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Musikstunde mit Katharina Eickhoff
Dienstag, 3. September 2013
„Something’s comin’“ – Neue Broadway-Geschichten
Teil II: Len und Jerry
Indikativ
„Achter August schon! Die Tage fliegen nur so an uns vorbei“, schreibt
Leonard Bernstein im August 1957 an seine Frau Felicia. „Ich schlafe
nicht viel; ich arbeite jede, tatsächlich jede Sekunde, weil ich in dieser
Show gleich vier Jobs habe – komponieren, Texte schreiben,
orchestrieren, einstudieren. Es ist der reine Selbstmord, aber ich bin total
begeistert. Es könnte etwas Außergewöhnliches werden.“
Rote CD
T. 2
Something’s coming ausbl. 1’40
Bernstein, West Side Story, Original Broadway Cast
Larry Kert
Hallmark 709782
Diesen Song hat Leonard Bernstein zwei Tage vor der Uraufführung der
„West Side Story“ geschrieben, und damit seine männliche Hauptrolle
erst wirklich zum Mann gemacht – manchmal, das wusste jeder große
Broadway-Komponist, genügte ja ein einziges Lied, um einer Person ein
anderes Gesicht, einer Geschichte einen anderen Dreh zu geben. Und
oft wurde dieser eine Song dann erst kurz vor knapp geschrieben. Im
Fall von Tony, dem Romeo der West Side Story, war das Problem, dass
er für ein Mitglied einer Straßengang irgendwie ein bisschen zu lieb
rüberkam. „Wir haben“, so Bernstein an seine Frau, „einen neuen Song
für Tony geschrieben, einen echten Killer – er wird diesen Charakter
retten, ein drängelnder 2/4-Takt in guter alter Tradition, aber natürlich
gesprengt von mir mit ¾ und wasnichtalles...es gibt Tony die Eier, die er
braucht, um nicht bloß als euphorischer Träumer dazustehen.“
3
Rote CD
gleicher Take wie eben (T.2) ab 1’41
Something’s coming
Bernstein, West Side Story, Original Broadway Cast
Larry Kert
Hallmark 709782
2’30
Eigentlich hatten sich die Macher der West Side Story James Dean als
Darsteller des Tony erträumt – aber bevor man rausfand, ob Dean denn
wohl auch ein bisschen singen konnte, war der schon mit seinem
Porsche Spyder gen Himmel gefahren...also wurde es eben Larry Kert.
Die Geschichte der „West Side Story“ beginnt in New Yorks legendärer
Schauspielschule Actors Studio – und zwar wohlgemerkt nicht mit
Leonard Bernstein, sondern mit Jerome Robbins, der an der Entstehung
dieses Theaterwunders einen heute ganz zu Unrecht vergessenen
Löwenanteil hatte.
Jerome Robbins, eigentlich Jerome Rabinowitz, gehört zu den
herausragenden Persönlichkeiten, ohne die der Broadway nicht der
Broadway gewesen wäre, für seine Regiearbeiten und Choreografien,
zum Beispiel für Bernsteins „On the Town“, für „The King and I“ von
Rodgers und Hammerstein oder für den „Fiddler on the roof“ ist er mit
Tonys und Oscars nur so überschüttet worden, gleichzeitig hat er viel
klassisches Ballett gemacht, zum Beispiel beim New York City Ballet,
kurz, Jerome Robbins war nach Georges Balanchine d e r Choreograph
Amerikas im 20. Jahrhundert. Robbins ist nicht nur im gleichen Jahr wie
Leonard Bernstein geboren, er hatte auch eine ganz ähnliche Biografie:
Die Eltern Einwanderer, die sich von New Yorks East Side ins honette
New Jersey hochgearbeitet haben, er selbst hat seine ersten
Theaterversuche, genau wie Lenny, in jüdischen Sommerkolonien
unternommen.
Anfang der 40-er war er als Solotänzer beim American Ballet schon eine
kleine Berühmtheit, aber was Jerome Robbins eigentlich wollte, war,
selbst Regie zu führen und Choreographien zu entwickeln, und um darin
noch besser zu werden, hat er sich beim eben gerade von Lee
Strasberg, Elia Kazan und ein paar anderen gegründeten Actors Studio
in New York eingeschrieben, das dann ein paar Jahre später schon
Legendenstatus hatte. Mit Robbins zum ersten Jahrgang gehörten
diverse damals noch unbekannte Aspiranten mit Namen wie Marlon
Brando, Sidney Lumet, Karl Malden oder Montgomery Clift.
Mit Montgomery Clift, dem schönen, empfindsamen
Ausnahmeschauspieler, der später so elend zugrunde gegangen ist, mit
Clift hat Robbins dann eine Liebesbeziehung angefangen, und als Monty
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Clift mit der Rolle von Shakespeares Romeo kämpfte, hat er seinen
Freund Jerry gefragt, ob dem nicht vielleicht etwas einfiele, wie man
diesen Romeo ein bisschen zeitgemäßer machen könnte. Das „Method
acting“ beim Actors Studio bestand ja unter anderem darin, sich für die
Figuren ganz reale, erfühlbare Biografien und Umfelder auszudenken,
und Jerome Robbins erfand also mal eben für Romeo, bzw. Monty, eine
neue Geschichte:
Die spielte in der Gegenwart, den späten 40-er Jahren, und handelte von
zwei verfeindeten Gangs an New Yorks verrufener East Side, von denen
ein Junge und ein Mädchen sich gegen alle Regeln ineinander verlieben.
Es sollte sich, so Robbins’ Vorstellung, um eine Art Clash der ethnischen
Kulturen handeln, wie er damals täglich stattfand in den Slums von
Manhattan, auf der einen Seite italienischstämmige Katholiken, auf der
anderen jüdische Einwanderer. Das war die Storyline, die Robbins dann
so gut gefiel, dass er damit zu seinem alten Freund Bernstein ging, mit
dem er in den Kriegsjahren schon zwei Überraschungserfolge auf die
Bühne gestellt hatte, das Ballett „Fancy Free“, und das grandiose NewYork-Musical „On the Town“. Und wenn die beiden damals, im Jahr
1949, nicht irgendwann beschlossen hätten, sich erst mal zu vertagen
mit dem Plan, dann hätte das Stück den Titel „East Side Story“ gehabt,
und Tonys Liebeslied für Maria hätte womöglich so geklungen:
CD Mamaloshen
T. 7
Bernstein, West Side Story, Mayn Mirl
Mandy Patinkin
Nonesuch 7559-79508-2, LC 0286
2’30
Bernstein und Robbins planten also schon in den 40-er Jahren an der
Geschichte herum, aber aus „East Side Story“ wurde erst mal nichts.
Bernstein war in diesen Jahren dabei, seine Position als Dirigent und
Kronprinz von Dimitri Mitropoulos beim New York Philharmonic
auszubauen, Jerome Robbins tourte mit dem New York City Ballet, die
Jahre gingen ins Land, Lenny Bernstein dirigierte, komponierte andere
Musicals, Sinfonien, Filmmusik, heiratete und wurde Vater und
ansonsten immer berühmter.
Der Kritiker Virgil Thompson, Haare auf den Zähnen wie immer, hatte
schon 1946 geschrieben: „Leonard Bernstein könnte ein sehr erfreulicher
Dirigent sein, wenn er mal vergessen könnte, dass er bei Warner
Brothers als potentieller Filmstar gehandelt wird.“ Kurz gesagt, Bernstein
war everybody’s darling und hatte eigentlich überhaupt keine Zeit, als
Robbins sechs Jahre später ankam und doch noch mal einen Anlauf
machen wollte mit dieser Romeo-und-Julia-Geschichte. Lenny steckte,
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neben den Dirigenten-Auftritten, gerade knietief in seiner BroadwayOperette „Candide“, aber just das scheinbare Hindernis entpuppte sich
dann als glücklicher Umstand. Die Produktion von „Candide“ mit all den
unterschiedlichen Textern, die sich daran versuchten und wieder
hinschmissen, war für Bernstein nämlich dermaßen quälend, dass er
jede Lust daran verloren hatte und anfällig für Jerome Robbins’
Anfechtungen war, sich mit einem anderen Projekt abzulenken. Zumal
dieses Projekt Bernsteins Fantasie befeuert hat wie nichts sonst bis
dahin, weil es ja die Fusion von all den widersprüchlichen Begabungen
und Vorlieben war, die er in sich hatte. Und diesmal hatte er endlich
Brüder im Geiste gefunden, denn alle, die daran beteiligt waren, standen
mit einem Fuß mitten in der großen, ernsten Kunst: Robbins machte
klassisches Ballett, Bernstein komponierte und dirigierte Sinfonien,
Arthur Laurents, der das Buch schreiben würde, hatte schon mehrere
ernsthafte Theaterstücke verfasst. Und alles das, beschlossen sie jetzt,
wollten sie nicht verleugnen, sondern benutzen:
Es sollte mehr und moderner getanzt werden als in jeder
vorangegangenen Broadway-Show, die Musik sollte so sinfonisch und
opernhaft sein, wie Bernstein wollte, und das Buch so anspruchsvoll und
tragisch, wie eben nötig war. Und, und das war das Wichtigste, das alles
sollte brennend aktuell sein, das Thema, die Musik, die Texte ganz nah
an der gegenwärtigen Wirklichkeit. Dazu musste zuerst mal der
ethnische Konflikt aktualisiert werden: Juden und Katholiken und die
Lower East Side waren jetzt, sechs Jahre später, schon wieder kalter
Kaffee, die Kriege der New Yorker Gangs hatten sich inzwischen
nordwärts verlagert, und gerade waren alle Zeitungen voll von Berichten
über verfeindete Straßengangs an der Upper West Side, wo sich weiße
Einwanderer, Kinder von polnischen Arbeitern, mit jungen Latinos
Kämpfe bis aufs Messer lieferten, die immer öfter tödlich endeten.
Die Vehemenz dieser Konflikte, und die Wut, die diese verlorene
Generation im Bauch hatte, mussten irgendwie in eine explosive Mixtur
aus Tanz, Sprache, Gesang und Rhythmus verwandelt werden – die
Macher der „West Side Story“ –so hieß das Projekt jetzt – wollten, so der
Autor Arthur Laurents, nichts weniger als „das Unaussprechliche
ausdrücken“.
Und dazu muss in der West Side Story eben nicht immer gesungen und
gesprochen werden, manchmal genügt auch das Klicken eines
aufschnappenden Messers – Bernsteins extrem körperliche Musik
schlägt teilweise in ziemlich plastische Gewaltdarstellung um, man sitzt
allein schon beim Hören auf der äußersten Stuhlkante, weil das, was da
in der Musik passiert, auch ohne Szene so spannend ist:
6
Rote CD
T. 10
Bernstein, West Side Story, The Rumble
Original Broadway Cast
s.o.
2’50
Man hört es bei dieser Aufnahme mit den Sängern und Tänzern der
Original-Produktion: In den Kampfszenen zwischen den Jets – den
Kindern der weißen Osteuropäer – und den Sharks – den jungen PuertoRicanern - war wirklich Zunder.
Jerome Robbins hat das als Regisseur und Choreograph auch ganz
bewusst und sehr raffiniert geschürt – er hat während der Proben nicht
nur hinter der Bühne am schwarzen Brett die aktuellen Zeitungsberichte
ausgehängt über die neuesten Bandenkriege in Spanish Harlem und
Hell’s Kitchen, Robbins hat vor allem die Darsteller der rivalisierenden
Gangs auch hinter der Bühne streng getrennt gehalten und versucht, die
feindliche Stimmung anzufachen, indem er jeweils ungute Gerüchte über
die andere Truppe streute. Das war nicht besonders nett, aber effektiv –
eben Method Acting, wie es im Actors Studio unterrichtet wurde.
„Am Ende“, so Stephen Sondheim, „standen da zwei riesige
Persönlichkeiten auf der Bühne“.
„The rumble“ heißt diese Szene, und hier passieren, am Ende des ersten
Akts, die schicksalsentscheidenden Morde: Die Puertoricaner haben Riff,
den Anführer der Jets und besten Freund Tonys, erstochen, und Tony,
der eigentlich aus Liebe zu Maria den Kampf stoppen wollte, hat in
einem Anfall von Wut und Schmerz mit Riffs Messer Marias Bruder
Bernardo getötet.
Das war nun nicht gerade klassisches Wohlfühltheater, und sämtliche
Broadway-Kenner haben dem Produktionsteam damals einen
krachenden Misserfolg prophezeiht: Ein Stück, das schon im ersten Akt
mit zwei Leichen endet, das ständig von Gewalt, Rassismus und der
sozialen Depraviertheit hoffnungsloser Immigranten handelt, und bei
dem die Liebesgeschichte dann auch noch schlecht ausgeht und alle als
Verlierer dastehen – das war vielleicht was für Shakespeare-gestählte
Theatergänger in Europa, aber ganz sicher nichts für den Broadway.
Irgendwann auf halbem Weg kriegte denn auch die Produzentin kalte
Füße und sprang ab, und beinahe wäre alles wegen
Finanzierungsproblemen eingestampft worden – dann allerdings kam,
als Deus ex machina, der junge Produzent Harold Prince dazu, der
später noch mal mit Cabaret einen Wahnsinns-Erfolg einfahren würde.
Harold Prince hat sich von Bernstein und Sondheim die Songs
vorspielen lassen und war dermaßen begeistert, dass er alle
7
gutgemeinten Warnungen der Szenekenner überhörte und sofort Geld
einsammeln ging. Man kann sich das lebhaft vorstellen, wie die beiden
ihm ihr Prachtstück vorgesungen haben, Bernstein vielleicht als Anita,
Sondheim als Rosalia, das war schon mal ein Lacher, dazu der LatinTouch der Musik, der damals in den USA ja sowieso total angesagt war „Tempo di Huapango“ hat Bernstein drüber geschrieben, aber der
mexikanische Tanz ist bloß ein Vorwand für ihn, um ein paar typisch
bernsteinsche rhythmische Spielereien unterzubringen, Zweiertakte, die
Dreiertakten ins Wort fallen, Synkopen, die schon vorbeigehuscht sind,
bevor man sie so recht verstanden hat, und das alles verpackt in eine
selbstvergessene Lebenslust, die überhaupt nicht künstlich wirkt, obwohl
ein ganz „ernsthafter“ Komponist das geschrieben hat...
Rote CD
T. 6
Bernstein, West Side Story, America
Original Broadway Cast (Chita Rivera et al.)
s.o.
4’40
America – in der Original-Broadway-Besetzung, angeführt von Chita
Rivera. Bei der Produktion einer Musical Comedy gibt es meistens zwei
Sorten von Librettisten: Diejenigen, die das Buch schreiben, also den
Plot in ein fortlaufendes Stück umwandeln – das war im Fall der West
Side Story Arthur Laurents. Und diejenigen, die die Texte, also: die
„Lyrics“ zu den Songs verfassen – und die West Side Story Songtexte
stammen von Stephen Sondheim. Der war insofern ein Spezialfall unter
den Textern, als er nämlich eigentlich gar keiner war.
Sondheim, damals keine dreißig, unglaublich begabt, aber noch grün
hinter den Ohren, war ausgebildeter Komponist und wollte eigentlich
lieber selber Musicals schreiben – aber sein väterlicher Mentor Oscar
Hammerstein hat ihm dringend dazu geraten, diese Erfahrung mit diesen
Leuten, also mit Bernstein und Robbins, auf keinen Fall auszulassen.
Also hat Sondheim sich widerstrebend anwerben lassen – er hatte ja
recht, er passte eigentlich überhaupt nicht zu dem Projekt: er, ein Kind
der jüdischen New Yorker Upper Class, mit silbernem Löffel im Mund
geboren, oder, wie Lenny sagte „very Park Avenue“, sollte Songs über
Leute aus den schlimmsten sozialen Brennpunkten der Stadt schreiben,
von denen man ihn seine ganze behütete Kindheit und Jugend lang
sorgfältig ferngehalten hatte...“Ich hatte noch nie einen Puerto-Ricaner
kennengelernt!“, so Sondheim später.
Aber zwischen ihm und Bernstein hat es sofort gefunkt – die zwei haben
sich die meiste Zeit über blind verstanden, es half auch sehr, dass der
Texter in diesem Fall auch ein Musiker war, so musste man ihm weniger
8
erklären, und Sondheim konnte bei Bedarf auch sofort ans Klavier
wechseln und begleiten, außerdem waren beide süchtig nach Puzzles,
Wortspielereien und rhythmischem Getüftel. Bei den Texten gab es
allerdings immer wieder auch Diskussionsstoff: Bernstein hätte gern zu
seiner Musik der großen Gefühle auch die ganz große romantische
Rhetorik gehabt, zu der er ja sowieso immer neigte, Rilke, Hofmannsthal,
diese Sorte – das hat Sondheim ihm immer wieder mühsam ausgeredet.
Sondheim und auch Arthur Laurents war völlig klar, dass man hier
hauptsächlich Slang-Texte brauchte, und das war eine Herausforderung:
Den wirklichen Slang, der schon damals aus vielen „Shits“ und „Fucks“
bestand, konnte man in den Fünfziger Jahren natürlich unmöglich auf die
Bühne holen, außerdem ist Slang niemals zeitlos, sondern verändert
sich ständig, was im einen Jahr jeder benutzt, ist im nächsten altbacken
– es musste also etwas Zeitloses her, und es blieb Sondheim nichts
anderes übrig, als für die Jets und die Sharks einfach einen Street-Talk
zu erfinden. Ein Meisterstück, was das betrifft, ist der Spottsong für den
diensthabenden Polizeibeamten Krupke, eine Nummer, die in jeder
Hinsicht ein raffinierter Kunstgriff ist: Sie kommt im zweiten Akt in einem
Moment, wo man die gewalttätige Spannung und die Tragik der
Geschichte schon kaum mehr aushält, als kleines Geschenk an die
Zuschauer, eine komische Einlage, die den ernsten Hintergrund
trotzdem nicht verleugnet. Natürlich kommen die Jungs alle aus
sogenannten „Problemfamilien“, und offenbar gab es damals schon
sozialpädagogische Bestrebungen, dass man die armen Kinder allesamt
zur Psychoanalyse schicken müsste, dann würde schon alles gut
werden...Über dieses naive Gutmenschentum wird sich dann in Form
einer fingierten Gerichtsverhandlung deftig lustig gemacht: Man kann ja
nichts dafür, dass man kriminell ist, man hat halt die „social desease“ –
Die Mutter ein Junkie, der Vater ein Säufer, die Schwester trägt
Schnurrbart, der Bruder ist eine Transe, man selbst ein ungewolltes
Kind, zuwenig Liebe und zuviel Marihuana, kein Wunder, dass man auf
die Schiefe Bahn gerät, aber tief im Innern sind alle doch immer noch
gute Menschen...
Rote CD
T. 13
West Side Story, Gee, Officer Krupke!
Original Broadway Cast
s.o.
4’00
9
Die Original Broadway-Besetzung mit „Officer Krupke“, Stephen
Sondheims Meisterstück in Sachen Street-Talk.
Nun war der deprimierende Plot ja nicht das einzige Problem, das die
West Side Story hatte. Weil nur absolute Hochkaräter an der Sache
arbeiteten, war das, was da von den Darstellern verlangt wurde,
eigentlich gar nicht zu leisten – Leonard Bernstein hat das später mal in
einem Interview mit dem Rolling Stone zusammengefasst: „Wir hatten
ein wirklich heftiges Problem, das zu besetzen, denn die Charaktere
mussten nicht nur singen können, sondern auch tanzen und
schauspielen, und dazu mussten sie als Teenager glaubhaft sein.
Tatsächlich waren dann einige auch Teenager... Manche waren
wundervolle Sänger, konnten aber nicht tanzen, oder umgekehrt, und
wenn sie mal beides konnten, waren sie schlechte Schauspieler...“.
Diese partielle Schieflage hört man auch der Aufnahme an, die die
Originalbesetzung dann direkt nach der Premiere am Broadway
aufgenommen hat – Larry Kert, der erste Tony, war ein extrovertierter
Kalifornier, der offen zu seinem Schwulsein stand und deshalb ständig
mit Jerome Robbins zusammenrauschte, der ihn, obwohl selber
homosexuell, gern und ausgiebig als „Schwuchtel“ beschimpfte. Kert war
ein intensiver Darsteller und ein ordentlicher Sänger, aber ordentlich ist
für die Songs, die Bernstein für die West Side Story geschrieben hat,
vielleicht doch nicht genug. Noch problematischer lag die Sache mit
Carol Lawrence, der ersten Maria. Auch die hatte eine ganz gute
Musical-Stimme, sie hat nachher auch noch eine nette Karriere am
Broadway gehabt - aber wenn man sie so mit Bernsteins AdrenalinKanonen hört, wird schnell klar: Diese Musik war eigentlich zu groß für
sie. Der Kern des Problems lag dabei nicht bei den Musical-Sängern,
sondern bei Bernstein: er hat anfangs eine Oper aus dem Stoff machen
wollen, und in der gesamten Produktionszeit war es ewiger Streitpunkt
zwischen ihm und seinen Co-Autoren und Produzenten, dass er
gefälligst endlich aufhören solle, Oper zu machen. Er hat nicht aufgehört,
zum Glück, aber die großen Gefühlsmomente der West Side Story
können stimmlich eigentlich nur von Opernsängern wirklich ausgefüllt
werden – wie hier zum Beispiel von Marilyn Horne.
Blaue CD
T. 21
Bernstein, West Side Story, Somewhere
Marilyn Horne, Studioorchester, Leonard Bernstein
DG 457 199-2, LC 0173
2’40
10
...Mit Marilyn Horne – die hat dieses herzbrechend schöne
Sehnsuchtslied dann in jenem Querschnitt gesungen, den der
inzwischen sechsundsechzig Jahre alte Bernstein im Jahr 1984 für die
Deutsche Grammophon aufgenommen hat. Da singen Opernsänger,
aber obwohl sie natürlich von Lennie persönlich handverlesen sind,
macht einen diese Aufnahme dann eben auch nicht glücklich. Kiri Te
Kanawa hat wie immer eine ungemein kostbare Stimme, und Jose
Carreras einen schönen, feurigen Tenor – aber abgesehen davon, dass
hier nun plötzlich statt Maria der Tony mit spanischem Akzent singt, was
natürlich eigentlich gar nicht geht, sind die Stimmen nun wiederum zu
dick und unbeweglich, um die Personen dahinter glaubhaft zu machen.
Und wenn man dann wieder die alte Aufnahme aus den Fünfzigern mit
der Originalbesetzung dagegenhält, dann hat man das Gefühl, das alles
folgte damals doch einem sehr klugen Plan:
Ziel der ganzen Produktion war ja die größtmögliche Authentizität der
Charaktere, und wenn die Hauptrollen wie die Teenager klangen, die sie
ja auch sein sollten, unperfekt und unfertig, dann war das genau der
Sound, der die Geschichte glaubhaft machte. Immerhin findet ja eben
auch die Balkonszene nicht vor einem Renaissance-Palazzo statt,
sondern auf der Feuertreppe eines Hinterhauses im New Yorker Slum.
Die Musik allerdings, die Bernstein dafür geschrieben hat, ist Palast und
Samt und Seide und Nachtigall und Lerche auf einmal...
Rote CD
T. 5
Bernstein, West Side Story, Tonight
Original Broadway Cast
s.o.
4’00
Bevor das hier schließlich die Musik für die Balkonszene wurde, ist viel
diskutiert worden, damals vor der Uraufführung.
Ursprünglich wollten Bernstein und Sondheim für diese zentrale
Liebesszene „One hand, one heart“ einsetzen – das ist allerdings eine
der musikalisch schwächsten und steifsten Nummern im ganzen Stück,
und Arthur Laurents und Oscar Hammerstein, der immer mal wieder bei
den Proben vorbeischaute, haben das zum Glück erkannt und Bernstein
umgestimmt.
„Alles wird jeden Tag neu geschrieben“, seufzt Bernstein irgendwann
zwischendurch im Brief an seine Frau – aber er ist immer der erste, der
sich überzeugen lässt, dass etwas verändert werden muss.
Und scheut auch nicht vor pragmatischen Lösungen zurück. Zum
Beispiel war das Orchester des Uraufführungstheaters am Broadway,
des von der legendären Shubert-Familie betriebene Wintergarden
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Theatre, nicht das allerbeste – und ohne allgemein natürlich
unberechtigte Vorurteile zu befördern: Die Bratschen waren offenbar
dermaßen jämmerlich, dass zu Beginn der Proben große Verzweiflung
herrschte – die hat Bernstein dann sehr kreativ zerstreut. „Was würdet
Ihr Jungs davon halten, wenn wir die Bratschenshuberts einfach
loswürden?“ hat er in die Runde gefragt und kurzerhand sämtliche
Bratschen aus seinem Orchesterauszug gestrichen. Weil die ShubertBratschen so scheußlich spielten, gibt es also in der West Side Story
keinen Bratschen-Part! Aber bei solcher Musik fällt das ja auch nicht
weiter ins Gewicht.
Rote CD
T. 4
Bernstein, West Side Story, Maria
Larry Kert
s.o.
2’40
Der „Tryout“ – so nennt man den Probelauf vor der eigentlichen
Premiere, der für Broadway-Produktionen traditionell in einer anderen
Stadt angesetzt wird, der Tryout fand in Washington statt, und weil
Bernstein nun mal everybody’s darling war, saß die halbe Regierung im
Publikum: „Nixon und 35 Admirale kommen, da schau nur, was Du
verpasst“, schreibt Bernstein an seine Frau Felicia, die während der
Proben bei ihrer Mutter in Chile war.
Die Proben zur West Side Story waren für alle Beteiligten das
Intensivste, was sie bis dahin erlebt hatten.
Die Tänzer waren begeistert, dass sie diesmal so viel mehr durften als in
Reih und Glied die Beine werfen, ihre eigene Kreativität und ihr
schauspielerisches Talent waren gefragt, und so haben sie sich gern von
Jerome Robbins knechten lassen – er war tatsächlich die meiste Zeit
über ein echtes Scheusal, und wusste das auch ganz genau. „Ich weiß,
ich bin schwierig, ich weiß ich werde Eure Gefühle verletzen, aber so bin
ich nun mal“ – das war seine Begrüßungsrede zu Beginn der Proben,
und auf halbem Weg schreibt Bernstein an Felicia: „Jerry ist weiterhin,
nun ja, Jerry: launisch, fordernd, verletzend. Aber wahnsinnig talentiert.“
– Die ganz spezielle Beziehung zwischen Bernstein und Jerome Robbins
ist während dieser Proben ziemlich strapaziert worden, denn Robbins –
der übrigens vertraglich festhalten ließ, dass wo immer die West Side
Story aufgeführt wird, sein Name im Extrakasten erscheint, auch wenn er
gar nicht an der jeweiligen Produktion beteiligt war – Robbins hatte
überhaupt kein Problem damit, seine Vorstellungen und Vorlieben auf
Kosten aller anderen, meistens auf Kosten Bernsteins, durchzudrücken,
er verlangte Kürzungen, schmiss Stücke raus, die ihm nicht gefielen und
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hat sogar in die Komposition eingegriffen, wenn es ihm für die
Choreographie sinnvoll schien. Und Bernstein hat gekniffen – er hasste
Streit, und wenn Robbins mal wieder in seiner Partitur herumfuhrwerkte,
hat er meistens schweigend den Probenraum verlassen – man hat ihn
dann in der nächstliegenden Bar wieder eingesammelt, mehrere leere
Scotch-Gläser vor sich. Und doch war es eine ungeheuer elektrisierende
künstlerische Amour fou zwischen den beiden, aus der immer wieder die
unglaublichsten Funken schlugen, weil sie keine Angst hatten, sich nahe
zu kommen. „Ich erinnere alle meine Zusammenarbeiten mit Jerry als
greifbares Körpergefühl: Komponieren mit seinen Händen auf meinen
Schultern...Ich spüre, wie er hinter mir steht und sagt: Vier Beats mehr
hier“, oder „Nein, das ist zu viel“, oder „Ja, das ist es.“
Und genau so hat es auch Jerome Robbins nach Bernsteins Tod
beschrieben: „Die Art, wie wir uns gegenseitig befeuert haben, die Ideen
und die Chemie zwischen uns, da hieß es „Hey, ich denke ich kann das
so und so machen“, oder „Nein, schreib das nicht in Musik, wir machen
das besser als Dialog“, oder „Mach keinen Song da draus, ich kann das
besser mit Tanzen ausdrücken“ – dieser dauernde Flow zwischen uns
war irrsinnig aufregend.“
Und diesen Flow hat es in Sachen West Side Story auch mit Stephen
Sondheim gegeben, mit dem sich Bernstein auch immer wieder höchst
produktiv auseinandergesetzt hat. Letztlich haben sie die Texte zu den
Songs zusammen geschrieben, aber Sondheim hatte, Komponist, der er
war, genauso auch Einfluss auf die Musik gehabt – das war ja das
Erstaunliche und Einzigartige, ja, das Große an Bernstein: Dass er den
anderen zuhören, dass er Rat von ihnen annehmen und umsetzen
konnte.
Er war ein Teamplayer, und deshalb ist das Teamwork West Side Story
etwas so Besonderes geworden. Am Nachmittag der New Yorker
Premiere hat Stephen Sondheim Lenny auf einem Fresszettel eine
rührende Liebeserklärung unter der Tür durchgeschoben, da stand:
„West Side Story bedeutet so viel mehr für mich als dass es meine erste
Show ist, ja, mehr noch als das Privileg, mit Dir und Arthur und Jerry
zusammengearbeitet zu haben. Es markiert den Beginn einer hoffentlich
langen und starken Freundschaft. Freundschaft ist etwas, das ich selten
gebe und selten bekomme, aber was immer passiert, ich will, dass Du
weißt: Meine Freundschaft hast Du, für immer. Ich denke nicht, dass ich
Dir je gesagt habe, wie großartig ich die Musik finde, weil ich Dich lieber
mit den paar Stellen ärgere, die ich nicht mag, statt Dich zu preisen für
die vielen, die ich liebe. West Side Story, Leonard, ist ein großer Schritt
für Dich, für Jerry und Arthur und selbst für mich, und auf eine seltsame
Art bin ich stolz auf Dich...Möge es für das Theater und die Menschen,
die es sehen, genauso viel bedeuten, wie es für uns bedeutet hat.“
13
Rote CD
T. 15
Bernstein, West Side Story, Finale
Original Broadway Cast
2’00
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