signale (Gerüche), gustatorische Signale (Geschmack) und
thermale Signale (z. B. Körperwärme,
Raumtemperatur).“ (Gabler Wirtschaftslexikon) Sie übermittelt feinste
Nuancen unseres Gegenübers, verhilft
uns zu einem besseren Verständnis davon, was ihn innerlich bewegt.
Pferde reagieren sehr stark auf diese
unbewusste oder natürliche Kommunikation. Das gesprochene Wort
macht für sie nur eingeschränkt Sinn.
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Ergotherapie allgemein So sind sie darin geschult, kleinste
Regungen zu erkennen und zu deuten.
„Als Flucht- und Beutetiere müssen
sie kleinste Hinweise auf Gefahren
in der Natur rechtzeitig erkennen und
in Handlungsabfolgen umsetzen. Dadurch nehmen sie auch minimale Hinweise bei den Menschen wahr, mit denen sie konfrontiert sind, und reagieren unmittelbar darauf.“ (Konir 2012,
S. 21) In diesem Wahrnehmungs- und
Reaktionsvermögen ist das Lebewesen Pferd im Laufe der Evolution also
zum Experten geworden. Überspitzt
gesagt: Wer feine Signale zu spät erkennt oder Adrenalin verspätet „erriecht“, wird mit großer Wahrscheinlichkeit gefressen. Gleichzeitig ist das
Leben in einem hochdifferenzierten
Herdenverband mit ganz unterschiedlichen Pferden deutlich entspannter,
wenn man als Herdenmitglied sofort
auf ein Ohrzucken, Schweifschlagen
oder die Tonusveränderung des Gegenübers reagieren kann. Es liegt also
in der Natur des Pferdes, sich für andere Lebewesen (auch den Menschen)
zu interessieren und feinfühlig seine
Intention zu erspüren. Hierbei spielt
es keine Rolle, ob oder in welchen
Bereichen der Mensch in seiner Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt
ist. Das Tier verarbeitet feinsinnig die
Signale, die es empfängt, ohne sie zu
(be)werten.
„Das Pferd vereinigt in seinem Wesen
wie kaum ein anderes Tier Autonomie
und Unabhängigkeit ebenso wie soziale Bezogenheit und Bindung. (…)
So gibt es verschiedenartige Begegnungs- und Beziehungsformen zwischen Mensch und Pferd, die jeweils
sowohl dem Potenzial des Pferdes wie
auch der inneren Entwicklungsstufe
des Menschen entsprechen.“ (Mehlem
2005, S. 21; vgl. Abb. 4)
4. Der nonverbale
Bewegungsdialog
Der Bewegungsdialog, das Sich-Einlassen, Reagieren, Verschmelzen des
Reiters auf und mit den Bewegungen
des Pferderückens, stellt eine ganz besondere Form nonverbaler Kommunikation dar (Abb. 5).
Wenn der Klient auf dem warmen
Pferderücken sitzt und mit dem eigenen Körper auf die Schwingungsimpulse reagiert, entsteht nach Urmoneit
(2013) ein erstes sensomotorisches
Wechselspiel, das die Fähigkeit, Dialoge zu gestalten, anbahnt. „Klüwer
(2005) knüpft an die nonverbale Beziehungsgestaltung zwischen den
Abb. 4: Das Kind erlebt sich aktiv, dialoggestaltend und Umwelt verändernd. Ponystute Fatima
zeigt sich zugewandt und lässt sich gerne füttern.
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Abb. 5: Die dreidimensionalen Schwingungsimpulse des Pferdes vermitteln dem
Kind körpernahe, tragende und antwortende
Bewegungserfahrungen. Sie dienen zum einen
der Ausbildung des Körperschemas, zum
anderen bieten sie nonverbale beziehungs- und
dialoggestaltende Elemente.
Eltern und ihrem Kind an, wenn er
dem Pferd eine haltende, tragende,
körpernahe, antwortende und somit
nonverbal dialoggestaltende Funktion
zuschreibt.“ (Urmoneit 2013, S. 133)
 Fallbeispiel Tim:
Tim ist 4 Jahre alt. Er kommt bereits
zum dritten Mal mit seiner Mutter zur
Intensivtherapie (über jeweils 2 bis
3 Wochen, für jeweils zwei Therapieeinheiten pro Tag). Aufgrund einer
Kindesentführung im Lebensalter von
3 Jahren und damit einhergehender
Traumatisierung, u. a. durch Missbrauchserfahrung, hat er seine Lautsprache eingestellt. Der Junge nutzt
weniger als 15 Handzeichen, Gestik
und Mimik sind nicht altersgerecht
und häufig nicht der Situation angemessen.
Der kleine Tim signalisierte mir bereits in der zweiten Therapieeinheit
über seine Blicke, dass er nun „auf“
die zottelige Ponystute Fatima möchte.
Während ich ihn anhob, war deutlich
zu erspüren, dass sein „Handlungsplan“ einen Sitz mit Blick Richtung
Ergotherapie allgemein
den Grund kommen. Man
vermutete zunächst einen
Trick oder Betrug seitens
des Besitzers. Schließlich
löste aber ein Student das
Rätsel: Hans konnte zwar
nicht rechnen, aber Mimik
und Körpersprache seines
Gegenübers hochsensibel
deuten. Unbewusst veränderten die Aufgabensteller
vor dem „entscheidenden Hufklopfer“ minimal
Tonus, Mimik und/oder
Abb. 6: Rückwärts liegend auf dem Rücken des 38 Jahre
alten Ponys Fatima
Atmung und soufflierten
Hans so durch unbewusste
Hinterteil des Tieres beinhaltete. Ohne nonverbale Kommunikation die richDecke, einfach rückwärts auf dem war- tige Antwort.
men Pferderücken sitzend, kuschelte Ebenso wie Hans erfassen Pferde intuer sich sofort, erst in Fötus-, dann in itiv die kleinsten Signale ihres DialogGebetsstellung, später auf dem Bauch partners und reagieren direkt und echt
liegend, an das Tier (Abb. 6). Die darauf. Für die Therapeuten ist dies besichtlich verblüffte und gerührte Mut- sonders wertvoll, da ein eingespieltes
ter durfte ihre Hand auf Tims Rücken Therapeut-Therapiepferd-Team diese
legen und erspüren, wie sich Pferd und Signale im Sinne des Klienten nutzen
Kind aufeinander einstimmten. Der und auswerten kann (vgl. Abb. 7).
Atemrhythmus veränderte sich sicht- Das Pferd kann eine Transmitterfunkbar. In späteren Einheiten begann er tion einnehmen, spiegelt etwa Ängste
nach diesem „Ankommen und Modu- und Unsicherheiten bzw. macht Emolieren“ erst tiefer zu atmen, dann zu tionen seines Gegenübers sichtbar.
hauchen und leise zu summen und zu Es reagiert authentisch und direkt.
brummen – den eigenen und den Pfer- Gleichzeitig bietet es sich mit seiner
dekörper als Klang- und Schallkörper körperlichen Präsenz und der imagierkundend und erspürend. Ein tief be- nativen Bedeutung und Symbolik, die
wegendes Erlebnis für die Mutter.
es für sein Gegenüber haben kann,
durchaus als interessanter „Gesprächspartner“ für Klienten an. Dieses nonverbale Verhalten auf beiden Seiten
5. Das Pferd als Transmitter
wirkt immens auf die soziale Wahrim Dialog
nehmungsfähigkeit des Menschen.
Um auch den „Nicht-Pferdemenschen“ „Die gemeinsame Sprache zwischen
die hochdifferenzierte und sensible Mensch und Tier bewegt sich offenbar
Kommunikationsebene des sozialen auf dieser archaischen Ebene, die auch
Wesens Pferd zu verdeutlichen, bietet zwischen Menschen verschiedener
sich das bekannte Beispiel des „Klu- Kulturen, zwischen Mutter und ihrem
gen Hans“ an:
Säugling und zwischen sehr vertrauten
Dieser Traber (geb. etwa 1895) galt Personen – ohne Worte – verstanden
als tierisches Genie, da er mathemati- wird.“ (Konir 2012, S. 26) Das Pferd
sche Aufgaben scheinbar eigenständig holt sein Gegenüber subtil dort ab, wo
lösen konnte und das Ergebnis durch es in seinen KommunikationsmöglichKlopfen des Vorderhufs oder Kopf- keiten steht – und dies in jeglichen und
nicken preisgab. Selbst eine wissen- winzigsten Nuancen (Abb. 8).
schaftliche Fachkommission konnte Die Erfahrung in der pferdegestützdem Phänomen damals nicht auf ten Therapie hat gezeigt, dass sich
Abb. 7: Das Therapiepferd Rocky wendet
sich der Klientin zu. Über Auge, Ohr, Nase,
Tastsinn orientiert er sich in diesem Kontakt,
nimmt Emotionen der jungen Frau, aber auch
Körperspannung, Atmung und weitere feinste
Nuancen auf nonverbaler Ebene wahr.
Abb. 8: Tiefes Vertrauen, Kommunikation, die
keiner Sprache bedarf: Für den Klienten und
Fjord-Wallach Tom spielen Sprach- und Körperbehinderung während dieses „Gesprächs“
keine Rolle.
Menschen viel eher „erkannt“ und
angenommen fühlen. Die Motivation
zur Weiterführung oder dem Ausbau
dieser „Gespräche“ auf nonverbaler
Ebene steigt deutlich.
6. Die Bedeutung der Triade
„Klient-Pferd-Therapeut“
Die Triade „Klient-Pferd-Therapeut“
(siehe Abb. 9 a, S. 202) bildet einen
erweiterten Kommunikations- und
Handlungsspielraum.
Im Kommunikations- oder Beziehungsdreieck ergeben sich nach Urmoneit zwei Ebenen: zum einen die
basale Ebene der nonverbalen Kommunikation, auf der das Pferd ausschließlich und der Therapeut in dem
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Ergotherapie allgemein Maße agiert, wie es der nicht sprechende Klient einfordert,
und zum anderen die verbale Ebene, die sich vorrangig auf
die Kommunikation zwischen Therapeut und Klient bezieht.
Durch das Pferd als dritten Dialogpartner entzerrt sich die
bekannte Zweiersituation, in der es für den Klienten durchaus sehr anstrengend sein kann, ständig auf den Therapeuten zu reagieren und dieser klassischen Therapiesituation
ausgeliefert zu sein. Gleichzeitig kann der Klient sich viel
weniger Freiraum und eigenen Handlungsspielraum erobern, sieht er sich nur dem Therapeuten gegenüber. Erst
die Triade ermöglicht es dem Klienten, den Raum im Therapieprozess einzufordern, den er braucht, und überdies
gleichzeitig den Dialogpartner zu wählen oder gar zu wechseln bzw. beide Partner mit einzubeziehen (Abb. 10). Der
Therapeut kann sich intensiv auf den Klienten einlassen,
ohne dass dieser sich, wie vielleicht in Zweier-Settings, bedrängt oder „therapiert“ fühlt. Gleichzeitig kann und muss
sich der Therapeut, wenn es der Therapieprozess erfordert,
vermehrt zurücknehmen (siehe hierzu Abb. 9 b). Er kann
die Kommunikation und nonverbale Signale auf diese Weise besser beobachten, als wenn er direkt im engen Geschehen mit einbezogen wäre. Über das Pferd als dritten Dialogpartner werden wichtige, sensible Informationen über den
Klienten transparent.
Pferd
Klient
Therapeut
Abb. 9 a: Dialogtriade Klient-Pferd-Therapeut: Kommunikation
findet zwischen allen Beteiligten statt.
Pferd
Klient
Therapeut
Abb. 9 b: Dialogschwerpunkt zwischen Pferd und Klient, der
Therapeut kann sich beobachtend zurücknehmen, bleibt für den
Therapieprozess aber jederzeit präsent.
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Abb. 10: Freiräume in der Therapie durch Klientzentriertheit: Der Klient
wird durch den Therapeuten begleitet und „eingerahmt“, Kommunikationsebene, -kanal und „Gesprächspartner“ kann und soll er aktiv wählen.
Offensichtlich genießt Haflingerstute Tara diesen nonverbalen Dialog
ebenfalls.
7. Fallbeispiel Kadir
Kadir ist 10 Jahre alt und mit Trisomie 21 geboren. In der
Klasse seiner Schule mit Förderschwerpunkt Ganzheitliche
Entwicklung fällt er aufgrund seines herausfordernden Verhaltens und hysterischen Schreiens auf. Die Adoptivmutter, Frau Schröder, stellt ihn in der Reittherapie vor, weil
sie gehört hat, dass sich der Kontakt zum Pferd positiv auf
seine (ihrer Meinung nach nicht vorhandene verbale) Kommunikation auswirke. Kadir sei Autist, nutze lediglich wenige Laute und Geräusche. Das Erlernen und Anwenden der
Gebärdensprache verweigere er, obwohl man ihm durchaus
die Fähigkeit hierzu zutraue. Er wolle wohl einfach nicht
„sprechen“, sei aber häufig gefrustet, weil ihn niemand verstehe und es oft zu Missverständnissen komme. Insbesondere dann raste er aus, habe andere Schüler schon heftig
verletzt und sich z. B. in so einem „Anfall“ die Fäuste am
Putz des Schulflurs blutig geschlagen. Seit einigen Monaten
nutze man zu Hause und in der Schule sogenannte Emotionskärtchen mit Smileys, mit denen Kadir sein Befinden
ausdrücke. Inwiefern sich die Definition der einzelnen Karten mit denen der Lehrer decke, könne man nicht sagen.
Als ich Kadir persönlich kennen lerne, erlebe ich in der
ersten Therapieeinheit einen aufgeschlossenen, fröhlichen
Jungen, der sich für ganz viele spannende Gegenstände (wie
Schubkarre, Traktor, Longen, Anbindeösen, Hofkatzen) genauso interessiert wie für die Pferde. Er springt von einem
Tier zum anderen, bringt Heu und freut sich darüber, wie
der gefräßige dicke Fjordwallach Tom sich alles einverleibt.
Wir sind in gutem Kontakt und Kadir macht mir über Blicke und Deuten mit dem Zeigefinger souverän klar, wenn
er mich braucht. Bald möchte er in den Paddock, in dessen
Eingangsbereich Rocky, ein junger Quarter-Mix-Wallach
gerade döst. Um in den hinteren Bereich zu gelangen, muss
Kadir entweder dicht an dem Tier vorbei oder es von dort
entfernen (lassen). Dies nimmt er sofort wahr, überlegt und
verharrt unentschlossen am Gatter. Die Mutter, die noch bei
Tom steht, kommentiert sofort: „Er greift an seine Hosentasche (Hier befinden sich die Emotionskarten). Frau Ringhof,
er will da durch, helfen sie ihm. Er hat sicher Angst.“ Rocky
steht weiterhin entspannt am Tor, wendet Kadir freundlich
Ohren und Blick zu. Die Haltung des Jungen ist unsicher,
unentschlossen. Weder ich als Therapeutin noch das Pferd
nehmen Angst auf nonverbaler Ebene wahr.
„Das Pferd spiegelt den dominant bedeutsamen Ausdruck
einer zwiespältigen und verschleiernden Mitteilung des
Menschen. Dadurch werden Bewußtwerdung, innere Klärung und Verhaltensänderung möglich.“ (Bareiss 1995,
S. 12) Ich signalisiere der Mutter, dass ich sie gehört habe,
aber (noch) keinen Handlungsbedarf sehe. Als ich zu ihr
blicke, sehe ich aber, dass Tom die übergeordnete Angst der
Mutter spürt. Er ist unruhig, hält den Kopf erhoben und entzieht sich ihrem Streicheln durch Zurückweichen (Sie bewegt die Hand in hoher Frequenz und mit kurzen Strichen
auch gegen die Fellrichtung). Blitzschnell „flitzt“ Kadir in
diesem Moment gebückt unter Rockys Hals hindurch in den
Paddock. Hinter dem Pferd angekommen lautiert und hüpft
der Junge ähnlich eines Indianertanzes.
Es fällt mir schwer einzustufen, was Kadir damit ausdrücken möchte. Freude? Stolz? Wut? Ich verlasse mich auf
meine Erfahrung und darauf, dass Rocky auf feinste Angstsignale reagieren würde. Die Mutter ruft: „Sehen Sie! Er hat
Panik!“ Rocky dagegen dreht interessiert und verdutzt den
Kopf, bleibt aber entspannt. Ich komme ebenfalls in den
Paddock, um ggf. eingreifen zu können, aber Kadir flitzt
erneut unter dem Hals des Pferdes durch und läuft nach vorne. Nun also wieder in Ausgangsposition streckt der Junge
(dem Tier oder der Situation?) die Zunge raus, greift sich
Heu und füttert Tom weiter. Frau Schröder zückt Kadirs
Smartboard, welches er zur Unterstützten Kommunikation
in der Schule nutzen kann (Abb. 11), und bittet Kadir, mir
zu zeigen, wie er sich gefühlt habe. Er zeigt auf einen Smiley mit aufgerissenem Mund und beiden Händen an den
Ohren. „Sehen Sie, Angst!“, kommentiert die Mutter. Ich
bin mir an dieser Stelle nicht so sicher und versichere der
Pflegemutter, diese Informationen in meine weitere Therapieplanung einzubeziehen.
Ergotherapie allgemein
Abb. 11: Via Smartboard kann der Klient sich mitteilen, indem er beispielsweise verschiedene Symbole abruft.
Die zweite Therapieeinheit verläuft zu Beginn ähnlich wie
die erste. Die Mutter berichtet, dass Kadir sich die ganze
Woche sehr auf die Pferde gefreut habe und bereits während des Parkens aus dem Auto gesprungen sei, um in den
Stall zu laufen. In der Tat füttert der Junge erst Tom, bevor
er sich wie in der vergangenen Woche an Rocky durch den
Gatter-Engpass drückt. Dies wiederholt er mehrmals. Die
Mutter wird immer verzweifelter und ich sehe Handlungsund Gesprächsbedarf, da sie mit dieser Situation nur schwer
umgehen kann (Tom übrigens auch. Er reagiert mit Übersprungshandlungen wie Gähnen und Kopfkratzen auf die
Ängste und Unzufriedenheit der Pflegemutter).
Im gemeinsamen Gespräch ohne Kind besprechen wir, was
ich wahrnehme und wie meine Einschätzung der Situation
ist. Die Mutter schenkt mir Vertrauen, ist verblüfft, wie
stark die eigene Unsicherheit im Raum steht und lässt sich
auf eine zukünftige Beobachterrolle ein. Schließlich begibt
sich Kadir aus freien Stücken wiederholt in diese Nähe-Distanz-Situationen mit dem Pferd. Sie kann nachvollziehen,
dass dies für ihn eine Art Experiment darstellt, das er für
seine Entwicklung braucht.
In der dritten Einheit zieht mich Kadir zum Stall, in dem
Tara, unsere Haflingerstute, steht. Gemeinsam öffnen wir
die Tür. Kadir zeigt dieses Mal deutlich, dass er ein „mulmiges Gefühl“ hat, indem er sich sehr vorsichtig bewegt,
die Schultern hochzieht und in Sprungbereitschaft ist. Er
zieht die Stute am Halfter mit in die Reithalle, wo er sich
sichtlich entspannt. Offensichtlich verunsichert ihn die Enge, nicht jedoch das Tier. Als der Junge versucht, auf den
Pferderücken zu klettern, assistiere ich ihm. Strahlend sitzt
er auf dem blanken Pferderücken, erhöht und mit stolz
geschwellter Brust. Nun signalisiert er mir, die Stute am
Strick in die Box zu führen (in den Ort, der ihm eben noch
„nicht geheuer“ gewesen ist). Beim Eintreten hält er kurz
den Atem an. In der Box möchte er drehen und wieder hinaus reiten. Dies wiederholen wir mit immer längeren Phasen in der engen Box. Von seinem sicheren, erhöhten Posten
aus beherrscht Kadir die Situation, fühlt sich sichtlich stark
und geschützt, sodass er sich auf diese Herausforderung
praxis ergotherapie 4 2015
203
Ergotherapie allgemein einlassen kann – und will. Die Mutter
ruft mich nach dieser Stunde an, berichtet, dass sie ihren Sohn selten so
selbstständig und frei in seinen Entscheidungen und der Fähigkeit, Bedürfnisse zu formulieren, erlebt habe.
Sie fragt sich, ebenso wie ich mich bereits frage, ob die Smiley-Karten denn
für mehr Verunsicherung als Klärung
der Gefühlslage sorgen. Wir einigen
uns darauf, von nun an mit mir im Zusammenhang mit einer anderen Klientin bekannte Gefühls-Piktogramme zu
verwenden (vgl. Abb. 3).
Letztlich stellte sich, später auch in
Kooperation mit der Schule, heraus,
dass Kadir den „Angst-Smiley“ für
aufregende und neue Situationen genutzt hatte. Das Symbol für Wut und
Freude hatte für ihn ebenfalls eine
andere Bedeutung als für Lehrer und
Pflegemutter. So wurden Situationen
falsch verstanden, und es kam immer
wieder zu Überforderung, beispielsweise im engen Schulflur, vor der Kadir sich nicht schützen konnte.
8. Das Medium Pferd als ein
Weg aus der Sprachlosigkeit
Dieser Artikel gibt lediglich einen
kleinen Einblick in die Vielfalt pferdegestützter Intervention, um Menschen
in ihrer Kommunikationsfähigkeit zu
unterstützen. Über das Pferd beziehen wir als Fachkräfte im „Sinne“ des
Klienten verstärkt ein basales System
zur Dekodierung seiner und Erweiterung unserer nonverbalen Aussagen.
Das Auge liefert uns Informationen
über vegetative Symptome wie Pupillengröße oder Schwitzen, über
Mimik, Gestik und Körperspannung.
Der Tastsinn ermöglicht eine taktile
Kommunikation. Wir erfühlen z. B.
die Angespanntheit des Klienten oder
spüren am Händedruck die Tagesform.
Olfaktorisch entscheiden Menschen
und Tiere, ob sie „jemanden riechen
können“. Das Medium Pferd ermöglicht es uns, näher am Klienten und
seinen Empfindungen zu sein, ihn
204
praxis ergotherapie 4 2015
besser zu verstehen. Dies ist äußerst
bedeutsam für die Selbstbestimmung
und das Selbstvertrauen des Klienten.
Er erlebt sich nicht vorrangig als hilflos und abhängig, sondern hat Einfluss
darauf, wie und mit wem er Kontakt
hat. Er kann reagieren und sich somit auch kognitiv als präsent zeigen.
Und nicht zuletzt erlebt der Klient,
dass es sich lohnt, in Kommunikation
zu investieren, weil er Dialoge selbst
gestalten kann; eben auf seinem ganz
individuellen Weg.
Das Medium Pferd im Einsatz als CoTherapeut bietet somit gute Chancen
auf dem Weg aus der sogenannten
Sprachlosigkeit.
Information für die Leser:
Zum Zwecke eines besseren Leseflusses verwende ich ausschließlich
die männliche Form von Fachkraft,
Therapeut, Klient, Patient etc., beziehe mich aber auf alle Geschlechter.
Um die Privatsphäre meiner Klienten zu wahren, sind alle Namen
geändert. Die dem Artikel beigefügten Bilder stellen Szenen aus
meiner reittherapeutischen Arbeit
dar, jedoch nicht die in Fallbeispielen beschriebenen Personen.
nonverbale Kommunikation, online im
Internet: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/
Archiv/81302/nonverbale-kommunikationv7.html
Urmoneit, I. (2013): Pferdegestützte
systemische Pädagogik. München: Ernst
Reinhardt Verlag.
Van der Stam, S. (2014): Informationsblatt
zur Unterstützten Kommunikation an der
Hans-Zulliger-Schule, Grünstadt.
Watzlawick, P. (1974): Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien. S. 53. Bern: Hans Huber Verlag.
Über die Autorin:
Nora Ringhof ist seit 2002 selbstständig als Leitung des eigenen
Therapiehofes mit multiprofessionellem Therapeuten-/Pädagogenteam. Darüber hinaus arbeitet sie
als Lehrtherapeutin, Dozentin und
Supervisorin bei mehreren Weiterbildungsträgern, u. a. der Arbeitsgemeinschaft Reiten und Therapie
e. V. und dem Institut für pferdgestützte Therapie.
Die Autorin:
Literatur:
Bareiss, H. (1995): Die Modelle „Therapeutisches Reiten und Therapeutische
Mensch-Pferd-Interaktion“ als Spiegel gesellschaftlicher Polaritäten und Wandlungen.
Vortrag auf der internationalen Fachtagung
des DKThR in Haar.
Klüwer, C. (2005): Die spezifischen
Wirkungen des Pferdes in den Bereichen
des Therapeutischen Reitens. In: DKThR
(2005b) (Hrsg.), S. 5 – 11.
Konir, G. (2012): Pferdegestütztes Coaching: Menschliche Potenzialentwicklung
durch tierische Hilfe. Verlag Books on
Demand.
Mehlem, M. (2005): Psychotherapie mit
dem Pferd: Beiträge aus der Praxis, S. 21.
FN-Verlag.
Springer Gabler Verlag (Herausgeber):
Gabler Wirtschaftslexikon. Stichwort:
Nora Ringhof
Dipl.-Sozialpädagogin (FH),
Reittherapeutin (AGRT),
Supervisorin, Systemischer Coach
[email protected]
www.reittherapie-ringhof.de
Stichwörter:
ƒƒ
Reittherapie
ƒƒ
pferdgestützte Interventionen
ƒƒ
Sprachlosigkeit
ƒƒ
(nonverbale) Kommunikation
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