Bernstein West Side Story - À propos de partitions

Werbung
W o l f ga n g Ja n s e n
Gregor Herzfeld
Bernstein
West Side Story
Weitere Bände der Reihe O P E R N F Ü H R E R K O M P A K T :
Daniel Brandenburg  Verdi  Rigoletto
Detlef Giese  Verdi  Aida
Michael Horst  Puccini  Tosca
Michael Horst  Puccini  Turandot
Malte Krasting  Mozart  Così fan tutte
Silke Leopold  Verdi  La Traviata
Robert Maschka  Beethoven  Fidelio
Robert Maschka  Mozart  Die Zauberflöte
Robert Maschka  Wagner  Tristan und Isolde
Volker Mertens  Wagner  Der Ring des Nibelungen
Clemens Prokop  Mozart  Don Giovanni
Olaf Matthias Roth  Donizetti  Lucia di Lammermoor
Olaf Matthias Roth  Puccini  La Bohème
Marianne Zelger-Vogt und Heinz Kern  Strauss  Der Rosenkavalier
Wolfgang Jansen unterrichtet an der Universität der Künste Berlin Theaterund Musicalgeschichte. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zum
populären Musiktheater (Revue, Operette, Musical), zuletzt Cats & Co.,
Geschichte des Musicals im deutschsprachigen Theater.
Gregor Herzfeld ist Privatdozent für Musikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Dramaturg des Freiburger Barockorchesters und wirkt an
mehreren aktuellen Publikationen zu Leonard Bernstein mit.
OPERNFÜHRER KOMPAKT
W o l f ga n g Ja n s e n
Gregor Herzfeld
Bernstein
West Side Story
Auch als eBook erhältlich:
epub: ISBN 978-3-7618-7037-2  epdf: ISBN 978-3-7618-7036-5
Die eBooks enthalten zusätzlich ein Glossar.
Aufgrund der unterschiedlichen technischen Gestaltungsmöglichkeiten von eBook
und gedrucktem Buch ergeben sich für Abbildungen, Notenbeispiele, Tabellen und
ähnliche Elemente geringfügige Differenzen bei der Seitenzuordnung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2015 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel
Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter, Kassel, und
Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig
Umschlaggestaltung: Carmen Klaucke unter Verwendung eines Fotos von Nilz Böhme:
West Side Story / Idee und Choreografie von Jerome Robbins / Buch von Arthur
­Laurents / Musik von Leonard Bernstein / Gesangstexte von Stephen Sondheim /
Produktion: BB Promotion GmbH
Lektorat: Daniel Lettgen, Köln
Innengestaltung: Dorothea Willerding
Satz: EDV + Grafik, Christina Eiling, Kaufungen
Korrektur: Kara Rick, Eberbach
Notensatz: Tatjana Waßmann, Winnigstedt
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-7618-2219-7 (Bärenreiter)  ISBN 978-3-89487-906-8 (Henschel)
www.baerenreiter.com  www.henschel-verlag.de
Inhalt
»Romeo und Julia« unter den Brücken von New York
7
Das Creative Team
9
Leonard Bernstein, der Komponist 9  Arthur Laurents, der Buchautor 21  Jerome Robbins, der Regisseur und Choreograf 22 
Stephen Sondheim, der Autor der Gesangstexte 24
Die Entstehung
27
Eine Zusammenarbeit kommt in Gang 27  Abbruch der Arbeit
und Wiederaufnahme mit einer neuen Grundidee 33  Erneute
Unterbrechung und Endspurt 35
Die dramaturgische und musikalische Gestaltung Handlung und Dramaturgie 45  Die Musik 75
44
Vom Wagnis zum Klassiker
97
Die Uraufführung 98  Original Cast Recording 101  Die britische
Erstaufführung 104  Die deutsche Erstaufführung 107  Der Film
109  Der Roman (zum Musical) 113  Die deutschsprachige Erstaufführung in Wien 116  Die Übersetzung 118  Die Erstaufführung in der DDR 121  Allzeit-Favorit des deutschen Publikums 123
Jenseits der Bühne
124
Gesamteinspielungen 124  Bearbeitungen als Suite und Ballett 126 
Jazz 128  Rock, Pop und Hip-Hop 130  Film, TV und Internet 132
Anhang134
Zitierte und empfohlene Literatur 134  Abbildungsnachweis 136
»Romeo und Julia« unter den
Brücken von New York
Rund 350 Jahre nach William Shakespeares Tragödie Romeo and Juliet
fanden vier amerikanische Bühnenkünstler zusammen, um aus der
­Renaissance-Vorlage ein aktuelles Zeitstück zu formen. In fast zehnjähriger
Arbeit, von 1948 bis 1957, schufen der Autor Arthur Laurents, der Choreograf und Regisseur Jerome Robbins, der Songtexter und Komponist Stephen Sondheim und der Komponist Leonard Bernstein ein bewegendes
Meisterwerk, das in den dauerhaften Bestand des internationalen Repertoires einging. Ausgehend von der Idee, den Familienkonflikt zwischen
den adeligen Familien der Montagues und Capulets, wie ihn Shakespeare
gestaltet hatte, nach New York zu verlegen, nunmehr ausgetragen von
zwei Straßenbanden, gelang Laurents nicht nur eine kongeniale Adaption
von Szene zu Szene, von Figur zu Figur, sondern die Autoren griffen auch
das seinerzeit gravierende gesellschaftliche Problem der »Juvenile Delinquents« auf, der »Halbstarken«, wie es im Deutschen hieß. Filme wie The
Wilde One mit Marlon Brando oder Rebel Without a Cause mit James Dean
thematisierten dasselbe Thema mit den Mittel der cineastischen Kunst.
In der West Side Story prallen weiße, englischsprachige Kids und
farbige Latinos aus Puerto Rico aufeinander, amerikanische Staatsbürger
gleichermaßen. Eine dramatische Geschichte von Liebe, Hass und Hoffnung entfaltet sich, von Leidenschaft, Rache und Gewalt, in der zum
Schluss das blutjunge puerto-ricanische Mädchen Maria die Aufgabe von
Shakespeares Prinzen Escalus übernimmt und die verfeindeten Jugendbanden über dem toten Körper ihres Geliebten Tony versöhnt.
Alles an diesem Musical ist ungewöhnlich: Robbins hatte die Idee,
der zudem bereits zu Anfang der Zusammenarbeit darauf verwies, dass
nur der Tanz die aggressive Energie der jugendlichen Körper zum Ausdruck bringen kann. (Die Erwachsenen, deren Autorität von den Kids
7
nicht akzeptiert wird, bleiben ausgegrenzt: Sie erhalten weder Musik
noch Tanz.) Laurents schrieb zum ersten Mal in der Gattungsgeschichte
des Musicals eine Tragödie, die er bis in die kleinsten Details durchformte.
Alle Bemühungen der beteiligten Personen, die Geschichte zu einem guten Ende zu führen, scheitern – scheitern an den gesellschaftlichen Umständen. Das Fatum ist zwar menschengemacht, doch unabwendbar.
Sond­heim verfasste Verse, die mit zum Besten gehören, was je für den
Broad­way geschrieben wurde. Und Bernstein komponierte eine Musik,
die in das kollektive Liedgut der Kulturen rund um die Welt einging.
Gleichwohl: Als die West Side Story 1961 in einer originalen Tourneefassung in die Bundesrepublik kam, floppte die Produktion nicht nur
beim Publikum, sondern auch das Feuilleton ließ kein gutes Haar an dem
Werk; »Kitsch«, schrieb etwa angeekelt Joachim Kaiser. Doch nur zehn
Jahre später, als die ersten deutschsprachigen Inszenierungen in den Thea­
tern auf die Bühne kamen, fielen die Urteile völlig anders aus. Nun lobte
man einhellig die Qualität von Text und Musik, erkannte die universelle
Wahrheit des Konflikts, auch jenseits der Halbstarken-Krawalle, und stieß
sich nicht länger an der tonalen und populären Musiksprache Bernsteins.
Die gesellschaftlichen Entwicklungen in den 1960er-Jahren, zu denen
Hippies, APO, Vietnam-Krieg und Studentenunruhen die Stichworte liefern, hatten die Rezeption grundlegend geändert. Aus dem Wagnis, als
das die Autoren 1956 ihre Arbeit angesehen hatten, war ein Klassiker geworden, der seitdem von jeder nachwachsenden Zuschauergeneration
aufs Neue mit Leben und Zeitbezügen aufgeladen wird. Heute ist man
daher eingeladen, Zeuge einer anhaltenden Beschäftigung zu sein, die
auch andere Genres wie Jazz, Rock und Pop sowie andere Medien wie das
Fernsehen und den Film umfasst und unzählige Knotenpunkte im Word
Wide Web bildet.
Dieses Buch entstand in Gemeinschaftsarbeit der beiden Autoren: Wolfgang Jansen verfasste die Kapitel »Das Creative Team«, »Die Entstehung«
und »Vom Wagnis zum Klassiker«; von Gregor Herzfeld stammen die
Abschnitte »Die dramaturgische und musikalische Gestaltung« sowie
»­Jenseits der Bühne«.
8
Die Entstehung
Über den jahrelangen Entstehungsprozess der West Side Story kursieren
diverse Geschichten und Anekdoten. Sie gleichen sich im Hinblick auf
dessen drei Zeitphasen (erste Idee 1948/49, Wiederaufnahme 1955, Realisierung 1957), weichen aber im Detail vielfach voneinander ab. Nicht einmal die unmittelbar Beteiligten, die es am besten wissen müssten, konnten sich 1985, zurückblickend auf einer Podiumsdiskussion der Dramatist
Guild, darauf verständigen, wie es denn nun eigentlich gewesen war, damals in den 1950er-Jahren, als Jerome Robbins, Arthur Laurents, Leonard
Bernstein und Stephen Sondheim ihr Meisterwerk schrieben. Einig war
man sich immerhin darin, dass Robbins den Anstoß dazu gab.
Eine Zusammenarbeit kommt in Gang
Ende der 1940er-Jahre arbeitete Robbins unter anderem als Lehrer am
Actors Studio in New York, einer Schauspielschule, die von Lee Strasberg gegründet worden war. Auf der Basis der Theorien des russischen
Regisseurs und Theaterleiters Konstantin Stanislawski hatte Strasberg das
Method-Acting entwickelt, das die Schauspielkunst in den USA grund­
legend veränderte und Schauspieler wie Marlon Brando, Montgomery
Clift, James Dean oder Elia Kazan hervorbrachte.
Robbins und Clift waren befreundet. Als Clift 1948 ein Angebot
bekam, die männliche Hauptrolle in Shakespeares Schauspiel Romeo and
Juliet zu spielen, und keinen rechten Zugang zur Figur fand, sprach er
mit Robbins darüber, der, nach der Lektüre des Stücks, die Figur mit zeitgenössischem Empfinden auflud: »Es geht um Jugendgewalt … Er ist der
typische Teenager, der sagt: ›Ich bringe mich um, wenn ich nicht kriege,
was ich will.‹ … Wie ginge die Geschichte heute? … Sagen wir: ein katholischer Junge aus Irland, verliebt in ein jüdisches Mädchen? … auf der East
27
Side … im Zusammenhang mit Jugendgangs … als Musical?« So beschrieb
der Journalist Kenneth Pearson in der britischen Sunday Times 1958,
nach der Uraufführung der West Side Story, die assoziative Entstehung der
Grundidee. Abwegig war es seinerzeit nicht mehr, bei einem ShakespeareStoff an ein Musical zu denken. Bereits 1938 hatte Richard Rodgers auf
der Basis von The Comedy of Errors das Musical The Boys from Syracuse
erfolgreich an den Broadway gebracht, und für Dezember 1948 bereiteten
Cole Porter und das Ehepaar Samuel und Bella Spewack die spektakuläre
Uraufführung ihrer Adaption von The Taming of the Shrew unter dem Titel
Kiss Me, Kate vor.
Nur eine Woche nach dessen umjubelter Premiere, am 6. Januar
1949, rief Robbins Bernstein an, um mit ihm über seine Idee einer »modernen Version von Romeo and Juliet« zu sprechen, »versetzt in die Armenviertel: Beim Zusammenfallen von Oster- und Passah-Feiern kochen
zwischen Juden und Katholiken die Emotionen hoch.« Man kannte einander seit Jahren. Robbins war der Anreger für Bernsteins Ballettmusik
Fancy Free gewesen, die ihm wiederum den Weg an den Broadway mit On
the Town öffnete. Auch dieses Mal äußerte sich Bernstein äußerst angetan:
»eine prächtige Idee«. Als Buchautor schlug Robbins den Dramatiker Arthur Laurents vor, den Bernstein persönlich nicht kannte, dessen Schauspiel Home of the Brave ihn aber tief berührt hatte.
Robbins kannte Laurents über die Tänzerin Nora Kaye, die dem
New York City Ballet angehörte und in Fancy Free getanzt hatte. Ihr hatte
er noch vor dem Telefonat mit Bernstein von seinem Einfall erzählt. Anders als der Komponist hatte sie sich jedoch skeptisch geäußert: Herauskommen würde nichts anderes als »Abie’s Irish Rose mit Musik«. Abie’s
Irish Rose ist eine Comedy aus dem Jahre 1922, in der sich eine junge
katholische Irin und ein jüdischer junger Mann aus orthodoxen Familien ineinander verlieben und gegen den heftigen Widerstand ihrer Väter
heiraten. Das Stück, das im Deutschen eher als »Volksstück« bezeichnet
werden würde, inspirierte eine Hörfunkserie, die von 1942 bis 1944 ausgestrahlt wurde, und kam auch 1946 als Film in die Kinos. Der Stoff war also
hinreichend bekannt, insbesondere unter den amerikanischen Juden von
New York, um als Referenz innerhalb des Gesprächs zwischen Robbins
und Kaye zu dienen.
Auch Laurents zeigte sich interessiert, als ihm Robbins seine Idee
vorstellte. Schon vier Tage später traf man sich in seiner Wohnung. Für
Laurents war es wichtig, den Anwesenden von Anfang an seine Haltung
zu dem angedachten Vorhaben kenntlich zu machen: »Eins will ich klarstellen, bevor wir überhaupt weitermachen: Ich schreibe nicht irgendein
28
East Side / West Side
Anders als beim amerikanischen Publikum weckt der reine Titel West Side
Story bei deutschen Theaterbesuchern keine konkreten Assoziationen. Der
Titel »spricht« nicht. Er ist demzufolge hierzulande zu einer Art festgefügtem Wortblock geworden, der mit Inhalt gefüllt wird nur aufgrund der
allgemeinen Bekanntheit des Werks, seiner Musik, seiner Handlung, seines
Ruhms.
Tatsächlich aber ist mit »West Side« eine genaue geografische Zuordnung gemeint, die den Amerikanern nicht nur in New York geläufig ist
(vergleichbar etwa mit der Bekanntheit von hiesigen Stadtteilen wie Kreuzberg oder St. Pauli). Manhattan, der Ort des dramatischen Geschehens,
teilt sich in eine East und eine West Side. Von der Inselspitze aus betrachtet (der Ursprungssiedlung) liegt rechts die East Side, angrenzend an den
East River, der Manhattan von Queens und Brooklyn trennt. Links liegt die
West Side, die an den Hudson River stößt, an dessen anderer Uferseite sich
New Jersey befindet. Die Trennungslinie auf Manhattan verläuft zunächst
entlang des Broadways, gefolgt von der Fifth Avenue und dem Central Park.
Zur West Side gehören Stadtviertel wie Greenwich Village, Chelsea oder
West Harlem.
Die Hafenanlagen rund um die Südspitze bildeten lange Zeit das
zentrale Einfallstor für die Einwanderer. Mit ihnen kam es zu laufenden
Veränderungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung von Manhattan.
Immigranten gemeinsamer Sprache, Kultur und Religion pflegten nahe beieinander zu wohnen. Auf der East Side bildeten sich China Town und Little
Italy. In Chelsea auf der West Side wuchs der Anteil von Iren (deren raue
Sitten 1936 von Richard Rodgers Jazzballett Slaughter on Tenth Avenue
thematisiert wurden). Auf der East Side siedelten in den 1930er-Jahren
verstärkt europäische Juden, was zu Konflikten mit den ansässigen Katho­
liken führte.
Nach dem Kriegsende relativierten sich die Gegensätze jedoch durch
den Zuzug von Südamerikanern. Als ihre Zahl sich durch die Arbeitsimmigranten aus Puerto Rico erhöhte, drängten diese in die West Side, was
ähnliche Rivalitäten hervorrief wie zuvor zwischen Juden und Katholiken.
Mitte der 1960er-Jahre lebten rund 750 000 Puerto-Ricaner in der Stadt
die »ihren« Stadtteil »El Barrio« nannten: Spanish Harlem.
Der Wechsel des Titels von »East Side Story« zu West Side Story,
den die Autoren im Laufe ihrer Arbeit vornahmen, dokumentiert also die
Absicht, die Handlung für das Publikum möglichst konkret in ihrem Alltag
zu verorten.
29
Scheiß-Libretto für eine gottverdammte Bernstein-Oper!« Der Hintergrund dieser drastisch formulierten Ansage ist unschwer zu erraten: Laurents, der bislang nicht für das Musiktheater gearbeitet hatte, wusste, dass
Opern durchweg dem Komponisten zugeschrieben werden und somit sein
Beitrag als Textautor nur vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit auf
sich ziehen würde. Darüber hinaus dürfte aber auch der finanzielle Gesichtspunkt eine Rolle gespielt haben, gab es doch keine Opern als Long
Runs, als Inszenierungen, die en suite über einen längeren Zeitraum gespielt wurden. Und mehrere Jahre Arbeit in ein Stück zu investieren, das
gerade einmal eine Handvoll Aufführungen erzielte, wird Laurents kaum
sinnvoll erschienen sein.
Bernstein stimmte seiner Forderung zu, und die Angelegenheit
kam ins Rollen. Die Grundidee war die Verlegung des Shakespeare-Stoffes
in die Gegenwart, in das jüdisch-katholische Milieu von Manhattan. Während eines Osterfestes sollte es zur dramatischen Liebesgeschichte kommen, mit Straßenschlägereien und dem zweifachen Tod der Liebenden als
Finale. Im Zentrum der Geschichte würde es um den religiösen Konflikt
der beiden Konfessionsgruppen gehen. Man verständigte sich auf die Aufgaben: Robbins sollte für die Regie und Choreografie, Bernstein für die
Musik und die Liedtexte und Laurents für das Buch (also die Dramaturgie
der Erzählung und die Dialoge) verantwortlich sein. Erzählt werden sollte
die Geschichte mit den Mitteln des Musicals, ohne das Tragische zu vernachlässigen. Die Realistik sollte jedoch in keinen plumpen Naturalismus
ausarten, sondern – wie Laurents sich ausdrückte – »mehr theatralische,
lyrische, magische Spannung« enthalten.
Man trennte sich, Laurents begann Treatments zu schreiben. Im
April 1949 verschickte er die ersten vier Szenen an Robbins und Bernstein – »sehr viel gutes Zeug«, wie Bernstein bemerkte. Doch es traten
praktische und inhaltliche Schwierigkeiten auf. Alle drei Künstler waren
in andere Aufgaben involviert, die ihnen nur eingeschränkt Zeit zu regelmäßigen Arbeitstreffen ließen. Zudem war Laurents inzwischen als Drehbuchautor überwiegend in Los Angeles tätig. Und Bernstein und Robbins
absolvierten zahlreiche Tourneen.
Inhaltlich hatte sich die Situation seit den Zeiten von Abie’s Irish
Rose grundlegend verändert. Die Thematisierung religiöser Konflikte zwischen Christen und Juden besaß nach dem Zweiten Weltkrieg eine andere
Dimension, zumal die USA in den Jahren zuvor bevorzugtes Exilland waren und nach 1945 erst nach und nach das ganze Ausmaß des Holocaust
öffentlich bekannt wurde. Im Gegensatz zur Comedy von Anne Nichols
sollte der Konflikt entsprechend der literarischen Vorlage überdies auch
30
noch tödlich enden, der religiöse Gegensatz also als unüberbrückbar geschildert werden. »Es geht nicht um eine Familienfehde, sondern um eine
religiöse Auseinandersetzung«, äußerte sich Bernstein. Auch wenn mit
»Katholiken« nicht die Christen allgemein
gemeint waren und diese innerhalb der
Zur Entstehungszeit der »West Side
amerikanischen WASP-Gesellschaft (White
Story«: Leonard Bernstein komponieAnglo-Saxon Protestants) ebenso wie die
rend am Klavier (1955).
Juden eine Minderheit bilden, öffnete sich
der Stoff dennoch zu ­einer paradigmatischen Erzählung über den jahr­
hundertealten Anti-Judaismus der Christen. Die Konzeption beinhaltete
also – ob man wollte oder nicht – einen religiösen Gegensatz, einen Wider­
streit der Religionen, bei dem beide Glaubensrichtungen als gleichermaßen verbohrt dargestellt werden müssten.
Robbins Grundidee enthielt also letztlich etwas gänzlich anderes
als die Geschichte eines Konflikts zwischen zwei Einwanderergruppen,
die sich in der städtischen Topografie von New York zu nahe kamen. Auch
im Hinblick auf das Finale war keine Lösung in Sicht: Wer sollte die Ver-
31
2. Szene: 17:30 Uhr. In einem Hinterhof
Wer ist dieser Tony, von dem einige enttäuscht sind, während Riff sich
für ihn ins Zeug legt? Tony ist ein Jet-Aussteiger, und nun bekommt er
Besuch von seinem alten Freund Riff. Wir treffen ihn bei der Arbeit. Auf
einer Leiter stehend möchte er seinen Chef, den Krämer Doc, Betreiber
des Drugstores, damit überraschen, dass er sein Ladenschild erneuert,
während Riff ihm ins Gewissen redet, bei der Schlacht gegen die Sharks
mitzumachen. Und weil Tony seinen Freund nicht im Stich lassen möchte,
willigt er ein, beim Tanzabend zu erscheinen. Doch innerlich ist Tony auf
dem Weg in ein anderes Leben. Sein Bekenntnis zu den Jets bröckelt, er
ist auf der Suche, er spürt, dass er eine Zukunft hat. Ohne dieses Gefühl
von Größe und Zuversicht, die sich mit Tonys erstem Auftritt verbindet,
hätte die Tragik dieses Dramas nicht dasselbe Ausmaß. Dass mit Tony am
Ende auch seine erhoffte Zukunft stirbt, hebt die Tragödie über die einzelne Existenz hinaus auf eine symptomatische Ebene des Allgemeinen.
Das Herzstück dieser 2. Szene ist Tonys Song »Something’s Coming«, der
jene Ahnung bereits im Titel trägt. Tony besingt darin ein unbestimmtes
Gefühl, eine Art Kribbeln im Bauch, ausgelöst von der Idee, dass etwas
Gutes geschehen wird. Sondheims Lyrics beschreiben Tonys Offenheit,
seine Erwartung, seine Freude, die ihn empfindsam und aufmerksam machen. Tony singt von Wundern, die sich mit einem Paukenschlag oder
einer banalen Alltäglichkeit wie dem Klingeln eines Telefons ankündigen
könnten. Seine »Great Expectations« elektrisieren ihn und seine Umgebung: »The air is humming / And something great is coming. / […] Maybe
tonight …« Es gehört nicht nur zu den Eigenarten der Partitur dieses Musicals, dass einige Motive sich wie rote Fäden durch das Labyrinth des
Großstadtdschungels ziehen, sondern auch zu denen des Textbuchs. Mit
dem letzten Wort von Tonys Song, »tonight«, ist ein Stichwort gefallen,
das etwas später, in der »Balcony Scene« auf der Feuerleiter, als Metapher
des Großen und Wahren, regelrecht zelebriert wird, nämlich als Versprechen der Liebe zwischen Maria und Tony, die im Hier und Jetzt ihr Recht
gegen die Widerstände behauptet. Vor dem Drugstore im Hinterhof, im
Abendlicht, wenige Stunden bevor Tony Maria zum ersten Mal erblickt,
scheint er bereits eine Ahnung von dieser seiner Bestimmung zu haben.
3. Szene: 18:00 Uhr. Im Brautladen
Nachdem wir bisher den Jets gefolgt sind, lernen wir nun eine Seite –
die weibliche – der Sharks kennen, nämlich die jungen Frauen, die zu
ihnen gehören: Anita, die Freundin Bernardos, seines Zeichens Anführer
48
der Sharks und damit Riffs Gegenspieler, und Maria, seine Schwester. Sie
arbeiten als Näherinnen in einem Brautladen, und Anita tut Maria einen
Freundschaftsdienst, indem sie ein altes Kommunionskleid in ein weißes
Partykleid für sie umnäht. Anlässlich ihrer Diskussion um die Freilegung
eines weiteren Inches Haut am Kragen des Kleids, erfahren wir, dass Maria erst vor einem Monat aus Puerto Rico in die USA gekommen ist, dass
für sie vorgesehen ist, einen der Sharks, Chino, zu heiraten, dass sie diesen aber nicht liebt. Als Bernardo und Chino den Laden betreten, wird
Tony, eigentlich Anton
Über seine Herkunft wissen wir nur so viel, dass sie polnisch ist. Seine
Mutter ist beleibt und lebt in der Küche. Warum er die Jets zusammen mit
Riff gegründet hat, erfahren wir nicht, auch nicht, wie lange das her ist.
Tony möchte sein bisheriges Leben hinter sich lassen, er geht nicht mehr
zu den Jets, hat einen Job in Docs Drugstore angenommen, was ihn vor
vielen anderen Jugendlichen auszeichnet, und träumt von einer besseren
Zukunft. Sein Ziel ist es »to go straight«. Als der gut aussehende Junge mit
den sandfarbenen Haaren Maria kennenlernt, weil er seinem alten Freund
Riff das Zugeständnis gemacht hat, den Feldzug gegen die verfeindeten
Sharks zu unterstützen, rastet das Schloss ein. Diese Liebe, die für ihn
so aufregend und neu ist, muss der Schlüssel zu diesem besseren Leben
sein. Dadurch gerät er allerdings zwischen die Fronten der Banden, eine
Spannung, die kaum auszuhalten ist. Und obwohl Tony voller Zuversicht
und Pläne steckt, fehlen ihm letztlich die Möglichkeiten ihrer Umsetzung.
Denn sein Versprechen an Maria, Frieden zwischen den Banden zu stiften,
muss er brechen, und er verrät es, indem er seine Wut nicht unter Kontrolle
bringen kann und ausgerechnet Marias Bruder tötet. Einmal Jet, immer
Jet – dieses Motto Riffs bewahrheitet sich bei Tony auf dramatische Weise.
Die Untat allerdings hält ihn nicht davon ab, weiter nach einem Leben mit
Maria zu streben. Doch die Spirale des Hasses und der Gewalt ist von Tonys
Vision eines friedlichen, harmonischen Zusammenlebens nicht aufzuhalten
und zieht ihn selbst schließlich vollends in ihren Bann. Tony wird Opfer der
von ihm abgelehnten Lebensform, und zwar gerade weil er Schritte unternimmt, sie abzulegen. Das ist sein tragisches Fatum. Mehr Jet-konforme
Coolness, mehr Pragmatismus, um die romantische Vision umzusetzen,
hätten seinen Tod möglicherweise verhindern können. Doch reden wir von
einem heißblütigen Jugendlichen, bei dem der Gang-Code zum Reflex geworden ist, nicht von einem stoischen Weisen.
49
Maria
Sie ist erst vor einem Monat aus ihrer Heimat Puerto Rico in die USA
gekommen. Offenbar ist sie nachgekommen, da ihre Familie – ihr Bruder,
der Shark-Anführer Bernardo, und ihre Eltern – bereits begonnen haben,
stärker in New York Fuß zu fassen. Maria wird als »extrem liebreizend,
extrem jung« beschrieben, ausgestattet mit viel Temperament, Charakter
und einem Bewusstsein für ihre Weiblichkeit. Das Stück schildert den Reifeprozess Marias von einem unschuldigen, naiven Mädchen zu einer Frau,
die emotional und moralisch allen anderen, auch ihrem Geliebten Tony,
überlegen ist. Ihr Hunger nach Leben und Erlebnissen spiegelt sich auch
in der Weise wider, wie sie sich auf die Liebe zu Tony einlässt. Sie erkennt
sofort, dass dies kein Spiel ist, sondern ein großes Geschenk des Lebens an
sie, an dem es zu reifen, sich zu erproben gilt. Was ist das eigentlich für ein
Teenager, der eine private Hochzeit vollzieht, der bereit ist, die Morde am
Bruder und am Geliebten zu vergeben? Welch menschlicher Stärke bedarf
es, den Teufelskreis der Rache, der das Gesetz der Straße ist, zu durchbrechen! Jerome Robbins’ Inszenierung der gereiften, leidgeprüften Maria
kann ikonografisch in die Nähe von Michelangelos Pietà gerückt werden,
also der Mutter Gottes, die ihren toten Sohn im Arm hält. Hier wird die Distanz zur Maria, die »I Feel Pretty« singt, deutlich. Einen Charakter kreiert
zu haben, der diese Distanz bewältigt, ohne brüchig zu werden, ist eine
große dramaturgische Leistung des West-Side-Story-Teams; ihn darzustellen
bleibt eine Herausforderung für jede Musicalinterpretin.
die brüderliche Protektion deutlich, die »Nardo« seiner kleinen Schwester
entgegenbringt. Wir spüren, dass keiner, außer Chino, an diesem Bruder
vorbeikommen wird. Maria hingegen setzt wie das ihr noch unbekannte
Gegenüber Tony große Hoffnungen in den heutigen Abend, wiederum
»­tonight«: »Tonight is the real beginning of my life as a young lady of
Ameri­ca!« Dieses gegenseitige Spüren einer unbekannten Macht, einer
verbindenden, das Leben verändernden Energie, einer Vorherbestimmung durch das Schicksal, führt das spätere Liebespaar in den Augen des
Publikums bereits zusammen, bevor sie sich kennen. Was nun ab 10 Uhr
abends in der Turnhalle, dem einzigen neutralen Gebiet der Banden, geschieht, ist also für niemanden mehr eine Überraschung. Die Spannung
besteht vielmehr darin, zu erfahren, wie es passiert.
50
Das Plakatmotiv zu Robert Wises Verfilmung (hier die spanische Version) wurde zum »Logo« der
»West Side Story«: Wie ein Hochhaus türmt sich der Titel-Schriftzug auf, die Figurinen des auf den
Feuer­leitern tanzenden Paars bilden abstrahiert einen sechszackigen Stern.
65
Die überaus erfolgreiche und vielfach preisgekrönte Filmadaption war für die Popularität des Stücks
entscheidend. Daraus vier Szenenbilder. Oben: Im »Rumble« kommt es zur dramatischen Konfrontation, hier zwischen Bernardo (George Chakiris) und Tony (Richard Beymer).  Unten: Die Jets ziehen
als streitsuchende Halbstarken-Gang durch die Straßen der West Side.
66
Mambo, Cha-Cha-Cha und Rumba
Die meisten lateinamerikanischen Musikarten und ihre Tänze haben sich im
Verlauf des 19. Jahrhunderts herausgebildet, gehen allerdings auf wesentlich
ältere europäische, afrikanische und eigene folkloristische Traditionen zurück. Sie kamen nach einer Tangowelle der Zwischenkriegszeit vermehrt seit
den 1930er-Jahren in die Metropolen der USA und Europas. Dies ist einerseits
auf stetig steigende Immigrantenzahlen aus Mittel- und Südamerika, aber
auch auf einen freundschaftlichen Kurs der US-amerikanischen Außenpolitik
zurückzuführen. Mambo, Cha-Cha-Cha und Rumba sind drei der wesent­lichen
Tänze und Musikstile, die mit den Latin-Jazz-Combos der 1940er-Jahre
überwiegend in New York Furore machten und regelmäßig Waves und Hypes
auslösten. Fortgesetzt wurde die Linie mit Samba, Salsa, Bossa Nova und
anderen, hinzu traten Latin Rock (z. B. Santana) und Latin Pop (z. B. der
Lambada und Jennifer Lopez). Den musikalischen Vorlieben der HispanoAmerikaner, der mittlerweile größten und am schnellsten wachsenden Minderheit der amerikanischen Bevölkerung, begegnet der seit 2000 verliehene
Latin Grammy. Filme wie Dirty Dancing haben den Mambo in den 1980erJahren für eine neue Generation Jugendlicher wiederbelebt und weit über
ethnische oder nationale Grenzen (wieder) bekannt und beliebt gemacht.
»Maria«
Die Tanzfolge Mambo / Cha-Cha-Cha wird nun auch außerhalb der eigentlichen Turnhallen-Suite ergänzt, vervollständigt von einer Rumba, die der
Song »Maria« darstellt. Die Tänze gehen wie ihre historischen Vorbilder
auseinander hervor. Die Rumba ist abermals langsamer und intimer als
der Cha-Cha-Cha. Sie steht in erotischer Hinsicht dem argentinischen
Tango in nichts nach. Mit ihr verbindet sich für Tony der Name Marias,
den er besingt. Die Einleitung des Songs, eine rezitativische Anrufungslitanei des verehrten Namens (einer Heiligen zudem) über einer sekundweise absteigenden Quinte – in ihr verbirgt sich der sogenannte Lamentobass, traditionell ein musikalisches Symbol der Trauer – dient der Findung des Maria-Intervalls, also des Tritonus, auch dies ein musikalisches
Emblem für Schmerz oder zumindest gesteigerten Ausdruck. Wenn also
eine musikalische Lamentofigur die Basis für die Einkreisung des Tritonus
durch Quarte und dann Quinte abgibt, dann wird hiermit nicht nur Ausdruck, Pathos per se gemeint sein, sondern auch die damit verbundene
83
Semantik des Klagens, Trauerns, Leidens. Dies weist deutlich bereits auf
das Ende des Stücks voraus, an dem Maria tatsächlich die Rolle der Trauernden, Klagenden einnehmen wird, und zwar wegen Tonys Tod. Diese
letzte Pose der Liebenden deutet eine Transformation der West-Side-­
Maria zur Heiligen Maria des Stabat Mater an, der die Musikgeschichte
eben jene Trauer­symbole – Lamentobass und Tritonus – zugewiesen hat.
Die Rumba beginnt in dem Augenblick, als der Tritonus gefunden ist, der
so gut zu diesem Namen passt.
cresc.
8
ri
3
a,
Ma
ri
a, Ma ri
più cresc. e rall.
rall.
3
a, Ma
ri
3
a...
Ma
ri
3
a, Ma ri a... Ma
cresc.
Moderato con Anima
warmly
8
ri
a!
3
I’ve
just met
3
dolce
3
a
girl named Ma
ri
a,
and
3
dolce
Nicht weniger als 29 Mal spricht Tony Marias Namen aus, oft in Ton und
Ausdruck variiert, und er staunt darüber, wie schön ein Klang sein kann –
hörbar wird dies insbesondere in der Auflösung des schmerzhaft-süßen
Tritonus zur reinen Quinte. Hier stellt der Komponist seine ganze Kunst
des Songschreibens unter Beweis: In 53 Takten verschmilzt er Anklänge
von Trauer, Tod, Sehnsucht, Liebe und Erotik zu einem homogenen und
eingängigen Ganzen. Gleichzeitig deutet er als Musikdramatiker weit über
diesen Song-Moment hinaus zum Finale und kreiert mit »Maria« eines der
zentralen Leitmotive auf dem Weg dorthin.
Balkonszene (mit »Tonight«)
Während Tony »Maria« singt, lenkt er seine Schritte in ihre Nachbarschaft,
oder vielmehr wurde »Maria«, das auf verdunkelter Bühne vorgetragen
wurde, zum Umbau für die nächste Szene genutzt. Das Liebesgeflüster
84
Herunterladen