SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Falsche Erinnerungen Warum unser Gedächtnis lügt Von Gabi Schlag und Benno Wenz Sendung: Montag, 28. November 2016, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Kölbel Regie: Autorenproduktion Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. 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Eine große Suchaktion beginnt, die die gesamte Nacht andauert. Am nächsten Tag findet ein Spürhund der Bahnhofspolizei Markus erdrosselt in einem Gebüsch am Bahndamm. Trotz monatelanger Ermittlungen kann der Mord an dem vierjährigen Markus nicht aufgeklärt werden. Nach 26 Jahren meldet sich eine Frau bei der Polizei. Sie erklärt, als damals Achtjährige beobachtet zu haben, wie Monika K. ihren Sohn mit einer Nylonstrumpfhose erdrosselte. Aus Angst habe sie 26 Jahre geschwiegen, aber jetzt will sie sprechen. Doch – wie Aussageexperten mühsam herausfinden: Die Aussage ist falsch. Aber die Zeugin hat nicht gelogen, sie hat sich falsch erinnert. Das Gedächtnis hat ihr einen Streich gespielt. Es handelt sich um eine falsche Erinnerung. Ansage: Falsche Erinnerungen – Warum unser Gedächtnis lügt Eine Sendung von Gabi Schlag und Benno Wenz O-Ton Prof. Emrah Düzel: Erinnerungen sind der Hauptbestandteil unseres Gedächtnisses, das heißt wir speichern in unserem Gedächtnis Episoden oder Ereignisse ab. Und falsche Erinnerung sind sozusagen Episoden oder Ereignisse, die uns so gar nicht widerfahren sind, aber an die wir uns glauben zu erinnern. Das heißt, das sind Dinge, bei denen wir glauben, dass sie tatsächlich passiert sind. Labor Universität Sprecherin: Kanada, University of British Columbia, Januar 2016. Labor Universität Sprecherin: Die Kriminalpsychologin Julia Shaw führt ein Experiment durch. Sie suggeriert 30 Studenten, dass sie als Kinder kriminelle Taten begangen hätten. O-Ton Julia Shaw: Ich habe Ihnen vage Details gegeben: Als sie 14 Jahre gewesen sind, haben sie jemanden geschlagen, da war die Polizei involviert. Und dann habe ich ein paar echte Details mit eingebaut, also ich habe dann gesagt: Sie waren mit ihrem besten Freund, und dann wusste ich den Namen von dem besten Freund. Und sie waren in ihrer Heimatstadt, und dann habe ich auch den Namen von der Heimatstadt gesagt. Das hat dem ganzen etwas mehr Realismus gegeben. Aber mehr habe ich dann 2 nicht erzählt. Ich habe nur gefragt: Woran können Sie sich erinnern? Und natürlich, als erstes haben die Probanden gesagt: Ich habe keine Ahnung, wovon sie sprechen. Sprecherin: Doch langsam begannen die Probanden sich zu „erinnern“. Die Psychologin sagte den Probanden, dass sie ihre Informationen über das vermeintliche Ereignis von den Eltern bekommen hätte. Die Probanden hätten das Ereignis verdrängt, aber durch Gespräche würde man nunmehr gemeinsam herausfinden, was damals passiert sei. Bald begannen die Teilnehmer aktiv mitzuarbeiten und erinnerten sich nach und nach an alle Details der Taten, die sie in Wirklichkeit nie begangen hatten. O-Ton Julia Shaw: Ganz wichtig ist, dass die Probanden selber sich ausdenken mussten, was in ihre eigene Lebensnarrative passt, ihre Lebensgeschichte, weil, wenn ich zu viele Details gegeben hätte, hätte es sein können, dass es nicht passt. Aber wenn man sich das selber bastelt, dann kann es ziemlich einfach passen. Dann nimmt man halt einen Kindheitsfeind oder jemand, den man nicht unbedingt mochte, und man stellt dann die Situation in den Park, den man kannte, wo man oft war zu der Zeit, und dann klappt das Ganze besser. Ich habe sie dann überzeugt: Nein, es ist ganz sicher, dass es passiert ist. Dann habe ich Vorstellungsübungen mit ihnen gemacht: Machen Sie mal die Augen zu. Stellen Sie sich doch mal vor, wie das gewesen wäre … Sprecherin: Es ist erschreckend, aber durch Suggestion und Einbildung lassen sich dem Gedächtnis anscheinend Erinnerungen an Ereignisse einpflanzen, die nicht so oder überhaupt nie stattgefunden haben, sagt die Wissenschaftlerin. 21 von 30 Probanden glaubten felsenfest, sich an diese Vorgänge zu erinnern und diese tatsächlich erlebt zu haben! Und das, obwohl jeder von ihnen vorher wusste, an einem psychologischen Test teilzunehmen, zu dem die Möglichkeit gehörte, dass ihre Psyche getäuscht werden kann. Die Psychologin Julia Shaw ist selbst verblüfft, wie einfach das ist. O-Ton Julia Shaw: Durch drei freundliche Interviews war es so einfach, komplexe multisensorische Erinnerungen einzupflanzen, bei 70 Prozent meiner Probanden, ich hatte gedacht, vielleicht zehn oder fünfzehn. Manche meiner Kollegen haben gesagt, dass es gar nicht klappen würde, dass die mir das nicht abkaufen werden, die Probanden. Für mich ausschlaggebend war wirklich, wie einfach und wie schnell man diese komplexen falschen Erinnerungen einpflanzen kann und wirklich, dass es jedem passieren kann. Sprecherin: Sich falsch erinnern. Hundertprozentig davon überzeugt sein, dass man die Sitzungsunterlagen heute Morgen mitgenommen hat. Dass man den Wagen auf der anderen Straßenseite geparkt, die Gartentür garantiert abgeschlossen hat. Vorgänge, die jeder kennt. 3 O-Ton Prof. Emrah Düzel: Sie können sich die Grenzen unseres Gedächtnisses ganz leicht selbst klarmachen, wenn sie versuchen, zum Beispiel daran zu denken, was vor 10 Minuten passiert ist. Meinetwegen, wie Sie in das Gebäude rein gegangen sind, in dem Sie gerade sitzen. Alles, was sie abrufen können werden, sind ein paar Schnappschüsse. Sie werden kein bewegtes Bild im Gedächtnis hervorrufen können. Sie werden also nicht sehen, oder in Ihrem Gedächtnis einen Film ablaufen lassen, in dem Sie sozusagen ihre Perspektive, wie Sie durch das Gebäude, in die Gänge, den Fahrstuhl gelaufen sind noch mal vor Augen haben. Unser Gedächtnis reduziert diesen relativ einfachen Vorgang auf einige wenige Schnappschüsse. Sprecherin: Emrah Düzel ist Gedächtnisforscher an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg O-Ton Prof. Emrah Düzel: Und diese wenigen Schnappschüsse werden noch mal komprimiert. Das heißt, wenn wir schlafen, wenn Zeit vergeht, wird diese Information noch mal zusammengefasst und zeitlich, aber auch inhaltlich komprimiert. Sprecherin: Dieser Vorgang der vertieften Einspeicherung von Informationen im Lernprozess wird „Konsolidierung“ genannt. Unser Gedächtnis scheint erstaunlich kreativ. Es arrangiert und gruppiert um, sondiert und interpretiert. So bereitet es den Boden für künftige Erfahrungen, die unsere Biographien prägen O-Ton Prof. Harald Welzer: Das menschliche Gedächtnis ist sehr gut darin, Versatzstücke aus ganz unterschiedlichen Quellen zusammenzubauen. Sprecherin: Prof. Harald Welzer ist Soziologe und Sozialpsychologe. Er arbeitet unter anderem an der Universität Essen. O-Ton Prof. Harald Welzer: Selbst Erlebtes, das, was wir in Filmen gesehen haben, das, was wir von anderen gehört haben, das, was man vielleicht sogar geträumt hat, es gibt da ganz unterschiedliche Quellen für das, was man haben könnte. Und je nachdem, was am besten zu der gegenwärtigen Situation passt, kann man diese Kombinationen vornehmen. Das sind alles keine bewussten Vorgänge. Sprecherin: Elizabeth Loftus, Professorin für Psychologie an der Universität Washington in Seattle, ist Pionierin auf dem Gebiet der „Falschen Erinnerungen“ und hat seit den 1970er-Jahren zahlreiche Experimente zur Gedächtnisfähigkeit durchgeführt. Die Rechtspsychologin hat als erste Wissenschaftlerin nachgewiesen, dass das Gedächtnis manipuliert werden kann, indem man falsche Erinnerungen einpflanzt. In vielen Studien bewies Elizabeth Loftus, dass es für Therapeuten relativ leicht ist, eine 4 solche falsche Erinnerung zu erzeugen. Gedächtnisforscher sprechen bei solchen Vorgängen von „implantierter Erinnerung“. Eine derart manipulierte Episode ist von tatsächlich erlebten Ereignissen subjektiv nicht mehr zu unterscheiden. In einem vielfach beachteten Experiment zeigte Loftus Probanden Fotos, auf denen sie sich als Kind zusammen mit einem Verwandten in einem Heißluftballon schweben sahen. Die Hälfte der Befragten erinnerte sich später genau an die aufregende Ballonfahrt. Doch die hatte niemals stattgefunden. Loftus hatte die Kinderfotos der Probanden ohne deren Wissen in Fotos von einem Ballonflug hineinmontiert. Durch Bilder lassen sich Erinnerungen besonders leicht durcheinanderbringen, weil sich die für das Visuelle zuständigen Verarbeitungssysteme im Gehirn mit jenen überlappen, die bei Fantasien aktiv werden. Zitatatorin (Robert Todd Carroll – Das „False Memory Syndrome“): Mit „false memory“ – „falscher Erinnerung“ – bezeichnet man die Verzerrung eines tatsächlichen Erlebnisses, oder gar das Erfinden eines vermeintlichen Erlebnisses. Viele solcher Schein-Erinnerungen entstehen durch das Verwechseln und Durcheinanderbringen von Erinnerungen, die vielleicht zu unterschiedlichen Zeiten passiert sind, aber in der Erinnerung zu einem einzigen Ereignis verschmelzen. Eine weitere Ursache für falsche Erinnerungen sind fehlerhafte Erinnerungsquellen. So kann es leicht passieren, dass jemand einen Traum für die Wiedergabe eines realen Erlebnisses hält. Andere Pseudo-Erinnerungen wiederum sind auf den Einfluss von Therapeuten und Beratern zurückzuführen: Durch Anstacheln, Suggestion und gezielte Andeutungen wird ihren Patienten eine falsche Erinnerung regelrecht „eingeimpft“.1 Musik Gil Melle – Desert Trip/Substrata Zitatatorin (Robert Todd Carroll – Das „False Memory Syndrome“): Erinnert sich jemand daran, dass seine Mutter einst ein Glas Milch nach dem Vater schleuderte, obwohl es tatsächlich der Vater war, der das Glas Milch warf, so ist das eine Schein-Erinnerung, die auf einem tatsächlichen Ereignis basiert. Die Person erinnert sich zwar lebhaft an das Geschehen und hat seinen Ablauf geradezu „vor Augen“, doch nur die Bestätigung durch andere, die bei dem Ereignis dabei waren, kann letztlich entscheiden, ob die eigene Erinnerung an das Geschehen richtig ist. 2 Sprecherin: Elizabeth Loftus war renommiert, aber auch umstritten. Die Wissenschaftlerin und Gutachterin legte immer neue Studien vor, um Richtern zu zeigen, wie manipulierbar das Gedächtnis ist. Wie wenig man den Aussagen von Missbrauchs-Opfern unkritisch Glauben schenken könne, wenn sie sich erst nach Jahrzehnten an die Gewalttat erinnern. Das sorgte für Unmut unter den Opfern, brachte jedoch die Gedächtnisforschung voran, denn plötzlich erkannten die Neurologen, wie das Gedächtnis arbeitet, denn 1 Robert Todd Carroll: Falsche Erinnerungen. Das "False Memory Syndrome". Übersetzung: Larissa Wagner. http://skepdic.com/German/falsche_erinnerungen.html 2 Siehe oben. 5 Zitatorin Elizabeth Loftus3: Unser Gedächtnis wird jeden Tag neu geboren, es ist kein Vergangenheits- sondern ein Zukunftsorgan. Musik Gil Melle – Desert Trip/Substrata 2 Sprecherin: Noch vor 20 Jahren hielt man das Gedächtnis für eine Art Computer, der unbestechlich aufzeichnet, was faktisch geschehen ist. Ein Archiv, das pedantisch die Vergangenheit speichert. Heute wissen die Gedächtnisneurologen, dass das Gedächtnis keineswegs zur Vergangenheitsreproduktion konzipiert ist. Hannah Monyer, Hirnforscherin an der medizinischen Fakultät Heidelberg: O-Ton Hannah Monyer: Beim Einspeichern, bei diesem allerersten Schritt, da verändern sich vorhandene Strukturen. Und das passiert innerhalb relativ kurzer Zeit. Beim Prozess des Einspeicherns, da können Fehler auftreten. Unser Gehirn filtert, was wir wahrnehmen, vom ersten Augenblick an. Was in unser Gehirn hinein geht, jeder Ton, jedes Bild, alles, was wir erleben, wird gefiltert. Wir können nicht die ganzen Eindrücke, die um uns herum sind, oder alle Events speichern. Da wird schon selektiert. Sprecherin: Die neue Erkenntnis der Gedächtnisforschung lautet: Erinnerung ist dafür gemacht, die Zukunft zu organisieren und zu meistern, sich an Vorgänge zu erinnern, die wichtig sind und das Überleben sichern: zum Beispiel, wo sich die fischreichsten Gewässer befinden, die sichersten Verstecke oder die ertragsreichsten Äpfelbäume. Musik Gil Mellé – Desert Trip Sprecherin: Erinnerung wird in drei Phasen produziert. Speicherung, Konsolidierung, Wiederabruf. Bei jedem dieser Vorgänge wird Unwesentliches ausgeblendet. Das ist auch im Tierreich so: O-Ton Hannah Monyer: Wenn ein Tier von A nach B läuft, und wir streuen auf dem Weg an bestimmten Stellen Futter oder eine andere Belohnung. (…) Wenn das Tier später schläft, wird im Schlaf diese Information (…) wieder aktiv, auch in derselben Reihenfolge, nur 10- bis 20-mal so schnell. Es ist im Schlaf, wenn das ganze konsolidiert und reaktiviert wird; wir nennen das einen Replay. Dieselben Zellen sind wieder aktiv, deshalb replay. Sie werden sehen, dass die Aktivität der Zellen, die für den Ort kodieren, der für das Tier nicht spannend war, die werden zum Teil ganz ausgelassen. Und jene Zellen, die für den Ort kodieren, der für das Tier relevant war, zum Beispiel eine Futterquelle, die wird mehrfach vorwärts und rückwärts replayt, reaktiviert. 3 Hannah Monyer und Martin Gessmann: Das geniale Gedächtnis – Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht. München 2015 . 6 Sprecherin: Im Schlaf wird ein neuer Film zusammengesetzt, langweilige, nicht weiterführende Sequenzen werden verworfen, andere – wichtige – selektiert. O-Ton Hannah Monyer: Das gilt auch für uns Menschen. Wir gehen dieselbe Straße entlang. Mein Gehirn wird im Schlaf etwas ganz anderes replayen als Ihr Gehirn. Deshalb gibt es verschiedene Erinnerungen. Sprecherin: Wenn man sich erinnert, holt man die Erinnerung aus dem Gedächtnisspeicher, baut die Geschichte jedes Mal neu und anders. Quellen sind das tatsächlich Erlebte, gelerntes Wissen, Filme, die man gesehen hat, von anderen Leuten Erzähltes. Beim Erinnern weiß man oft nicht mehr, aus welcher Quelle das „Material“ jeweils gerade stammt. Deshalb sind bloße Fantasien und echte Erinnerungen ganz leicht zu verwechseln. O-Ton Hannah Monyer: Das Gedächtnis hilft uns, das Gewesene zu verknüpfen mit dem, was sein wird. Es ist entscheidend für unsere Planung und es ist auf die Zukunft hin orientiert. Und das Ganze, was man Fehlleistungen nennen könnte, sind auch ganz große kreative Leistungen des Gehirns. Sprecherin: Ob man sich also an den „ersten Kuss“ erinnert oder ihn nur fantasiert, ist für das Gedächtnis letzten Endes gleich. Das Gedächtnis setzt die Erinnerung jedes mal neu zu einem möglichst stimmigen Bild zusammen: Wie sah der Park aus, in dem wir spazieren gingen? Welche Farbe hatten die Blätter an den Bäumen? Wie lau war der Wind? Phantasie und echte Erinnerung mischen sich. Durch Gehörtes und Gesehenes vervollständigt das Gedächtnis Lücken zu einem vollständigen Bild der Erinnerung. Gerichtssaal Sprecherin: Im Gerichtssaal schildert die Zeugin nach 26 Jahren detailreich ihre Beobachtungen von dem Mord an dem vierjährigen Markus K. In Widersprüche verwickelt sich die Zeugin nicht. Die Mutter habe Markus selbst mit dem Fahrrad mitgenommen und sei Richtung Bahnhof gefahren. Die Zeugin sei Frau K. mit dem Kinderrad nachgefahren, sei aber nicht so schnell wie Frau K. gewesen, deshalb habe sie mit dem Kinderfahrrad eine Abkürzung durch das Einkaufscenter genommen. Sie sei durch einen großen Flur geradelt, ein Mann habe geschimpft, dann sei sie am anderen Ende wieder herausgekommen. Sie habe Frau K. wieder eingeholt, habe am Bahndamm ihr Kinderfahrrad an einer Bushaltestelle abgestellt und den Mord beobachtet. Die Mutter habe den Vierjährigen mit einer Nylonstrumpfhose erdrosselt. Die Zeugin scheint offensichtlich nicht zu lügen, hat an allen ihren Aussagen einen hohen emotionalen Anteil. Renate Volbert ist Fachpsychologin für Rechtspsychologie und Aussage-Expertin. Ihr Job ist es, herauszufinden, ob sich ein Zeuge falsch erinnert. 7 O-Ton Renate Volbert: Falsche Erinnerungen, darunter versteht man, dass man sozusagen nachträglich den Eindruck gewinnt, sich an etwas zu erinnern, was man de facto überhaupt gar nicht erlebt hat. Das ist die Fragestellung, die an uns als Gutachter gestellt wird: Sind das erlebnisbasierte Aussagen, oder sind das irgendwie anders generierte Aussagen? Solche Aussagen können teilweise ganz überzeugend sein, die auf solchen falschen Erinnerungen basieren, was damit zu tun hat, dass die Menschen, die sie berichten, ja eben auch davon überzeugt sind. Dass sie subjektiv überzeugt sind, deswegen wirken sie oft sehr authentisch mit ihren Aussagen, zeigen Leiden, was das dann eben auch noch mal authentischer macht. Sprecherin: Und wie kann die Rechtspsychologin nun eine echte Erinnerung von einer falschen unterscheiden? O-Ton Renate Volbert: Bei der Unterscheidung von erlebnisbasierten Aussagen und falschen Erinnerungen geht es ganz stark darum, zu schauen, wie ist diese Aussage zustande gekommen? Was ist die Aussageentstehung und was ist die Aussagegeschichte gewesen? Gibt es im Rahmen dieser Aussagegeschichte Hinweise darauf, dass es eine falsche Erinnerung sein könnte? Sprecherin: In ihrem Gutachten sollen die Aussagepsychologen beweisen, dass die Aussage der Zeugin erlebnisbegründet erfolgt, also wahr ist. Bei dem dargestellten Mord hatten die Aussagepsychologen allerdings sehr frühzeitig den Verdacht, dass die Zeugin extrem vielen, auch unbekannt gebliebenen biografischen Belastungen ausgesetzt gewesen sei und deshalb eine Scheinerklärung für ihre Misere herausgebildet haben könnte. Mit der Scheinerinnerung an eine Mordbeobachtung könnte die Zeugin ihr berufliches Versagen, ihre Alkoholsucht und ihre psychischen Störungen kompensiert haben. In anderen Fällen ist es so, dass das Opfer sich einen Missbrauch einbildet. Diese falsche Erinnerung an einen vermeintlichen Missbrauch taucht irgendwann auf, zumeist hervorgerufen durch einen Therapeuten, der einen solchen Vorfall als Grund für Depressionen oder Angstzustände vermutet. So war es bei der heute 29-jährigen Liane P. aus Hamburg. O-Ton Liane P.: Ich litt an Depressionen, habe mich in esoterischen Zirkeln nach Hilfe umgeschaut und bin dann bei einer Schamanin gelandet. Die hat sich mit meinem höheren Ich verbunden und mir gesagt, dass vermutlich ein sexueller Missbrauch durch meinen Vater oder meinen Großvater vorgekommen sei. Und das sei der Grund für meinen psychischen Zustand. Sprecher: Liane P. ist kein Einzelfall. Häufig sind falsche Erinnerungen das Produkt falscher Therapien. 8 O-Ton Renate Volbert: Dann ist es ja so, dass solche falschen Erinnerungen entstehen, weil es ein bestimmtes psychisches Leiden gibt und man sich Gedanken macht: Was ist mit mir los, warum bin ich so, ist mir irgendwas passiert, warum bin ich so anders als die anderen? Dass man nach einer Erklärung sucht, und dann auf die Idee kommt, möglicherweise ist mir etwas ganz Schlimmes früher passiert, an das ich mich nur nicht erinnern kann. Und dass man dann anfängt, zu überlegen, was könnte mir passiert sein? Ist mir vielleicht ein besonders traumatisierendes Ereignis passiert, dass ich mich deswegen nicht mehr erinnern kann? Und im Laufe der Zeit, wenn man immer mehr überlegt, was könnte passiert sein, vielleicht eine bestimmte Vorstellung entwickelt, und je mehr man darüber nachdenkt, desto bildhafter wird diese Vorstellung, desto leichter ist es, sie abzurufen. Und je bildhafter es ist und je leichter es abzurufen ist, desto eher halten wir das für tatsächliche Erinnerungen. Sprecherin: Der Informatiker Oliver V. ist Opfer einer solchen falschen Erinnerung geworden. Seine Halbschwester beschuldigte ihn des sexuellen Missbrauchs. Auch bei ihr war eine Therapie der Auslöser. Die Beschuldigungen, die durch die falsche Erinnerung ausgelöst wurden, drohten die Großfamilie zu spalten. O-Ton Oliver V.: Und das ist das Allerschlimmste. Es wird irgendwo gemunkelt und es gibt irgendwelche Gerüchte und Andeutungen, das ist eigentlich das Allerschlimmste. Und es ist nur deswegen nicht schlimmer geworden, weil wir zum einen in der Familie sehr offen darüber gesprochen haben und damit viel klären konnten, zum anderen, weil ich durch den Verein „False Memories“ auch eine Hilfestellung bekommen habe. Wenn ich das nicht hätte, hätte es auch ganz anders ausgehen können. Sprecherin: Aussagenspezialisten wie Prof. Renate Volbert oder auch Julia Shaw versuchen durch Gutachten herauszufinden, welche Erinnerungen wahr und welche falsch sind. Mittlerweile sind „Falsche Erinnerungen“ auch für die Justiz zu einer Tatsache geworden, die sie einkalkulieren muss. O-Ton Julia Shaw: Vor allem für die Justiz sind falsche Erinnerungen sehr ausschlaggebend, weil sie halt wirklich infrage stellen, wie wir Opfer-Statements nehmen können, wie wir Aussagen von Tätern nehmen können und ob sie wirklich stimmen. Und weil ich als Rechtspsychologin mich interessiere für Psychologie und Justiz, ist das ein wahnsinnig wichtiger Teil von dem, was ich mache. Und meine Studie, in der ich Menschen eingeredet habe, sie hätten Straftaten begangen, die nie tatsächlich passiert sind, zeigt halt, dass wir wirklich flexibel sind in unserem Erinnern. Und dass das sogar für Straftaten zählt und für Aussagen, die uns selber schlecht machen. Sprecherin: Auch Polizei und Justiz bitten die Rechtspsychologin um Training und Hinweise. 9 O-Ton Julia Shaw: Militär und Polizei wollen, dass ich Ihnen das beibringe, wie die Erinnerung tatsächlich funktioniert, und wie sie nicht funktioniert, dass sie dann das besser machen können, dass sie halt bessere Befragungsmethoden entwickeln. Musik Clock DVA – Final Programm / Substrata2 Sprecherin: Auch im kollektiven Gedächtnis gibt es falsche Erinnerungen: Beim gemeinsamen Erinnern einer Gemeinschaft wird vieles umgedeutet, weggelassen und hinzugefügt, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, denn: Auf unseren gemeinsamen Erinnerungen basiert unsere soziale Identität. Auch auf den falschen. Professor Harald Welzer, Soziologe: O-Ton Prof. Harald Welzer: Gemeinsames Erinnern ist hervorragend dafür geeignet, künstliche Erinnerungen zu erfinden. Erinnerungsgemeinschaften gibt es auf unterschiedlichen Ebenen. Es gibt so etwas wie eine nationale Erinnerungsgemeinschaft, es gibt eine GenerationenErinnerungsgemeinschaft, es gibt familiäre Erinnerungsgemeinschaften. Ein Familiengedächtnis und eine Erinnerungsgemeinschaft zeichnen sich eben dadurch aus, dass alle sich an dasselbe erinnern, selbst wenn sie sich in Wahrheit gar nicht daran erinnern. Das heißt, Sie werden in bestimmten Gruppen Erinnerungen an den Bombenkrieg finden, die die Menschen zutiefst für ihre eigenen halten, selbst dann, wenn jemand als Kind niemals eine Bombe gehört hat. Sprecherin: Gemeinsame Erinnerungen stärken die Verbundenheit. Ein Mensch, der sie sich zu eigen macht, beweist seine Bereitschaft zu glauben, was die Gruppe glaubt. Er betont, dass die Vergangenheit der Gruppe auch die seine ist. O-Ton Prof. Harald Welzer: Es gibt zum Beispiel in der Erinnerungsgemeinschaft der Dresdner Tiefflieger, die durch die Straßen fliegen nach der Bombardierung, um einzelne Menschen zu jagen. Wenn man das ganze physikalisch betrachtet, ist es wegen der Dynamik und der Thermik in den Straßen in einer brennenden Stadt überhaupt nicht möglich, mit so einem Flugzeug da durchzufliegen. Das heißt es hat nicht stattfinden können. Aber weil es eine Erinnerungsgemeinschaft ist und die Leute sich sehr oft darüber ausgetauscht haben, ist es fester Bestandteil von Erinnerungen gewesen. Und man könnte eigentlich sagen, um das nicht zu einem Konflikt zu machen, dass die Emotion, die mit so einer Erinnerung verbunden ist, zutreffend erinnert wird. Sprecher: Es gibt zahlreiche Untersuchungen darüber, wie Menschen sich unmittelbar nach einem historischen Ereignis äußern und zwanzig Jahre später. Die Erinnerung zwanzig Jahre später beinhaltet meist eine soziale Situation: O-Ton Prof. Harald Welzer: 10 Wir saßen in der Küche, plötzlich kommt Onkel Rudi rein und sagt dies und das, während in der Originalfassung der Erinnerung es so gewesen ist: Ich war alleine und habe gar nichts davon mitbekommen, ich habe erst später über die Nachrichten davon gehört. – Und das ist eigentlich ein interessanter Zirkelvorgang, dass wenn sich ein Ereignis als wichtig erweist, dann will man auch persönlich daran teil gehabt haben. Und dafür ist es wichtig, die Erinnerung mit anderen zu teilen, die selber das Gefühl haben, sie haben auch daran teil gehabt. Und so kommt es zustande, dass sich Erinnerungsgemeinschaften auch wahnsinnig gut darin bestätigen, sich an dasselbe zu erinnern. Nehmen Sie die Zahl derjenigen, die im letzten Flugzeug aus Stalingrad oder wahlweise im letzten Hubschrauber aus Saigon gesessen haben. Diese Flugzeuge müssen ein Fassungsvermögen gehabt haben... Weil jeder Teil dieser Erinnerungsgemeinschaft sein möchte, und er kann das nur sein, wenn er die Erinnerungen teilt, die eben für diese Erinnerungsgemeinschaft spezifisch sind. Music The Future Sound of London - Abandoned Incoming Vol 6 Gerichtssaal Sprecher: Zwei Monate später. Per Gutachten konnte festgestellt werden, dass bei der Belastungszeugin in dem Mordfall von einer „falschen Erinnerung“ auszugehen ist. 1981 hatte es auf dem Wege zum Bahndamm noch gar kein Einkaufscenter gegeben durch das die Zeugin hätte fahren können. Und auch keine Buslinie und Bushaltestelle. Auch hat die Zeugin den Mord nicht beobachtet. Vielmehr hat sie eine fiktive biografische Legende ausgebildet, mit der sie die vielen Niederlagen in ihrem Leben erklären konnte und die ihr viel Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Wie wäre der Prozess wohl ausgegangen, wenn man das Baujahr des Einkaufscentrums und die Einrichtung der Buslinie nicht recherchiert hätte? Darauf, dass es sich um „falsche Erinnerungen“ handeln könnte, muss man erst mal kommen. Sprecherin: Julia Shaw hat der wissenschaftlichen Fachwelt, aber auch der Justiz mit ihrem Experiment bewiesen, wie manipulierbar das Gedächtnis ist. Dass man ihm Erinnerungen an kriminelle Taten einpflanzen kann, obwohl diese nie begangen wurden. Music Conrad Schnitzler – the Sinking of a Melting Drone Sprecherin: Unser Gedächtnis ist kein gigantischer Speicher, sondern ein sich immer wieder neu verbindendes Netzwerk, dessen Hauptaufgabe die Planung unserer Zukunft ist. Diese neue wissenschaftliche Erkenntnis lässt vieles in einem anderen Licht erscheinen. Music Conrad Schnitzler – the Sinking of a Melting Drone Sprecher: Fast alles. 11 Music Conrad Schnitzler – the Sinking of a Melting Drone ***** 12