Falsche Erinnerungen

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Falsche Erinnerungen
Warum unser Gedächtnis lügt
Von Gabi Schlag und Benno Wenz
Sendung: Montag, 28. November 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Kölbel
Regie: Autorenproduktion
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
Polizeistation
Sprecher:
Am 19. August 1981 meldet das Ehepaar K. seinen vierjährigen Sohn Markus als
vermisst. Der dreijährige Bruder berichtet, Markus sei plötzlich allein vom Spielen
weggelaufen. Eine große Suchaktion beginnt, die die gesamte Nacht andauert. Am
nächsten Tag findet ein Spürhund der Bahnhofspolizei Markus erdrosselt in einem
Gebüsch am Bahndamm.
Trotz monatelanger Ermittlungen kann der Mord an dem vierjährigen Markus nicht
aufgeklärt werden. Nach 26 Jahren meldet sich eine Frau bei der Polizei. Sie erklärt,
als damals Achtjährige beobachtet zu haben, wie Monika K. ihren Sohn mit einer
Nylonstrumpfhose erdrosselte. Aus Angst habe sie 26 Jahre geschwiegen, aber jetzt
will sie sprechen.
Doch – wie Aussageexperten mühsam herausfinden: Die Aussage ist falsch. Aber
die Zeugin hat nicht gelogen, sie hat sich falsch erinnert. Das Gedächtnis hat ihr
einen Streich gespielt. Es handelt sich um eine falsche Erinnerung.
Ansage:
Falsche Erinnerungen – Warum unser Gedächtnis lügt
Eine Sendung von Gabi Schlag und Benno Wenz
O-Ton Prof. Emrah Düzel:
Erinnerungen sind der Hauptbestandteil unseres Gedächtnisses, das heißt wir
speichern in unserem Gedächtnis Episoden oder Ereignisse ab. Und falsche
Erinnerung sind sozusagen Episoden oder Ereignisse, die uns so gar nicht
widerfahren sind, aber an die wir uns glauben zu erinnern. Das heißt, das sind Dinge,
bei denen wir glauben, dass sie tatsächlich passiert sind.
Labor Universität
Sprecherin:
Kanada, University of British Columbia, Januar 2016.
Labor Universität
Sprecherin:
Die Kriminalpsychologin Julia Shaw führt ein Experiment durch. Sie suggeriert 30
Studenten, dass sie als Kinder kriminelle Taten begangen hätten.
O-Ton Julia Shaw:
Ich habe Ihnen vage Details gegeben: Als sie 14 Jahre gewesen sind, haben sie
jemanden geschlagen, da war die Polizei involviert. Und dann habe ich ein paar
echte Details mit eingebaut, also ich habe dann gesagt: Sie waren mit ihrem besten
Freund, und dann wusste ich den Namen von dem besten Freund. Und sie waren in
ihrer Heimatstadt, und dann habe ich auch den Namen von der Heimatstadt gesagt.
Das hat dem ganzen etwas mehr Realismus gegeben. Aber mehr habe ich dann
2
nicht erzählt. Ich habe nur gefragt: Woran können Sie sich erinnern? Und natürlich,
als erstes haben die Probanden gesagt: Ich habe keine Ahnung, wovon sie
sprechen.
Sprecherin:
Doch langsam begannen die Probanden sich zu „erinnern“. Die Psychologin sagte
den Probanden, dass sie ihre Informationen über das vermeintliche Ereignis von den
Eltern bekommen hätte. Die Probanden hätten das Ereignis verdrängt, aber durch
Gespräche würde man nunmehr gemeinsam herausfinden, was damals passiert sei.
Bald begannen die Teilnehmer aktiv mitzuarbeiten und erinnerten sich nach und
nach an alle Details der Taten, die sie in Wirklichkeit nie begangen hatten.
O-Ton Julia Shaw:
Ganz wichtig ist, dass die Probanden selber sich ausdenken mussten, was in ihre
eigene Lebensnarrative passt, ihre Lebensgeschichte, weil, wenn ich zu viele Details
gegeben hätte, hätte es sein können, dass es nicht passt. Aber wenn man sich das
selber bastelt, dann kann es ziemlich einfach passen. Dann nimmt man halt einen
Kindheitsfeind oder jemand, den man nicht unbedingt mochte, und man stellt dann
die Situation in den Park, den man kannte, wo man oft war zu der Zeit, und dann
klappt das Ganze besser. Ich habe sie dann überzeugt: Nein, es ist ganz sicher, dass
es passiert ist. Dann habe ich Vorstellungsübungen mit ihnen gemacht: Machen Sie
mal die Augen zu. Stellen Sie sich doch mal vor, wie das gewesen wäre …
Sprecherin:
Es ist erschreckend, aber durch Suggestion und Einbildung lassen sich dem
Gedächtnis anscheinend Erinnerungen an Ereignisse einpflanzen, die nicht so oder
überhaupt nie stattgefunden haben, sagt die Wissenschaftlerin. 21 von 30
Probanden glaubten felsenfest, sich an diese Vorgänge zu erinnern und diese
tatsächlich erlebt zu haben! Und das, obwohl jeder von ihnen vorher wusste, an
einem psychologischen Test teilzunehmen, zu dem die Möglichkeit gehörte, dass
ihre Psyche getäuscht werden kann. Die Psychologin Julia Shaw ist selbst verblüfft,
wie einfach das ist.
O-Ton Julia Shaw:
Durch drei freundliche Interviews war es so einfach, komplexe multisensorische
Erinnerungen einzupflanzen, bei 70 Prozent meiner Probanden, ich hatte gedacht,
vielleicht zehn oder fünfzehn. Manche meiner Kollegen haben gesagt, dass es gar
nicht klappen würde, dass die mir das nicht abkaufen werden, die Probanden. Für
mich ausschlaggebend war wirklich, wie einfach und wie schnell man diese
komplexen falschen Erinnerungen einpflanzen kann und wirklich, dass es jedem
passieren kann.
Sprecherin:
Sich falsch erinnern. Hundertprozentig davon überzeugt sein, dass man die
Sitzungsunterlagen heute Morgen mitgenommen hat. Dass man den Wagen auf der
anderen Straßenseite geparkt, die Gartentür garantiert abgeschlossen hat.
Vorgänge, die jeder kennt.
3
O-Ton Prof. Emrah Düzel:
Sie können sich die Grenzen unseres Gedächtnisses ganz leicht selbst klarmachen,
wenn sie versuchen, zum Beispiel daran zu denken, was vor 10 Minuten passiert ist.
Meinetwegen, wie Sie in das Gebäude rein gegangen sind, in dem Sie gerade sitzen.
Alles, was sie abrufen können werden, sind ein paar Schnappschüsse. Sie werden
kein bewegtes Bild im Gedächtnis hervorrufen können. Sie werden also nicht sehen,
oder in Ihrem Gedächtnis einen Film ablaufen lassen, in dem Sie sozusagen ihre
Perspektive, wie Sie durch das Gebäude, in die Gänge, den Fahrstuhl gelaufen sind
noch mal vor Augen haben. Unser Gedächtnis reduziert diesen relativ einfachen
Vorgang auf einige wenige Schnappschüsse.
Sprecherin:
Emrah Düzel ist Gedächtnisforscher an der Otto-von-Guericke-Universität
Magdeburg
O-Ton Prof. Emrah Düzel:
Und diese wenigen Schnappschüsse werden noch mal komprimiert. Das heißt, wenn
wir schlafen, wenn Zeit vergeht, wird diese Information noch mal zusammengefasst
und zeitlich, aber auch inhaltlich komprimiert.
Sprecherin:
Dieser Vorgang der vertieften Einspeicherung von Informationen im Lernprozess wird
„Konsolidierung“ genannt. Unser Gedächtnis scheint erstaunlich kreativ. Es arrangiert
und gruppiert um, sondiert und interpretiert. So bereitet es den Boden für künftige
Erfahrungen, die unsere Biographien prägen
O-Ton Prof. Harald Welzer:
Das menschliche Gedächtnis ist sehr gut darin, Versatzstücke aus ganz
unterschiedlichen Quellen zusammenzubauen.
Sprecherin:
Prof. Harald Welzer ist Soziologe und Sozialpsychologe. Er arbeitet unter anderem
an der Universität Essen.
O-Ton Prof. Harald Welzer:
Selbst Erlebtes, das, was wir in Filmen gesehen haben, das, was wir von anderen
gehört haben, das, was man vielleicht sogar geträumt hat, es gibt da ganz
unterschiedliche Quellen für das, was man haben könnte. Und je nachdem, was am
besten zu der gegenwärtigen Situation passt, kann man diese Kombinationen
vornehmen. Das sind alles keine bewussten Vorgänge.
Sprecherin:
Elizabeth Loftus, Professorin für Psychologie an der Universität Washington in
Seattle, ist Pionierin auf dem Gebiet der „Falschen Erinnerungen“ und hat seit den
1970er-Jahren zahlreiche Experimente zur Gedächtnisfähigkeit durchgeführt. Die
Rechtspsychologin hat als erste Wissenschaftlerin nachgewiesen, dass das
Gedächtnis manipuliert werden kann, indem man falsche Erinnerungen einpflanzt. In
vielen Studien bewies Elizabeth Loftus, dass es für Therapeuten relativ leicht ist, eine
4
solche falsche Erinnerung zu erzeugen. Gedächtnisforscher sprechen bei solchen
Vorgängen von „implantierter Erinnerung“. Eine derart manipulierte Episode ist von
tatsächlich erlebten Ereignissen subjektiv nicht mehr zu unterscheiden. In einem
vielfach beachteten Experiment zeigte Loftus Probanden Fotos, auf denen sie sich
als Kind zusammen mit einem Verwandten in einem Heißluftballon schweben sahen.
Die Hälfte der Befragten erinnerte sich später genau an die aufregende Ballonfahrt.
Doch die hatte niemals stattgefunden. Loftus hatte die Kinderfotos der Probanden
ohne deren Wissen in Fotos von einem Ballonflug hineinmontiert. Durch Bilder lassen
sich Erinnerungen besonders leicht durcheinanderbringen, weil sich die für das
Visuelle zuständigen Verarbeitungssysteme im Gehirn mit jenen überlappen, die bei
Fantasien aktiv werden.
Zitatatorin (Robert Todd Carroll – Das „False Memory Syndrome“):
Mit „false memory“ – „falscher Erinnerung“ – bezeichnet man die Verzerrung eines
tatsächlichen Erlebnisses, oder gar das Erfinden eines vermeintlichen Erlebnisses.
Viele solcher Schein-Erinnerungen entstehen durch das Verwechseln und
Durcheinanderbringen von Erinnerungen, die vielleicht zu unterschiedlichen Zeiten
passiert sind, aber in der Erinnerung zu einem einzigen Ereignis verschmelzen. Eine
weitere Ursache für falsche Erinnerungen sind fehlerhafte Erinnerungsquellen. So
kann es leicht passieren, dass jemand einen Traum für die Wiedergabe eines realen
Erlebnisses hält. Andere Pseudo-Erinnerungen wiederum sind auf den Einfluss von
Therapeuten und Beratern zurückzuführen: Durch Anstacheln, Suggestion und
gezielte Andeutungen wird ihren Patienten eine falsche Erinnerung regelrecht
„eingeimpft“.1
Musik Gil Melle – Desert Trip/Substrata
Zitatatorin (Robert Todd Carroll – Das „False Memory Syndrome“):
Erinnert sich jemand daran, dass seine Mutter einst ein Glas Milch nach dem Vater
schleuderte, obwohl es tatsächlich der Vater war, der das Glas Milch warf, so ist das
eine Schein-Erinnerung, die auf einem tatsächlichen Ereignis basiert. Die Person
erinnert sich zwar lebhaft an das Geschehen und hat seinen Ablauf geradezu „vor
Augen“, doch nur die Bestätigung durch andere, die bei dem Ereignis dabei waren,
kann letztlich entscheiden, ob die eigene Erinnerung an das Geschehen richtig ist. 2
Sprecherin:
Elizabeth Loftus war renommiert, aber auch umstritten. Die Wissenschaftlerin und
Gutachterin legte immer neue Studien vor, um Richtern zu zeigen, wie manipulierbar
das Gedächtnis ist. Wie wenig man den Aussagen von Missbrauchs-Opfern
unkritisch Glauben schenken könne, wenn sie sich erst nach Jahrzehnten an die
Gewalttat erinnern. Das sorgte für Unmut unter den Opfern, brachte jedoch die
Gedächtnisforschung voran, denn plötzlich erkannten die Neurologen, wie das
Gedächtnis arbeitet, denn
1
Robert Todd Carroll: Falsche Erinnerungen. Das "False Memory Syndrome". Übersetzung: Larissa Wagner.
http://skepdic.com/German/falsche_erinnerungen.html
2
Siehe oben.
5
Zitatorin Elizabeth Loftus3:
Unser Gedächtnis wird jeden Tag neu geboren, es ist kein Vergangenheits- sondern
ein Zukunftsorgan.
Musik Gil Melle – Desert Trip/Substrata 2
Sprecherin:
Noch vor 20 Jahren hielt man das Gedächtnis für eine Art Computer, der
unbestechlich aufzeichnet, was faktisch geschehen ist. Ein Archiv, das pedantisch
die Vergangenheit speichert. Heute wissen die Gedächtnisneurologen, dass das
Gedächtnis keineswegs zur Vergangenheitsreproduktion konzipiert ist. Hannah
Monyer, Hirnforscherin an der medizinischen Fakultät Heidelberg:
O-Ton Hannah Monyer:
Beim Einspeichern, bei diesem allerersten Schritt, da verändern sich vorhandene
Strukturen. Und das passiert innerhalb relativ kurzer Zeit. Beim Prozess des
Einspeicherns, da können Fehler auftreten. Unser Gehirn filtert, was wir
wahrnehmen, vom ersten Augenblick an. Was in unser Gehirn hinein geht, jeder Ton,
jedes Bild, alles, was wir erleben, wird gefiltert. Wir können nicht die ganzen
Eindrücke, die um uns herum sind, oder alle Events speichern. Da wird schon
selektiert.
Sprecherin:
Die neue Erkenntnis der Gedächtnisforschung lautet: Erinnerung ist dafür gemacht,
die Zukunft zu organisieren und zu meistern, sich an Vorgänge zu erinnern, die
wichtig sind und das Überleben sichern: zum Beispiel, wo sich die fischreichsten
Gewässer befinden, die sichersten Verstecke oder die ertragsreichsten Äpfelbäume.
Musik Gil Mellé – Desert Trip
Sprecherin:
Erinnerung wird in drei Phasen produziert. Speicherung, Konsolidierung,
Wiederabruf. Bei jedem dieser Vorgänge wird Unwesentliches ausgeblendet. Das ist
auch im Tierreich so:
O-Ton Hannah Monyer:
Wenn ein Tier von A nach B läuft, und wir streuen auf dem Weg an bestimmten
Stellen Futter oder eine andere Belohnung. (…) Wenn das Tier später schläft, wird im
Schlaf diese Information (…) wieder aktiv, auch in derselben Reihenfolge, nur 10- bis
20-mal so schnell. Es ist im Schlaf, wenn das ganze konsolidiert und reaktiviert wird;
wir nennen das einen Replay. Dieselben Zellen sind wieder aktiv, deshalb replay. Sie
werden sehen, dass die Aktivität der Zellen, die für den Ort kodieren, der für das Tier
nicht spannend war, die werden zum Teil ganz ausgelassen. Und jene Zellen, die für
den Ort kodieren, der für das Tier relevant war, zum Beispiel eine Futterquelle, die
wird mehrfach vorwärts und rückwärts replayt, reaktiviert.
3 Hannah Monyer und Martin Gessmann: Das geniale Gedächtnis – Wie das Gehirn aus der Vergangenheit
unsere Zukunft macht. München 2015 .
6
Sprecherin:
Im Schlaf wird ein neuer Film zusammengesetzt, langweilige, nicht weiterführende
Sequenzen werden verworfen, andere – wichtige – selektiert.
O-Ton Hannah Monyer:
Das gilt auch für uns Menschen. Wir gehen dieselbe Straße entlang. Mein Gehirn
wird im Schlaf etwas ganz anderes replayen als Ihr Gehirn. Deshalb gibt es
verschiedene Erinnerungen.
Sprecherin:
Wenn man sich erinnert, holt man die Erinnerung aus dem Gedächtnisspeicher, baut
die Geschichte jedes Mal neu und anders. Quellen sind das tatsächlich Erlebte,
gelerntes Wissen, Filme, die man gesehen hat, von anderen Leuten Erzähltes. Beim
Erinnern weiß man oft nicht mehr, aus welcher Quelle das „Material“ jeweils gerade
stammt. Deshalb sind bloße Fantasien und echte Erinnerungen ganz leicht zu
verwechseln.
O-Ton Hannah Monyer:
Das Gedächtnis hilft uns, das Gewesene zu verknüpfen mit dem, was sein wird. Es
ist entscheidend für unsere Planung und es ist auf die Zukunft hin orientiert. Und das
Ganze, was man Fehlleistungen nennen könnte, sind auch ganz große kreative
Leistungen des Gehirns.
Sprecherin:
Ob man sich also an den „ersten Kuss“ erinnert oder ihn nur fantasiert, ist für das
Gedächtnis letzten Endes gleich. Das Gedächtnis setzt die Erinnerung jedes mal neu
zu einem möglichst stimmigen Bild zusammen: Wie sah der Park aus, in dem wir
spazieren gingen? Welche Farbe hatten die Blätter an den Bäumen? Wie lau war der
Wind? Phantasie und echte Erinnerung mischen sich. Durch Gehörtes und
Gesehenes vervollständigt das Gedächtnis Lücken zu einem vollständigen Bild der
Erinnerung.
Gerichtssaal
Sprecherin:
Im Gerichtssaal schildert die Zeugin nach 26 Jahren detailreich ihre Beobachtungen
von dem Mord an dem vierjährigen Markus K. In Widersprüche verwickelt sich die
Zeugin nicht. Die Mutter habe Markus selbst mit dem Fahrrad mitgenommen und sei
Richtung Bahnhof gefahren. Die Zeugin sei Frau K. mit dem Kinderrad nachgefahren,
sei aber nicht so schnell wie Frau K. gewesen, deshalb habe sie mit dem
Kinderfahrrad eine Abkürzung durch das Einkaufscenter genommen. Sie sei durch
einen großen Flur geradelt, ein Mann habe geschimpft, dann sei sie am anderen
Ende wieder herausgekommen. Sie habe Frau K. wieder eingeholt, habe am
Bahndamm ihr Kinderfahrrad an einer Bushaltestelle abgestellt und den Mord
beobachtet. Die Mutter habe den Vierjährigen mit einer Nylonstrumpfhose erdrosselt.
Die Zeugin scheint offensichtlich nicht zu lügen, hat an allen ihren Aussagen einen
hohen emotionalen Anteil. Renate Volbert ist Fachpsychologin für Rechtspsychologie
und Aussage-Expertin. Ihr Job ist es, herauszufinden, ob sich ein Zeuge falsch
erinnert.
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O-Ton Renate Volbert:
Falsche Erinnerungen, darunter versteht man, dass man sozusagen nachträglich den
Eindruck gewinnt, sich an etwas zu erinnern, was man de facto überhaupt gar nicht
erlebt hat. Das ist die Fragestellung, die an uns als Gutachter gestellt wird: Sind das
erlebnisbasierte Aussagen, oder sind das irgendwie anders generierte Aussagen?
Solche Aussagen können teilweise ganz überzeugend sein, die auf solchen falschen
Erinnerungen basieren, was damit zu tun hat, dass die Menschen, die sie berichten,
ja eben auch davon überzeugt sind. Dass sie subjektiv überzeugt sind, deswegen
wirken sie oft sehr authentisch mit ihren Aussagen, zeigen Leiden, was das dann
eben auch noch mal authentischer macht.
Sprecherin:
Und wie kann die Rechtspsychologin nun eine echte Erinnerung von einer falschen
unterscheiden?
O-Ton Renate Volbert:
Bei der Unterscheidung von erlebnisbasierten Aussagen und falschen Erinnerungen
geht es ganz stark darum, zu schauen, wie ist diese Aussage zustande gekommen?
Was ist die Aussageentstehung und was ist die Aussagegeschichte gewesen? Gibt
es im Rahmen dieser Aussagegeschichte Hinweise darauf, dass es eine falsche
Erinnerung sein könnte?
Sprecherin:
In ihrem Gutachten sollen die Aussagepsychologen beweisen, dass die Aussage der
Zeugin erlebnisbegründet erfolgt, also wahr ist. Bei dem dargestellten Mord hatten
die Aussagepsychologen allerdings sehr frühzeitig den Verdacht, dass die Zeugin
extrem vielen, auch unbekannt gebliebenen biografischen Belastungen ausgesetzt
gewesen sei und deshalb eine Scheinerklärung für ihre Misere herausgebildet haben
könnte. Mit der Scheinerinnerung an eine Mordbeobachtung könnte die Zeugin ihr
berufliches Versagen, ihre Alkoholsucht und ihre psychischen Störungen
kompensiert haben.
In anderen Fällen ist es so, dass das Opfer sich einen Missbrauch einbildet. Diese
falsche Erinnerung an einen vermeintlichen Missbrauch taucht irgendwann auf,
zumeist hervorgerufen durch einen Therapeuten, der einen solchen Vorfall als Grund
für Depressionen oder Angstzustände vermutet. So war es bei der heute 29-jährigen
Liane P. aus Hamburg.
O-Ton Liane P.:
Ich litt an Depressionen, habe mich in esoterischen Zirkeln nach Hilfe umgeschaut
und bin dann bei einer Schamanin gelandet. Die hat sich mit meinem höheren Ich
verbunden und mir gesagt, dass vermutlich ein sexueller Missbrauch durch meinen
Vater oder meinen Großvater vorgekommen sei. Und das sei der Grund für meinen
psychischen Zustand.
Sprecher:
Liane P. ist kein Einzelfall. Häufig sind falsche Erinnerungen das Produkt falscher
Therapien.
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O-Ton Renate Volbert:
Dann ist es ja so, dass solche falschen Erinnerungen entstehen, weil es ein
bestimmtes psychisches Leiden gibt und man sich Gedanken macht: Was ist mit mir
los, warum bin ich so, ist mir irgendwas passiert, warum bin ich so anders als die
anderen? Dass man nach einer Erklärung sucht, und dann auf die Idee kommt,
möglicherweise ist mir etwas ganz Schlimmes früher passiert, an das ich mich nur
nicht erinnern kann. Und dass man dann anfängt, zu überlegen, was könnte mir
passiert sein? Ist mir vielleicht ein besonders traumatisierendes Ereignis passiert,
dass ich mich deswegen nicht mehr erinnern kann? Und im Laufe der Zeit, wenn
man immer mehr überlegt, was könnte passiert sein, vielleicht eine bestimmte
Vorstellung entwickelt, und je mehr man darüber nachdenkt, desto bildhafter wird
diese Vorstellung, desto leichter ist es, sie abzurufen. Und je bildhafter es ist und je
leichter es abzurufen ist, desto eher halten wir das für tatsächliche Erinnerungen.
Sprecherin:
Der Informatiker Oliver V. ist Opfer einer solchen falschen Erinnerung geworden.
Seine Halbschwester beschuldigte ihn des sexuellen Missbrauchs. Auch bei ihr war
eine Therapie der Auslöser. Die Beschuldigungen, die durch die falsche Erinnerung
ausgelöst wurden, drohten die Großfamilie zu spalten.
O-Ton Oliver V.:
Und das ist das Allerschlimmste. Es wird irgendwo gemunkelt und es gibt
irgendwelche Gerüchte und Andeutungen, das ist eigentlich das Allerschlimmste.
Und es ist nur deswegen nicht schlimmer geworden, weil wir zum einen in der
Familie sehr offen darüber gesprochen haben und damit viel klären konnten, zum
anderen, weil ich durch den Verein „False Memories“ auch eine Hilfestellung
bekommen habe. Wenn ich das nicht hätte, hätte es auch ganz anders ausgehen
können.
Sprecherin:
Aussagenspezialisten wie Prof. Renate Volbert oder auch Julia Shaw versuchen
durch Gutachten herauszufinden, welche Erinnerungen wahr und welche falsch sind.
Mittlerweile sind „Falsche Erinnerungen“ auch für die Justiz zu einer Tatsache
geworden, die sie einkalkulieren muss.
O-Ton Julia Shaw:
Vor allem für die Justiz sind falsche Erinnerungen sehr ausschlaggebend, weil sie
halt wirklich infrage stellen, wie wir Opfer-Statements nehmen können, wie wir
Aussagen von Tätern nehmen können und ob sie wirklich stimmen. Und weil ich als
Rechtspsychologin mich interessiere für Psychologie und Justiz, ist das ein
wahnsinnig wichtiger Teil von dem, was ich mache. Und meine Studie, in der ich
Menschen eingeredet habe, sie hätten Straftaten begangen, die nie tatsächlich
passiert sind, zeigt halt, dass wir wirklich flexibel sind in unserem Erinnern. Und dass
das sogar für Straftaten zählt und für Aussagen, die uns selber schlecht machen.
Sprecherin:
Auch Polizei und Justiz bitten die Rechtspsychologin um Training und Hinweise.
9
O-Ton Julia Shaw:
Militär und Polizei wollen, dass ich Ihnen das beibringe, wie die Erinnerung
tatsächlich funktioniert, und wie sie nicht funktioniert, dass sie dann das besser
machen können, dass sie halt bessere Befragungsmethoden entwickeln.
Musik Clock DVA – Final Programm / Substrata2
Sprecherin:
Auch im kollektiven Gedächtnis gibt es falsche Erinnerungen: Beim gemeinsamen
Erinnern einer Gemeinschaft wird vieles umgedeutet, weggelassen und hinzugefügt,
um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, denn: Auf unseren gemeinsamen
Erinnerungen basiert unsere soziale Identität. Auch auf den falschen. Professor
Harald Welzer, Soziologe:
O-Ton Prof. Harald Welzer:
Gemeinsames Erinnern ist hervorragend dafür geeignet, künstliche Erinnerungen zu
erfinden. Erinnerungsgemeinschaften gibt es auf unterschiedlichen Ebenen. Es gibt
so etwas wie eine nationale Erinnerungsgemeinschaft, es gibt eine GenerationenErinnerungsgemeinschaft, es gibt familiäre Erinnerungsgemeinschaften. Ein
Familiengedächtnis und eine Erinnerungsgemeinschaft zeichnen sich eben dadurch
aus, dass alle sich an dasselbe erinnern, selbst wenn sie sich in Wahrheit gar nicht
daran erinnern. Das heißt, Sie werden in bestimmten Gruppen Erinnerungen an den
Bombenkrieg finden, die die Menschen zutiefst für ihre eigenen halten, selbst dann,
wenn jemand als Kind niemals eine Bombe gehört hat.
Sprecherin:
Gemeinsame Erinnerungen stärken die Verbundenheit. Ein Mensch, der sie sich zu
eigen macht, beweist seine Bereitschaft zu glauben, was die Gruppe glaubt. Er
betont, dass die Vergangenheit der Gruppe auch die seine ist.
O-Ton Prof. Harald Welzer:
Es gibt zum Beispiel in der Erinnerungsgemeinschaft der Dresdner Tiefflieger, die
durch die Straßen fliegen nach der Bombardierung, um einzelne Menschen zu jagen.
Wenn man das ganze physikalisch betrachtet, ist es wegen der Dynamik und der
Thermik in den Straßen in einer brennenden Stadt überhaupt nicht möglich, mit so
einem Flugzeug da durchzufliegen. Das heißt es hat nicht stattfinden können. Aber
weil es eine Erinnerungsgemeinschaft ist und die Leute sich sehr oft darüber
ausgetauscht haben, ist es fester Bestandteil von Erinnerungen gewesen. Und man
könnte eigentlich sagen, um das nicht zu einem Konflikt zu machen, dass die
Emotion, die mit so einer Erinnerung verbunden ist, zutreffend erinnert wird.
Sprecher:
Es gibt zahlreiche Untersuchungen darüber, wie Menschen sich unmittelbar nach
einem historischen Ereignis äußern und zwanzig Jahre später. Die Erinnerung
zwanzig Jahre später beinhaltet meist eine soziale Situation:
O-Ton Prof. Harald Welzer:
10
Wir saßen in der Küche, plötzlich kommt Onkel Rudi rein und sagt dies und das,
während in der Originalfassung der Erinnerung es so gewesen ist: Ich war alleine
und habe gar nichts davon mitbekommen, ich habe erst später über die Nachrichten
davon gehört. – Und das ist eigentlich ein interessanter Zirkelvorgang, dass wenn
sich ein Ereignis als wichtig erweist, dann will man auch persönlich daran teil gehabt
haben. Und dafür ist es wichtig, die Erinnerung mit anderen zu teilen, die selber das
Gefühl haben, sie haben auch daran teil gehabt. Und so kommt es zustande, dass
sich Erinnerungsgemeinschaften auch wahnsinnig gut darin bestätigen, sich an
dasselbe zu erinnern.
Nehmen Sie die Zahl derjenigen, die im letzten Flugzeug aus Stalingrad oder
wahlweise im letzten Hubschrauber aus Saigon gesessen haben. Diese Flugzeuge
müssen ein Fassungsvermögen gehabt haben... Weil jeder Teil dieser
Erinnerungsgemeinschaft sein möchte, und er kann das nur sein, wenn er die
Erinnerungen teilt, die eben für diese Erinnerungsgemeinschaft spezifisch sind.
Music The Future Sound of London - Abandoned Incoming Vol 6
Gerichtssaal
Sprecher:
Zwei Monate später. Per Gutachten konnte festgestellt werden, dass bei der
Belastungszeugin in dem Mordfall von einer „falschen Erinnerung“ auszugehen ist.
1981 hatte es auf dem Wege zum Bahndamm noch gar kein Einkaufscenter gegeben
durch das die Zeugin hätte fahren können. Und auch keine Buslinie und
Bushaltestelle. Auch hat die Zeugin den Mord nicht beobachtet. Vielmehr hat sie eine
fiktive biografische Legende ausgebildet, mit der sie die vielen Niederlagen in ihrem
Leben erklären konnte und die ihr viel Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Wie wäre
der Prozess wohl ausgegangen, wenn man das Baujahr des Einkaufscentrums und
die Einrichtung der Buslinie nicht recherchiert hätte? Darauf, dass es sich um
„falsche Erinnerungen“ handeln könnte, muss man erst mal kommen.
Sprecherin:
Julia Shaw hat der wissenschaftlichen Fachwelt, aber auch der Justiz mit ihrem
Experiment bewiesen, wie manipulierbar das Gedächtnis ist. Dass man ihm
Erinnerungen an kriminelle Taten einpflanzen kann, obwohl diese nie begangen
wurden.
Music Conrad Schnitzler – the Sinking of a Melting Drone
Sprecherin:
Unser Gedächtnis ist kein gigantischer Speicher, sondern ein sich immer wieder neu
verbindendes Netzwerk, dessen Hauptaufgabe die Planung unserer Zukunft ist.
Diese neue wissenschaftliche Erkenntnis lässt vieles in einem anderen Licht
erscheinen.
Music Conrad Schnitzler – the Sinking of a Melting Drone
Sprecher:
Fast alles.
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Music Conrad Schnitzler – the Sinking of a Melting Drone
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