__________________________________________________________________________ 2 Musikstunde mit Katharina Eickhoff Dienstag, 3. September 2013 „Something’s comin’“ – Neue Broadway-Geschichten Teil II: Len und Jerry Indikativ „Achter August schon! Die Tage fliegen nur so an uns vorbei“, schreibt Leonard Bernstein im August 1957 an seine Frau Felicia. „Ich schlafe nicht viel; ich arbeite jede, tatsächlich jede Sekunde, weil ich in dieser Show gleich vier Jobs habe – komponieren, Texte schreiben, orchestrieren, einstudieren. Es ist der reine Selbstmord, aber ich bin total begeistert. Es könnte etwas Außergewöhnliches werden.“ Rote CD T. 2 Something’s coming ausbl. 1’40 Bernstein, West Side Story, Original Broadway Cast Larry Kert Hallmark 709782 Diesen Song hat Leonard Bernstein zwei Tage vor der Uraufführung der „West Side Story“ geschrieben, und damit seine männliche Hauptrolle erst wirklich zum Mann gemacht – manchmal, das wusste jeder große Broadway-Komponist, genügte ja ein einziges Lied, um einer Person ein anderes Gesicht, einer Geschichte einen anderen Dreh zu geben. Und oft wurde dieser eine Song dann erst kurz vor knapp geschrieben. Im Fall von Tony, dem Romeo der West Side Story, war das Problem, dass er für ein Mitglied einer Straßengang irgendwie ein bisschen zu lieb rüberkam. „Wir haben“, so Bernstein an seine Frau, „einen neuen Song für Tony geschrieben, einen echten Killer – er wird diesen Charakter retten, ein drängelnder 2/4-Takt in guter alter Tradition, aber natürlich gesprengt von mir mit ¾ und wasnichtalles...es gibt Tony die Eier, die er braucht, um nicht bloß als euphorischer Träumer dazustehen.“ 3 Rote CD gleicher Take wie eben (T.2) ab 1’41 Something’s coming Bernstein, West Side Story, Original Broadway Cast Larry Kert Hallmark 709782 2’30 Eigentlich hatten sich die Macher der West Side Story James Dean als Darsteller des Tony erträumt – aber bevor man rausfand, ob Dean denn wohl auch ein bisschen singen konnte, war der schon mit seinem Porsche Spyder gen Himmel gefahren...also wurde es eben Larry Kert. Die Geschichte der „West Side Story“ beginnt in New Yorks legendärer Schauspielschule Actors Studio – und zwar wohlgemerkt nicht mit Leonard Bernstein, sondern mit Jerome Robbins, der an der Entstehung dieses Theaterwunders einen heute ganz zu Unrecht vergessenen Löwenanteil hatte. Jerome Robbins, eigentlich Jerome Rabinowitz, gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten, ohne die der Broadway nicht der Broadway gewesen wäre, für seine Regiearbeiten und Choreografien, zum Beispiel für Bernsteins „On the Town“, für „The King and I“ von Rodgers und Hammerstein oder für den „Fiddler on the roof“ ist er mit Tonys und Oscars nur so überschüttet worden, gleichzeitig hat er viel klassisches Ballett gemacht, zum Beispiel beim New York City Ballet, kurz, Jerome Robbins war nach Georges Balanchine d e r Choreograph Amerikas im 20. Jahrhundert. Robbins ist nicht nur im gleichen Jahr wie Leonard Bernstein geboren, er hatte auch eine ganz ähnliche Biografie: Die Eltern Einwanderer, die sich von New Yorks East Side ins honette New Jersey hochgearbeitet haben, er selbst hat seine ersten Theaterversuche, genau wie Lenny, in jüdischen Sommerkolonien unternommen. Anfang der 40-er war er als Solotänzer beim American Ballet schon eine kleine Berühmtheit, aber was Jerome Robbins eigentlich wollte, war, selbst Regie zu führen und Choreographien zu entwickeln, und um darin noch besser zu werden, hat er sich beim eben gerade von Lee Strasberg, Elia Kazan und ein paar anderen gegründeten Actors Studio in New York eingeschrieben, das dann ein paar Jahre später schon Legendenstatus hatte. Mit Robbins zum ersten Jahrgang gehörten diverse damals noch unbekannte Aspiranten mit Namen wie Marlon Brando, Sidney Lumet, Karl Malden oder Montgomery Clift. Mit Montgomery Clift, dem schönen, empfindsamen Ausnahmeschauspieler, der später so elend zugrunde gegangen ist, mit Clift hat Robbins dann eine Liebesbeziehung angefangen, und als Monty 4 Clift mit der Rolle von Shakespeares Romeo kämpfte, hat er seinen Freund Jerry gefragt, ob dem nicht vielleicht etwas einfiele, wie man diesen Romeo ein bisschen zeitgemäßer machen könnte. Das „Method acting“ beim Actors Studio bestand ja unter anderem darin, sich für die Figuren ganz reale, erfühlbare Biografien und Umfelder auszudenken, und Jerome Robbins erfand also mal eben für Romeo, bzw. Monty, eine neue Geschichte: Die spielte in der Gegenwart, den späten 40-er Jahren, und handelte von zwei verfeindeten Gangs an New Yorks verrufener East Side, von denen ein Junge und ein Mädchen sich gegen alle Regeln ineinander verlieben. Es sollte sich, so Robbins’ Vorstellung, um eine Art Clash der ethnischen Kulturen handeln, wie er damals täglich stattfand in den Slums von Manhattan, auf der einen Seite italienischstämmige Katholiken, auf der anderen jüdische Einwanderer. Das war die Storyline, die Robbins dann so gut gefiel, dass er damit zu seinem alten Freund Bernstein ging, mit dem er in den Kriegsjahren schon zwei Überraschungserfolge auf die Bühne gestellt hatte, das Ballett „Fancy Free“, und das grandiose NewYork-Musical „On the Town“. Und wenn die beiden damals, im Jahr 1949, nicht irgendwann beschlossen hätten, sich erst mal zu vertagen mit dem Plan, dann hätte das Stück den Titel „East Side Story“ gehabt, und Tonys Liebeslied für Maria hätte womöglich so geklungen: CD Mamaloshen T. 7 Bernstein, West Side Story, Mayn Mirl Mandy Patinkin Nonesuch 7559-79508-2, LC 0286 2’30 Bernstein und Robbins planten also schon in den 40-er Jahren an der Geschichte herum, aber aus „East Side Story“ wurde erst mal nichts. Bernstein war in diesen Jahren dabei, seine Position als Dirigent und Kronprinz von Dimitri Mitropoulos beim New York Philharmonic auszubauen, Jerome Robbins tourte mit dem New York City Ballet, die Jahre gingen ins Land, Lenny Bernstein dirigierte, komponierte andere Musicals, Sinfonien, Filmmusik, heiratete und wurde Vater und ansonsten immer berühmter. Der Kritiker Virgil Thompson, Haare auf den Zähnen wie immer, hatte schon 1946 geschrieben: „Leonard Bernstein könnte ein sehr erfreulicher Dirigent sein, wenn er mal vergessen könnte, dass er bei Warner Brothers als potentieller Filmstar gehandelt wird.“ Kurz gesagt, Bernstein war everybody’s darling und hatte eigentlich überhaupt keine Zeit, als Robbins sechs Jahre später ankam und doch noch mal einen Anlauf machen wollte mit dieser Romeo-und-Julia-Geschichte. Lenny steckte, 5 neben den Dirigenten-Auftritten, gerade knietief in seiner BroadwayOperette „Candide“, aber just das scheinbare Hindernis entpuppte sich dann als glücklicher Umstand. Die Produktion von „Candide“ mit all den unterschiedlichen Textern, die sich daran versuchten und wieder hinschmissen, war für Bernstein nämlich dermaßen quälend, dass er jede Lust daran verloren hatte und anfällig für Jerome Robbins’ Anfechtungen war, sich mit einem anderen Projekt abzulenken. Zumal dieses Projekt Bernsteins Fantasie befeuert hat wie nichts sonst bis dahin, weil es ja die Fusion von all den widersprüchlichen Begabungen und Vorlieben war, die er in sich hatte. Und diesmal hatte er endlich Brüder im Geiste gefunden, denn alle, die daran beteiligt waren, standen mit einem Fuß mitten in der großen, ernsten Kunst: Robbins machte klassisches Ballett, Bernstein komponierte und dirigierte Sinfonien, Arthur Laurents, der das Buch schreiben würde, hatte schon mehrere ernsthafte Theaterstücke verfasst. Und alles das, beschlossen sie jetzt, wollten sie nicht verleugnen, sondern benutzen: Es sollte mehr und moderner getanzt werden als in jeder vorangegangenen Broadway-Show, die Musik sollte so sinfonisch und opernhaft sein, wie Bernstein wollte, und das Buch so anspruchsvoll und tragisch, wie eben nötig war. Und, und das war das Wichtigste, das alles sollte brennend aktuell sein, das Thema, die Musik, die Texte ganz nah an der gegenwärtigen Wirklichkeit. Dazu musste zuerst mal der ethnische Konflikt aktualisiert werden: Juden und Katholiken und die Lower East Side waren jetzt, sechs Jahre später, schon wieder kalter Kaffee, die Kriege der New Yorker Gangs hatten sich inzwischen nordwärts verlagert, und gerade waren alle Zeitungen voll von Berichten über verfeindete Straßengangs an der Upper West Side, wo sich weiße Einwanderer, Kinder von polnischen Arbeitern, mit jungen Latinos Kämpfe bis aufs Messer lieferten, die immer öfter tödlich endeten. Die Vehemenz dieser Konflikte, und die Wut, die diese verlorene Generation im Bauch hatte, mussten irgendwie in eine explosive Mixtur aus Tanz, Sprache, Gesang und Rhythmus verwandelt werden – die Macher der „West Side Story“ –so hieß das Projekt jetzt – wollten, so der Autor Arthur Laurents, nichts weniger als „das Unaussprechliche ausdrücken“. Und dazu muss in der West Side Story eben nicht immer gesungen und gesprochen werden, manchmal genügt auch das Klicken eines aufschnappenden Messers – Bernsteins extrem körperliche Musik schlägt teilweise in ziemlich plastische Gewaltdarstellung um, man sitzt allein schon beim Hören auf der äußersten Stuhlkante, weil das, was da in der Musik passiert, auch ohne Szene so spannend ist: 6 Rote CD T. 10 Bernstein, West Side Story, The Rumble Original Broadway Cast s.o. 2’50 Man hört es bei dieser Aufnahme mit den Sängern und Tänzern der Original-Produktion: In den Kampfszenen zwischen den Jets – den Kindern der weißen Osteuropäer – und den Sharks – den jungen PuertoRicanern - war wirklich Zunder. Jerome Robbins hat das als Regisseur und Choreograph auch ganz bewusst und sehr raffiniert geschürt – er hat während der Proben nicht nur hinter der Bühne am schwarzen Brett die aktuellen Zeitungsberichte ausgehängt über die neuesten Bandenkriege in Spanish Harlem und Hell’s Kitchen, Robbins hat vor allem die Darsteller der rivalisierenden Gangs auch hinter der Bühne streng getrennt gehalten und versucht, die feindliche Stimmung anzufachen, indem er jeweils ungute Gerüchte über die andere Truppe streute. Das war nicht besonders nett, aber effektiv – eben Method Acting, wie es im Actors Studio unterrichtet wurde. „Am Ende“, so Stephen Sondheim, „standen da zwei riesige Persönlichkeiten auf der Bühne“. „The rumble“ heißt diese Szene, und hier passieren, am Ende des ersten Akts, die schicksalsentscheidenden Morde: Die Puertoricaner haben Riff, den Anführer der Jets und besten Freund Tonys, erstochen, und Tony, der eigentlich aus Liebe zu Maria den Kampf stoppen wollte, hat in einem Anfall von Wut und Schmerz mit Riffs Messer Marias Bruder Bernardo getötet. Das war nun nicht gerade klassisches Wohlfühltheater, und sämtliche Broadway-Kenner haben dem Produktionsteam damals einen krachenden Misserfolg prophezeiht: Ein Stück, das schon im ersten Akt mit zwei Leichen endet, das ständig von Gewalt, Rassismus und der sozialen Depraviertheit hoffnungsloser Immigranten handelt, und bei dem die Liebesgeschichte dann auch noch schlecht ausgeht und alle als Verlierer dastehen – das war vielleicht was für Shakespeare-gestählte Theatergänger in Europa, aber ganz sicher nichts für den Broadway. Irgendwann auf halbem Weg kriegte denn auch die Produzentin kalte Füße und sprang ab, und beinahe wäre alles wegen Finanzierungsproblemen eingestampft worden – dann allerdings kam, als Deus ex machina, der junge Produzent Harold Prince dazu, der später noch mal mit Cabaret einen Wahnsinns-Erfolg einfahren würde. Harold Prince hat sich von Bernstein und Sondheim die Songs vorspielen lassen und war dermaßen begeistert, dass er alle 7 gutgemeinten Warnungen der Szenekenner überhörte und sofort Geld einsammeln ging. Man kann sich das lebhaft vorstellen, wie die beiden ihm ihr Prachtstück vorgesungen haben, Bernstein vielleicht als Anita, Sondheim als Rosalia, das war schon mal ein Lacher, dazu der LatinTouch der Musik, der damals in den USA ja sowieso total angesagt war „Tempo di Huapango“ hat Bernstein drüber geschrieben, aber der mexikanische Tanz ist bloß ein Vorwand für ihn, um ein paar typisch bernsteinsche rhythmische Spielereien unterzubringen, Zweiertakte, die Dreiertakten ins Wort fallen, Synkopen, die schon vorbeigehuscht sind, bevor man sie so recht verstanden hat, und das alles verpackt in eine selbstvergessene Lebenslust, die überhaupt nicht künstlich wirkt, obwohl ein ganz „ernsthafter“ Komponist das geschrieben hat... Rote CD T. 6 Bernstein, West Side Story, America Original Broadway Cast (Chita Rivera et al.) s.o. 4’40 America – in der Original-Broadway-Besetzung, angeführt von Chita Rivera. Bei der Produktion einer Musical Comedy gibt es meistens zwei Sorten von Librettisten: Diejenigen, die das Buch schreiben, also den Plot in ein fortlaufendes Stück umwandeln – das war im Fall der West Side Story Arthur Laurents. Und diejenigen, die die Texte, also: die „Lyrics“ zu den Songs verfassen – und die West Side Story Songtexte stammen von Stephen Sondheim. Der war insofern ein Spezialfall unter den Textern, als er nämlich eigentlich gar keiner war. Sondheim, damals keine dreißig, unglaublich begabt, aber noch grün hinter den Ohren, war ausgebildeter Komponist und wollte eigentlich lieber selber Musicals schreiben – aber sein väterlicher Mentor Oscar Hammerstein hat ihm dringend dazu geraten, diese Erfahrung mit diesen Leuten, also mit Bernstein und Robbins, auf keinen Fall auszulassen. Also hat Sondheim sich widerstrebend anwerben lassen – er hatte ja recht, er passte eigentlich überhaupt nicht zu dem Projekt: er, ein Kind der jüdischen New Yorker Upper Class, mit silbernem Löffel im Mund geboren, oder, wie Lenny sagte „very Park Avenue“, sollte Songs über Leute aus den schlimmsten sozialen Brennpunkten der Stadt schreiben, von denen man ihn seine ganze behütete Kindheit und Jugend lang sorgfältig ferngehalten hatte...“Ich hatte noch nie einen Puerto-Ricaner kennengelernt!“, so Sondheim später. Aber zwischen ihm und Bernstein hat es sofort gefunkt – die zwei haben sich die meiste Zeit über blind verstanden, es half auch sehr, dass der Texter in diesem Fall auch ein Musiker war, so musste man ihm weniger 8 erklären, und Sondheim konnte bei Bedarf auch sofort ans Klavier wechseln und begleiten, außerdem waren beide süchtig nach Puzzles, Wortspielereien und rhythmischem Getüftel. Bei den Texten gab es allerdings immer wieder auch Diskussionsstoff: Bernstein hätte gern zu seiner Musik der großen Gefühle auch die ganz große romantische Rhetorik gehabt, zu der er ja sowieso immer neigte, Rilke, Hofmannsthal, diese Sorte – das hat Sondheim ihm immer wieder mühsam ausgeredet. Sondheim und auch Arthur Laurents war völlig klar, dass man hier hauptsächlich Slang-Texte brauchte, und das war eine Herausforderung: Den wirklichen Slang, der schon damals aus vielen „Shits“ und „Fucks“ bestand, konnte man in den Fünfziger Jahren natürlich unmöglich auf die Bühne holen, außerdem ist Slang niemals zeitlos, sondern verändert sich ständig, was im einen Jahr jeder benutzt, ist im nächsten altbacken – es musste also etwas Zeitloses her, und es blieb Sondheim nichts anderes übrig, als für die Jets und die Sharks einfach einen Street-Talk zu erfinden. Ein Meisterstück, was das betrifft, ist der Spottsong für den diensthabenden Polizeibeamten Krupke, eine Nummer, die in jeder Hinsicht ein raffinierter Kunstgriff ist: Sie kommt im zweiten Akt in einem Moment, wo man die gewalttätige Spannung und die Tragik der Geschichte schon kaum mehr aushält, als kleines Geschenk an die Zuschauer, eine komische Einlage, die den ernsten Hintergrund trotzdem nicht verleugnet. Natürlich kommen die Jungs alle aus sogenannten „Problemfamilien“, und offenbar gab es damals schon sozialpädagogische Bestrebungen, dass man die armen Kinder allesamt zur Psychoanalyse schicken müsste, dann würde schon alles gut werden...Über dieses naive Gutmenschentum wird sich dann in Form einer fingierten Gerichtsverhandlung deftig lustig gemacht: Man kann ja nichts dafür, dass man kriminell ist, man hat halt die „social desease“ – Die Mutter ein Junkie, der Vater ein Säufer, die Schwester trägt Schnurrbart, der Bruder ist eine Transe, man selbst ein ungewolltes Kind, zuwenig Liebe und zuviel Marihuana, kein Wunder, dass man auf die Schiefe Bahn gerät, aber tief im Innern sind alle doch immer noch gute Menschen... Rote CD T. 13 West Side Story, Gee, Officer Krupke! Original Broadway Cast s.o. 4’00 9 Die Original Broadway-Besetzung mit „Officer Krupke“, Stephen Sondheims Meisterstück in Sachen Street-Talk. Nun war der deprimierende Plot ja nicht das einzige Problem, das die West Side Story hatte. Weil nur absolute Hochkaräter an der Sache arbeiteten, war das, was da von den Darstellern verlangt wurde, eigentlich gar nicht zu leisten – Leonard Bernstein hat das später mal in einem Interview mit dem Rolling Stone zusammengefasst: „Wir hatten ein wirklich heftiges Problem, das zu besetzen, denn die Charaktere mussten nicht nur singen können, sondern auch tanzen und schauspielen, und dazu mussten sie als Teenager glaubhaft sein. Tatsächlich waren dann einige auch Teenager... Manche waren wundervolle Sänger, konnten aber nicht tanzen, oder umgekehrt, und wenn sie mal beides konnten, waren sie schlechte Schauspieler...“. Diese partielle Schieflage hört man auch der Aufnahme an, die die Originalbesetzung dann direkt nach der Premiere am Broadway aufgenommen hat – Larry Kert, der erste Tony, war ein extrovertierter Kalifornier, der offen zu seinem Schwulsein stand und deshalb ständig mit Jerome Robbins zusammenrauschte, der ihn, obwohl selber homosexuell, gern und ausgiebig als „Schwuchtel“ beschimpfte. Kert war ein intensiver Darsteller und ein ordentlicher Sänger, aber ordentlich ist für die Songs, die Bernstein für die West Side Story geschrieben hat, vielleicht doch nicht genug. Noch problematischer lag die Sache mit Carol Lawrence, der ersten Maria. Auch die hatte eine ganz gute Musical-Stimme, sie hat nachher auch noch eine nette Karriere am Broadway gehabt - aber wenn man sie so mit Bernsteins AdrenalinKanonen hört, wird schnell klar: Diese Musik war eigentlich zu groß für sie. Der Kern des Problems lag dabei nicht bei den Musical-Sängern, sondern bei Bernstein: er hat anfangs eine Oper aus dem Stoff machen wollen, und in der gesamten Produktionszeit war es ewiger Streitpunkt zwischen ihm und seinen Co-Autoren und Produzenten, dass er gefälligst endlich aufhören solle, Oper zu machen. Er hat nicht aufgehört, zum Glück, aber die großen Gefühlsmomente der West Side Story können stimmlich eigentlich nur von Opernsängern wirklich ausgefüllt werden – wie hier zum Beispiel von Marilyn Horne. Blaue CD T. 21 Bernstein, West Side Story, Somewhere Marilyn Horne, Studioorchester, Leonard Bernstein DG 457 199-2, LC 0173 2’40 10 ...Mit Marilyn Horne – die hat dieses herzbrechend schöne Sehnsuchtslied dann in jenem Querschnitt gesungen, den der inzwischen sechsundsechzig Jahre alte Bernstein im Jahr 1984 für die Deutsche Grammophon aufgenommen hat. Da singen Opernsänger, aber obwohl sie natürlich von Lennie persönlich handverlesen sind, macht einen diese Aufnahme dann eben auch nicht glücklich. Kiri Te Kanawa hat wie immer eine ungemein kostbare Stimme, und Jose Carreras einen schönen, feurigen Tenor – aber abgesehen davon, dass hier nun plötzlich statt Maria der Tony mit spanischem Akzent singt, was natürlich eigentlich gar nicht geht, sind die Stimmen nun wiederum zu dick und unbeweglich, um die Personen dahinter glaubhaft zu machen. Und wenn man dann wieder die alte Aufnahme aus den Fünfzigern mit der Originalbesetzung dagegenhält, dann hat man das Gefühl, das alles folgte damals doch einem sehr klugen Plan: Ziel der ganzen Produktion war ja die größtmögliche Authentizität der Charaktere, und wenn die Hauptrollen wie die Teenager klangen, die sie ja auch sein sollten, unperfekt und unfertig, dann war das genau der Sound, der die Geschichte glaubhaft machte. Immerhin findet ja eben auch die Balkonszene nicht vor einem Renaissance-Palazzo statt, sondern auf der Feuertreppe eines Hinterhauses im New Yorker Slum. Die Musik allerdings, die Bernstein dafür geschrieben hat, ist Palast und Samt und Seide und Nachtigall und Lerche auf einmal... Rote CD T. 5 Bernstein, West Side Story, Tonight Original Broadway Cast s.o. 4’00 Bevor das hier schließlich die Musik für die Balkonszene wurde, ist viel diskutiert worden, damals vor der Uraufführung. Ursprünglich wollten Bernstein und Sondheim für diese zentrale Liebesszene „One hand, one heart“ einsetzen – das ist allerdings eine der musikalisch schwächsten und steifsten Nummern im ganzen Stück, und Arthur Laurents und Oscar Hammerstein, der immer mal wieder bei den Proben vorbeischaute, haben das zum Glück erkannt und Bernstein umgestimmt. „Alles wird jeden Tag neu geschrieben“, seufzt Bernstein irgendwann zwischendurch im Brief an seine Frau – aber er ist immer der erste, der sich überzeugen lässt, dass etwas verändert werden muss. Und scheut auch nicht vor pragmatischen Lösungen zurück. Zum Beispiel war das Orchester des Uraufführungstheaters am Broadway, des von der legendären Shubert-Familie betriebene Wintergarden 11 Theatre, nicht das allerbeste – und ohne allgemein natürlich unberechtigte Vorurteile zu befördern: Die Bratschen waren offenbar dermaßen jämmerlich, dass zu Beginn der Proben große Verzweiflung herrschte – die hat Bernstein dann sehr kreativ zerstreut. „Was würdet Ihr Jungs davon halten, wenn wir die Bratschenshuberts einfach loswürden?“ hat er in die Runde gefragt und kurzerhand sämtliche Bratschen aus seinem Orchesterauszug gestrichen. Weil die ShubertBratschen so scheußlich spielten, gibt es also in der West Side Story keinen Bratschen-Part! Aber bei solcher Musik fällt das ja auch nicht weiter ins Gewicht. Rote CD T. 4 Bernstein, West Side Story, Maria Larry Kert s.o. 2’40 Der „Tryout“ – so nennt man den Probelauf vor der eigentlichen Premiere, der für Broadway-Produktionen traditionell in einer anderen Stadt angesetzt wird, der Tryout fand in Washington statt, und weil Bernstein nun mal everybody’s darling war, saß die halbe Regierung im Publikum: „Nixon und 35 Admirale kommen, da schau nur, was Du verpasst“, schreibt Bernstein an seine Frau Felicia, die während der Proben bei ihrer Mutter in Chile war. Die Proben zur West Side Story waren für alle Beteiligten das Intensivste, was sie bis dahin erlebt hatten. Die Tänzer waren begeistert, dass sie diesmal so viel mehr durften als in Reih und Glied die Beine werfen, ihre eigene Kreativität und ihr schauspielerisches Talent waren gefragt, und so haben sie sich gern von Jerome Robbins knechten lassen – er war tatsächlich die meiste Zeit über ein echtes Scheusal, und wusste das auch ganz genau. „Ich weiß, ich bin schwierig, ich weiß ich werde Eure Gefühle verletzen, aber so bin ich nun mal“ – das war seine Begrüßungsrede zu Beginn der Proben, und auf halbem Weg schreibt Bernstein an Felicia: „Jerry ist weiterhin, nun ja, Jerry: launisch, fordernd, verletzend. Aber wahnsinnig talentiert.“ – Die ganz spezielle Beziehung zwischen Bernstein und Jerome Robbins ist während dieser Proben ziemlich strapaziert worden, denn Robbins – der übrigens vertraglich festhalten ließ, dass wo immer die West Side Story aufgeführt wird, sein Name im Extrakasten erscheint, auch wenn er gar nicht an der jeweiligen Produktion beteiligt war – Robbins hatte überhaupt kein Problem damit, seine Vorstellungen und Vorlieben auf Kosten aller anderen, meistens auf Kosten Bernsteins, durchzudrücken, er verlangte Kürzungen, schmiss Stücke raus, die ihm nicht gefielen und 12 hat sogar in die Komposition eingegriffen, wenn es ihm für die Choreographie sinnvoll schien. Und Bernstein hat gekniffen – er hasste Streit, und wenn Robbins mal wieder in seiner Partitur herumfuhrwerkte, hat er meistens schweigend den Probenraum verlassen – man hat ihn dann in der nächstliegenden Bar wieder eingesammelt, mehrere leere Scotch-Gläser vor sich. Und doch war es eine ungeheuer elektrisierende künstlerische Amour fou zwischen den beiden, aus der immer wieder die unglaublichsten Funken schlugen, weil sie keine Angst hatten, sich nahe zu kommen. „Ich erinnere alle meine Zusammenarbeiten mit Jerry als greifbares Körpergefühl: Komponieren mit seinen Händen auf meinen Schultern...Ich spüre, wie er hinter mir steht und sagt: Vier Beats mehr hier“, oder „Nein, das ist zu viel“, oder „Ja, das ist es.“ Und genau so hat es auch Jerome Robbins nach Bernsteins Tod beschrieben: „Die Art, wie wir uns gegenseitig befeuert haben, die Ideen und die Chemie zwischen uns, da hieß es „Hey, ich denke ich kann das so und so machen“, oder „Nein, schreib das nicht in Musik, wir machen das besser als Dialog“, oder „Mach keinen Song da draus, ich kann das besser mit Tanzen ausdrücken“ – dieser dauernde Flow zwischen uns war irrsinnig aufregend.“ Und diesen Flow hat es in Sachen West Side Story auch mit Stephen Sondheim gegeben, mit dem sich Bernstein auch immer wieder höchst produktiv auseinandergesetzt hat. Letztlich haben sie die Texte zu den Songs zusammen geschrieben, aber Sondheim hatte, Komponist, der er war, genauso auch Einfluss auf die Musik gehabt – das war ja das Erstaunliche und Einzigartige, ja, das Große an Bernstein: Dass er den anderen zuhören, dass er Rat von ihnen annehmen und umsetzen konnte. Er war ein Teamplayer, und deshalb ist das Teamwork West Side Story etwas so Besonderes geworden. Am Nachmittag der New Yorker Premiere hat Stephen Sondheim Lenny auf einem Fresszettel eine rührende Liebeserklärung unter der Tür durchgeschoben, da stand: „West Side Story bedeutet so viel mehr für mich als dass es meine erste Show ist, ja, mehr noch als das Privileg, mit Dir und Arthur und Jerry zusammengearbeitet zu haben. Es markiert den Beginn einer hoffentlich langen und starken Freundschaft. Freundschaft ist etwas, das ich selten gebe und selten bekomme, aber was immer passiert, ich will, dass Du weißt: Meine Freundschaft hast Du, für immer. Ich denke nicht, dass ich Dir je gesagt habe, wie großartig ich die Musik finde, weil ich Dich lieber mit den paar Stellen ärgere, die ich nicht mag, statt Dich zu preisen für die vielen, die ich liebe. West Side Story, Leonard, ist ein großer Schritt für Dich, für Jerry und Arthur und selbst für mich, und auf eine seltsame Art bin ich stolz auf Dich...Möge es für das Theater und die Menschen, die es sehen, genauso viel bedeuten, wie es für uns bedeutet hat.“ 13 Rote CD T. 15 Bernstein, West Side Story, Finale Original Broadway Cast 2’00