Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht Zentrum für Fisch- und Wildtiermedizin 2/20 Abteilung Wildtiere Institut für Tierpathologie, Vetsuisse Fakultät, Universität Bern, Länggass-Str. 122, Postfach 8466, CH-3001 Bern; Tel. 031 631 24 43 Fax 031 631 26 11 Steinbockprojekt, Modul Krankheiten Teil Gämsblindheit „Eingehende Untersuchungen zum Vorkommen und zur epidemiologischen Bedeutung gesunder Träger von Mycoplasma conjunctivae in Wildwiederkäuerpopulationen“ Schlussbericht III, November 2013 Fabien Mavrot & Marie-Pierre Ryser-Degiorgis Nach den wissenschaftlichen Artikeln : Mavrot F., Vilei E. M., Marreros, N., Signer, C., Frey, J., and Ryser-Degiorgis, M.-P. 2012. Occurrence, quantification and genotyping of Mycoplasma conjunctivae in wild Caprinae with and without infectious keratoconjunctivitis. Journal of Wildlife Diseases 48(3): 619-631. Mavrot F., Zimmermann F., Vilei E. M., Ryser-Degiorgis M.-P. 2012. Is the development of infectious keratoconjunctivitis in Alpine ibex and Alpine chamois influenced by topographic features? European Journal of Wildlife Research 58: 899-874. Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 2/20 Zusammenfassung Die infektiöse Keratokonjunktivitis der kleinen Wiederkäuer (IKK), auch Gämsblindheit genannt, ist eine ansteckende Augenkrankheit, die durch das Bakterium Mycoplasma conjunctivae verursacht wird. Ausbrüche werden regelmässig bei freilebenden Steinböcken und Gämsen im ganzen Alpenbogen beobachtet. Gemäss früheren Untersuchungen sind Hausschafe ein Reservoir für M. conjunctivae und sie werden als Infektionsquelle für Gämsen und Steinböcke während der Alpsömmerung betrachtet. Allerdings hat der rezente Nachweis von gesunden Trägern von M. conjunctivae in der Steinbockpopulation zahlreiche neue Fragen aufgeworfen. Die Ziele der in diesem Bericht dargestellten Studie waren: (1) die Verbreitung von M. conjunctivae bei gesunden und IKK-erkrankten Steinböcken und Gämsen abzuschätzen; (2) den Einfluss der Menge und des Stammes der in infizierten Augen nachgewiesenen Mykoplasmen auf den Krankheitsverlauf zu untersuchen; (3) die Immunantwort auf ein spezifisches Eiweiss (Lipoprotein LppS) von M. conjunctivae bei gesunden Trägern und IKK-Tieren zu erforschen; und (4) den möglichen Einfluss von topographischen Merkmalen des Lebensraumes auf den Krankheitsverlauf zu evaluieren. Zwischen 2008 und 2010 wurden Augentupfer und Blutproben von 654 symptomlosen und 204 IKKerkrankten Steinböcken und Gämsen aus 18 Gebieten der Schweizer Alpen und des Juras gesammelt. Jedes beprobte Auge wurde in eines von vier definierten IKK-Stadien klassifiziert. Alle Augentupfer wurden molekularbiologisch auf M. conjunctivae getestet und die Mykoplasmen-Menge in positiven Proben semiquantitativ erfasst. Es wurden M. conjunctivae-Stämme von 24 Tieren und die Immunantwort von 16 Tieren (gesunde Träger und symptomatische Tiere) analysiert. Zusätzlich wurde die epidemiologische Situation in jedem Untersuchungsgebiet erfasst. Die geographischen Koordinaten der Orte, an denen die Tiere beprobt wurden, dienten der räumlichen Analyse der Daten. Die Häufigkeit von gesunden Trägern betrug 5.6% bei Steinböcken und 5.8% bei Gämsen, mit statistisch signifikanten Unterschieden zwischen Gebieten und Jahren. Gesunde Träger wurden in 9 von 18 Untersuchungsgebieten (50%) nachgewiesen, sowohl während als auch ausserhalb von IKK-Ausbrüchen. In fast allen untersuchten Gebieten wurde ein sporadisches oder regelmässiges Auftreten von IKK-Fällen auch ausserhalb von Seuchenzügen dokumentiert. Während Ausbrüchen gab es einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Vorkommen von Augensymptomen und dem Nachweis von M. conjunctivae. Im Gegensatz dazu war die Nachweisrate von M. conjunctivae bei symptomatischen Tieren ausserhalb von Ausbrüchen deutlich niedriger, insbesondere bei Steinböcken. Die Mykoplasmen-Menge war signifikant tiefer bei gesunden Trägern und bei Tieren mit leichtgradigen Symptomen als bei Tieren mit schwereren Symptomen. Zudem war die Mykoplasmen-Menge bei Steinböcken höher als bei Gämsen mit ähnlich schweren Symptomen. Es wurden bei beiden Tierarten sowohl bei gesunden Trägern als auch bei IKK-erkrankten Tieren die gleichen Stämme nachgewiesen, wobei artspezifische Unterschiede in der Empfindlichkeit für gewisse Stämme vermutet wurden. Antikörper gegen M. conjunctivae Lipoprotein LppS konnten sowohl bei symptomlosen als auch bei IKKerkrankten Steinböcken nachgewiesen werden; die Ausprägung der Immunantwort schien aber individuell zu variieren. Im Hinblick auf Umweltfaktoren deuten die Resultate auf einen Einfluss der Höhe auf die Ausprägung der IKK-Symptome hin, sowohl bei Gämsen als auch bei Steinböcken. Der Befund, dass M. conjunctivae auch ausserhalb von IKK-Epidemien bei Steinböcken und Gämsen ohne und mit Augensymptomen verbreitet ist, deutet darauf hin, dass der Erreger innerhalb freilebender Wildpopulationen erhalten bleiben könnte. Die Ergebnisse bestätigen zudem die zentrale Rolle der Mykoplasmen während IKK-Ausbrüchen, weisen aber auch auf die mögliche Rolle anderer Erreger ausserhalb von Ausbrüchen hin. Vor allem die Mykoplasmen-Menge scheint für die Auslösung und die Ausprägung der Krankheit verantwortlich zu sein, wobei Gämsen anscheinend kleinere MykoplasmenMengen brauchen als Steinböcke, um gleich schwere Symptome zu entwickeln. Insgesamt illustriert diese Studie, wie komplex die Epidemiologie und die Entstehung der Gämsblindheit sind und weist auf die Bedeutung verschiedener Einflussfaktoren (z.B. Umweltfaktoren, genetische Veranlagung, Immunstatus) hin, sowohl auf der Individuums- als auch auf der Populationsebene. Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 1 Hintergrund Die infektiöse Keratokonjunktivitis (IKK) oder Gämsblindheit ist eine ansteckende Krankheit der kleinen Wiederkäuer. In der freien Wildbahn befällt sie Steinböcke und Gämsen und verursacht regelmässig im ganzen Alpenbogen Ausbrüche unterschiedlicher Bedeutung. Die Krankheit ist durch ein Bakterium verursacht, Mycoplasma conjunctivae, das nur kurz ausserhalb eines Tiers lebensfähig ist. Die Übertragung erfolgt durch direkten Kontakt oder indirekt via Augensekrete sowie möglicherweise auch durch Fliegen. Obwohl Schafe als Reservoir und Infektionsquelle für Gämse und Steinbock gelten, wurde im ersten Teil des Moduls Krankheiten des Steinbockprojektes nachgewiesen, dass gesunde Steinböcke nicht selten mit M. conjunctivae infiziert sind: Bei nahezu 2/20 20% der 136 Steinböcke aus 12 verschiedenen Kolonien (in GR, SG, VD, BE und VS), die 2006-2007 untersucht wurden, wurde M. conjunctivae in Abwesenheit von Augenveränderungen nachgewiesen [siehe „Steinbockprojekt, Modul Krankheiten: Veterinärmedizinische Untersuchungen an ausgewählten Steinwildpopulationen, Schlussbericht I, April 2010 (Pilotprojekt Gämsblindheit)“] Auch wurde gezeigt, dass der Ausdruck von Krankheitssymptomen eher mit der Menge an Mykoplasmen in den Augen als mit den Mykoplasmenstämmen in Verbindung steht. Diese Resultate warfen die Frage auf, ob die Infektion innerhalb der Wildwiederkäuerpopulationen doch aufrechterhalten werden könnte. So wurde 2008 eine Nachfolgestudie eingeleitet, deren Resultate hier dargestellt werden. Abb. 1. Epidemiologische Gebiete, die für die Probensammlung ausgewählt wurden. 1. Jura West, 2. Jura Ost, 3. Dent-de-Lys, 4. Vanil noir, 5. Cape-au-Moine, 6. Diablerets, 7 Oberwallis rechte Flussseite, 8. Oberwallis linke Flussseite, 9. Längenegg, 10. Alpstein, 11. Churfirsten , 12. OberalpCalanda, 13. Rheinwald, 14. Julier, 15. Flüela, 16. Bregaglia, 17. Albris, 18. Macun. Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 2 Ziele In dieser Studie wurden zahlreichen Fragen angegangen. So wurde versucht: 1) die Resultate der Pilotstudie beim Steinbock zu erhärten (Häufigkeit und geographische Verbreitung der gesunden Träger) und mögliche Fehler (sog. Bias) in diesen Resultaten zu identifizieren; 2) die Frage des Vorkommens von gesunden Trägern bei der Gämse anzugehen; 3) die Beziehung zwischen der Mykoplasmenmenge in den Augen und den IKKSymptomen detaillierter zu beschreiben; 4) die sogenannte phylogenetische Analyse (Vergleich der M. conjunctivae-Stämmen bei gesunden Trägern und bei IKK-Tieren) zu vertiefen; 5) das Vorkommen und das epidemiologische Muster (Epidemie versus Einzelfälle) der Gämsblindheit in verschiedenen Gebieten zu erfassen; Abb. 2. Alterspyramide der 2008-2010 beprobten Gämsen und Steinböcke. Die asymptomatischen Tiere stammen hauptsächlich von der Jagd. 3/20 6) das Vorkommen von M. conjunctivae bei Wildtierpopulationen im Rahmen von sowie unabhängig von IKK-Ausbrüchen zu dokumentieren; 7) zu überprüfen, ob gesunde Träger eine Immunantwort entwickeln und inwieweit eine Beziehung zwischen der Ausprägung der Immunantwort und der IKK-Symptome sowie der Mykoplasmenmenge besteht; 8) den möglichen Einfluss von Höhe und Ausrichtung der Berghängen auf den Schweregrad der Gämsblindheitsymptome abzuschätzen. 3 3.1 Material und Methoden Erhaltene Proben Steinböcke und Gämsen wurden in 18 verschiedenen Regionen beprobt, sowohl in den Alpen als auch im Jura. Regionen (Abb. 1) wurden nach Absprache mit den zuständigen Jagdverwaltern und Wildhütern als epidemiologische Einheiten definiert: Eine Region ist durch natürliche oder künstliche Barrieren eingegrenzt und stellt somit ein Gebiet dar, innerhalb welchem Kontakte zwischen den vorhandenen Gämsen und/oder Steinböcken häufig vorkommen. Hingegen finden Kontakte zwischen Tieren verschiedener Gebiete nur selten statt. Die Proben wurden von Wildhütern, Jägern, Wildbiologen und Tierärzten gesammelt, entweder bei gefangenen Tieren (VD: La Cape au Moine; GR: Albris, SNP, Flüela; VS: Oberwallis linkes Flussseite) oder bei toten Tieren (Jagd, Hegeabschüsse, erlegte oder tot aufgefundene Tiere). Sowohl asymptomatische Tiere (keine Augenveränderungen) als auch Tiere mit verschiedenen IKK-Stadien (nur Augenausfluss, Blindheit oder sogar Auslaufen des Auges) wurden beprobt (Abb. 2, Tab. 1). Gesammelt wurden Augentupfer von beiden Augen und Blut (Serum- und EDTA-Röhrchen; Abb. 3). Die Tierdaten (Tierart, Geschlecht, Alter, Lokalisation, Nährzustand) sowie auch die An- und Abwesenheit von Augenveränderungen (Rötung der Bindehaut, Ausprägung des Augenausflusses, Grad der Hornhauttrübung, Gefässeinsprossung, Auslaufen des Auges) wurden systematisch erfasst. Zudem wurde mittels einer telefonischen Umfrage bei den Wildhütern und Jagdverwaltungen die Situation betreffend Gämsblindheit in den Untersuchungsgebieten Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht während den vorherigen Jahren erfasst. Die beprobten Tiere wurden dann nach der lokalen epidemischen Situation eingeteilt, und zwar als in einer „epidemischen“ oder „nichtepidemischen“ Situation beprobt. Insgesamt, wurden 654 asymptomatische Tiere beprobt (447 Steinböcke, 207 Gämsen). Tote Tiere wurden in der Mehrheit zwischen September und Oktober beprobt (334/361 Steinböcke, 92.5%; 161/192 Gämsen, 83.9%). Hingegen wurden lebende Tiere hauptsächlich im AprilJuni (73/86 Steinböcke, 84.9%; 13/15 Gämsen, 86.7%) beprobt. Im Winter wurden sehr wenige Tiere beprobt (zwei Gämsen und zwei Steinböcke). Dreizehn gefangene Steinböcke stammten aus einer telemetrischen Studie in Albris (Projekt C. Signer) und waren schon in 2007 gefangen und auf M. conjunctivae getestet worden. Damals hatten sich 10 von diesen 13 Steinböcken als gesunde Träger von M. conjunctivae erwiesen. Zusätzlich wurden 115 Steinböcke und 89 Gämsen beprobt, die verschiedene Symptome der Gämsblindheit zeigten. Symptomatische Tiere wurden in drei IKK-Stadien eingeteilt, nämlich: 4/20 Abb. 3. Verteilte Probensets: Spritze, Handschuhe, Augentupfer, Blutröhrchen, Protokoll 1) Leichtgradig: nur Sekretstrasse vorhanden (auch wenn minimal); 2) Mittelgradig: Sekretstrasse und Hornhauttrübung; 3) Hochgradig: Sekretstrasse, Hornhauttrübung sowie auch Gefässeinsprossung (sog. blutiger Saum) oder Auslaufen des Auges (Abb. 4). Abb. 4. Einteilung des Symptome der Gämsblindheit in drei Kategorien: 1) nur Sekretstrasse; 2) Hornhauttrübung; 3) Gefässeinsprossung (bis zum Auslaufen des Auges). Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 5/20 Tab. 1. Verteilung der beprobten Tiere aufgrund der Krankheitssymptome, des Geschlechts und des Alters sowie des lebend/tot-Status zur Zeit der Beprobung. Steinbock asymptomatisch (n=447) Gämse IKK asymptomatisch (n=207) (n=115) IKK (n=89) Lebend 86 21 15 2 Tot 361 94 192 87 Männlich 240 60 124 34 Weiblich 205 54 80 53 Keine Daten erhalten 2 1 3 2 Kitz 2 3 12 11 Jährling 26 4 28 8 2-4 jährig 145 20 48 18 5-11 jährig 203 58 90 36 +11 jährig 66 30 25 16 Keine Daten erhalten 5 0 4 0 3.2 Laboruntersuchungen 1) Alle Augentupfer wurden auf Mycoplasma conjunctivae mittels biomolekularen Verfahren (TaqMan PCR) getestet. Mit dieser Methode wurde ebenfalls die Mykoplasmenmenge in den positiven Augenproben geschätzt. 2) Der Stamm der nachgewiesenen Mykoplasmen von ausgewählten Tieren wurden charakterisiert und die verschiedenen erhaltenen Stämme untereinander verglichen. 3) Serumproben von ausgewählten Tieren wurden mithilfe eines sogenannten Immunoblots untersucht (Nachweis und Bestimmung der Ausprägung der Immunantwort.) 4 4.1 Resultate Gesunde Träger Insgesamt wurden 5.6% der asymptomatischen Steinböcke und 5.8% der asymptomatischen Gämsen als gesunde Träger von M. conjunctivae identifiziert (Abb. 5, Tab. 2). Diese Häufigkeit variierte allerdings von Jahr zu Jahr, sowohl bei der Gämse (2.5% in 2008, 9.2% in 2009) als auch beim Steinbock (6.5% in 2008, 3.8% in 2009), statistisch gesehen war der Unterschied aber nur bei der Gämse signifikant. Von Gebiet zu Gebiet variierte der Prozentsatz der infizierten Tiere von 4.6 bis 12.8% bei den Steinböcken und von 2 bis 33.3% bei den Gämsen; allerdings war die Probenanzahl pro Gebiet zum Teil sehr klein und der Vergleich dieser Prozentsätze ist daher nicht immer aussagekräftig. Es bestand kein statistischer Unterschied zwischen Geschlechtern, Jahreszeiten oder lebend/tot-Status. Hingegen gab es einen signifikanten Unterschied zwischen Steinbock-Jährlingen (19.2%) und SteinbockAdulten (5.1%). Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht Die hier nachgewiesene Häufigkeit von infizierten aber symptomlosen Steinböcken war deutlich niedriger als die in der Pilotstudie nachgewiesenen 20%. Dieser Unterschied könnte einerseits durch die kleinere Stichprobe der Pilotstudie erklärt werden, die zu einer „Verfälschung“ des Gesamtresultates geführt haben könnte; andererseits könnte er auf die hier nachgewiesenen, von Jahr zu Jahr und von Region zu Region grossen Schwankungen zurückgeführt werden (in einzelnen Regionen 6/20 war auch in der jetzigen Studie die Häufigkeit ungefähr 20%). Interessanterweise waren vier der 13 Steinböcke, die in Albris schon in 2007 gefangen worden waren, positiv für M. conjunctivae. Von diesen vier Tieren waren drei schon in 2007 als gesunde Träger von M. conjunctivae identifiziert worden. Keines von diesen Tieren hatte Symptome von Gämsblindheit vom ersten Fang in 2007 bis Monate nach dem zweiten Fang in 2009 gezeigt. Abb. 5. Geographische Verteilung der nachgewiesenen gesunden Träger (2008-2009). Die Farbe jeder Region entspricht dem Status der Region betreffend Gämsblindheit-Vorkommen zum Zeitpunkt der Studie. Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 7/20 Tab. 2. Verteilung der nachgewiesenen gesunden Träger von Mycoplasma conjunctivae bei der Gämse und beim Steinbock in den ausgewählten Regionen (s. Abb. 1) für die Jahre 2008-2009. Tiere, die während eines Gämsblindheit-Ausbruchs beprobt wurden, sind in Klammern angegeben. Region-Nr. Region-Name Positiv/Total Steinbock Gämse IKK : epidemiologische Situation 1 Jura west - 1/31 Seltene, leichtgradige Fälle in 2008 2 Jura ost - 1/5 Gämsblindheit nie beobachtet 3 Dent-de-Lys - 0/1 Keine Fälle in 2008-09 beobachtet 4 Vanil noir 0/3 0/1 Keine Fälle in 2008-09 beobachtet 5 Cape-auMoine 0/46 0/1 Starker Ausbruch im Herbst-Winter 2008-09 bei Steinböcken, nur wenige leichtgradige Fälle bei Gämsen 6 Diablerets - 0/6 Starker Ausbruch im Herbst-Winter 2008-09 bei Steinböcken, nur wenige leichtgradige Fälle bei Gämsen 7 Oberwallis, r. Flussseite 0/1 0/3 Sporadisch bei beiden Tierarten 8 Oberwallis, l. Flussseite 4/56 (1/1) 1/51 Regelmässige Fälle bei beiden Tierarten, begrenzter Ausbruch im Winter 2008-09 bei Steinböcken 9 Längenegg - 1/3 Sporadisch bei Gämsen 10 Alpstein 0/4 0/6 Sporadisch bei Gämsen 11 Churfirsten 0/5 0/14 Sporadisch bei Gämsen 12 OberalpCalanda 3/40 1/23 (0/11) Starker Ausbruch in 2007-08 bei Gämsen, nur zwei leichtgradige Fälle bei Steinböcken 13 Rheinwald 0/2 0/2 (0/2) Ausbrüche bei Gämsen im Sommer 2008 und im Herbst 2009 14 Julier 5/77 0/16 Sieben leichtgradige Fälle bei Steinböcken im Sommer 2008 15 Flüela 5/39 (5/39) 5/29 (5/29) Mehrere Ausbrüche in 2008-09 bei Gämsen und Steinböcken 16 Bregaglia - 2/9 (0/2) Begrenzter Ausbruch im Sommer 2008 bei Gämsen 17 Albris 8/174 0/4 Sporadisch bei beiden Tierarten 18 Macun - 0/2 Seltene Fälle bei Steinböcken in 2008 TOTAL 25/447 (6/40) 12/207 (5/44) Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 4.2 Vorkommen der Gämsblindheit Im Rahmen der Umfrage wurden Gämsblindheit-Ausbrüche in sieben der Untersuchungsgebiete gemeldet (la Cape-auMoine, les Diablerets, Oberwallis linke Flussseite, Oberalp-Calanda, Hinterrhein, Flüela, Bregaglia). In acht Regionen wurde ein regelmässiges Vorkommen weniger Fälle oder nur gelegentliche Fälle (sporadisches Vorkommen) beobachtet. Nur in zwei Regionen (Dent-de-Lys und Vanil noir) wurde 2008-2009 keine Gämsblindheit beobachtet. Zudem wurde in der Region Jura Ost, wo die Gämsblindheit anscheinend noch nie aufgetreten ist, sowohl eine symptomlose als auch eine symptomatische Gämse (mit nur leichten Sekretstrassen) positiv auf Mycoplasma conjunctivae getestet; deshalb wurde diese Region als „mit sporadischem Vorkommen der Gämsblindheit“ klassifiziert. Infektionen in Abwesenheit von IKKSymptomen wurden häufiger bei Tieren nachgewiesen, die während eines laufenden IKK-Ausbruchs geprobt wurden (Steinbock: 15%; Gämse: 11.4%), als bei Tieren, die in nicht-epidemischen Situation beprobt wurden (Steinbock: 4.1%; Gämse: 4.3%). Dieser Unterschied war jedoch nur für Steinböcke statistisch relevant. Dieser Befund wirft die Frage auf, ob gesunde Träger wirklich Tiere darstellen, die nicht erkranken, oder ob es sich um Tiere handelt, die sich im Frühstadium der Infektion befinden und später doch Symptome entwickeln werden, oder die die Krankheit schon durchgemacht haben und nun geheilt sind. Tatsächlich wurde in einem früheren Infektionsversuch gezeigt, dass nach der Infektion ein paar Tage vergehen, bevor die ersten Symptome auftreten; auch bleiben die Mykoplasmen nach dem Verschwinden der Symptome noch einige Wochen nachweisbar. 8/20 der Wildwiederkäuerpopulationen nicht erhalten bleibt. In Übereinstimmung mit dieser Theorie wurde in der jetzigen Studie gezeigt, dass Infektionen mit M. conjunctivae ausserhalb von Gämsblindheit-Ausbrüchen selten sind. Allerdings wurde zwar ein eher seltenes aber doch breites Vorkommen von M. conjunctivae bei Steinböcken und Gämsen festgestellt, inklusiv in nicht-epidemischen Situationen, ausserhalb der Schafsommerungszeit und in Gebieten, in denen bis jetzt keine Ausbrüche der Krankheit dokumentiert wurden (Jura). Laut anderen Studien über andere Krankheitserreger, ist die Erhaltung von einem Erreger in einer Population auch bei niedriger Infektionshäufigkeit möglich, vorausgesetzt, dass die Wirtpopulation gross genug ist oder aus mehreren einigermassen verbundenen Einheiten besteht, so dass eine konstante Zirkulation des Erregers gewährleistet ist. Gämsblindheit-Ausbrüche längerer Dauer wurden tatsächlich in Frankreich beschrieben, und zwar in Gebieten, die durch mehrere Gämsrudel genutzt werden. Zudem soll der Austausch eines Erregers zwischen mehreren Tierarten, die ihren Lebensraum teilen, ebenfalls die Erhaltung dieses Erregers in den betroffenen Populationen begünstigen. Aus diesem Grund kann die Erhaltung von M. conjunctivae bei Wildwiederkäuern nicht ausgeschlossen werden, auch wenn Schafe immer noch eine Infektionsquelle darstellen. Allerdings weisen die Beobachtungen bei den markierten Steinböcken (nachgewiesene Infektion mit M. conjunctivae in Abwesenheit von Symptomen trotz monatelanger Beobachtung) darauf hin, dass „echte“ gesunde Träger bei dieser Tierart doch vorkommen. Aufgrund früherer serologischer Studien wurde vorgeschlagen, dass M. conjunctivae innerhalb Abb. 6. Verteilung der symptomatischen Tiere im Probensatz nach Schweregrad der Augenveränderungen Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 4.3 9/20 Tiere mit Symptomen der Gämsblindheit In unserem Probensatz wiesen Steinböcke insgesamt mildere Symptome als Gämsen auf: es gab statistisch mehr Steinböcke mit leichtgradigen Symptomen und weniger Steinböcke mit hochgradigen Symptomen als Gämsen (Abb. 6). Da nach möglichst vielen Proben von Tieren mit allen Arten von Augenveränderungen gefragt wurde, dürfte diese Verteilung den Beobachtungen im Feld entsprechen und nicht einfach auf eine unregelmässige Verteilung der Proben beruhen. Insbesondere wäre es zu erwarten, dass schwer erblindete Steinböcke erlegt werden und daher auch beprobt werden können. Zudem war bei beiden Arten der Nachweis von M. conjunctivae häufiger erfolgreich bei Tieren mit einer Sekretstrasse (d.h. mit typischen IKKSymptomen) als bei Tieren ohne Sekretstrasse (atypisch). Insgesamt erwiesen sich nur 46% der symptomatischen Steinböcke und 75.9% der symptomatischen Gämsen als positiv für M. conjunctivae., was eine deutlich schlechtere Nachweisrate als in früheren Studien darstellt, obwohl die gleichen Nachweismethoden angewandt wurden. Wenn aber die epidemische Situation zur Zeit der Beprobung betrachtet wird, ist der Anteil der erfolgreichen M. conjunctivae-Nachweise höher bei Tieren, die während einem Ausbruch geprobt wurden als bei Tieren, die in nicht-epidemischen Situationen beprobt wurden (allerdings war der Unterschied nur für Steinböcke statistisch signifikant) (Abb. 7, 8). Diese Befunde bestätigen, dass M. conjunctivae eine zentrale Rolle als Erreger der Gämsblindheit spielt. Allerdings deutet die tiefe Nachweisrate von M. conjunctivae ausserhalb von Ausbrüchen und bei Tieren mit atypischen Symptomen (Abb. 9) auf mögliche Gämsblindheit-ähnliche Krankheitsbilder anderer Ursache hin. Andere Bakterien (Streptokokken, Chlamydien) wurden schon als Ursache für Augenerkrankungen bei Wildwiederkäuern vorgeschlagen. Auch wurde kürzlich ein Herpesvirus als mögliche Ursache für eine Augenerkrankung bei Rentieren in Norwegen identifiziert. Abb. 7. Nachweis von M. conjunctivae (in Prozent) bei symptomatischen Steinböcken und Gämsen, in Abhängigkeit vom Schweregrad der Symptome (1: leichtgradig, 2: mittelgradig, 3: hochgradig) und von der epidemiologischen Situation zur Zeit der Beprobung. (P-Werte sind nur für statistisch signifikante Unterschiede angegeben). 4.4 Mykoplasmen-Menge Sowohl bei Steinböcken als auch bei Gämsen war die in den Augen nachgewiesene Mykoplasmen-Menge kleiner bei gesunden Trägern als bei Tieren mit IKK-Symptomen (Abb. 10 A und B). Ebenso war die Mykoplasmen-Menge kleiner in Augen mit leichtgradigen Symptomen als in Augen mit schwereren Symptomen. Interessanterweise gab es im Fall von mittelgradigen und hochgradigen Symptomen mehr Mykoplasmen in den Augen von Steinböcken als von Gämsen mit entsprechenden Symptomen (Abb. 10 C). Die statistische Analyse hat gezeigt, dass diese Unterschiede von Bedeutung sind. Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 10/20 Abb. 8. Nachweis von M. conjunctivae bei symptomatischen Steinböcken (Dreiecke) und Gämsen (Kreise). Die schwarzen Symbole stellen die Tiere dar, die positiv auf M. conjunctivae getestet wurden. Weisse Symbole stehen für die negativen Tiere. Während der Jagd 2008 wurden in der Region Gebiet Albris 11 Tiere mit Augen-Symptomen geprobt. Acht von diesen Tieren (72.7%) wiesen atypische Symptome auf (keine Sekretstrasse). Nur zwei Individuen erwiesen sich als schwach positiv für M. conjunctivae, eines mit atypischen Symptomen und eines mit typischen Symptomen. 4.5 Stamm-Analyse Von 27 untersuchten Tieren aus den Kantonen Graubünden und Waadt wurden sieben verschiedene Stämme von M. conjunctivae identifiziert (Abb. 11). Die gleichen Stämme wurden sowohl bei gesunden Trägern als auch bei Tieren mit Augenveränderungen nachgewiesen. Dazu wurde auch dokumentiert, das Gämsen und Steinböcke mit dem gleichen Stamm infiziert werden können. Mischinfektionen mit verschiedenen Stämmen in ein und demselben Tier wurden nicht festgestellt. Die Stämme A und B wurden in der Region Flüela während einem Ausbruch isoliert, der Gämsen und Steinböcke in 2008 und 2009 betroffen hatte. Stamm A wurde auch in der zu dieser Zeit ausbruchsfreien Region Albris bei Abb. 9. Auge von einem Steinbock mit atypischen Gämsblindheit-Symptomen (keine Sekretstrasse). Das Tier erwies sich als negativ für M. conjunctivae. Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 11/20 nachgewiesen worden war, dem Stamm A sehr ähnlich, der mit dem Ausbruch von 2008-2009 in Flüela assoziiert war. Der Stamm D wurde bei einer Gämse mit Gämsblindheit und einem symptomlosen Steinbock aus der Region Oberalp-Calanda im Rahmen eines Ausbruches identifiziert, der nur Gämsen befallen hatte. Umgekehrt fand 200809 ein schwerer Ausbruch in der SteinbockPopulationen von La Cape-au-Moine und Les Diablerets statt, während dem die Gämsen nur leicht betroffen wurden. Bei beiden Tierarten aus diesen Gebieten wurde der gleiche Stamm G nachgewiesen. Abb. 10. A und B: Mykoplasmen-Menge in den Augen von Steinböcken (A) und Gämsen (B) mit verschiedenen IKK-Symptomen (0: gesunde Träger, 1: leichtgradig, 2: mittelgradig, 3: hochgradig). C: Vergleich der Mykoplasmen-Menge in den Augen von Steinböcken und Gämse mit entsprechenden Symptomen einem symptomlosen Steinbock in 2009 nachgewiesen. Die Stämme E und F wurden in 2007 in Albris bei gefangenen, asymptomatischen Steinböcken gefunden. Das Tier mit dem Stamm E wurde in 2009 wieder beprobt und war zu diesem Zeitpunkt nochmals positiv für M. conjunctivae, war diesmal aber mit einem anderen Stamm (Stamm A) infiziert. Interessanterweise war der Stamm F, der in 2007 in Albris bei einem asymptomatischen Steinbock Diese Resultate deuten darauf hin, dass eher die Mykoplasmen-Menge in den Augen als der Mykoplasmen-Stamm die Entwicklung und den Schweregrad der Augensymptome beeinflusst. Die grössere Mykoplasmenmenge in den Augen von Steinböcken im Vergleich mit den Gämsen mit entsprechenden Symptomen und der grössere Anteil an schwer erkrankten Gämsen im eingesandten Material sprechen für eine allgemeine höhere Empfindlichkeit der Gämse auf die Krankheit. Allerdings deutet die Tatsache, dass in gewissen Gebieten trotz Auftreten des selben M. conjunctivae-Stammes bei beiden Tierarten nur eine von der Gämsblindheit befallen wird, auf eine grundsätzliche Tierart-spezifische Empfindlichkeit auf bestimmte Stämme hin. 4.6 Serologische Untersuchungen Das Blut von 12 Tieren mit unterschiedlichen IKK-Symptomen (sechs Gämsen, sechs Steinböcke) und von vier gesunden Trägern (zwei Gämsen, zwei Steinböcke) wurde auf M. conjunctivae-Antikörper (d.h. Erreger-spezifische Abwehrstoffe, die durch den Körper als Folge eines Kontaktes mit diesem Erreger gebildet werden) untersucht. Die gesuchten Antikörper waren diejenigen, die gegen ein Eiweiss der Bakterienhülle (LppS) von M. conjunctivae gerichtet sind; dieses Eiweiss ist von besonderem Interesse, da es möglicherweise zu den krankmachenden Eigenschaften dieses Erregers beiträgt. Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 12/20 Abb. 11. Verteilung der nachgewiesenen M. conjunctivae-Stämme (A-F) bei Steinböcken (Dreiecke) und Gämsen (Kreise) in Graubünden und St. Gallen. Gesunde Träger sind in Weiss dargestellt, Tiere mit IKK-Symptomen in Schwarz. Bei 2/6 Steinböcken und 5/6 Gämsen mit IKKSymptomen wurde eine Immunantwort nachgewiesen (Vorhandensein von Antikörpern im Blut; Abb. 12). Als Vergleich konnte in einer früheren ähnlichen Studie bei Schafen bei 5/5 Tieren mit Augensymptomen eine Immunantwort gegen das LppS-Eiweiss nachgewiesen werden. Sowohl bei den untersuchten Gämsen als auch bei den Steinböcken wurden die stärkeren Immunantworten bei Tieren mit hochgradigen Symptomen nachgewiesen, während Tiere mit leichtgradigen und mittelgradigen Symptomen schwächere oder gar keine Antworten zeigten. Jedoch gab es auch Tiere mit hochgradigen Symptomen, die keine oder nur eine schwache Immunantwort zeigten. Es gab auch deutliche Unterschiede in der Immunantwort zwischen Tieren, die mit dem selben Mykoplasmen-Stamm (Stamm A) infiziert waren. Auch scheint kein Zusammenhang zwischen der Mykoplasmen-Menge in den Augen und der Ausprägung der Immunantwort zu bestehen. Diese Unterschiede in der nachgewiesenen Immunantwort können daran liegen, dass einige Tiere sich zum Zeitpunkt der Probenentnahme im Frühstadium der Infektion befanden und noch keine Antikörper gebildet hatten (in einem früheren Infektionsversuch bei Steinböcken konnten Antikörper erst 2-4 Wochen nach der Infektion nachgewiesen werden, während die ersten Krankheitssymptome innerhalb weniger Tage erschienen waren). Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht Seite 13/19 Abb. 12. Nachweis von Antikörpern gegen Mycoplasma conjunctivae im Blut von Gämsen und Steinböcken mit verschiedenen Stadien der Gämsblindheit (gesunde Träger sowie Grad 1-3: leichtgradig, mittelgradig, hochgradig). Die vertikalen Striche auf den weissen Test-Streifen (siehe dünne schwarze Pfeile) weisen eine Immunantwort nach. Je dunkler der Strich, desto ausgeprägter die Immunantwort. Die nachgewiesenen Stämme und Mykoplasmen-Mengen sind ebenfalls angegeben. Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht Einer dieser Steinböcke (Steinbock A) wurde schon in 2007 als gesunder Träger identifiziert (jedoch war er mit einem anderen M. conjunctivae-Stamm infiziert) ;dieses Tier wurde seit 2007 bis einige Monate nach seinem zweiten Fang in 2009 beobachtet und hatte nie Augensymptome entwickelt. Da die Anzahl untersuchter Tiere sehr gering war, ist es nicht möglich, Schlussfolgerungen aus diesen Resultaten zu ziehen - höchstens können Fragen aufgeworfen werden, u.a.: Könnte es sein, dass bei gewissen Steinböcken eine angeborene Resistenz (Unempfindlichkeit) gegen M. conjunctivae besteht, die dazu führt, dass ein Tier nach einer Infektion keine Symptome entwickelt, obwohl Antikörper gegen den Erreger gebildet werden?; oder dass eine überwindete Infektion und ein andauernder Antikörper-Spiegel im Blut das Tier gegen neue Infektionen schützt? Insgesamt scheint die Immunantwort von Tier zu Tier sehr unterschiedlich aber am stärksten im letzten Stadium der Krankheit zu sein. Das Fehlen einer nachweisbaren Immunantwort bei gesunden Trägern (Gämsen) weist darauf hin, dass solche Tiere im Rahmen serologischer Studien als negativ eingestuft werden. 4.7 Umweltfaktoren Sonnenlicht wurde schon früher in der Fachliteratur als verschlechternder Faktor für die Gämsblindheit vermutet. Gemäss Aussagen von Wildhütern beginnen Gämsblindheit-Ausbrüche oft bei Tierpopulationen, die sich auf Süd-exponierten Berghängen aufhalten, oder die Ausbrüche sind dort mehr ausgeprägt. Deshalb wurde die Frage angegangen, ob die Höhe und die Ausrichtung der Lebensräume der Tiere einen Einfluss auf das Vorkommen und den Schweregrad der Augensymptome haben könnten. Zu diesem Zweck wurden Daten von 722 in den Alpen beprobten Tieren benutzt (583 gesunde und nicht infizierte Tiere, 35 gesunde Träger und 104 IKK-Tiere). Für jedes Tier wurde die Hangausrichtung und Höhe des Beprobungsortes mittels Geoinformationssystem (GIS) erfasst. Da ein einziger Punkt (Beprobungsort) nicht repräsentativ für den Lebensraum der Tiere wäre, wurden Höhe und Ausrichtung auch als Mittelwert der Daten im Umkreis um den Be- 14/20 probungsort (Fläche) ausgerechnet. Basierend auf Angaben in der wissenschaftlichen Literatur wurde die Grösse dieser Fläche für jedes Tier aufgrund der Tierart, des Geschlechts und der Jahreszeit (Sommer- oder Wintereinstandsgebieten) geschätzt. Nord-Süd Ausrichtung: Wir haben keinen Zusammenhang zwischen der Ausrichtung der Flächen und dem IKK-Status nachgewiesen, weder bei Steinböcken noch bei Gämsen. Wenn aber die Ausrichtung des Beprobungsortes allein berücksichtigt wurde, kam heraus, dass die Steinböcke mit mittelgradigen und hochgradigen Symptomen signifikant häufiger auf Nord-gerichteten Bergflanken geprobt wurden (Abb. 13). Dies war bei den Gämsen allerdings nicht der Fall. Da dieser Unterschied bezüglich Fundort von blinden versus gesunden oder nur mild betroffenen Steinböcken nur mit Berücksichtigung des Beprobungsortes und nicht in der umliegenden Fläche nachgewiesen wurde, entspricht dieses Resultat eher der Situation kurz vor der Beprobung als einem längeren Zeitraum mit Einfluss von Umweltfaktoren im Lebensraum der Tiere. Es könnte dadurch erklärt werden, dass Steinböcke mit schweren IKK-Symptomen weniger sonnenexponierte Hänge aufsuchen (Licht-scheu); damit wäre der beobachtete Unterschied eher eine Konsequenz als eine Ursache der schweren Symptome. Tatsächlich wurde bei IKKSchafen eine höhere Empfindlichkeit auf Sonnenlicht beschrieben. Ein Resultatfehler aufgrund saisonaler Unterschiede in der Auswahl des Einstandsgebietes ist unwahrscheinlich, da der Unterschied in der Ausrichtung des Beprobungsortes auch nachgewiesen wurde, wenn die Auswertung nur für die Sommerproben oder nur für die Winterproben durchgeführt wurde. Höhe: Bei Gämsen wurden Tiere mit hochgradigen Symptomen insgesamt höher beprobt als diejenigen mit leichtgradigen oder gar keinen Symptomen. Dieser Unterschied wurde für die Höhe sowohl der Beprobungsorte als auch der Flächen um diese Orte nachgewiesen, unabhängig von der Region und von der Jahreszeit. Im Gegensatz dazu wurde bei den untersuchten Steinböcken keine Beziehung zwischen Höhe Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht und Schweregrad der Augenveränderungen beobachtet, sondern eine negative Korrelation zwischen Mykoplasmen-Menge in den Augen und der Höhe, d.h. je höher die Lage, umso weniger Mykoplasmen gab es für die gleichen Veränderungen. Diese Beziehung war bei Augen mit leichtgradigen und mittelgradigen Symptomen besonders stark. Diese Befunde deuten darauf hin, dass die für die Entwicklung von Krankheitssymptomen notwendige Mykoplasmen-Menge mit zunehmender Höhe abnimmt. Insgesamt weisen diese Resultate auf eine mögliche Rolle der Höhe als beinflussender Faktor im Verlauf der Erkrankung hin. Allerdings sind es vermutlich eher die damit 15/20 verbundenen Umwelt-Bedingungen als die zunehmende Höhe, die eine entscheidende Rolle spielen. Tatsächlich nimmt die UV-Bestrahlung mit zunehmender Höhe zu, während Temperatur und Luftfeuchtigkeit abnehmen. Alle diese Veränderungen wurden schon als prädisponierende Faktoren für Augenentzündungen bei Menschen dokumentiert, die auf höheren Lagen leben. Diese Ergebnisse betonen den Bedarf an detaillierteren Studien zu diesem Thema. Dabei sollten eine grössere Anzahl Tiere einbezogen und andere Umwelt-Faktoren wie z.B. Wind, Schnee und Waldanteil berücksichtigt werden. Abb. 13. Verteilung der beprobten Steinbockaugen nach IKK-Status auf einem Nord-SüdGradienten. Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 5 Schlussfolgerungen Der Befund, dass M. conjunctivae auch ausserhalb von IKK-Epidemien bei Steinböcken und Gämsen ohne und mit Augensymptomen verbreitet ist, deutet darauf hin, dass der Erreger innerhalb freilebender Wildpopulationen erhalten bleiben könnte. Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen die zentrale Rolle der Mykoplasmen während IKK-Ausbrüchen, weisen aber auch auf die mögliche ursächliche Rolle anderer Erreger ausserhalb von Ausbrüchen hin. Vor allem die Mykoplasmen-Menge scheint für die Auslösung und Ausprägung der Krankheit verantwortlich zu sein, wobei Gämsen anscheinend kleinere Mykoplasmen-Mengen brauchen als Steinböcke, um gleich schwere Symptome zu entwickeln. Die durchgeführte Stamm-Analyse deutet auf eine mögliche Tierart-spezifische Empfindlichkeit sowohl bei der Gämse als auch beim Steinbock und auf eine mögliche Rolle der gesunden Träger in der Erhaltung und Streuung von M. conjunctivae innerhalb der Wildwiederkäuerpopulationen hin. Insgesamt illustriert diese Studie, wie komplex die Epidemiologie und die Mechanismen der Entstehung der Gämsblindheit sind, und sie weist auf die mögliche Bedeutung ver-schiedener Einflussfaktoren hin (z.B. Umwelt-faktoren, genetische Veranlagung, Immun-status), sowohl auf der Individuums- als auch auf der Populationsebene. 16/20 6 Nebenstudien In Zusammenarbeit mit verschiedenen Instituten und Laboren in der Schweiz und im Ausland wurden noch weitere Analysen eingeleitet: Betreffend der möglichen Beteiligung anderer Erreger in der Entwicklung der Krankheit wurden Serumproben von Gämsen und Steinböcken an ein Universitätslabor in Tromsö (Norwegen, Prof. M. Tryland) geschickt. Sie wurden dort auf Antikörper gegen einen Herpesvirus getestet, der als Ursache einer ähnlichen seuchenartigen Augenerkrankung bei Rentieren betrachtet wird. Allerdings verlief diese Analyse bei allen getesteten IKK-erkrankten Gämsen und Steinböcken sowie auch bei den asymptomatischen Tieren negativ. Betreffend dem Einfluss individueller Einflussfaktoren wurden an der Universität Zürich (Diplomarbeit M. Büttel, unter der Leitung von Prof. L. Keller) genetische Analysen mit den Blutproben der auf M. conjunctivae getesteten Steinböcke durchgeführt, im Hinblick auf mögliche genetische Unterschiede zwischen nicht infizierten Tieren, gesunden Trägern und IKKTieren, die den Krankheitsverlauf beeinflussen könnten. Leider konnten dabei keine neuen Erkenntnisse gewonnen werden; das Hauptproblem war die verhältnismässig kleine Anzahl gesunder Träger in der Stichprobe. Bezüglich möglicher Einflussfaktoren wurden zudem die zwischen 2001 und 2009 durch Wildhüter im Kanton Graubünden dokumentierten GämsblindheitFälle zusammengefasst und im Hinblick auf individuelle und Umweltfaktoren analysiert (Semesterarbeit S. Gorgerat, EPFL). Die erhaltenen Resultate deuten darauf hin, dass individuelle Faktoren wie Alter und Geschlecht eine untergeordnete Rolle spielen, während Umweltfaktoren wie UV-Belichtung und Nebel den Verlauf der Krankheit möglicherweise negativ beeinflussen. Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht 7 Betreffend der Bedeutung der verschiedenen Mykoplasmen-Stämmen werden Mykoplasmen aus verschiedenen Gebieten Frankreichs untersucht und mit denjenigen aus der Schweiz und anderen Ländern verglichen (Institut für VeterinärBakteriologie der Universität Bern, Prof. J. Frey, in Zusammenarbeit mit Dr. D. Gauthier, Laboratoire Vétérinaire de Gap, France; Masterarbeit und Dissertation von G. Gelormini). Die ersten Ergebnisse weisen darauf hin, dass Mykoplasmenstämme über mehrere Jahre innerhalb Wildpopulationen persistieren können, und dass Genommutationen zu neuen Ausbrüchen führen. Die Untersuchungen und Auswertungen sind allerdings noch nicht abgeschlossen. 17/20 Ryser-Degiorgis M-P, Marreros N, Mavrot F. (2011) « Modul Krankheiten, Aborterreger, Lungenentzündungen und Gämsblindheit – Wie geht’s unserem Steinbock? ». 6. Lysser Wildtiertage, Lyss, 19.08.2011. http://www.sgwssbf.ch/pdf/lyss6_2011/abstracts/Ryser_2 011.pdf Mavrot F, Vilei EM, Marreros N, Signer C, Frey J, Ryser-Degiorgis M-P. (2012). Occurrence, quantification and genotyping of Mycoplasma conjunctivae in wild Caprinae with and without infectious kérato-conjunctivitis. Journal of Wildlife Disease 48(3): 619-631. Mavrot F, Zimmermann F, Vilei EM, Ryser-Degiorgis M-P. (2012). Is the development of Infectious kératoconjunctivitis in Alpine ibex and Alpine chamois influenced by topographic features? 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Rocchetta Nervina (Italien), 13.6.2010. http://www3.vetagrosup.fr/ens/epid/documents/ GEEFSM2010/documents/recueil%20des %20r%E9sum%E9s.pdf Mavrot F, Vilei EM, Marreros N, Frey J, Signer C, Ryser-Degiorgis M-P. (2010). « Occurrence of healthy carriers of Mycoplasma conjunctivae and comparison of strains and mycoplasmal loads in asymptomatic and diseased wild Caprinae ». 9th International Conference of the EWDA (European Wildlife Disease Association). Vlieland, (Holland), 15.9.2010. https://docs.google.com/viewer?a=v&pid =sites&srcid=ZGVmYXVsdGRvbWFpbn xld2Rhd2Vic2l0ZXxneDo2ZDIyZmFjNm FjZjgxOWY1 Mavrot F. (2011). Infectious kératoconjunctivitis in free-ranging Alpine chamois and Alpine ibex: epidemiological, etiological and immune-logical investigations. Med. Vet. Dissertation, Vetsuisse Faculty, University of Bern, Switzerland, 77 S. Mavrot F. « Aktuelles über Wildtierkrankheiten – Stand des Projektes Gämsblindheit ». Wildhüterrapport, Maienfeld/GR, 04.02.09. 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Lyon, Frankreich,23.7.2012 9 Danksagung Viele Leute waren an dieser Arbeit beteiligt. Wir danken ganz herzlich allen beteiligten Jagdverwaltungen, Wildhütern, Jägern, Biologen und Tierärzten für die Probensammlung und die hohe Qualität der gelieferten Informationen, insbesondere (aber nicht nur): Helmut Anthamatten, Eugen Ballat, Martin Brantschen, Urs Büchler, Sereina Campbell, Florineth Curdin, Patrick Deleury, Guolf Denoth, Erwin Eggenberger, Daniel Godli, Hans Janutin, Eugen Jenal, Gianni Largiadèr, Costa Livio, Jon Mayer, Nelson Marreros, Jean-Claude Roch, Renato Roganti, Flurin Schur, Claudio Signer, Claudio Spadin, Bruno Tscherrig, Thomas Wehrli, Rolf Wildhaber und Urs Zimmermann. Ein besonderer Dank geht auch an Edy Vilei und Joachim Frey (Institut für VeterinärBakteriologie, Universität Bern) für die Ermöglichung der Laboruntersuchungen und die entsprechende fachliche Expertise sowie an Fridolin Zimmermann (KORA) für seine fachliche Expertise im Rahmen der Studie über die Umweltfaktoren. Herzlichen Dank an die Mitarbeiter und Praktikanten des FIWI und des Instituts für Veterinär-Bakteriologie der Universität Bern für die wertvolle Unterstützung beim Empfang oder bei der Untersuchung der vielen Proben: Mainity Batista Linhares, Fannie Baudimont, Julien Casaubon, Giusy Gelormini, Samoa Giovannini, Helena Greter, Adam Michel, Mirjam Pewsner, Paola Pilo, Nadia Robert, Simon Röösli, Yvonne Schlatter, Janne Schöning, Philippe Vanden Bergh, Manuela Weber und Natacha Wu. Diese Arbeit wurde im Auftrag und dank der finanziellen Unterstützung vom Bundesamt für Umwelt durchgeführt. Projekt Gämsblindheit: Schlussbericht Dieser Bericht geht an: Jagdverwaltungen, Wildhüter und JägerInnen der Kantone AG, BE, FR, GL, GR, JU, SG, SO, SZ, VD, VS BAFU 19/20